Der kranke Planet

Debatten in Zeiten der Corona-Krise – Teil IV

„Die Welt nach Corona wird es erst geben, so eine häufige Aussage, wenn die Pandemie überall gestoppt sein wird. Das stimmt nicht: Die Welt nach Corona hat bereits begonnen.“ (Nadia Al-Bagdadi, Grenzerfahrungen, in: Jenseits von Corona, Bielefeld, transcript, 2020)

Eine neue Erfahrung der „westlichen Demokratien“ in der Corona-Krise – so nennen sie sich in diversen Verlautbarungen ihrer Regierungen und Medien gerne, um sich von anderen nicht-westlichen Demokratien abzugrenzen, bei denen sie in der Regel Demokratiedefizite diagnostizieren – ist ihre hohe Betroffenheit. Das Virus demokratisiert die Welt? Eher nicht, denn diejenigen, die diese These vertreten, haben Zugang zu den öffentlichen Medien, diejenigen, die über diesen Zugang nicht verfügen können, haben oft nicht einmal Zugang zu sauberem Wasser, formellen Arbeitsverhältnissen mit Kündigungsschutz, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Diese Menschen leben in Vierteln, in denen es nicht möglich ist, sich voneinander abzugrenzen, in denen oft nur die Alternative besteht, sich nicht zu infizieren oder zu hungern.

Krokodilstränen im „Abendland“

Afrika gilt dem „westlichen Blick“, der eigentlich ein Blick des Nordens ist, als der notorisch in der Vergangenheit immer wieder von diversen Pandemien heimgesuchte Kontinent, sodass dort eine hohe Dunkelziffer vermutet werden darf. Mit Zahlen belegbar ist meine These von der hohen Dunkelziffer in sogenannten Entwicklungs- oder Transformationsländern aus der Natur der Sache heraus nicht, obwohl sie von vielen Expert*innen geteilt wird, denn die hohen Testkapazitäten in den „westlichen Demokratien“ ermöglichen Zahlen, die andere, die über diese Kapazitäten nicht verfügen, nicht erreichen können. Südamerika hat offensichtlich aufgeholt, vielleicht auch Teile von Indien, Afrika sicherlich nicht. Über den Grad der Bedrohung durch die Pandemie entscheidet der „westliche“ Blick.

Berichte über Afrika sind eher tendenziös verächtlich, wenn nicht sogar im Ansatz rassistisch, so beispielsweise in einer Ausgabe des „Weltspiegel“ in der ARD über die auf ein Jahr terminierte Schließung sämtlicher Schulen in Kenia. Was dies für die Kinder in Kenia bedeutet, lässt sich leicht prognostizieren. Gegenstand der Sendung war die prekäre Beschäftigungslage der Lehrkräfte an privaten in der Regel von den Kirchen finanzierten Schulen. Diese Lehrkräfte verloren ihre Arbeit, mussten sich eine kleinere Wohnung suchen und versuchen, von informellen Tätigkeiten zu überleben. Der Moderatorin fiel allerdings nicht mehr ein als diesen Beitrag mit der Bemerkung „nicht zur Nachahmung empfohlen“ abzumoderieren.

Das mangelnde Interesse an Entwicklungen in den Ländern, in denen viele Menschen weder Zugang zu sauberem Wasser noch zu einer regelmäßigen formellen Beschäftigung haben, ist notorisch. Ebenso notorisch ist die Ignoranz der Wege von Pandemien in der Vergangenheit. Susan Sontag schreibt in „Aids und seine Metaphern“ (1988/1989): „Das Abendland, so ist man überzeugt, ist von Rechts wegen frei von Krankheit. (Und erstaunlich gefühllos sind die Europäer mit der Tatsache umgegangen, dass sie selbst – als Invasoren oder Kolonisten – in weit schlimmerem Maße ihre eigenen tödlichen Krankheiten in die exotische, ‚primitive‘ Welt getragen haben: Man denke nur an die Verwüstung, welche Pocken, Grippe und Cholera unter den Ureinwohnern beider Amerika und Australiens angerichtet haben.). Die Zählebigkeit der Assoziation von gefürchteter Krankheit mit fremdem Ursprung ist einer der Gründe dafür, warum die Cholera, von der es in Europa im 19. Jahrhundert vier große Ausbrüche mit einer immer geringer werdenden Zahl von Opfern gab, noch immer denkwürdiger ist, als es die Pocken sind: Diese richteten zwar im Verlauf des Jahrhunderts immer größere Verwüstungen an (der europäischen Pockenpandemie der frühen 1870er Jahre fielen eine halbe Million Menschen zu Opfer), aber man konnte sie nicht, wie die Pest, als eine Krankheit auffassen deren Ursprung fern von Europa lag.“

Fern von Europa – so dachten viele, als sie kurz vor Frühjahrsbeginn 2020 von den ersten Fällen einer COVID-19-Infektion hörten. Ergebnis war zunächst ein gegen Asiat*innen gerichteter Rassismus. Immerhin wehrten sich die Regierungschef*innen des sogenannten G-7-Gipfels erfolgreich gegen die amerikanische Initiative, das Virus in den Abschlussdokumenten als „China-Virus“ zu bezeichnen. Die Corona-Pandemie erinnert in der Art und Weise, wie der „Westen“ damit umgeht, durchaus an die ersten Monate und Jahre der AIDS-Pandemie. Susan Sontag: „Weil es aber ein Weltereignis ist – d.h. auch den Westen befällt –, betrachtet man Aids nicht nur als Naturkatastrophe. Man erfüllt es mit historischem Sinn.“

Das neoliberale Virus

Die Gefahr von Zoonosen, die wiederum durch die durch Klimawandel und Raubbau zurückgehende Biodiversität, gezwungen sind, sich in ihnen eigentlich fremden Lebensräumen auszubreiten und die dort lebenden Menschen zu infizieren, ist für die Naturwissenschaften keine neue Erkenntnis. Biolog*innen, die sich mit Neozyten befassen, haben schon dicke Bücher geschrieben, wie diverse Lebewesen einen neuen Lebensraum erobern. Die Ratten, die mit den Schiffen nach Australien kamen, die Schafe, die dort angesiedelt wurden, um für Nahrung und Kleidung zu sorgen, die Mikroben, die sozusagen huckepack mit Menschen und Säugetieren einwanderten, haben zu rigorosen Gesetzen geführt, die jedes von anderen Kontinenten eingeführte Tier in längere Quarantäne schickten oder die Einreise verweigerten. Die Reiterspiele der Olympischen Spiele 1956 in Melbourne fanden in Stockholm statt. Für die Olympischen Spiele in Sidney im Jahr 2000 durften die Pferde unter erheblichem Aufwand für die biologische Sicherheit einreisen. In Deutschland und in anderen europäischen Ländern erobern Waschbären, amerikanische Streifenhörnchen und Kormorane Wälder und Flüsse.

Die europäische Fauna verändert sich ebenso wie die Flora durch den Anbau fremder Baumarten. Eine ausführliche Übersicht bietet der amerikanische Wissenschaftsjournalist Charles C. Mann mit seinem Buch „Kolumbus‘ Erbe – Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen“ (englischer Titel: „Uncovering The New World Columbus Created“, erschienen 2011, die deutsche Fassung ist 2013 im Rowohlt Verlag erschienen). In der Corona-Krise wird sichtbar, dass es keine gallischen Dörfer mehr geben kann. Susan Sontag: „Aids ist einer der dystopischen Boten des globalen Dorfes, der Zukunft, die schon da ist und doch immer vor uns liegt und der niemand zu entrinnen weiß.“

Ist China wirklich die Schlange, sind die „westlichen Demokratien“ wirklich das Kaninchen? Frank Adloff sieht in seinem Essay (in „Die Corona-Gesellschaft“, Bielefeld, transcript, 2020) mit dem Titel „Zeit, Angst und (k)ein Ende der Hybris“ den allgegenwärtigen Pragmatismus, der auch als ein Leben von der Hand in den Mund bezeichnet werden könnte, als Zeichen allgemeiner Hilflosigkeit: „Der Machbarkeitsglaube war einer vorsichtigen und tastenden Suche nach temporären Lösungen gewichen. Wir sind nicht mehr die Herren in unserem Haus. Zugleich ist paradoxerweise doch bloß genau das passiert, vor dem die Wissenschaften seit Jahren gewarnt haben – man hat es also wissen können.“

Wenn nun in der nach derzeitigem Kenntnisstand von Zoonosen verursachten Pandemie politisch gehandelt wird, erinnert dies an „End-of-the-Pipe“-Strategien. Wird die Luft verschmutzt, werden Filter eingebaut und die Schornsteine höher. Die Ursachen der Luftverschmutzung werden nicht beseitigt, denn das verhindern Lobbyist*innen der jeweiligen Wirtschaftsunternehmen. Insofern verwundert es nicht, wenn Frank Adloff in einem Atemzug mit dem Corona-Virus vom „Virus des Neoliberalismus“ spricht, das nicht nur bei der Ursachenforschung und Vermeidung von Schadstoffen und Raubbau versagen ließ, sondern „über Privatisierungen und Einsparungen im Gesundheitswesen“ auch die Wirkung besagter „End-of-the-Pipe“-Strategien beschränkte. Wohlgemerkt, der Neoliberalismus ist kein Virus, auch keine Zoonose, er ist von Menschen gemacht. Die Wirkung jedoch ist vergleichbar.

Die Pandemie – ein „Brandbeschleuniger“

Die Corona-Pandemie legt sämtliche Konflikte der vergangenen Jahre und Jahrzehnte offen. Frank Adloff spricht von einem „Schock mit Vorlauf“. Günther G. Schulze formuliert prägnant im Schlussessay des Bandes „Jenseits von Corona“: „Trends verstärken sich“. Er benennt in seiner Analyse an erster Stelle „den Antagonismus zwischen den USA und China“, um sich dann mit der „schlechte(n) Performanz der USA in der Krise“ und der nach seiner Analyse „aggressiver und expansiver“ werdenden Politik Chinas zu befassen. Diese Aggressivität lässt sich jedoch meines Erachtens nicht auf die chinesische Politik zurückführen, die ebenso auf Entwicklungen in anderen Ländern und Kontinenten reagiert, wie diese auf die chinesische Politik reagieren. Dass die chinesische Regierung das Problem zunächst verbarg und dann kleinzureden bestrebt war, unterscheidet sich vom Verhalten westlicher Regierungen bei vergleichbaren Entwicklungen nur unwesentlich.

Es gibt Interdependenzen, die sich schwer auseinanderdividieren lassen, sodass letztlich die bekannte Frage nach der Henne und dem Ei auf der Hand liegt. Einleuchtend ist die Analyse von Jürgen Ruland, der in seinem Beitrag zu „Jenseits von Corona“ schreibt: „Wie kein anderes Folgeproblem der Globalisierung verdeutlicht Corona die Ohnmacht der westfälischen Weltordnung und ihres auf nationaler Souveränität gründenden Krisenmanagements. Mehr noch: Es ist nicht auszuschließen, dass Corona der Idee multilateraler Zusammenarbeit von Staaten irreparablen Schaden zufügt.“ Die Weltordnung von 1648, die eigentlich auch nur eine europäische Ordnung war, erlebte ihren Niedergang spätestens mit den Friedensschlüssen des Jahres 1815, deren Folge ein in allen europäischen Staaten grassierender, sich zunächst als Freiheitsbewegungen gerierender Nationalismus war, den viele der ehemaligen Kolonien der Staaten, die heute zum Kern der Europäischen Union gehören, in ihren Befreiungsbewegungen dann kopierten.

Aber gleichviel auf welche multilateralen Verträge und Vereinbarungen, Erklärungen und Agenden, von der Agenda 21 zur Agenda 2030, sich die Staaten in den vergangenen 75 Jahren verständigten, blieb und bleibt immer wieder die Versuchung, die Ursache eigenen Scheiterns außerhalb der eigenen Grenzen zu suchen. Jürgen Ruland: „Selbst Staaten wie Deutschland, für die der Multilateralismus zur außenpolitischen DNA gehört und die 2018 Mitbegründer der ‚Allianz für den Multilateralismus‘ waren (…) haben zu Beginn der Krise grundlegende Prämissen vertrauensvoller zwischenstaatlicher Zusammenarbeit über Bord geworfen. Mit anderen Worten: Corona ist ein Brandbeschleuniger beim Niedergang des nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes etablierten, auf vermehrte Kooperation angelegten Global-Governance-Systems.“

Der transcript-Verlag hat das Friedensgutachten 2020 veröffentlicht, das vom Bonn International Center for Conversion (BICC), dem Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) sowie dem Institut für Entwicklungund Frieden (INEF) erstellt wurde. Redaktionsschluss war der 30. April 2020. Das Gutachten beginnt mit Empfehlungen. Die beiden zuerst genannten Empfehlungen beziehen sich ausdrücklich auf die Corona-Pandemie. Gefordert wird, „Corona (zu) bekämpfen ohne Friedenspolitik aufzugeben“, „Europa muss Corona als Chance nutzen“.

Zur Begründung ihrer Empfehlungen verweisen die vier Institute auf „die Gefahr, dass sich Gewaltkonflikte und humanitäre Notlagen verschärfen und neue Konflikte entstehen“, sehen aber auch „die Chance, multilaterale Zusammenarbeit zu verstärken“. Gefordert wird eine Internationalisierung der „Corona-Bekämpfung“, einhergehend mit „Maßnahmen (….), die die langfristigen negativen Folgen des Klimawandels für den Frieden und die menschliche Sicherheit abschwächen.“ Eine besondere Aufgabe ist „die medizinische und soziale Infrastruktur in Krisenregionen, die von COVID-19 betroffen sind.“

Die Analyse sieht jedoch im Allgemeinen eine andere Entwicklung: „Geschlossene Grenzen, Alleingänge, Konkurrenz um Schutzkleidung, medizinische Instrumente, Medikamente und Impfstoffe – die Corona-Krise hat eine Tendenz verstärkt, die schon seit längerem zu beobachten war: Statt multilaterale Zusammenarbeit zu suchen, gehen Staaten allein vor.“ Das Friedensgutachten 2020 ist ein Text aus dem April 2020. Inzwischen – Ende Oktober 2020 – wurden die Grenzen wieder geöffnet, allerdings gibt es Grenzschließungen und Einreisestopp light. Das heißt dann „Reisewarnung“ oder „Beherbergungsverbot“, Reisende aus von der Bundesregierung als „Krisenregion“ eingestuften Gebieten werden verpflichtet, sich nach Rückkehr in Quarantäne zu begeben, sprich, sich zehn Tage zu Hause einzuschließen und niemanden mehr zu treffen, sich vom sozialen Leben, von ihrer Familie zu isolieren. Manche Argumentation gegenüber solchen „Krisenregionen“ klingen durchaus rassistisch, oder wie mit der Absperrung ganzer Stadtteile wie in Madrid klassistisch, sind es zum Teil auch. Das, was sich Berliner*innen in den ersten beiden Oktoberwochen 2020 anhören mussten, verstummte erst, als in Köln, Frankfurt am Main, in München, Stuttgart und fast allen Städten des Ruhrgebiets ähnlich hohe Zahlen neu infizierter Menschen gemeldet wurden.

Ob es so kommt, dass alle sich wieder in den Kokon ihres eigenen Landes, ihrer Region, ihrer Stadt einschließen oder ob – wie das Titelbild von „Jenseits von Corona“ suggeriert – das Pendel auch wieder nach der anderen Seite ausschlägt und der Multilateralismus zurückkehrt, ist nicht prognostizierbar. Jörn Leonhard beschreibt in „Jenseits von Corona“ das „Nebeneinander von Globalisierung und Deglobalisierung“ als „Paradoxie der Gegenwart“. Marxistisch orientierte Wissenschaftler*innen würden vielleicht darüber nachdenken, ob ein Nebenwiderspruch zum Hauptwiderspruch werden könne. Die Zukunft hat es allerdings so an sich, dass sie eben nicht prognostizierbar ist, während die Menschen der Gegenwart ob dieser Unsicherheit sich oft wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange verhalten, wenn sie nicht gleich Vogel-Strauß-Politik betreiben und sich damit selbst die Möglichkeit einer vorausschauenden, nachhaltigen Politik nehmen.

Phasen des Unilateralismus

Ulrike Guérot gibt ihrem Beitrag zu „Die Corona-Gesellschaft“ einen versöhnlich klingenden Titel: „Perspektiven für Europa und seine Demokratie(n) nach Corona“. Vielleicht klingt das Wort „Perspektive“ einfach zu sehr nach strahlender Zukunft, an die wir alle gerne glauben möchten, doch sind „Perspektiven“ zunächst einmal das, was Zukünfte nun einmal so sind: Wahrscheinlichkeiten, Denkmodelle. Dazu gehören Szenarien, an denen sich Politiker*innen orientieren könnten, wenn sie wollten. Ulrike Guérot nennt drei Phasen des Umgangs mit der Pandemie in Europa: „Die nationale Schließung“, „Der Ruf nach Solidarität“, „Die Entsolidarisierung“.

Phase 1: „Zu Beginn war die EU buchstäblich von der Bildfläche verschwunden, die reflexhaften Grenzschließungen erfolgten unkoordiniert, medizinisches Material wurde an Grenzübergängen konfisziert. Während kubanische Ärzte in lombardischen Krankenhäusern halfen und russische Trucks medizinisches Gerät lieferten, war in der Lombardei von europäischer Hilfe keine Spur.“

Phase 2: „Das fehlende Europa wurde zum Sehnsuchtsort. (…) Die europäischen Manifeste, formuliert von der europäischen Zivilgesellschaft, nicht der Politik (!) forderten in ihrer großen Mehrheit weitreichende Umsteuerungen europäischer Politiken, die Schaffung und Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter, z.B. im Gesundheitssystem (…) vergemeinschaftete wirtschaftliche Stützungsmaßnahmen, allen voran Corona- bzw. Eurobonds oder sogar gleich eine europäische Verfassung.“

Phase 3: „Die aufkommende Hoffnung auf Corona-Bonds wurde im Handumdrehen wieder begraben, die Direkthilfen vor allem für die von Corona schwer geschädigten Südeuropäer rief die ‚Sparsamen Vier‘ eine nordeuropäische Allianz aus Österreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden auf den Plan und der Merkel-Macron-Plan stieß sofort, vor allem in konservativen Kreisen, auf politische, rechtliche und legitimatorische Vorbehalte.“

Plädoyer für eine partizipative Politik

Und dann? „im Großen und Ganzen ein europäisches Business as usual.“ Ulrike Guérot fragt jedoch sofort nach: „Oder doch nicht?“ Als sie dies schrieb, konnte sie noch nichts von den Zahlen des Herbstes 2020 ahnen. Viele sprachen zwar von einer zu befürchtenden „Zweiten Welle“, doch das war wenig konkret. Das Problem wurden ausgelagert, man*frau sah die Infektionszahlen in den USA, in Brasilien, wo es auch leicht war, den verantwortungslosen Kurs der jeweiligen Staatschefs anzuprangern, vielleicht noch in südamerikanischen Ländern und in Indien, die allerdings in den öffentlichen Medien nur am Rande eine Rolle spielten. Trump und Bolsonaro – das waren die Feindbilder, auf die die europäische Politik gerne mit dem Finger zeigte.

An dem Zukunftsprojekt, das Ulrike Guérot vorstellt, ändern die Zahlen des Herbstes 2020 jedoch nichts. Es ist nach wie vor aktuell und die Bereitschaft des transcript-Verlages, in den Bänden „Jenseits von Corona“ und „Die Corona-Gesellschaft“, einen anderen Blick auf die Krise zu wagen, kann nicht hoch genug geschätzt werden. „Erklärtes Ziel (des Sammelbandes) war es, jenseits des expertokratischen Krisenmanagements und seinem Fokus auf virologische Episteme die erwartbaren, geamtgesellschaftlichen Schädigungen – Social Distancing, Atomisierung der Gesellschaft, wirtschaftliche Rezession Zunahme der sozialen Spaltungen, nationale Regression – dahingehend zu untersuchen, ob die Corona-Krise problematische soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Metatrends eher verschärfen und petrifizieren wird; oder ob sie das Potential zu tiefgreifenden Veränderungen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen hat; kurz: ob die Krise an eine Annäherung an einen utopischen Gesellschaftsentwurf produzieren kann.“

Dazu wäre es allerdings erforderlich, die Bürger*innen selbst zu beteiligen. Ulrike Guérot verweist auf Studien, die belegen, „dass die europäischen Bürger*innen mit Blick auf Europa ‚weiter‘ sind als ihre nationalen Politiker*innen und sich Dinge wie etwa ein europäisches Grundeinkommen oder eine Arbeitslosenversicherung durchaus vorstellen können.“ Es wäre durchaus denkbar, dass eine „Debatte über die Bereitstellung öffentlicher Güter in Europa (z.B. im Gesundheitsbereich), die durch Corona ebenfalls einen Schub bekommen hat.“ Ich wage zu ergänzen, wenigstens „einen Schub bekommen“ könnte. Der „Schub“ ist noch nicht politisches Programm, er ist noch nicht mehrheitsfähig.

In einem anderen Zusammenhang habe ich gefragt, ob möglicherweise die europäischen Politiker*innen wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange China (oder etwa die Schlange USA?) erstarren. Aber vielleicht ist die Schlange jemand anders. Feststellbar ist, dass die meisten europäischen Politiker*innen sozialdemokratischer, liberaler und konservativer Parteien vor einer anderen Schlange erstarren, dem nationalistischen und fremdenfeindlichen Rechtspopulismus. Nur nicht zu viel Europa, denn dann erstarken die Rechten. Diese Strategie ist schon mehrfach gescheitert – die Wandlungen des bayerischen Ministerpräsidenten zeigen wie und warum – und dennoch bleibt sie offenbar attraktiv.

Es besteht die Gefahr, dass „das rechtspopulistische oder nationalistische Aufbegehren gegen die EU über die Zeit der eigentliche Gewinner der Corona-Krise sein“ könnte, nicht jedoch, weil es zu viel Europa gäbe, eher weil es zu wenig davon gibt. Ulrike Guérot vertritt die Auffassung, dass die EU an ihren Bürger*innen vorbeiargumentiert, weil sie sie nicht als Bürger*innen ernst nimmt: „Von der EU werden die europäischen Bürger*innen im Wesentlichen nur als Verbraucher*innen, Konsument*innen, Dienstleister*innen oder Arbeitnehmer*innen wahrgenommen.“ Ich möchte dies weniger auf die EU-Institutionen beziehen als auf die Regierungsparteien der meisten europäischen Mitgliedssaaten, aber der Kern der Aussage trifft zu

Das zweite Konvivialistische Manifest

Ein profiliertes, ebenfalls 2020 im transcript-Verlag erschienenes zivilgesellschaftliches Manifest ist das „Zweite konvivialistische Manifest“ (Untertitel: „Für eine post-neoliberale Welt“, der Originaltext ist französisch: „Second Manifest convivialiste“, Arles, Actes Sud, 2020), die Autor*innen firmieren als „Die konvivialistische Internationale“. Es handelt sich um ein Manifest jenseits von Parteiprogrammen, jenseits von politik- und sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und sonstigen Analyse, auch jenseits internationaler Verträge und Vereinbarungen wie beispielsweise der Agenda 2030 oder das Pariser Abkommen zum Klimaschutz. Und dennoch finden sich alle Inhalte der vorhandenen Forschungen und Vereinbarungen wieder. Autor*innen sind über 300 Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Journalist*innen aus Hochschulen, unabhängigen Forschungseinrichtungen, Nicht-Regierungsorganisationen, aus allen Kontinenten, darunter aus Deutschland Susanne Bosch, Adalbert Evers, Axel Honneth, Claus Leggewie, Stefan Lessenich, Hartmut Rosa.

Das Manifest plädiert für eine internationale Ausrichtung zukünftiger Politik. Die Autor*innen sehen eine Chance in der aufbegehrenden Jugend, die in den reichen Ländern gegen „Klimaerwärmung und unwiderrufliche Zerstörung der natürlichen Umwelt“ kämpft, in „anderen Ländern, in Asien, im Maghreb oder im Nahen Osten (…) gegen Tyrannen und Diktaturen“. Eine dritte Gruppe sieht in ihren Heimatländern keine Chance mehr: „in den ärmsten Ländern oder denen, die von gnadenlosen Bürgerkriegen verwüstet werden (es sind oft dieselben), bleibt ihr weder eine andere Lösung noch eine andere Hoffnung als das Exil.“

Zusammengefasst: „Drei Jugenden also, die nur wenig voneinander wissen. Dabei hängen ihre Kämpfe, ihre Hoffnungen eng zusammen. Sie werden nur gemeinsam gewinnen oder gemeinsam verlieren.“

Das Verhältnis zur Natur ist zentral. Die Klimakrise und die Zerstörung der Biodiversität gehören zu den wesentlichen Ursachen der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die dann Migration als einzigen Ausweg zeigen. Diktaturen verfolgen in der Regel neoliberale Konzepte, die sich wenig um die Zukunft der Jugend scheren, mehr jedoch um die Gegenwart derjenigen, die gerade die Regierungen leiten. Gleichzeitig sind diese neoliberalen Konzepte wiederum die Ursache für den Raubbau an Natur und Lebensgrundlagen.

Es geht somit auch hier um Intersektionalität, und Interdependenzen. Das erste 2013 erschienene Manifest des Konvivialismus trug den Untertitel „Déclaration d’Interdépendence“ (Le Bord de l’eau, 2013), deutsch übersetzt als „Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeite. Die Konvivialist*innen vertreten dabei keinen neuen Keynesianimus, auch keinen Sozialismus traditioneller Prägungen. „Mit einer Rückkehr zum Keynesianismus oder zu den Ismen der Vergangenheit kann man sich jedenfalls nicht begnügen.“ Eine weitere Abgrenzung ist ebenfalls erforderlich: Neoliberalismus ist keine Weiterentwicklung des Liberalismus, der Kampf gegen Neoliberalismus kein Anti-Liberalismus. Die Autor*innen des Manifests sprechen davon, dass der „Neoliberalismus (…) vielleicht der schlimmste Feind des ursprünglichen politischen Liberalismus ist.“

Die Verbreitung der konvivialistischen Philosophie, die Vorbereitung einer konvivialistischen Politik, ist letztlich auch eine Bildungsaufgabe, allerdings nicht in Form von pater- oder maternalistischer Belehrung, sondern unter Beteiligung der Kinder und Jugendlichen – ich denke durchaus im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention – in den Vordergrund stellen sollte. „Die Jugendlichen der reichen Länder werden sich der Klima- und Umweltprobleme Tag für Tag bewusster, aber sie tun sich noch schwer zu erkennen, dass ihr Schicksal auch mit dem der Jugendlichen verbunden ist, die sich anderswo von Diktaturen zu befreien versuchen oder sich zur Emigration gezwungen sehen. Die grünen Parteien haben im Wesen immer mehr Zulauf, doch das Bemühen, die Natur zu bewahren, stellt an sich noch keine Politik dar. Es genügt für sich genommen bei Weitem nicht, um auf den Neoliberalismus zu antworten.“

„Philosophie und Kunst des Zusammenlebens“

Konvivialismus ist ein philosophischer Ansatz, der das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten gestalten soll. Die Autor*innen des Manifestes sprechen von „Philosophie und Kunst des Zusammenlebens“. Ihre Definition: „Konvivialismus ist der Name, der allem gegeben wurde, was in den bestehenden oder vergangenen, weltlichen oder religiösen Lehren und Weisheiten zur Suche nach Prinzipien beiträgt, die es den Menschen ermöglichen, zu rivalisieren, um besser zu kooperieren und humanitäre Fortschritte zu machen – im vollen Bewusstsein der Endlichkeit der natürlichen Ressource und in der geteilten Sorge um den Schutz der Welt.“

Die Frage gilt: „Was ist das Wertvollste? Und wie definieren und erfassen wir es?“ Sie lässt sich nur beantworten, wenn die Betroffenen, und das sind alle (jungen) Menschen, die Chance erhalten, darüber nachzudenken, zu diskutieren und zu entscheiden. Ich bin versucht zu sagen: Partizipation, that’s the future, stupid. Dies ist das Gegenteil einer rein caritativen Politik wie sie von vielen Akteur*innen der sogenannten Entwicklungshilfe praktiziert wird. Es geht um die „Entwicklung dessen, was man heute die Commons nennt“. Letztlich wäre so eine Lösung des Allmende-Dilemmas denkbar und erreichbar.

In einem Nachwort formulieren die Autor*innen die Anforderungen an einen „Konvivialismus nach der Corona-Krise“: „Dabei wird mittlerweile vielen mehr und mehr klar, dass die Corona-Pandemie erst der Anfang ist. Im Vergleich zu den Folgen des Klimawandels stellt der Umgang mit COVID-19 wahrscheinlich noch eine Leichtigkeit dar. (…) COVID-19 hat auch deutlich gemacht, wie interdependent unsere Welt ist. (…) Die kommenden Jahre werden viele Fragen aufwerfen und bestehende Konflikte verschärfen oder neue schaffen. Dahinter wird aber stets die Frage stehen, wie mit dem ‚imperialen‘ Gesellschaftsmodell weiter zu verfahren ist.“

In einer Fußnote verweisen die Autor*innen auf ein weiteres Manifest, das „Manifest für ein Wirtschaften nach der Pandemie ‚Arbeit – demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten“, das über 3.000 Wissenschaftler*innen unterzeichnet haben. Es wurde am 15. Mai 2020 in der ZEIT veröffentlicht. Auch dort spielt die Beteiligung der Bürger*innen die zentrale Rolle: „Diejenigen, die ihre Arbeit, ihre Gesundheit, ja, ihr Leben, in eine Firma investieren, sollten auch das kollektive Recht haben, derartigen Entscheidungen zuzustimmen oder ein Veto einzulegen.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)