Demokratie hat ihren Preis
Ein Gespräch mit dem Beauftragten der Bundesregierung gegen Antiziganismus Mehmet Daimagüler
„Ich glaube mit Haut und Haar an unsere Verfassungsordnung. Unsere Verfassungsordnung kann sich mit Recht in der Welt sehen lassen. Genauso glaube ich an diesen Rechtsstaat, an unseren Rechtsstaat. Ich weiß aber auch, es gibt keinen Rechtsstaat ohne Makel. Was einen Rechtsstaat ausmacht, ist nicht seine Makellosigkeit, sondern seine Bereitschaft zum selbstkritischen Umgang mit seinen Makeln.“ (Mehmet Daimagüler in seinem Abschlussplädoyer als Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess)
Mehmet Daimagüler ist Sohn türkischer Migranten, die als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Er studierte Volkswirtschaft, Jura und Philosophie, ein Studium an der Harvard University schloss er mit einem Master in Public Administration ab. Dort erhielt er im Jahr 2010 den „Emerging Global Leader Award“.
Bekannt wurde Mehmet Daimagüler ab dem Jahr 2012 als Vertreter der Nebenklage im Münchner NSU-Prozess und in den jüngsten Prozessen gegen fünf Männer und eine Frau, die sich als Wachpersonal der NS-Konzentrationslager schuldig gemacht hatten. Seit März 2022 ist er Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung. Er war lange Zeit Mitglied der FDP, arbeitete unter anderem für Gerhart R. Baum im Deutschen Bundestag und war Mitglied des Parteivorstandes. 2008 verließ er die Partei und zog sich aus der Politik zurück.
Politische Konflikte an den Universitäten
Norbert Reichel: Darf ich Sie zunächst fragen, ob Sie auf der Grundlage Ihrer Zeit in den USA vielleicht einige Sätze zum Vergleich der aktuellen Konflikte an US-amerikanischen und deutschen Hochschulen sagen könnten?
Mehmet Daimagüler: Es ist nun schon ein paar Tage her, dass ich meinen Abschluss in Harvard gemacht habe. Anfang Mai 2024 jedoch nahm ich an einer Abschlussfeier an der Yale-University teil. Der Nahost-Konflikt, die Geschehnisse in Gaza, die Verbrechen der Hamas wirken sehr emotionalisierend und politisierend. Das kann ich in Deutschland wie in den USA beobachten. Grundsätzlich bin ich ganz glücklich darüber, dass die Studierenden politisch sind. Nichts ist bedrohlicher für eine Demokratie als eine junge Generation, die sich nicht für Politik interessiert. Ich bin hüben wie drüben über den Grad der Emotionalisierung überrascht, auch über den Grad der Verächtlichmachung des anderen. Ich bin überrascht, wie unverfroren ein Antisemitismus daherkommt, der sich auch gegen Kommilitonen richtet, gegen Menschen, die man kennt, mit denen man studiert, mit denen man seine Freizeit verbringt. Das finde ich schon beängstigend.
Norbert Reichel: Haben Sie in Yale von Kollegen auch etwas dazu gehört, wie man aus dieser Situation wieder herauskäme?
Mehmet Daimagüler: Ich war nur einen Tag in New Haven. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung schien mir schon vorbei zu sein. Ich glaube, dass die Professorenschaft doch ratlos war. Als ich als Fellow in Yale war, habe ich mich sehr darüber gefreut, wie gut sich die jüdische Community und die muslimische Community gemeinsam gegen Rassismus engagierten. Möglicherweise liegt der Weg in die Zukunft darin, dass man sich an die Gemeinsamkeiten erinnert und sich auf die Dinge bezieht, die eine freie Gesellschaft ausmachen, eben auch eine Universität wie Yale, an der ein meinungsstarker Diskurs hochgehalten wird, wie er Universitäten ausmachen sollte.
Das Amt des Antiziganismusbeauftragten
Norbert Reichel: Seit dem Jahr 2022 sind Sie Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung. Es gibt inzwischen in fast allen Ländern Antisemitismusbeauftragte, die oft in ihrem Namen etwa die Bezeichnung tragen: „Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus“. Gibt es eine solche Infrastruktur inzwischen auch im Kontext des Antiziganismus?
Mehmet Daimagüler: Vielleicht vorab: Im November 2023 hatte ich geplant, nach Israel zu fahren, ich wollte mit der Leitung von Yad Vashem darüber sprechen, wie man den Völkermord an den Sinti und Roma im Komplex des Holocaust-Gedenkens thematisieren konnte. Ich bedauere sehr, dass dies jetzt in den Hintergrund geraten sind. Die Menschen in Israel haben andere Themen.
Zu meinem Amt: Zunächst muss man wissen, dass die Beauftragten der Länder unabhängig vom Beauftragten des Bundes arbeiten. Sie berichten nicht an den Bundesbeauftragten, arbeiten diesem nicht zu. Wir brauchen aber in der Tat eine bundesweit übergreifende Struktur.
Mein Amt wurde vor zwei Jahren geschaffen. Ich habe bis heute noch keine volle Mitarbeiterzahl. Es ist nicht banal, das Team zusammenzustellen, die richtigen Leute zu finden, aber wir sind auf einem guten Weg. Der Sachstand: Im letzten Jahr haben wir im Bundestag eine Debatte initiiert, die sich mit den Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA) befasste. Der Bundestag hat im Dezember 2023 der Bundesregierung einen langen Katalog an Empfehlungen gegeben. Zu diesen Empfehlungen zählt die Einrichtung einer ständigen Bund-Länder-Kommission, ein Vorschlag, den auch die UKA formuliert hatte.
Wir sind hier einen riesigen Schritt vorangekommen. Wir haben uns in den letzten beiden Jahren intensiv mit den Ländern ausgetauscht, auch mit dem Kanzleramt. Das hat mein Büro koordiniert. In der Konferenz der Ministerpräsidenten am 20. Juni 2024 wurde diese Bund-Länder-Kommission eingerichtet. Vorbild ist die Gemeinsame Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens. In diesem Gremium werden die Verantwortlichen des Bundes und der Länder zusammenkommen. Wir haben in allen Ländern Ansprechpartner, wir haben aber nicht in allen Ländern Beauftragte und in keinem Land einen eigenen Antiziganismus-Beauftragten.
Wir haben in den Ländern Beauftragte, die verschiedene Zuständigkeiten vereinen, in Baden-Württemberg beispielsweise nimmt der geschätzte Kollege Michael Blume die Aufgaben des Antisemitismusbeauftragten und des Antiziganismusbeauftragten wahr, in Thüringen nimmt die Justizministerin Doreen Denstädt die Aufgabe der Antiziganismusbeauftragten wahr. Wir haben andere Bundesländer, in denen die Aufgabe auf der ministeriellen Arbeitsebene, auch auf Referatsebene, wahrgenommen wird. Wir haben einen bunten Strauß von Zuständigkeiten.
Unser Ziel sollte sein, dass es in jedem Land einen Antiziganismusbeauftragten gibt. Ich glaube, dass die Themen Antisemitismus und Antiziganismus in vielen Punkten miteinander zusammenhängen, sehe aber auch, dass es zwischen beiden Themen große Unterschiede gibt, dass sie so heterogen und so umfangreich sind, dass nicht ein Beauftragter beide Themen wahrnehmen kann. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass ich als zweiten Nebenjob noch die Aufgabe des Antisemitismusbeauftragten wahrnehmen könnte.
Aber ich glaube, wenn die Kommission ihre Arbeit aufgenommen hat, wird die Aufmerksamkeit steigen und ich denke, dass wir dann in den Ländern das genannte Ziel erreichen werden. Das wird ein ganz wichtiger Schritt zu einer wirksamen Infrastruktur. Das ist keine Verwaltung, keine Bürokratie, in der der Bund von oben nach unten die Aufgaben verteilt, sondern ein Gremium, in dem Bund und Länder gemeinsam arbeiten. Wir werden uns eine Geschäftsordnung geben.
Die vielfältige Zivilgesellschaft der Sinti und Roma
Norbert Reichel: Wir haben eine Vielfalt von Organisationen der Sinti und Roma. Am bekanntesten ist der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma, dessen langjähriger Vorsitzender Romani Rose große Verdienste hat, dass das Thema in der Öffentlichkeit beachtet wurde. Es begann 1980 mit dem berühmten Hungerstreik in Dachau. Daneben gibt es viele weitere Organisationen, die einzelne Roma-Gruppen vertreten. Ich habe den Eindruck, es ist nicht so einfach wie mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der weitgehend alle jüdischen Gemeinden vertritt, auch wenn es mit der Union Progressiver Juden eine weitere Organisation gibt. Aber dennoch gibt es hier weitestgehende enge Zusammenarbeit und die Politik hat klare Ansprechpartner.
Mehmet Daimagüler: Sie haben grundsätzlich recht, dass der Zentralrat der Juden der wesentliche Ansprechpartner der Politik ist. Es gibt auch einen Staatsvertrag. Und es ist richtig, dass wir bei der Vertretung der Sinti und Roma eine gewisse Heterogenität haben. Wir sprechen immer von „Sinti und Roma“ im Gleichklang, aber es sind sehr viele unterschiedliche Gruppen unter diesem Dach, mit unterschiedlichen Anliegen. Bei den Sinti handelt es sich – grob gesprochen – um Menschen, die seit Jahrhunderten in Deutschland leben. Bei Roma handelt es sich oft um Zugewanderte aus den letzten Jahrzehnten. Aber auch diese Gruppe ist in sich heterogen. Wir haben Gastarbeiter, die in den 1950er und 1960er Jahren gekommen sind, Geflüchtete der Balkan-Kriege der 1990er Jahre, Menschen, die im Zuge der Osterweiterung der EU zu uns gekommen sind, Geflüchtete aus dem Kosovo und aus der Ukraine. Hinter allen stehen unterschiedliche Interessen.
Wenn auf einem Kongress jemand sagt, dass man Sinti und Roma integrieren müsse, bekommen die anwesenden Sinti Probleme. Sie sagen, wen wollt ihr integrieren, wir sind Deutsche und das seit Jahrhunderten. Das Thema der Integration ist hier fehl am Platze. Es ist auch ein großer Unterschied, ob man als Rom in den 1960er Jahren gekommen ist, vielleicht auch schon die deutsche Staatsbürgerschaft hat, oder ob man im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen gekommen ist, ob man einen gesicherten Aufenthaltsstatus hat oder nicht. Wir haben auch Gruppen wie Queer-Roma, wir haben feministische Gruppen.
Ich sehe natürlich, dass diese Heterogenität die Kommunikation – ich sage es mal so – aufwendiger macht. Ich sehe aber in dieser Vielfalt auch eine Vielfalt von Lösungsvorschlägen. Wir sollten diese Vielfalt in unserer Gesellschaft wertschätzen. Das ist ein Stück Normalität. Wir müssen und können als Politik damit umgehen.
Norbert Reichel. Welche inhaltlichen Beispiele möchten Sie als Beispiele für die Vielfalt der Interessen nennen?
Mehmet Daimagüler: Bei Roma-Verbänden ist Aufenthaltsrecht ein Riesen-Thema. Da gibt es die Forderung nach einer Kontingent-Lösung wie man sie in den 1990er Jahren bei zugewanderten Juden aus der Sowjetunion hatte.
Kontrovers wird in der Community über den Umgang mit dem Mahnmal der ermordeten Sinti und Roma in Berlin diskutiert. Dort soll eine S-Bahn gebaut werden, durch die es zu Beeinträchtigungen des Mahnmals kommen kann. Da stellt sich natürlich die Frage, was kann man, was soll man hinnehmen? Viele fragen natürlich: Was sind wir zuerst? Sind wir erst Sinti, sind wir erst Deutsche? Die Eigenwahrnehmung, die Eigendefinition ist sehr unterschiedlich, das ist sehr individuell. Das kann sich individuell im Verlaufe des Lebens auch unterschiedlich äußern. Wichtig ist – und da gibt es Konsens – Sinti und Roma sind von Rassismus, von Antiziganismus betroffen, sie sind von der fehlenden Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma betroffen.
Alltäglicher Antiziganismus
Norbert Reichel: Mein Eindruck: Antiziganismus spielt in der deutschen Öffentlichkeit kaum eine Rolle.
Mehmet Daimagüler: Lassen sie mich zum Antiziganismus folgende Beispiele nennen, alle aus der jüngsten Vergangenheit, alle vom Mai 2024:
- Wir hatten in Koblenz einen Kandidaten für die Kommunalwahlen, der Sinto ist. Sein Vater und auch er engagieren sich in der Bürgerrechtsbewegung. Seine Wahlplakate wurden mit der Aufforderung beschmiert, sie sollten ins Gas gehen, vergast werden, spezifisch auf ihn als Sinto bezogen.
- In Neumünster haben wir ein Mahnmal, das an die Deportation der deutschen Sinti und Roma erinnert. Dieses wurde zugemüllt, zum wiederholten Mal.
- In Flensburg wurde ein Mahnmal beschmiert, das an die Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma erinnert.
All dies in wenigen Tagen des Mai 2024. Alle drei Beispiele beziehen sich auf den Völkermord. Und da frage ich mich: Wo ist der Aufschrei? Was passiert da gerade im Land? Gleichzeitig erhielten wir vom Deutschen Bundestag den Auftrag, dass wir dieses Jahr, am 2. August 2024, den 80. Jahrestag der Vernichtung der Sinti und Roma besonders würdig begehen. Begehen wir diesen Tag würdig, wenn wir die genannten Vorfälle einfach so hinnehmen?
Norbert Reichel: Welche Erfahrungen haben Sie mit den Medien gemacht?
Mehmet Daimagüler: Es gibt einige Journalisten, die kenntnisreich über das Thema des Antiziganismus recherchieren, sprechen und schreiben, aber es ist nur eine Handvoll. Wir machen Presseerklärungen, bedienen die sozialen Medien, aber es wird außerhalb dieses kleinen Kreises – wenn es fünf Personen sind, ist es schon viel – nicht aufgegriffen. Das ist ein echtes Problem. Stattdessen sehe ich, dass in den Medien antiziganistische und rassistische Stereotype weiterverbreitet werden. Das ganze Thema Clan-Kriminalität, in das Sinti und Roma hineingepackt werden. Manche Medien betreiben damit Click-Baiting, machen Sinti und Roma verächtlich, kriminalisieren sie. Im Moment wird dieses Spiel gerne mit geflüchteten Roma aus der Ukraine gespielt, den man vorwirft, keine „richtigen“ Ukrainer zu sein und nur in betrügerischer Absicht nach Deutschland zu kommen. Das Kriminalisieren von Sinti und Roma hat eine lange Tradition. Die Kriminalisierung hat nach 1945 nicht aufgehört. Diese Klaviatur wird immer noch gespielt.
Der Völkermord an den europäischen Sinti und Roma
Norbert Reichel: Und der Holocaust, die Ermordung der europäischen Sinti und Roma?
Mehmet Daimagüler: Ich bin als Sohn türkischer Gastarbeiter in Deutschland geboren. Wenn man mich fragt, was in meiner Identität als Deutscher bedeutend ist, auch im Unterschied zu meinem Cousin, der in Kanada gelandet ist, dann ist es die Shoah und der Umgang mit der Shoah, das Gefühl von Verantwortung, das wir haben und haben sollten. Damit bin ich aufgewachsen. Das sollte Konsens in Deutschland sein. All dies gilt offenbar für viele Deutsche nicht für Sinti und Roma. Das Märchen von der Stunde Null haben wir uns selbst eingeredet. Beim Völkermord an den europäischen Juden und dem Völkermord an den europäischen Sinti und Roma gibt es viele Parallelen, aber es gibt auch große Unterschiede.
Ein großer Unterschied ist der Folgende. Der Völkermord an den Sinti und Roma wurde weitgehend in der Regie der Polizei organisiert und vollzogen. Die Polizei spielte auch eine Rolle beim Völkermord an den Juden, aber der Völkermord an den Sinti und Roma war weitestgehend eine polizeiliche Angelegenheit. Nach dem Krieg wurden all die Nazi-Organisationen, die für den Völkermord an den europäischen Juden verantwortlich waren, verboten. Hätte man die Kriterien für einen Verbot auch an den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma angelegt, hätte man weite Teile der Polizei verbieten müssen. Dazu hat die Unabhängige Kommission Antiziganismus einiges ausgeführt. Das hat man natürlich nicht gemacht, weil man eben eine Polizei wollte. Mit der Leugnung der Verantwortung der Polizei wurde auch vermittelt: Es gab keinen Völkermord, es waren nur „kriminalitätspräventive Maßnahmen“ wie die polizeilichen Täter und ihre Nachfolger sich und der Welt einredeten.
In den 1960er Jahren wurde ein leitender Polizeibeamter in einem Interview nach der Verfolgung der Sinti und Roma befragt. Er sagte kategorisch: Es gab keine Verfolgung. Der Journalist fragte dankenswerterweise nach: Was ist denn mit Auschwitz? Die Antwort, einige seien sicherlich in den Gaskammern gestorben, aber das wären kriminalitätspräventive Maßnahmen gewesen, die meisten seien an ihrer mangelnden Hygiene gestorben, wenn die sich nicht waschen, werden die halt krank.
Erst nach dem Hungerstreik 1980 auf dem Gelände des Konzentrationslagers Dachau – Sie haben eben Romani Rose erwähnt – hat sich Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 bemüßigt gefühlt, von einem Völkermord zu reden. 37 Jahre nach 1945! Seit dieser Zeit haben wir uns nur in Tippelschritten bewegt. Auch deshalb gibt es möglicherweise keinen Aufschrei, wenn Mahnmale beschmiert werden, wenn Plakate von Kandidaten mit KZ-Parolen beschmiert werden. Wir haben es uns in unserer Ignoranz gemütlich gemacht. Und wenn man das zu Ende denkt, muss man auch die Frage stellen: Wir rühmen uns zu Recht, manchmal auch zu Unrecht für den Umgang mit der Shoah, was wir alles getan haben, aber man muss sich schon die Frage stellen, wie intrinsisch das war.
Norbert Reichel: Es gibt ja durchaus Streit um die Wirksamkeit der deutschen Erinnerungskultur. Die einen loben sich als „Erinnerungsweltmeister“, ein Begriff, der immer wieder in den deutschen Medien erscheint, andere kritisieren aber auch ein deutsches „Gedächtnistheater“, ein Begriff von Y. Michal Bodemann (Gedächtnistheater: die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg, Rotbuch, 1996), den Max Czollek nicht müde wird zu zitieren. Wie sieht es mit der Gedenkkultur für die ermordeten Sinti und Roma aus? Gibt es dazu eine vergleichbare Debatte oder fehlt es einfach an Gedenkkultur?
Mehmet Daimagüler: Ich würde nicht sagen, dass es keine Gedenkkultur gibt. Wir haben den 2. August als Gedenktag, wir haben Mahnmale, wir haben örtliche Initiativen. Wir haben es natürlich nicht so wie wir es bräuchten. Ich beobachte aber oft auch, dass es eine Erinnerungskultur an den Communities vorbei ist. Vor zwei Jahren wurde ich von einer Sinti-Initiative in Berlin eingeladen, die mich auf eine Ausstellung im Rathaus von Neukölln hinwies. Das war eine sehr professionelle Ausstellung. Die Fotos, die gezeigt wurden, zeigten die Fotos der Menschen, die mich dorthin geführt hatten. Viele Fotos waren Polizeifotos, Gewaltfotos, die zeigten, die die Menschen kriminalisierten. Der Bezirk Neukölln hat das sehr gut gemeint, aber es war nicht gut gemacht, weil es nicht mit der Community besprochen war. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Erinnerung kann man nicht an den Betroffenen vorbei gestalten. Wenn man das macht, wirkt es manchmal wie Selbstvergewisserung, PR, Propaganda.
Sehr gut ist es, dass sich die Selbstorganisationen sich mit eigenen Initiativen zu Wort melden. Wo wir können, unterstützten wir das. Im Abschlussbericht der Kommission und auch im Bundestagsbeschluss haben wir ganz klare Vorgaben an die Bundesregierung, was getan werden muss. Ein ganz wichtiger Bereich ist Bildung. Da geht es um Schulbücher, um die Ausbildung von Pädagogen, da geht es darum, wie wir Perspektiven, Wissen einbringen können, sicherstellen, dass die Initiativen auch aus der Community kommen. Dieses Thema, Bücher, Bildung, wird ein wichtiges Thema der Bund-Länder-Kommission. Es gibt auch eine Vereinbarung der Kultusministerkonferenz mit dem Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma und dem Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma, vom 8. Dezember 2022. Darin sind viele Themen enthalten, über die wir sprechen.
Der kulturelle Reichtum der Sinti und Roma in Geschichte und Gegenwart
Norbert Reichel: Thema dieser Vereinbarung ist die „Vermittlung von Geschichte und Gegenwart der Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma“. In einer Fußnote heißt es, dass die Partner der Vereinbarung anstreben, „dem Umgang und der Auseinandersetzung mit Antiziganismus in der Schule, seinen Ursprüngen, Formen und Manifestationen eine gesonderte Empfehlung zu widmen.“ Ich denke, das ist eine wichtige und gute Perspektive. Ein zentraler Punkt sind natürlich Lehrpläne und Schulbücher. Es gibt eine aktuelle Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsmedien (GEI). Da gibt es noch einiges zu tun.
Mehmet Daimagüler: Der Umgang mit dem Völkermord an den Sinti und Roma ist ein ganz wichtiges Thema. Bisher war es so, dass in den Schulbüchern häufig steht, es gab den Holocaust, es gab Konzentrationslager, in denen Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Andersdenkende ermordet wurden. Da wird nur aufgezählt. Da brauchen wir mehr. Der Antiziganismus der Nazis fiel ja nicht plötzlich vom Himmel. Er fußte auf einer langen Tradtion. Und der Antiziganismus der Nazis endete nicht am 8. Mai 1945. Der Soundtrack, der auf dem Weg nach Auschwitz zu hören war, ist zuweilen auch heute noch zu hören. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Sinti und Roma nicht nur im Kontext des Völkermordes, sondern auch als Teil der Kulturgeschichte unseres Landes behandelt wird. Nur wenige wissen, dass die Wiener Klassik oder Franz Liszt von der Roma-Musik, beispielsweise aus Ungarn, beeinflusst waren. Der Flamenco wird als spanischer Tanz rezipiert, aber es ist eine Tanzform der Roma. Viele wissen nicht, dass wir auch in der zeitgenössischen Musik, von Sido bis Marianne Rosenberg, Sinti und Roma haben. Auch im Wirtschaftsleben – bis zum heutigen Tage. Das ist nicht nur ein Thema für den Geschichtsunterricht. Mich überrascht in den zwei Jahren meiner Tätigkeit, wie embryonal wir da noch sind.
Es ist bedauerlich, dass wir damit nicht nur Sinti und Roma nicht gerecht werden, sondern dass wir uns als Mehrheitsgesellschaft von einem reichhaltigen und wichtigen Teil unserer eigenen Geschichte abtrennen. Das ist eine Parallele auch mit dem Umgang mit dem Judentum in Deutschland. Juden leben länger in Deutschland als Menschen, die sich deutsch nennen. Da müssen wir mehr machen.
Eine gute Grundlage bieten zahlreiche Initiativen der Selbstorganisationen, auch auf der Ebene der Länder. All diese Initiativen müssen wir strukturieren und mit Mitteln ausstatten. Ich bin mir der Grenzen meines Amtes bewusst. Wir haben eine koordinierende Rolle. Das tun wir nach bestem Wissen und Gewissen. Wir sind nicht so ausgestattet, dass wir in die Debatte so einsteigen können wie ich mir das wünschen würde. Die Hauptlast liegt bei den Selbstorganisationen, aber wir müssen auch feststellen, dass sich dort viele Menschen bis zur Selbstausbeutung engagieren. Wir brauchen eine strukturelle Förderung, wir brauchen Staatsverträge in Bund und Ländern. Dafür möchte ich werben.
Netzwerke gegen Menschenfeindlichkeit
Norbert Reichel: Sie haben das Amt des Antiziganismusbeauftragten, Felix Klein das Amt des Antisemitismusbeauftragten, Reem Alabali-Radovan das Amt der Beauftragten für Antirassismus, dies in Personalunion mit ihrem Amt als Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Ferda Ataman ist Beauftragte für Antidiskriminierung. Wir hatten jetzt auch die Ergebnisse des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit. Dieses Thema scheint mir etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Bräuchten wir nicht auch zum Thema Muslimfeindlichkeit eine eigene Infrastruktur? Und schließlich stellt sich mir die Frage der Vernetzung, denn es wäre meines Erachtens wichtig, dass sich Minderheiten miteinander vernetzen, abstimmen, natürlich auch mit Vertretern der Mehrheitsgesellschaft, die den Dialog mit Minderheiten suchen oder sich anderweitig für und mit diesen engagieren.
Mehmet Daimagüler: Sie können annehmen, dass mir dieses Thema als deutschem Muslim ein Anliegen ist. Es gibt viele Roma aus dem Balkan, aus dem Kosovo, die Muslime sind. Ich glaube, dass Muslimfeindlichkeit nicht ernst genommen wird. Ich glaube, dass die NSU-Morde – mit der Ausnahme des Mordes an der Polizistin – muslimfeindliche Morde waren. Ich glaube auch, dass Herr Boulgaridis verwechselt wurde, man ihn für einen Türken beziehungsweise Muslim gehalten hat.
Aber Sie sprechen einen ganz wichtigen Punkt an. Ferda Ataman und ich haben regelmäßige Austauschtreffen der Beauftragten mit Menschenrechtsbezug angeregt. Wir treffen uns, wir positionieren uns gemeinsam. Ich tausche mich regelmäßig mit Felix Klein aus. Das zeigt sich auch in symbolischen Akten. Am 27. Januar 2024 sind Felix Klein und ich mit jungen Leuten aus beiden Communities in Berlin erst zum einen Mahnmal, dann zum anderen gegangen. Es war für mich ergreifend, als die jungen Leute Briefe vorlasen. Wir sind alle Menschen und wir werden aus verschiedenen Blickwinkeln angesprochen, aber uns wird die Menschlichkeit abgesprochen. Daher müssen wir alle gemeinsam mit dieser Menschenfeindlichkeit umgehen.
Ich weiß natürlich, wenn die Forderung kommt, wir sollten das Amt eines Beauftragten gegen Muslimfeindlichkeit einrichten, kommt auch die Reaktion, ach noch ein Beauftragter. Aber wissen Sie, wenn jemand eine bessere Idee hat, wie wir Menschenfeindlichkeit bekämpfen können, und eine Lösung hat, wie wir das ohne Beauftragte tun können, bitte, lasst mich diese Lösung wissen. Ich persönlich klebe jetzt nicht so an meinem Sessel, dass ich mich einer anderen Lösung verschließen würde. Ich glaube aber, dass wir zurzeit keine bessere Idee haben. Die Beauftragten haben als Beauftragte der Bundesregierung die Chance, unabhängig und unkonventionell zu agieren. Wir sind nicht an die üblichen starren Berichtswesen gebunden, haben keinen Dienstweg einzuhalten, sind hierarchiebefreit und können ziemlich bürokratiefrei als Schnittstelle zwischen Staat und Community agieren. Viele andere Bevölkerungsgruppen im Land haben ihre Schnittstellen, die nennen sich dann nicht Beauftragte, sondern dann heißt das für Landwirte Minister für Landwirtschaft, oder es gibt Bildungsminister als Ansprechpartner für die Lehrer. Wir haben keine Schnittstelle dieser Art für die Bekämpfung von Hass gegen Menschen.
Norbert Reichel: Wäre ein Ministerium gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit eine Lösung?
Mehmet Daimagüler: Am Ende des Tages ist das dann auch nur ein Ministerium mit verschiedenen Abteilungen. Und wenn dann ein Minister für verschiedene Gruppen spricht, darunter dann die verschiedenen Abteilungen? In meiner jetzigen Position werde ich von anderen Ministerien nicht als Vertreter eines Ministeriums wahrgenommen. Das hat viele Vorteile. Aber why not? Muss man sich anschauen. Wenn es bessere Lösungen gibt…
Als Anwalt habe ich mich vorwiegend mit politischen Straftaten und mit der Opfervertretung befasst. Als ich gefragt wurde, ob ich das Amt des Antiziganismusbeauftragten interessant fände, war für mich die Abwägung, aus welcher Position ich mehr bewegen könnte, Menschen mehr helfen könnte. Auch unter dieser Prämisse gilt, wenn mir jemand ein Modell anbietet, das ohne mich funktioniert, dann ist es gut.
Und noch eins: Anwalt ist auch ein schöner Beruf!
Der NSU ist nicht Vergangenheit
Norbert Reichel: Das ist das zweite große Thema, über das wir sprechen wollten. Ich habe in letzter Zeit mit verschiedenen Menschen gesprochen, die sich mit den NSU-Prozessen befassten, und auch die ein oder andere Veröffentlichung konsultiert. Nach dem NSU-Prozess gab es viele Dokumentationen und Äußerungen, man habe den Sumpf nicht trockengelegt, sondern den Eindruck erweckt, es habe sich um einige wenige Einzeltäter, letztlich ein Trio, gehandelt.
Mehmet Daimagüler: Ich habe drei, vier Tage plädiert. Mein Schlussplädoyer ist als Buch erschienen. Es war eine intensive Zeit. Drei Tage wurde in München verhandelt, Montag und Freitag war ich in jeweils einem der KZ-Verfahren. An diesen beiden Tagen hatte ich alte Nazis, an den anderen neue Nazis auf der Anklagebank. Das war ein Blick in die deutsche Geschichte.
Ich habe im NSU-Prozess mehrere Opferfamilien vertreten. Ich hatte das Glück, dass die von mir vertretenen Menschen, die Witwen, die Halbwaisen, nicht naiv waren. Niemand hat geglaubt, nach dem Verfahren stünde die Wahrheit fest. Sie wussten es, ich wusste es, dazu war schon zu viel Zeit gegangen und es waren viele Akten verschwunden worden – so muss man das wohl formulieren.
Aber was auch galt, das waren die Versprechungen vom Bundespräsidenten bis zur Bundeskanzlerin, dass der Staat alles tun würde, was in seiner Macht stünde, um aufzuklären. Und wenn dieser Versuch dann trotz aller Versuche nicht gelingt, trotz aller Bemühung, schafft das dennoch Vertrauen. Das ist aber so nicht geschehen. Die Unterlagen waren unvollständig, bei den Aufklärungsbehörden, beim Verfassungsschutz. Die Anklageschrift sprach vom Trio. Das war absurd. Drei Leute sollen das alles gemanagt haben? Zwei Personen waren tot, damit war der Straftatbestand der Terrororganisation tot. Denn mit einer Person kann man keine Terrororganisation gründen, dazu braucht man mindestens drei. Das war schon unverschämt. Aber auch die Tatsache, dass neben Frau Zschäpe vier weitere Angeklagte saßen. Das „Trio“ bestand schon einmal aus sieben Leuten. Die drei waren der Kern, die anderen die Unterstützer. Im Verlaufe des Verfahrens kamen immer mehr dazu, insgesamt etwa 30 Leute, die zum Teil offen zugaben, dass sie dem „Trio“ geholfen hatten. Es gab Zeugenaussagen, das an den Tatorten weitere Personen gesehen waren. Wenn man 30, 40, 50 Leute identifiziert hat, kann man nicht mehr von einem „Trio“ sprechen.
Warum war es dem Staat so wichtig, den Kreis kleinzuhalten. Klar, je größer der Kreis ist, desto mehr stößt man auf V-Leute und wir hatten eine Landschaft, die durchsetzt war von V-Leuten. Da stellt sich die Frage, ob der Staat wusste, wo die waren und was die taten. Und man muss davon ausgehen, dass zumindest Teile des Staates dies durchaus wussten und wissen mussten. Im Gerichtssaal wurde festgestellt, dass die 2.500 EUR, mit denen die Ceska gekauft wurde, mit der migrantische Menschen ermordet wurden, aus Geldern des Verfassungsschutzes stammten. Dass das keinen Aufschrei ausgelöst hatte, war wirklich erstaunlich.
Teil dieser Minimalisierungsstrategie war auch die Gefahr herunterzuspielen. Wir hatten in dem Bauschutt in der Zwickauer Straße die 10.000er-Liste gefunden, mit über 10.000 Namen, bei denen man davon ausgehen konnte, dass diese die nächsten Anschlagsziele enthielt. Ich habe im Gerichtssaal darauf hingewiesen, dass diese Liste nie ausgewertet worden ist. Hätte man diese Liste ausgewertet, hätte man einen Blick in die Köpfe derjenigen werfen können, die die Liste erstellt haben. Und da mehr Namen in manchen Regionen genannt wurden als in anderen, hatten wir aus meiner Sicht auch einen Hinweis darauf, dass es vor Ort Netzwerke gab, in denen Namen auf die Liste gebracht wurden. Ich habe in meinem Schlussplädoyer gesagt, dass solange diese Liste nicht ausgewertet ist, die Gefahr besteht, dass der NSU keine Vergangenheit ist. Das wurde nicht gehört. Und ich sage Ihnen Folgendes: einer der Namen auf der Liste war Walter Lübcke, der dann von einem Nazi ermordet wurde.
Ich halte die Beschwichtigungsformel, dass der NSU der Vergangenheit angehört, für falsch. Das ganze Gerichtsverfahren ist auch die Geschichte einer verpassten Chance.
Ich spreche nicht gerne für meine Mandanten. Das sind erwachsene Leute, die für sich selbst sprechen können. Aber ich sage Ihnen eines: Nach der Ermordung von Walter Lübcke hieß es in manchen Medien, das ist eine Zäsur. Da muss ich schon sagen, das ist ein Schlag ins Gesicht der Witwen und der Halbwaisen. Waren die Morde des NSU keine Zäsur? Waren die Morde in Solingen keine Zäsur? Der Brandanschlag auf das Geflüchtetenheim in Lübeck? Ist die Zäsur erst dann gegeben, wenn ein Vertreter der weißen Mehrheitsgesellschaft ermordet wird? Was ist da eigentlich los in diesem Land? Fehlt es uns an politischem Bewusstsein oder einfach nur an Anstand?
Bedrohte Demokratie
Norbert Reichel: Es wiederholt sich jetzt wieder mit den Reaktionen auf die Anschläge auf Kandidaten an ihren Wahlkampfständen, beim Plakatekleben. Die Zahl der Anschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten ist deutlich gestiegen.
Mehmet Daimagüler: Es sind ja nicht nur diese Anschläge. Es passiert doch viel unterhalb der Wahrnehmungsfläche. Da sind Beleidigungen. Was geschieht mit Menschen, die sich nicht wie ich artikulieren können, mit obdachlosen Menschen, Geflüchteten, die kein Deutsch sprechen, was geschieht mit denen jeden Tag? Was macht das mit Menschen, die sich diese grölenden, tanzenden Leute mit „Deutschland den Deutschen“ anhören müssen? Diese Leute sollten den Migranten danken, dass sie hier sind. Sie machen den Job, den viele nicht machen wollen. Sie erwirtschaften den Wohlstand. Der wird von vielen Menschen erwirtschaftet, die nicht aus Deutschland stammen. Ein bisschen mehr Dankbarkeit in allen Richtungen wäre vielleicht angebracht.
Norbert Reichel: Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie das so deutlich sagen.
Mehmet Daimagüler: Es gibt Leute in diesem Land, die für die Demokratie nicht erreichbar sind. Leute, die kein Interesse haben, dass Demokratie funktioniert, die das Land abfackeln wollen, die eine Sehnsucht nach einem Land haben, das zerstört ist, als Kompensation für die Enttäuschungen, die man selbst erlebt hat, aus einer diffusen Wut heraus. Und wir haben hier eine Partei, die hingeht und in Bundestag und Landtagen nach den Zahlen fragt, wie viele Juden hier leben, wie viele Schwulen und Lesben, wie viele Menschen mit ausländischen Namen im Kulturbetrieb arbeiten. Geht’s noch? Werden hier Listen mit Menschen vorbereitet, die deportiert oder gleich ermordet werden sollen? Was heißt denn: Nie wieder?
Natürlich brauchen wir ein Verbotsverfahren. Bei der NPD hieß es, die sind gefährlich, aber zu bedeutungslos. Und bei der AfD heißt es, die sind gefährlich, aber die haben zu viele Prozentzahlen. Richtig und falsch, Recht und Unrecht können sich nicht an Zahlen orientieren. Aber es geht doch viel weiter: Sie leben in Bonn, da gibt es offen rechtsextreme Burschenschaften. Einer der Angeklagten im NSU-Prozess soll bei einer dieser Burschenschaften am Vorabend des Bombenanschlags in Köln übernachtet haben. Warum ist ein solcher Laden steuerrechtlich als gemeinnützig eingestuft? Das Haus firmiert als Studentenwohnheim und die Alten Herren können ihre Beiträge von der Steuer absetzen. Was ist an einem Haus gemeinnützig, in dem Nazis abhängen, in dem Migranten, Frauen, Homosexuelle natürlich nicht Mitglied werden können.
Wir müssen die ganze Palette dessen, was die Politik kann, anwenden. Das gilt auch für die Finanzämter, die prüfen müssen, wer wirklich gemeinnützig ist und wer von der Liste gestrichen werden kann. Das geht um Millionen, wenn nicht Milliarden. Was aber geschieht, ist, dass dem Verein für die Verfolgten des Naziregimes (VVN-BDA) die Gemeinnützigkeit abgesprochen wird. Geht’s noch? Wir leisten Wahlkampfkostenerstattung an Parteien, die die Werteordnung unserer Verfassung ablehnen. Wie diskutieren über die Finanzierung ihrer Stiftungen.
Wir haben viel Know-How in der Zivilgesellschaft, viele Organisationen, das sind die Leute, die für die Demokratie einstehen. Es reicht nicht der Kampf gegen die Nazis, diese Organisationen, die sich für die Demokratie engagieren, müssen strukturell gefördert werden. Das sind diejenigen, die sich täglich für die Demokratie einsetzen.
Norbert Reichel: Dann müssen wir auch über die Streichungen im Bundeshaushalt sprechen, die Demokratieprojekte und Projekte der politischen Bildung massiv betreffen. Und es wird im Jahr 2025 wahrscheinlich noch schlimmer.
Mehmet Daimagüler: Die Demokratie hat ihren Wert, aber sie hat auch ihren Preis. Wir haben über 10 Milliarden EUR in den Tankstellenrabatt investiert, über dessen Effekt man unterschiedliche Auffassung haben können. Von einem solchen Betrag können Demokratieorganisationen, auch die Bundeszentrale für politische Bildung nur träumen.
Zum Weiterlesen:
Das im Text erwähnte Interview mit Romani Rose im Demokratischen Salon trägt den Titel: „Der lange Weg zu Anerkennung und Respekt“.
Bücher von Mehmet Daimagüler:
- Mehmet Daimagüler, Kein schönes Land in dieser Zeit – Das Märchen von der gescheiterten Integration, Gütersloher Verlagshaus, 2011.
- Mehmet Daimagüler, Der Verletzte im Strafverfahren, München, C.H. Beck, 2016.
- Mehmet Daimagüler, Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt – Jetzt sind wir dran – Mein Plädoyer im NSU-Prozess, Köln, Bastei Lübbe, 2017.
- Mitautor: Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung Band 3/1: §§ 333–499 StPO, München, C.H. Beck, 2018.
- mit Ernst von Münchhausen, Mangelhaft – Hinter den Mauern deutscher Gefängnisse, München, Blessing, 2019
- mit Ernst von Münchhausen, Das rechte Recht. Die deutsche Justiz und ihre Auseinandersetzung mit alten und neuen Nazis. Blessing, München, Blessing, 2021.
NSU-Prozess:
- Tanjev Schultz, NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates, München, Droemer, 2018.
- Annette Ramelsberger / Wiebke Ramm / Tanjev Schultz / Rainer Stadler, Der NSU-Prozess – Das Protokoll, Band 1: Beweisaufnahme, Band 2: Plädoyers und Urteil, Materialien, München, Antje Kunstmann, 2018. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2019. Das Plädoyer von Mehmet Daimagüler ist in Band 2, Seite 1560ff. zu finden.
- NSU-Watch, Aufklären und Einmischen – Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess, Berlin, Verbrecher Verlag, 2023.
Sinti und Roma:
Umfangreiche Materialien zu Film, Musik, Bildende Kunst, Literatur finden sich Romarchive. Weitere Empfehlungen:
- Anja Tuckermann, Muscha. Ein Sinti-Kind im Dritten Reich, 2005.
- Ewald Hanstein, Meine hundert Leben – Erinnerungen eines deutschen Sinto, Bremen 2005.
- Marianne Rosenberg, Kokolores – Autobiographie, Berlin 2006.
- Roger Repplinger, Leg dich Zigeuner – Die Geschichte von Rukeli Trollmann und Tull Harder, 2008.
- Anja Tuckermann, Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war, München 2008.
- Ilija Jovanović, Mein Nest in deinem Haar – Moro kujbo andre ćire bal – Mit einem Nachwort von Elfriede Jelinek, Klagenfurt, Drava, 2011.
- Otto Rosenberg, Das Brennglas, Berlin 2012.
- Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, Berlin 2013.
- Reinhard Florian, Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen! Das Überleben eines deutschen Sinto, Berlin 2013.
- Oliver von Mengersen, Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung (Bd.1573), Bonn / München 2015.
- Karola Fings: Sinti und Roma – Geschichte einer Minderheit, München 2016
- Eva Ruth Wemme / Silvial Cristina Stan, Amalinga, Berlin, Verbrecher Verlag, 2018.
- Markus End, Antiziganismus und Polizei mit Dokumentation der Fachveranstaltung „Die Polizei und Minderheiten – Das Beispiel Antiziganismus“ und einem ergänzenden Beitrag zum OEZ-Attentat, Heidelberg, Schriftenreihe des Zentralrats der Sinti und Roma, 2019.
- Regine Scheer, Gott wohnt im Wedding, Berlin 2019.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2024, Internetzugriff zuletzt am 16. August 2024. Das Titelbild zeigt das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, Foto: Peter Culey. Wikimedia Commons.)