Demokratie in der Schule: Schule in der Demokratie

Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik

„Demokratie besteht nicht nur aus Verfassung, Parlament und Wahlen. Sie ist eine kreative Gesellschaftsform, in der sich Menschen engagieren können, politische und soziale Probleme anzupacken und die Welt mitzugestalten. Demokratie lebt von Diskurs und Kritik, von Gestaltungsmöglichkeiten und Beteiligung. Partizipation ist für uns daher ein elementares demokratisches Prinzip. Grundlage demokratischer Entscheidungsprozesse ist die Beteiligung aller Betroffenen – das gilt besonders für Kinder und Jugendliche. Unsere Demokratie hat nur eine Zukunft, wenn sie dem Wunsch nachwachsender Generationen nach lebhaften Mitgestaltungsmöglichkeiten entspricht.“

Mit diesen Sätzen beschreibt die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik ihre Ziele. Der Demokratische Salon sprach mit Christoph Schlagenhof, dem Vorsitzenden des NRW-Landesverbandes der DeGeDe.

Norbert Reichel: Herr Schlagenhof, seit 2012 arbeiten Sie ehrenamtlich in der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik. Die nordrhein-westfälische Landesgruppe wurde 2016 gegründet. Sie sind der Vorsitzende. Wie kam es zu dieser Gründung?

Christoph Schlagenhof: Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik hat ihre Wurzeln in dem ehemaligen BLK-Programm „Demokratie leben und lernen“. In diesem Programm entstanden in verschiedenen Ländern Demokratietage und Landespräventionsstellen. Ein wichtiges Instrument ist das vom Bundesfamilienministerium und fast allen Ländern geförderte Programm „Demokratisch handeln“. Vorreiter waren Rheinland-Pfalz und Hessen. In Rheinland-Pfalz findet der Demokratietag regelmäßig im Landtag statt und erfährt dadurch höchste Aufmerksamkeit, auch in der Presse. Nordrhein-Westfalen folgte leider erst relativ spät. Es ist das Verdienst der damaligen Schulministerin Sylvia Löhrmann, dem Anliegen der Demokratiepädagogik auch institutionellen Raum gegeben zu haben.

Norbert Reichel: Was sind die Ziele der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik?

Christoph Schlagenhof: Es geht darum, nachhaltig das Thema „Demokratie“ in allen Facetten in der Schule zu etablieren. Demokratie muss gelernt werden, genauso wie Lesen, Schreiben, Rechnen. Dafür die nötige Aufmerksamkeit zu schaffen und Schulen bei der Umsetzung zu unterstützen sind die Hauptziele der DeGeDe.

Norbert Reichel: Sie vertreten den Landesverband Nordrhein-Westfalen. Wie bewerten Sie die aktuelle Förderung von Demokratie in der Schule in diesem Bundesland?

Christoph Schlagenhof: Zunächst darf ich die gute Unterstützung des Schulministeriums und der Landeszentrale für politische Bildung hervorheben, die auch nach dem Regierungswechsel im Jahr 2017 fortgesetzt wurde. Diese Unterstützung ermöglichte eine verlässliche Finanzierung mehrerer Programme der Demokratiepädagogik mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Schwerpunkten. Dazu gehören neben dem bereits erwähnten Programm „Demokratisch handeln“ und seiner mit der Heinrich Böll Stiftung NRW jährlich durchgeführten Tagung „Gesagt, getan“ das Buddy-Kinderrechte-Programm, das von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung angeregte Programm OPENION und natürlich auch die seit 2011 regelmäßig, in der Regel alle zwei Jahre durchgeführten Demokratietage. Eine wichtige Rolle spielt auch die landesweite Fortbildung „Demokratie gestalten – Interkulturelle Schulentwicklung“.

Der nächste Demokratietag findet im November 2020 in Dortmund statt. Hinzu kommen regionale Demokratietage, beispielsweise in Bielefeld und Dortmund. Sie sollen in den nächsten Jahren mehr aus der Perspektive der Schüler*innen gestaltet werden, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck von Fridays for Future.

Die regionalen Demokratietage sind eine neue Entwicklung, die wir sehr unterstützen. Schließlich muss es gelingen, dass die Akteure von Ort miteinander ins Gespräch kommen und sich vernetzen. Der NRW-Demokratietag bietet dagegen eher die große Bühne, deren Bedeutung in den letzten Jahr gestiegen ist.

Norbert Reichel: Wie wirkt sich dies in den Schulen konkret aus? Fridays for Future ist ja nicht unumstritten. Und ich kann mir vorstellen, dass manchen Eltern und Lehrer*innen das politische Engagement der Schüler*innen unheimlich ist.

Christoph Schlagenhof: Viele Schulen gehen damit sehr gelassen und liberal um. Wer zur Demonstration gehen möchte, kann gehen. Die Schüler*innen wissen in der Regel sehr genau, wie sie versäumten Stoff nachholen können und tun dies auch sehr bewusst. Ich denke, dass Schule zum Lernen da ist und Lernen geschieht eben nicht nur im Unterricht, sondern vielleicht sogar viel intensiver außerhalb der Schule in konkreten demokratischen Erfahrungen.

Norbert Reichel: Welche Kontroversen erleben Sie im Kollegium oder mit Eltern und wie lösen Sie diese?

Christoph Schlagenhof: Kontroversen gehören dazu. Wichtig ist, dass sie offen ausgetragen werden. Nur wenn es gelingt, dass alle Partner miteinander ins Gespräch kommen, kann eine gute Lösung für alle geschaffen werden. Leider reicht die Zeit im Schulalltag oft nicht aus, da der Zeitplan sehr eng getaktet ist. Die damit verbundenen Kontroversen sind daher oft unvermeidlich. Man müsste sich zu Beginn mehr Zeit nehmen, dann hätte man am Ende weniger Ärger. Aber das sagt sich so leicht!

Norbert Reichel: Bleiben wir bei dem Begriff des Lernens.

Christoph Schlagenhof: Schule ist eine Lebensform. Sie beansprucht den Alltag der Schüler*innen in erheblichem Maße. Und alles, was es in der Gesellschaft gibt, gibt es auch in der Schule. Das Bild von Schule in der Öffentlichkeit lässt jedoch viel zu oft diesen Aspekt vermissen. Schule ist nicht nur eine Institution, die Wissen und Kulturtechniken vermittelt. Es geht nicht nur um Mathematik, Naturwissenschaften, Deutsch und Fremdsprachen. Alles, was junge Menschen in der Schule lernen, muss sich im Leben außerhalb der Schule bewähren. Alles, was sie lernen, muss sich daran messen lassen, was sie in die Schule mitbringen, aus der Familie, aus dem Kreis ihrer Freund*innen, aus den Medien, den sozialen Netzwerken. Schule kann daher nicht so tun, als sei sie eine Insel, in der fest gefügte und unbestreitbare Fakten gelehrt werden. Schule ist eine hochpolitische Einrichtung.

Wer sich einmal mit Schule in Diktaturen beschäftigt hat – das wäre auch ein gutes Thema für den Geschichtsunterricht – stellt schnell fest, wie Schule zur Indoktrination genutzt wird. Auch in der bundesdeutschen Geschichte gab es ja heftige Debatten darüber, wo Selbstdenken aufhört und Indoktrination anfängt. Der Beutelsbacher Konsens hat dafür gesorgt, dass alles, was in der Gesellschaft strittig ist, in der Schule auch strittig behandelt werden kann. Und das betrifft alle Fächer und natürlich auch die vielen außerunterrichtlichen Angebote.

Norbert Reichel: Manche fordern, dass sich Schule neutral verhalten sollte.

Christoph Schlagenhof: Das kann sie gar nicht. Die KMK hat sich hier übrigens zuletzt, im Jahr 2018, sehr klar positioniert, auch angesichts der Forderungen einer Partei, man möge Lehrer*innen auf ihren Meldeportalen anzeigen, wenn sie Kritisches zu ihren Positionen sagen.

In der KMK-Empfehlung zur Demokratie in der Schule – eine Weiterentwicklung der Empfehlung von 2009 – lesen wir: „Werden in der Schule kontroverse Thematiken behandelt, haben Lehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, den Unterrichtsgegenstand multiperspektivisch zu beleuchten, zu moderieren, bei Bedarf gegenzusteuern, sowie Grenzen aufzuzeigen, wenn diese überschritten werden. Voraussetzung für die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses ist somit eine Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte.“ 

Mit Neutralität hat das nichts zu tun, im Gegenteil: der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist unverhandelbar, und wenn sich jemand antidemokratisch äußert, ist es Dienstpflicht aller Lehrer*innen, dem entgegenzutreten. Dies gilt im Übrigen auch für manche Äußerungen, die aus meiner Sicht jenseits jeder Meinungsfreiheit liegen und eindeutig beleidigenden oder herabsetzenden Charakter haben.

Norbert Reichel: Manche Lehrer*innen klagen, sie hätten für das Thema Demokratie keine Freiräume.

Christoph Schlagenhof: Es gibt vielmehr Freiräume als viele denken. Es ist natürlich eine ständige Herausforderung, neue Frei- und Spielräume zu finden. Das kann man natürlich auch institutionalisieren Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Schule. Ich habe in Klasse 8, 2. Halbjahr, und in Klasse 9, 1. Halbjahr, das Fach „Demokratie“ eingeführt. Wir nehmen dafür Ergänzungsstunden, die wir für Förderunterricht haben. In diesem Fach gibt es keine Arbeitsblätter, sondern konkrete Demokratieprojekte. Dazu gehören beispielsweise die #Kuchentalks.

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Norbert Reichel: Was kann ich mir darunter vorstellen?

Christoph Schlagenhof: Die Schüler*innen ärgerten sich, dass sie in den sogenannten „Echoräumen“ nur Gleichgesinnte träfen. Sie sind dann in ein Einkaufszentrum gegangen, haben selbstgebackenen Kuchen angeboten und die Menschen eingeladen, mit den Schüler*innen zu diskutieren. Es gab zwei Tische, die immer voll waren. Es kamen Menschen aus allen möglichen Gruppen, Anwälte, Menschen mit Hartz-IV-Bezug, Alleinerziehende. Es gab auch Gespräche mit einem AfD-Sympathisanten, die einige Einblicke darin gaben, wie diese denken. Im Unterricht haben wir diese Gespräche vor- und nachbereitet, um auf diese Weise die Echoräume zu überwinden.

Norbert Reichel: In welchen Punkten konnten die Schüler*innen ihre eigene Sicht der Dinge verändern und was erreichten sie bei Gesprächspartner*innen?

Christoph Schlagenhof: Das ist natürlich immer schwer zu beurteilen. Für meine Schülerinnen und Schüler war es ein großer Gewinn. Es gehört schon eine Menge Mut dazu, sich mit fremden Menschen an den Tisch zu setzen und zu diskutieren. Die Gäste an den Tischen haben sicherlich auch den einen oder anderen neuen Gedanken bekommen und sind zufrieden nach Hause gegangen, nicht zuletzt wegen des Kuchens.

Norbert Reichel: Sie haben an Ihrer Schule die Funktion des „Koordinators für demokratische Schulentwicklung“ übernommen. Was gehört zu Ihren Aufgaben?

Christoph Schlagenhof: Das Aufgabenprofil ist vergleichbar mit den für andere Bereiche zuständigen Koordinator*innen, beispielsweise für DAZ (Deutsch als Zweitsprache) oder Individuelle Förderung. Es ist wichtig, dass es in der Schule eine Person gibt, die als verlässliche und regelmäßig erreichbare Ansprechperson den Bereich der demokratischen Schulentwicklung koordiniert.

Norbert Reichel: Wenden sich Ihre Kolleg*innen unmittelbar an Sie und was besprechen Sie dann? Gibt es Fachkonferenzen Demokratie?

Christoph Schlagenhof: Eine Fachkonferenz „Demokratie“ wäre wirklich toll, aber so weit sind wir noch nicht. Wir haben ein regelmäßiges Treffen mit den SV-Lehrer*innen und weiteren engagierten Kolleg*innen. Ich stehe als Ansprechpartner allen in der Schule zur Verfügung. Sie wissen, dass ich über gute Kontakte verfüge und daher werde ich von Kolleg*innen, Schüler*innen und Eltern angesprochen. Meistens reicht es, wenn ich einen passenden Ansprechpartner vermittle und dann arbeiten sie eigenständig weiter. Ich kann ja nicht alle Projekte aktiv begleiten.

Norbert Reichel: Haben die Schüler*innen auch konkrete Kontakte mit Politiker*innen?

Christoph Schlagenhof: Schüler*innen – und übrigens auch wir Lehrkräfte – haben oft genug den Eindruck, dass Politiker*innen bei Veranstaltungen über uns hinwegreden. Sie haben eine Vorstellung von Schule, die oft genug ihrer eigenen Schulzeit entspricht. Umso wichtiger ist es, dass Schüler*innen lernen sich einzumischen. Ein konkretes Beispiel, dessen Inhalt vielleicht banal erscheinen mag, das aber eine Fülle von Einblicken in den örtlichen Politikbetrieb gab.

Im örtlichen Schwimmbad waren keine weiten Badehosen erlaubt. Ergebnis: Jungen gingen nicht mehr ins Schwimmbad. Im Demokratiekurs fragten sie warum das so sei? Die Schüler*innen haben die Politiker*innen eingeladen, um mit ihnen über das Problem zu diskutieren und einen Antrag für den Stadtrat formuliert. Sie erfuhren, dass ältere Herrschaften die Jungen nicht im Schwimmbad haben wollten. Die anderen Argumente, beispielsweise die Verschmutzungsgefahr, waren möglicherweise nur vorgeschoben. Das Ergebnis: Das Verbot wurde probeweise für ein Jahr aufgehoben. In einem weiteren vergleichbaren Projekt ging es um kostenloses WLAN im benachbarten Jugendzentrum. Die WDR-Lokalzeit hat darüber berichtet. In all diesen Projekten geht es immer um Nachhaltigkeit. Schüler*innen erfahren, wie Politik funktioniert. Es reicht eben nicht aus, fiktive Beispiele der Kommunalpolitik im Klassenraum heranzuziehen. So lernten Schüler*innen konkret, was eine Fraktion ist, denn sie waren eingeladen und nahmen teil.

Norbert Reichel Lässt sich das Interesse der Schüler*innen an kommunalen Themen auch auf Themen übertragen, die etwas weiter von ihrer Lebenswelt entfernt liegen?

Christoph Schlagenhof: Ja. Die Schüler*innen waren alle höchst interessiert, Parlamentssitzungen zu erleben. Auf ihren Wunsch haben wir die BREXIT-Debatten im britischen Unterhaus entweder live oder in Aufzeichnungen verfolgt.

Norbert Reichel: Nicht alle Projekte haben direkten politischen Bezug. Was konnte sonst noch auf den Weg gebracht werden?

Christoph Schlagenhof: Schüler*innen gründen eigene Arbeitsgemeinschaften. So entstanden eine Animé-AG, in der sie zeichnen, diskutieren, Autor*innen einladen, am Schulfest eine Ausstellung organisieren, auch mit Cosplay. In einer Sanitäts-AG erstellen sie selbstständig Dienstpläne und sorgen für die Betreuung von Schulveranstaltungen. Bei diesen Veranstaltungen zahlt sich Vertrauen aus. Beispielsweise müssen Hausmeister und Schulleitung den Mut haben, Schüler*innen den Schlüssel für bestimmte Räume anzuvertrauen, in denen sie sich treffen und ihre AG durchführen.

Norbert Reichel: Ein Klassiker der Demokratiepädagogik ist der Klassenrat.

Christoph Schlagenhof: Klassenräte gibt es in meiner Schule in allen Jahrgangsstufen, eine Stunde pro Woche. Ich bin Klassenlehrer von 5. und 6. Klassen. Es gibt ein Klassenratsbuch, über das die Schüler*innen ihre Wünsche zur Tagesordnung anmelden. Beispielsweise gab es Diskussion über Regeln beim „Tischball“, über die es viele Streitigkeiten gab. Abwägen – Aufstellen eines Regelwerks – beschließen und protokollierendas ist der Ablauf der Debatten.

Norbert Reichel: Wie sieht es aus mit dem Thema Diskriminierung?

Christoph Schlagenhof: Die Schüler*innen sind mutig genug, etwas Problematisches im Unterricht anzusprechen oder auch im Zweifel die Lehrkräfte auf Probleme hinzuweisen.

In einem Projekt haben Schüler*innen verletzende Ausdrücke gesammelt und sind den Hintergründen nachgegangen. Bloßes Verbieten hilft nicht. Man muss Betroffenheit und Empathie auslösen. Man muss erkennen, dass man mit bestimmten Ausdrücken jemanden verletzt. Das funktioniert am besten über den direkten Diskurs. Schüler*innen helfen und unterstützen Schüler*innen, ein klassisches und wirksames Instrument der Peer-to-Peer-Education.

Norbert Reichel: Zur politischen Bildung gehört meines Erachtens auch die Pflege der Erinnerungskultur, ein wichtiger Baustein historischer Bildung.

Christoph Schlagenhof: In der Schule gibt es einen jährlichen Anne-Frank-Tag. Am Anne-Frank-Tag organisieren die Schüler*innen eine Ausstellung zum Leben und Wirken Anne Franks und ihrer Familie. Die Materialien stellt das Anne-Frank-Zentrum kostenlos zur Verfügung. Wir nutzen auch die Angebote von Vogelsang in der Eifel. Die Klassen 8 fahren alle nach Vogelsang, demnächst gemeinsam mit einer niederländischen Klasse. Beeindruckend sind nicht nur die Erfahrungen in der Anlage selbst, sondern auch das Schicksal des gegenüberliegenden Dorfes Wollseifen, dessen Bewohner*innen nicht nur von den Nazis umgesiedelt worden sind, sondern später auch von der belgischen und der britischen Armee, die dort den Häuserkampf für den 2. Irak-Krieg übte. Der Besuch von Vogelsang hat immer eine Wirkung. Durch die tollen Führungen und Workshops wird ein Perspektivwechsel erreicht und Jugendliche versetzten sich in die Jugendlichen, die damals dort ausgebildet wurden. Man erlebt also die große Macht und Anziehungskraft, mit der damals junge Menschen zu Tätern ausgebildet worden sind. Das regt in vielfacher Weise zum Nachdenken an.

Norbert Reichel: Manche werden sagen, tolle Schule, aber das geht doch nur in einer Ganztagsschule.

Christoph Schlagenhof: Falsch. Die Schule, in der ich arbeite, ist eine ganz normale Halbtagsschule mit etwa 600 Schüler*innen. Es gibt neben den bereits beschriebenen Kursen und Projekten die fest etablierten SV-Stunden, zu denen regelmäßig 30 bis 40 Schüler*innen kommen. Ich schätze, dass alle Schüler*innen im Laufe ihrer Schulzeit zwei bis drei Mal an einem konkreten Projekt teilnehmen. Aus meiner Sicht reicht dies auch, um zu lernen, wie Demokratie funktioniert. Natürlich muss eine die Schule durchdringende allgemeine Haltung aller Beteiligten hinzukommen. Aber die ergibt sich mehr oder weniger von selbst, wenn die Demokratie-Kurse und -Projekte wirken. Sie tragen auch dazu bei, dass sich Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen stark mit ihrer Schule identifizieren.

Norbert Reichel: Gibt es auch eine förmliche Anerkennung für die Schüler*innen, die die Projekte durchführen, beispielsweise auf Zeugnissen?

Christoph Schlagenhof: Schüler*innen, die an den beschriebenen Kursen, Arbeitsgemeinschaften oder Projekten teilnehmen, bekommen Gutachten, die beispielsweise auch dazu führen, dass sie ein Stipendium erhalten. Schüler*innen bekommen darüber hinaus Einladungen zu externen Veranstaltungen in Köln, Dortmund oder in Berlin. Auch das ist eine Form von Anerkennung. Wer sich engagiert, erfährt, wo und wie sich andere engagieren. Es entstehen sozusagen Netzwerke fürs Leben.

Norbert Reichel: Ich denke, dass die konkreten Beispiele aus dem Gymnasium, in dem Sie arbeiten, viele Leser*innen dieser Internetseite beeindrucken werden. Viele werden natürlich fragen, ob es das auch in anderen Schulen gibt.

Christoph Schlagenhof: Gibt es. Es könnte natürlich noch mehr davon geben. Aber daran arbeitet die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik. Wir wollen Schule besser machen und sind davon überzeugt, dass dies über ein eindeutiges demokratisches Profil gelingen wird, in dem Schüler*innen nicht mehr als Objekt der Lehre, sondern als Subjekt der Ausgestaltung ihrer Schule, inhaltlich und in eigener Verantwortung erleben.

Wir wollen niedrigschwellig arbeiten, dabei auch Schulen motivieren, die gerade erst anfangen und sie in ihrer demokratischen Schulentwicklung begleiten. Dazu müssen aber die kleinen auf den ersten Blick möglicherweise unscheinbaren Projekte stärker anerkannt werden. Das wiederum setzt voraus, dass sie möglichst unbürokratisch an einem Wettbewerb teilnehmen können, ohne umfangreiche Dokumentationen zu erstellen. Dies bereiten wir zurzeit gemeinsam mit dem Ministerium für Schule und Bildung NRW sowie mit dem Programm „Demokratisch handeln“ in Nordrhein-Westfalen und der Landespräventionsstelle gegen Gewalt und Cybergewalt vor. Wir wollen Menschen zusammenbringen und ermutigen, mit ihren Schüler*innen Demokratie in der Schule lebendig werden zu lassen.

Norbert Reichel: Vielleicht alles im Sinne von Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts: „Ein Schlüssel zum status activus des Staatsbürgers ist Bildung. Bildung nicht im klassischen, die Ungebildeten ausschließenden Sinne, sondern Bildung verstanden als „Empowerment“ Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.“

Christoph Schlagenhof: Ja, das ist der Kern. Ich wünsche mir, dass die guten Formulierungen der KMK-Empfehlung zur Demokratie noch mehr als bisher in die Lehrpläne einfließen und dass wir mit unseren Erfahrungen in den an den genannten Programmen und der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik beteiligten Schulen möglichst viele andere Schulen motivieren können, ein Gleiches zu wagen. „Demokratie wagen“ sagte Willy Brandt. Ich möchte hinzufügen: „auch und gerade in der Schule“. Für die Zukunft unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats ist dies unverzichtbar.

Christoph Schlagenhof ist ehrenamtlicher Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik. Hauptamtlich arbeitet er als Lehrer für Mathematik, Erziehungswissenschaft und Informatik am Carolus-Magnus-Gymnasium in Übach-Palenberg (Kreis Heinsberg, nahe an der deutsch-niederländischen Grenze).

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im November 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)