Der Kern der Gewalt

Sofi Oksanen, Putins Krieg gegen die Frauen

„Darf man denn überhaupt hinterfragen, welches Frauenbild dadurch vermittelt wird, ob dieses Bild nicht die bereits bestehenden patriarchalen Strukturen festigt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht erst später. Vielleicht aber gerade jetzt. Ich weiß es nicht.“ (Iryna Herasimovich, Die Kraft des Unwissens, in: Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution, herausgegeben von Andreas Rostek, Nina Weller, Thomas Weiler, Tina Wünschmann, Berlin, edition.fotoTAPETA, 2020)

Im Westen wurde die Frauen der Revolte in Belarus bewundert, mitunter wurde die Berichterstattung jedoch auch mit einem nicht ganz unproblematischen Frauenbild verbunden. Wir sahen Frauen, die in weißen Kleidern demonstrierten und sich die Schuhe auszogen, wenn sie auf eine Bank stiegen. Manche Medien vergaßen leider, dass nicht nur Frauen in weißen Kleidern gegen das Regime von Lukaschenka revoltierten. Iryna Herasimovich hat die Vorgeschichte, die Hintergründe und Ausdrucksformen der Protestbewegung in Belarus im Demokratischen Salon beschrieben. In der Diktatur Lukaschenkas, in der Diktatur Putins und in den kruden Fantasien ihrer Sympathisant:innen, von denen es einige leider auch im Westen gibt, bedroht uns das Menschenbild, das die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen in ihrem Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ beschreibt. Das Buch erschien 2023 bei Kiepenheuer & Witsch. Es wurde von Angela Plöger und Maximilian Murmann aus dem Finnischen übersetzt. Das Thema der Missachtung, Misshandlung und staatlich geförderten Hilflosigkeit der Frauen ist Leitmotiv der Romane Sofi Oksanens von „Stalins Kühe“ bis „Hundepark“

Wider die große Gleichgültigkeit

Bevor ich das Buch von Sofi Oksanen im Einzelnen vorstelle, möchte ich an den Kontext der medial vermittelten politischen Debatten erinnern, die immer wieder aktualistisch auf das ein oder andere Massaker, Gemetzel oder Pogrom reagieren, es jedoch mit der Zeit relativieren, bagatellisieren oder gar völlig ignorieren. Das Leid der Frauen im Iran und der Terror des Mullah-Regimes, das Leid der aus Myanmar vertriebenen und geflüchteten Rohingya, der von aserbeidschanischen Ruppen aus Bergkarabach nach Armenien geflüchteten Menschen, der den Morden des sogenannten „Islamischen Staats“ entkommenen Êzîden, die in Deutschland inzwischen wieder von Abschiebung bedroht sind, der chinesische Staatsterror gegen die Uiguren und andere mehr – all dies wird mit der Zeit mehr oder weniger ausgeblendet. Und wer spricht heute noch über Belarus? Revolte gescheitert, Thema abgehakt?

Eins sollte klar sein: Zeit heilt keine Wunden, keine einzige. Offenbar gewöhnen wir uns an den Terror, der uns im behaglichen Westen nicht unmittelbar selbst betrifft. Zumindest nicht heute. Manche richten sich geradezu in einer Art „Empathiesperre“ ein – so nannte die Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan dieses Phänomen. In den Hintergrund gerät die Perspektive der Opfer des Terrors. Dies gilt für die Opfer des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023, dies gilt für die Opfer der russländischen Massaker in Butscha, Irpin und anderswo. Besonders verhängnisvoll ist die Neigung, Massaker, Pogrome und Genozide gegeneinander aufzurechnen. So handeln selbst Menschen, die sich selbst durchaus als empathisch verstehen möchten. Empathie ist jedoch unteilbar. Dies vergessen diejenigen, die „Free Palestine“ skandieren und die Hamas als Befreiungsbewegung sehen. Dies ignorieren diejenigen, die der Meinung sind, es sei genug über die Shoah geredet worden, es gehe jetzt eben darum, den Opfern des deutschen Kolonialismus zu ihrem Recht zu verhelfen. So auch diejenigen, die das Leid russischer Soldaten, die Putin in seinem imperialen Wahn in den Tod schickt, gegen die ukrainischen Opfer in Butscha, Irpin und anderswo aufrechnen.

Eine solche Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Opfer und ihrer Angehörigen in der Ukraine, in Israel und anderswo schleicht sich ein, auch bei denjenigen, die bei der ersten Nachricht durchaus ihr Entsetzen bekunden. Die offensichtliche Zurückhaltung einiger feministischer Gruppen, Menschen der Queer-Bewegung, der Kultur- und der Clubszene gegenüber dem Massaker der Hamas wird nicht dadurch akzeptabel, dass das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza zu großem Leid in der örtlichen Bevölkerung führt. Immerhin hat die alles andere als Israel wohlgesonnene UN in einem Bericht die Wahrscheinlichkeit von Vergewaltigungen durch Hamas-Terroristen (die sie natürlich nicht so nennt) in einem Bericht einräumen müssen. Die Anerkennung des Leids der Zivilbevölkerung in Gaza ist davon unbenommen. Die Hamas nimmt es in Kauf oder plant es sogar ein, weil sie Israel damit in der weltweiten Öffentlichkeit immer mehr in die Defensive drängen kann. Den Krieg der Bilder hat Israel schon verloren.

Die Brutalität von Hamas und Putin ist offensichtlich. Sie sollte es sein. Mitunter frage ich mich jedoch, welche Beweise man denn noch braucht? Die israelische Armee hat aus den Videos der Mobiltelefone von Hamas-Terroristen eine etwa 45minütige Dokumentation zusammengestellt, die ausgewählten Politiker:innen und Journalist:innen gezeigt wurde. Der Film „20 Tage in Mariupol“ erhielt den Oscar für den besten Dokumentarfilm. Er ist in der ARD-Mediathek verfügbar, natürlich – wie sich das für sensible Gemüter gehört – mit Triggerwarnung. Keine Triggerwarnung hat das Tagebuch der Augenzeugin Nataliia Sysova aus Mariupol, das die Zeitschrift „J.E.W.“ („Jüdisches Echo Westfalen-Lippe“) sowie wenig später der Demokratische Salon veröffentlichten und das demnächst als Buch vorliegen wird.

Wie gleichgültig wollen wir denn noch werden? Rafik Schami beschrieb die Mentalität der „Gleichgültigen“ in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung vom 7. März 2024: „Nichts bringt die Gleichgültigen aus der Fassung, da sie gar keine Fassung besitzen. Das Leid der anderen bedeutet ihnen nichts. Sie haben stets eine Entschuldigung parat. Etwa: ‚Man kann sowieso als Einzelner nichts verändern.‘ Sie sind programmiert aufs bloße Überleben, und die Geschichte bestätigt sie insgeheim: Die Gleichgültigen überleben immer.‘ Sie riskieren nichts und versuchen – auch auf Kosten ihrer Würde – immer auf der richtigen Seite zu sein. Die Niederlage ihres Fußballvereins bewegt sie mehr als Völkermord.“ Einen Mann, der sich gleichermaßen in den sowjetischen wie in den nazistischen Zeiten Estlands durchmogelt, beschreibt Sofi Eksanen in ihrem Roman „Als die Tauben verschwanden“.

Putins Russland wird nicht morgen, nicht übermorgen und sicherlich auch nicht in den nächsten Jahren seine Truppen nach Berlin schicken. Aber es gibt noch eine andere Gefahr, die der schleichenden Anpassung und Hinnahme antidemokratischer und antiliberaler Tendenzen. Schon in den 1960er Jahren warnten viele vor dem Beispiel Finnlands, der „Finnlandisierung“. Daran erinnerte Sofi Oksanen wenige Tage vor dem russländischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2024 im der ZEIT: „Die Finnlandisierung prägte das historische Gedächtnis, die nationale Identität und den Sprachgebrauch. Mit der Sprache ändert sich die Denkweise der Sprechenden. Finnland war das Testlabor für viele psychologische Operationen der Sowjetunion und aus Sicht des östlichen Nachbarn eine Erfolgsgeschichte. Unser Staat, der wie eine nordische Demokratie wirkte, schien ein Beweis dafür zu sein, dass die Sowjetunion zu einem friedlichen Zusammenleben mit seinen Grenznachbarn fähig war.“ Im Westen liebte viele – so schrieb ich im März 2022 – dieses Appeasement und wiegten sich in Sicherheit. Wer wo in welchem Maße darunter litt, wurde nicht bedacht.

Exzessive Gewalt und wirtschaftlicher Nutzen

Doch was ist der Kern, was das Ziel des russländischen Terrors? Man könnte sagen, dass der Kern der Krieg gegen die Demokratie ist, der vor allem als Krieg gegen Frauen ausgetragen wird, in seiner Zuspitzung als Krieg gegen „Gayropa“ markiert. Die Leipziger Autoritarismusstudie bezeichnete den Hass auf Frauen als „Brückenideologie“ der Neuen Rechten, deren Ableger in den westlichen Ländern Putin finanziell, logistisch und propagandistisch unterstützt.

Sofi Oksanen beschreibt ausführlich, wie russländische Soldaten sexuelle Gewalt als Kriegswaffe einsetzen und wie ihre Familien sie dabei unterstützen: „Russland hat sexuelle Gewalt zu einer Waffe und zu einem Abschreckungsmittel über Geschlechter und Nationalitäten hinweg gemacht.“ Butscha war nicht der erste Fall. Sofi Oksanen verweist auf die Filmregisseurin Alisa Kowalenko, die in ihrem gemeinsam mit Ljubov Durakova gestalteten Film „Alisa w krainie wojny“ („Alisa im Land des Krieges“, auf Netflix verfügbar) die Kriegsverbrechen des Jahres 2014 dokumentierte, als russländische Soldaten – damals noch ohne Abzeichen und von der zynisch-einschläfernden Bemerkung Putins begleitet, sie würden doch nur Urlaub machen – die ukrainische Krim und Teile der Ostukraine besetzten. Nicht nur Frauen wurden und werden vergewaltigt, auch Männer. Stanislaw Aseyev entkam dem Lager am Hellen Weg in Donezk und dokumentierte was dort geschieht, in seinem Buch „Heller Weg“ (die deutsche Ausgabe erschien 2022 bei ibidem).

Sofi Oksanen dokumentiert abgehörte Telefonate, in denen Mütter und Ehefrauen ihre Männer ermutigen, ukrainische Frauen zu vergewaltigen, sie beschreibt, wie russländische Soldaten die Wohnungen der Menschen in der Ukraine plündern und ihren Frauen Waschmaschinen und die Unterwäsche ukrainischer Frauen mitbringen. Russländische Soldaten rufen bei einer Plünderung ihre Freundinnen an, um ihre Körbchengröße zu erfragen. Ein Vorgehen, das es auch schon zur Zeit der sowjetischen Besatzung Estlands gab, als russische Frauen die Unterwäsche estnischer Frauen in der Öffentlichkeit als Ausgeh- und Abendkleider trugen.

Der Krieg ist in Russland inzwischen Wirtschaftsfaktor Nummer Eins. Russland hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, etwa ein Drittel der Produktion betrifft Kriegsgüter. Aber es ist nicht nur das, weil „der Krieg für die Familien eine Sache geworden ist, die sich wirtschaftlich lohnt.“ Durch Plünderungen zum Beispiel. Die plündernden, vergewaltigenden und mordenden Soldaten sind die Familienväter, die ihren Frauen, ihren Kindern oder – falls noch nicht verheiratet – ihren Freundinnen von der Front allerlei schöne Dinge mitbringen. Sie sind die Menschen, die Bertolt Brecht in seinem zynischen Gedicht beschrieb: „Und was bekam des Soldaten Weib?“ Stöckelschuhe, ein Seidenkleid, Brüsseler Spitzen, einen schönen Hut, aber dann der Tod: „Aus Russenland bekam / Sie den Witwenschleier“. Auch Heinrich Böll – so berichtet Götz Aly – brachte seiner geliebten Annemarie Seidenstrümpfe nach Hause.

Götz Aly hat die nationalsozialistische „Gefälligkeitsdiktatur“ in seiner Studie „Hitlers Volksstaat, Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2005) beschrieben. Ähnliches geschieht zurzeit in Russland. Das Leid von Menschen, denen man das Menschsein abspricht, wird nicht nur ideell, sondern auch finanziell von der Staatsspitze belohnt. Die Entsoldung der russländischen Soldaten liegt ein Vielfaches über dem Durchschnittseinkommen. Sofi Oksanen schreibt: „Ich bezeichne diejenigen, die aufseiten der Regierung stehen, egal was sie tut, als Opportunisten, und genau diesen Teil der Bevölkerung hat der Kreml mit Erfolg hinreichend zufriedengestellt, indem er für das wirtschaftliche Wohlergehen der Heimatfront sorgt.“

Solches „Wohlergehen“ macht unempfindlich, gleichgültig, es korrumpiert. Solche Gleichgültigkeit gibt es nicht nur in Russland, es gibt sie überall und die Gleichgültigen sind diejenigen, die Diktaturen den Weg vielleicht nicht aktiv ebnen, sie aber ungehindert über den mit Gewalt geebneten Weg vorgehen lassen, weil sie zur Seite treten und sich an dem erfreuen, was ihnen das Regime als scheinbare Wohltaten geben mag, eine subtile Form von Korruption. Erlernte Gleichgültigkeit zahlt sich aus.

Sofi Oksanen stellt fest: „Ohne die Unterstützung durch die Heimatfront wären die Kriegsverbrechen nicht möglich: Die Soldaten müssen sicher sein, dass sie zu Hause wieder willkommen sind, am liebsten als Helden.“ Und diese Sicherheit haben sie, denn „aufgrund der von den Ukrainern mitgeschnittenen Gesprächen ist es sicher, dass die Ehefrauen, Freundinnen und Mütter der russischen Soldaten über die von ihren Angehörigen begangenen Kriegsverbrechen Bescheid wissen und dass sie sogar dazu ermuntern“, selbst zur Anwendung bestimmter Foltermethoden.

Mütter und Huren

Sofi Oksanen verweist auf die Praxis mancher Russinnen und Russen, die in der Zeit der sowjetischen Besatzung Estlands, in der sowjetischen Zeit der Ukraine, Menschen in Estland, in der Ukraine und anderswo anbrüllten und forderten, sie möchten doch bitte eine „Menschensprache“ sprechen. Sie bezeichnen die Überfallenen als Insekten, als Parasiten, eine auch im gewalttätigen und genozidalen Antisemitismus der Nazis gängige Metapher. Die vergewaltigten, die zur Vergewaltigung frei- und weitergegebenen Frauen werden als „Flittchen“ diffamiert, den Frauen, die aus der Ukraine in den Westen flüchteten, wird unterstellt, sie wollten wegen „Sexarbeit in die EU und um sich die europäischen Männer zu krallen“. Ort solcher Diffamierungen sind nicht zuletzt die sogenannten Sozialen Medien und das Internet. In „Stalins Kühe“ wird die Protagonistin Anna, eine Estin, auch im benachbarten Finnland als russische Prostituierte diffamiert.

Mitunter fiel dieses Narrativ im Westen auf fruchtbaren Boden. Einige Männer warteten mit eindeutigen Angeboten am Berliner Hauptbahnhof. Die rechtsextreme polnische Partei Confederacja bemühte dieses Narrativ im Wahlkampf und fand Zuspruch bei einigen Polinnen, die befürchteten, die geflüchteten Ukrainerinnen nähmen ihnen die polnischen Männer weg. „Mit solch einem konstruierten Internet-Narrativ versucht man auch, einen Keil zwischen die in der Ukraine verbliebenen und die aus der Ukraine geflüchteten Frauen zu treiben, die Hilfsbereitschaft der Länder, die Geflüchtete ins Wanken zu bringen, die Russen daran zu hindern, Mitgefühl für sie zu empfinden, die von den Russen ausgeübte Gewalt als normal darzustellen und die Bemühungen der Ukraine um Gleichberechtigung, einem wesentlichen Baustein der Demokratie, zu hintertreiben.“ Ausbeutung hat viele Gesichter und die russländischen Soldaten sind vielleicht nur die Spitze eines Eisbergs sexualisierter Gewalt. Wer mehr zu diesem Thema lesen will, lese Sofi Oksanens Roman „Hundepark“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2022) oder „Kukolka“ von Lana Lux (Berlin, Aufbau 2017). In beiden Romanen spielen westliche Männer, in „Hundepark“ auch Frauen, eine zentrale Rolle bei der sexuellen Ausbeutung ukrainischer Frauen, als verschleppte Prostituierte in „Kukolka“, als Leihmütter und Eizellenspenderinnen in „Hundepark“.

Es ist nun nicht so, dass Frauen niemals eine aktive Rolle im Krieg gespielt hätten. Sofi Oksanen nennt die Zahl von 800.000 Frauen, die im „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Roten Armee gedient hatten. Svetlana Alexijewitsch hat ihre Leistungen in „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (Berlin, Hanser, 2013) in vielen Interviews dokumentiert, allerdings auch die männlichen Invektiven und Entwürdigungen, die selbst bewährte Scharfschützinnen erleiden mussten. Auf Kriegsdenkmälern spielen Frauen keine Rolle. „In Russland gibt es keine solchen Heldinnen, die ins Bewusstsein des gesamten Volks getreten wären, weil zum Beispiel das Sprachrohr des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, nicht zum Vorbild für Gleichberechtigung taugt. Im Sommer 2022 war sie auf ihrem Telegram-Kanal zu sehen, wie sie in Anspielung auf Fellatio an Erdbeeren leckte.“

Zu diesem Frauenbild gehört auch die Bewunderung Putins gegenüber dem wegen Vergewaltigung verurteilten ehemaligen israelischen Staatspräsidenten Moshe Katzav: „Er hat uns alle überrascht. Wir beneiden ihn alle.“ Diese Äußerung schaffte es auch in die Berichterstattung westlicher Medien. Eine nennenswerte Reaktion gab es jedoch nicht. Die #MeToo-Bewegung hatte sich noch nicht formiert. Schuld sind immer die Frauen, nie die Männer. Zur Praxis im Iran und in anderen islamistischen Ländern und Gruppierungen, die vergewaltigten Frauen anzuklagen und zu ächten, wenn nicht gar zu ermorden, ist es da nicht mehr weit. Aber Putin wäre nicht der Zyniker, der er ist, wenn er nicht betonte, dass es ein Unterschied ist, ob sich eine russische Frau prostituiert oder eine nicht russische. So „lobte Putin die russischen Prostituierten mit der Feststellung, dass sie die besten der Welt seien.“ Und die russischen Männer – das ist der Subtext – sind die männlichsten aller Männer.

Dies sehen wir auch in den Gedenkstätten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Wir sehen „extreme Maskulinität, physische Stärke und Muskelfülle“. Für Frauen bleibt die Mutterrolle: „Die massiven Mutter-Heimat-Statuen stehen wiederum allegorisch für das Land.“ Auch dies gehört zur Geschichte der Entmenschlichung von Frauen in Russland. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass es in der sowjetischen Zeit durchaus so etwas wie Frauenrechte gab. Im Westen bewunderten viele ohne groß darüber nachzudenken, dass in der Sowjetunion und den von ihr beherrschten Staaten einschließlich der DDR Frauen in fast allen Berufen präsent waren. Die mangelnde Präsenz von Frauen in Politbüro und Zentralkomitee ignorierten sie. In der Sowjetunion nahm Stalin schließlich einfach an, dass die Unterdrückung der Frauen in einem sozialistischen Staat allein schon durch die Staatsform abgeschafft worden wäre. Es brauche daher keine eigenen Frauenorganisationen mehr. Den 2019 eingerichteten Frauenausschuss der Kommunistischen Partei, die „Schenotdel“ schaffte Stalin 1930 einfach wieder ab. Begründung: „Der Übertritt der Frauen ins öffentliche Leben gefährdete die Geburtenrate.“

87 Jahre später: „Im Jahr 2017 wurde Gewalt in der Beziehung in Russland praktisch legalisiert, indem man die entsprechende Gesetzgebung lockere. (…) Patriarch Kyrill verkündete, dass die Kriminalisierung häuslicher Gewalt eine Erfindung der Ausländer und es Aufgabe des Gesetzes sei, die Russen vor ausländischen Einflüssen zu schützen.“ Diese Strategie geht einher mit der Verschwörungserzählung des die russischen Werte bedrohenden „Gayropa“. Die LSBTIQ*-Community wurde bereits mit dem Etikett der „ausländischen Agenten“ kriminalisiert, es gibt auch schon den Vorschlag, den „Feminismus“ in die Liste der ausländischen und daher per se antirussischen Einflüsse aufzunehmen. Frauen haben in Putins Reich einfach nur die Aufgabe, Kinder zu gebären. Sofi Oksanen berichtet von Initiativen von Mitgliedern der Duma, Frauen nur zu höherer Bildung zuzulassen, wenn sie vorher Kinder geboren haben (mit dem Hintersinn, dass sie dann vielleicht gar nicht mehr nach Bildung streben). Sie spitzt dies mit der Bemerkung zu, „dass Russland seine Frauen zurück ins 19. Jahrhundert schickt“ und dies als „traditionelle Werte“ anpreist.

Russischer Essenzialismus

Das dritte und längste der fünf Kapitel des Buches trägt den Titel „Homo putinicus“, zwei weitere Kapitel beschreiben den kolonialistischen Hintergrund des russländischen Vorgehens und die Art und Weise, wie dieses Vorgehen in andere Länder „exportiert“ wird. Doch wie entstand der Mythos Putin? Sofi Oksanen nennt den Beitrag von Gleb Pawlowski, „ein sowjetischer Dissident und mehrfacher Renegat, der nach dem Ende der Sowjetunion zu einem politischen Technologen wurde“ und maßgeblich an der Auswahl Putins als Nachfolger von Boris Jelzin beteiligt gewesen sein soll. „Gleb Pawlowski gab dem zukünftigen Präsidenten eine Rolle, die auf den Vorlieben des Volks basiere. Er wollte einen Mann, der den Westen überlistete, durch Nazi-Symbole spazierte und vor patriotischen Gedanken strotzte, den die Frauen liebten und dem Jungen und Männer nacheiferten. Wladimir Putin, ein junger Geheimdienstagent, der in Deutschland gedient hatte, passte perfekt in die Rolle.“ Der nüchterne und enthaltsame Putin war dabei durchaus auch für manche russischen Frauen attraktives Gegenbild zu seinem Vorgänger Boris Jelzin, der dem Alkohol mehr als nur zugeneigt war.

Es war sicherlich nicht Gleb Pawlowski allein, der Putin an die Macht brachte, KGB und FSB spielten selbstverständlich ihre Rolle. Catherine Belton beschrieb diese ausführlich in ihrem 2021 erschienenen Buch „Putin’s People“, auch die Erpressungen gegen Jelzin, der sich veranlasst sah, Putin selbst vorzuschlagen. Der englische Titel erinnert ein wenig an John Le Carrés Agentenroman „Smileys People“, die deutsche Übersetzung „Putins Netz“ gibt diesen geheimdienstlichen Hintergrund nicht her und verharmlost damit im Grunde auch die Vorgehensweise des Russland beherrschenden Männerclans. Sofi Oksanen verweist mit Recht auf Parallelen zwischen dem Putin-Mythos und der Figur des James Bond, zumal sie bei Daniel Craig als bisher letztem Bond-Darsteller und Putin durchaus äußere Ähnlichkeiten feststellt (eine Ähnlichkeit, die mich lange daran hinderte, die Craig-Filme anzuschauen, obwohl ich mich schließlich überzeugen konnte, dass Craig mit den von ihm gespielten Skrupeln und Zweifeln vielleicht der beste aller bisherigen Bond-Darsteller war). Putin inszeniert sich im Grunde als der mächtige Rächer der aus seiner Sicht so schmählichen Niederlage der ehemaligen Sowjetunion im Kalten Krieg.

Pawlowski nannte seine Kampagne die „Revanche der Loser“, eine Sicht. Diese Sicht nahm Putin auf, als er im Jahr 2005 die Auflösung der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Sein Thema ist das immer wieder gedemütigte Russland. Sofi Oksanen notiert, wie Putin die 1990er Jahre „zur ‚Smuta‘ erklärte, zur Zeit der Wirren. Ursprünglich bezeichnete der Begriff Russlands vorübergehenden Zerfall in der Zeit nach Iwan dem Schrecklichen zwischen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts. Rundfunk, Fernsehen und Presse wurden angewiesen, die Smuta mit den Neunzigerjahren zu verknüpfen, und der Kreml sorgte dafür, dass im Fernsehen zur Unterstützung des Narrativs historische ‚Dokumentarfilme‘ liefen, in denen die Smuta und die Neunzigerjahre gleichgesetzt wurden. In Talkshows dagegen wurde die Nostalgisierung dieser Zeit verurteilt, und man erzählte dem Volk, wie gefährlich es sei, Anarchie als Freiheit zu interpretieren.“ manche westlichen Politiker:innen und Journalist:innen sind durchaus auf diese Lesart der russischen Geschichte hereingefallen, so beispielsweise die Gründerin der zu Jahresbeginn 2024 entstandenen deutschen Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) oder der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, die den Angriff Russlands auf die Ukraine immer wieder als Folge angeblicher Demütigungen durch den Westen zu erklären versuchten. Gehör fanden sie in den Medien mit wenigen Ausnahmen jedoch nicht.

Aleksander Dugin, der 2014 noch aus dem Umfeld Putins verbannt wurde, konnte sich mit seiner Vision von „Russlands ewiger Mission“ inzwischen durchsetzen. „Zivilisation“ ist nur mit und in Russland zu haben. Wer diesem Bild Russlands nicht folgt, riskiert alles. Das Schicksal der Ukraine ist das Schicksal der in den 1940er Jahren annektierten baltischen Staaten. „Völkermord“ hat viele Gesichter, es geht nicht unbedingt um die physische Ermordung eines Volkes, es geht auch um seine kulturelle Vernichtung. Die Sprache, die Erinnerung an die eigene Geschichte – all dies muss vernichtet werden. Und dazu gehört eben auch das Frauenbild des Westens. Dugins Frauenbild, das Putins Vorstellungen inzwischen maßgeblich prägt, „gründet auf dem biologischen Essenzialismus“.

Zu diesem Essenzialismus gehört, dass alles, was der russischen beziehungsweise russländischen Vision einer von Russland beherrschten Welt nicht entspricht, als „faschistisch“ bezeichnet wird. Mit dem historischen Faschismus hat diese Redefigur wenig zu tun. Es geht um die verfälschende Erinnerung an die Tradition des Großen Vaterländischen Krieges, die sich in der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine fortsetze. Der Gegner muss nicht nur entmenschlicht werden, sondern gleichzeitig als der Vertreter alles Bösen schlechthin dargestellt werden. Dies ist auch Gegenstand des vierten Kapitels mit dem Titel „Crashkurs in russischem Kolonialismus“. Hier kommt die Krim ins Spiel, die bei weitem nicht so russisch ist wie Putin glauben machen möchte. Katharina die Große eroberte die Krim und leitete einen Prozess der „Russifizierung“ ein, den ihre Nachfolger fortsetzen und der letztlich „Enttartarisierung“ bedeutete, ein Prozess, den Stalin 1944 abschloss, indem er die tatarische Bevölkerung nach Zentralasien deportieren ließ. Auch hier knüpfte Putin 2014 an.

Sofi Oksanen: „Der russische Kolonialismus ist als Thema der Elefant im Raum.“ Nicht nur in der Krim, auch in den zahlreichen von Minderheiten bewohnten Regionen Sibiriens, in denen diese Minderheiten die Mehrheit bilden und im Grunde sogar die rechtmäßigen Eigentümer der Öl- und Gas-Ressourcen wären, mit denen Putin seinen Krieg finanziert. Sofi Oksanen spricht von einer „Krim-Obsession“ Russlands und zitiert den Ukraine-Spezialisten Rory Finnin, der die Reaktion des Westens als „Krimnesie“ bezeichnet, eine Amnesie, die auch die indigenen Völker Sibiriens betrifft, die sich nie der westlichen Aufmerksamkeit erfreuten wie dies beispielsweise die indigenen Völker der beiden Amerikas erreichten. „Der Mythos vom ‚ewigen‘ Russisch-Sein des Gebiets lebte stärker weiter als die Geschichte der Tataren, und dies konnte geschehen, weil man nicht die Begriffe verwendete, die aus der Kolonisationsdebatte bekannt sind: Beispielsweise wurde die russische Bevölkerung des Gebiets nicht als Kolonisten bezeichnet.“ Erstaunlich ist, dass sich stattdessen in der westlichen Wahrnehmung die Rede von den russischen Minderheiten durchsetzte, nicht nur bezogen auf die Ukraine, auch bezogen auf die baltischen Staaten, auf Moldawien und Georgien, ganz zu schweigen von Minderheiten in Jakutien, Burjatien oder Tatarstan. „Das Ersetzen der ursprünglichen Bevölkerung durch Russen ist seit Jahrhunderten Teil der Machtpolitik Russlands“ und ebendies geschieht zurzeit auch in den besetzten Gebieten der Ukraine. Bleibt anzumerken, dass vor allem Männer der Minderheiten in der Ukraine als Kanonenfutter eingesetzt wurden.

Ist Wandel möglich?

Dass wir zu wenig, oft nichts von der Brutalität der russländischen Soldaten erfahren, oft nur gerade so im Vorübergehen vielleicht das ein oder andere aufschnappen, aber umgehend wieder zu unserer Tagesordnung übergehen, hat viel damit zu tun, dass wir viel zu lange weggeschaut haben und eigentlich nie wissen wollten, wie die Menschen leben, deren Länder von der russländischen Armee überfallen wurden. Sofi Oksanen verweist auf einen Hinweis von Timothy Snyder, „dass die meisten Völkermorde deshalb vergessen sind, weil die anderen Völker sie nicht zur Kenntnis nahmen, als sie geschahen.“

Die Deutschen überfielen am 1. September 1939 Polen und am 22. Juni 1941 die Sowjetunion. Am 17. September überfielen die sowjetischen Truppen Polen. Ein Ergebnis des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939. Über die in diesem Pakt in einem Zusatzprotokoll gezogene Molotow-Ribbentrop-Linie, in der das Deutsche Reich und die Sowjetunion sich die Welt aufteilten, durchaus vergleichbar wie dies am 7. Juni 1494 Spanien und Portugal im Vertrag von Tordesillas taten, weiß heute in Deutschland kaum noch jemand etwas. Im „Großen Vaterländischen Krieg“ überzogen die sowjetischen Truppen die besetzten, zurückgewonnenen und eroberten Gebiete mit einer beispiellosen Orgie der Vergewaltigung und Plünderung. Putin verdreht diese Argumentation, indem er Polen die Schuld gibt, den Zweiten Weltkrieg verursacht zu haben, weil Polen nicht bereit gewesen wäre, Hitler die Herrschaft über den sogenannten Korridor rund um Danzig zu geben. Die deutschen und die sowjetischen beziehungsweise russländischen Verbrechen lassen sich jedoch ebenso wenig gegeneinander aufrechnen wie Shoah und Kolonialverbrechen. Völkermord bleibt Völkermord, Kriegsverbrechen bleibt Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit bleibt Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Einzigartigkeit der Shoah ist davon unbenommen.

Sofi Oksanen zitiert die Menschenrechtsanwältin Antonina Vikhrest angesichts eines Films, in dem ein russischer Sexologe behauptete, „dass der Volksaufstand (d.i. der Euromaidan 2014) auf die sexuelle Frustration der Ukrainerinnen zurückzuführen war“, solche Propaganda im Westen jedoch schlicht ignoriert würde. Nach Antonina Vikhrest „zeigte das Desinteresse, dass man außerhalb von Osteuropa nicht begreift, wie Homophobie, Misogynie und Nationalismus in Russland miteinander einhergehen.“ Die Frage lautet schließlich, wann der Westen begreift, „dass er sich in einem Krieg mit Russland befindet“ und ob der Westen bereit ist, die westlichen Werte zu verteidigen oder weiterhin zulässt, dass Putin über rechtsextreme Parteien seine Sicht der Dinge verbreitet.

Parteien der Neuen Rechten wie AfD und FPÖ spielen Putins Spiel, auch einige andere wie in Deutschland das Bündnis Sahra Wagenknecht, in Ungarn Viktor Orbán und die FIDESZ, in der Slowakei Robert Fico und seine Partei SMER. Es gibt natürlich auch andere auf der Seite der neuen Rechten wie Giorgia Meloni oder die finnische Perussomalaiset, die sich auf die Seite der Ukraine stellen. In Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und der Toleranz gegenüber Minderheiten sind auch diese keine Bank, auf die ich setzen würde. Es gibt zu viele Entwicklungen, die interessierte Leser:innen mit der Welt des Buches „The Handmaid’s Tail“ von Margararet Atwood verbinden könnten. Vielleicht ist Giorgia Meloni auf der Seite der Rechten allerdings auch hier eine Ausnahme. Sie lobte ausdrücklich den Film „Morgen ist auch ein Tag“ von Paola Cortellesi (italienischer Titel: „C’è ancora domani“), einen Film über das Thema männlicher Gewalt gegen Frauen, den in Italien inzwischen mehr Menschen gesehen haben als „Barbie“. Auch die vielen Demonstrationen für Demokratie, Menschen- und Frauenrechte, in den USA, in Polen vor dem Regierungswechsel nach dem 15. Oktober 2023, in der Slowakei, inzwischen auch in Ungarn, machen Mut, dass Putin mit seinem „Krieg gegen die Frauen“ scheitern wird.

Sofi Oksanen stellt last not least die so einfach klingende Frage, wie sich die Herrschaft Putins beenden ließe, damit auch Russland sich zu einem liberalen und demokratischen Land entwickeln könne, und antwortet: „Der Wandel ist nicht möglich, wenn man das Thema meidet oder wenn die Medien der Ansicht sind, dass es für das Publikum zu bedrückend ist.“ Aber vielleicht ergeht es Putin wie der Sowjetunion: Staatspleite nach Hochrüstung? Auch das ist ein mögliches Szenario. Ob der Westen in der Lage ist, ein solches Szenario zu befördern, das wiederum ist eine ganz andere Frage.

Norbert Reichel, Bonn

Die Romane von Sofi Oksanen

  • Stalins Kühe (2003 / 2012)
  • Baby Jane (2005 / 2023)
  • Fegefeuer (2008 / 2010)
  • Als die Tauben verschwanden (2012 / 2014)
  • Die Sache mit Norma (2017 / 2017)
  • Hundepark (2019 / 2022)

In Klammern sind die Erscheinungsdaten der finnischen Erstausgabe und der deutschen Übersetzungen genannt. Die deutschen Übersetzungen erschienen alle beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch. Übersetzerin war in allen Romanen außer „Die Sache mit Norma“ Angela Plöger, „Die Sache mit Norma“ wurde von Stefan Moster übersetzt.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2024, Internetzugriffe zuletzt am 14. April 2024, Titelbild: Hans Peter Schaefer aus der Serie „Deciphering Photographs“.)