Der Lebensretter

Alexander Ginsburg – ein jüdisches Leben in Deutschland

„Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten.“ (Sanhedrin 37a)

Es gibt eine idealtypische Lebensbeschreibung eines Juden, der nach seiner Haft im Konzentrationslager in Deutschland weiterlebte – oder jedenfalls aus Deutschland nicht auswanderte. Er hieß Aron Blank, und wie fast alles Idealtypische ist seine Lebensgeschichte gleichzeitig wahr und fiktiv. Blank ist der Held – Held? – des Romans „Der Boxer“ von Jurek Becker, und als ich den Roman Mitte der Siebzigerjahre gelesen hatte, glaubte ich, dadurch mehr von meinem Vater zu verstehen. Da war viel dran, auch wenn ich heute, Jahre nach dem Ende seines Lebens, manches genauer weiß, Zusammenhänge klarer zu sehen hoffe und einiges davon mitteilen kann.

Ein Sohn kann sicher nicht objektiv über seinen Vater schreiben. Schon gar nicht, wenn das Leben des Vaters zu einem wichtigen Teil ein Leben in der Öffentlichkeit war. Das gilt verstärkt für eine Lebensgeschichte wie die meines Vaters Alexander Ginsburg. Er selbst hätte das auch so gesehen, genau wie sein fiktiver, wahrer Leidensgenosse Blank. Dessen Leben will auch ein viel jüngerer Mensch beschreiben, und was lässt Becker den alten Blank dazu sagen? „Du behauptest, du hast meine Geschichte aufgeschrieben, und ich behaupte, dass du dich irrst, es ist nicht meine Geschichte. Im günstigsten Fall ist es etwas, was du für meine Geschichte hältst.“

Ich versuche es trotzdem.

Leben, Lesen, Lernen in Lettland

Alexander Ginsburgs Vater war ein jüdisch-ritueller Metzger namens Jakow oder Jankel Ginsburg. Die Vorfahren stammten aus der russischen Kleinstadt Preili bei Dünaburg im Südosten des heutigen Lettland. Der Großvater Salman Itza Ginsburg, ein Lubawitscher Chassid und Vater von siebzehn Kindern, hatte seinen begabten Sohn Jankel als kleinen Jungen seinem Rebben vorgestellt. Der Lubawitscher Rebbe gab die Anweisung, das Kind zum koscheren Metzger ausbilden zu lassen.

Da Ginsburg später selbst seinen Angehörigen nur wenig über seine ersten drei Lebensjahrzehnte mitteilte, lässt sich vieles fast nur erraten. Um 1912 scheint die Familie nach Breslau gezogen zu sein – viele russische Juden emigrierten in dieser Zeit nach Deutschland auf der Suche nach Sicherheit vor dem Judenhass und in der Hoffnung, der gedrückten materiellen Lage zu entkommen. Das galt gerade auch für Männer, deren Broterwerb mit dem jüdischen Kultus zusammenhing: die deutschen Juden importierten deren im Westen gesuchte, in Osteuropa im Überfluss vorhandene Fähigkeiten.

Von Einleben der Familie Jankel Ginsburgs in Breslau war aber offenbar während der Jahre des Ersten Weltkrieges keine Rede, auch wenn in dieser Zeit mein Vater als fünftes von sechs Kindern zur Welt kam. Bald nach dem Weltkrieg waren die Ginsburgs wieder im nun unabhängigen Lettland, in Dünaburg (lettisch: Daugavpils), einer Mittelstadt mit starkem jüdischem Bevölkerungsanteil. Die Stadt hatte im Krieg erhebliche Zerstörungen erlitten; die siebenköpfige Familie – ein Sohn war als kleines Kind gestorben – lebte weiter in bescheidenen Verhältnissen. Immerhin genossen die Dünaburger koscheren Metzger wegen besonderer Fertigkeiten in ihrem vom Religionsgesetz streng regulierten Handwerk ungewöhnliches Ansehen über die Grenzen der Stadt hinaus.

Jankel Ginsburg und seine Frau Rachel – Tochter eines als Kaufmann berufstätigen Rabbiners namens Jechiel Lechovitzki – schickten ihre Kinder in gute Schulen. Alexander Ginsburg – Abraham Simcha war sein jüdischer Name, der zum Kosenamen Abrascha zusammengezogen wurde – besuchte eine jüdische, russisch-sprachige Grundschule und anschließend das lettisch-sprachige Gymnasium. Zur jiddischen Umgangssprache im Elternhaus und den beiden Unterrichtssprachen trat Hebräisch, das Abrascha seit frühester Kindheit durch traditionelle religiöse Bildung und später in der Jugendorganisation „Betar“ lernte. Von diesen vier Sprachen war Russisch für den Heranwachsenden die wichtigste, auch als Sprache der privaten Lektüre.

Deutsch spielte eine untergeordnete Rolle. Der Schüler Ginsburg lernte aber unter dem Einfluss von Lehrern und Bekannten ein Deutsch, das ohne alle jiddischen Anklänge etwas von der eigenartigen Färbung des Baltendeutschen annahm, wie es bis 1940 in Riga und den anderen Städten der Region gesprochen wurde. Er lernte die Sprache so gut, dass nach 1945 fast alle seine neuen Bekannten und Freunde in Süd- und Westdeutschland erst einmal annahmen, Deutsch sei seine ausschließliche Muttersprache gewesen. „Die, die ich gerade rede“, antwortete er einmal auf die Frage, in welcher Sprache er eigentlich denke.

Der kleine Abrascha Ginsburg war nach Erinnerung seiner Schwestern ein ungewöhnlich intelligentes Kind. Schon vor Schuleintritt las er gerne und viel. Er erhielt neben der Schulbildung die traditionelle religiöse Unterweisung eines orthodoxen jüdischen Knaben in Osteuropa – und mehr als das. Er war Schüler des Hauptes der Dünaburger chassidischen Juden, des Rabbiners Josef Rosin, der allgemein nach seinem Geburtsort „der Rogatschower“ oder auch nach dem Titel seines (natürlich hebräischen) Hauptwerks „Zofnat Paneach“ genannt wurde. Als Jugendlicher arbeitete Ginsburg, wohl als eine Art Bibliotheksgehilfe, für den unter orthodoxen Juden weltweit hoch verehrten Talmudgelehrten.

Rosins gewaltiger Ruf spiegelt sich zum Beispiel in einer viel zitierten Begegnung zwischen ihm und dem zionistischen und unreligiösen hebräischen Dichter Chaim Nachman Bialik wider. Bialik sagte nach einem Besuch bei dem Rabbiner in Dünaburg, die Intelligenz des Rogatschowers würde für „zwei Einsteins“ reichen. Rosin wiederum sagte über Bialik – so erinnerte sich Ginsburg nach vielen Jahren –, der Dichter sei „a goi gomer, ober sejr a fajner mentsch“ („ein kompletter Nichtjude, aber ein sehr feiner Mensch“).

Viele Welten – viele Wahrheiten

Rosin und Bialik standen für die zwei gleichermaßen jüdischen Welten, zwischen denen Abrascha Ginsburg aufwuchs. Sein Weg führte fort von der Frömmigkeit des Vaters und des großen rabbinischen Lehrers. Wie das ablief, hat er nie mitgeteilt – bis auf die anekdotische Erzählung, er habe als Junge einmal seinen Lehrer (den Rogatschower persönlich oder einen braven Melamed?) mit der These schockiert, das Verhältnis des Kreisumfangs zum Kreisdurchmesser sei keineswegs exakt 3, wie es der gut fundamentalistische Lehrer gestützt auf den Talmud und den biblischen Bericht über König Salomons Tempelbau zu wissen glaubte. Aber war es wirklich nur die Differenz zwischen der mathematischen Zahl π und der nächstgelegenen natürlichen Zahl, die Ginsburg dem Lubawitscher Chassidismus entfremdete?

Seinem späteren Charakter hätte das gar nicht entsprochen: Jahrzehnte später, in erbitterten Diskussionen über israelische Verteidigungspolitik und bundesdeutschen Radikalenerlass, über Hollywoodfilme und Kommunismus, über ein NPD-Verbot, das Kölner Schauspielhaus und die Bonner Ostpolitik, unterlief mein Vater den Rigorismus seines eigenen heranwachsenden Sohnes mit der unwiderlegbaren Aussage, zwei und zwei sei vier, aber drei und eins sei auch vier. Ich höre das heute noch, wenn ich es aufschreibe: Es gab also viele Wahrheiten, das war für ihn eine unerschütterliche Wahrheit – mit der er unter den Chassidim mindestens so viele Probleme gehabt hätte wie mit der aus dem Mathematikunterricht in das Reich des Talmud transponierten geometrischen Erkenntnis.

Jedenfalls fand Alexander Ginsburg schon früh Ideale außerhalb der chassidischen Welt: in der zionistisch-nationalistischen Betar-Bewegung, die unter Führung Wladimir Zeev Jabotinskys die schnelle Errichtung eines jüdischen Staates in ganz Palästina forderte und für dieses Ziel zum militärischen Kampf gegen Araber und Briten aufrüsten wollte. Damit stand die Bewegung im Gegensatz zur relativ friedfertigen Mehrheit der Zionistischen Weltorganisation, aus der Jabotinsky und seine Gefolgsleute Anfang der Dreißigerjahre ausschieden, und natürlich auch zu der Jahrtausende alten religiösen Tradition, Erlösung und Rückkehr nach Zion nicht durch eigene Tat erzwingen zu wollen, sondern in frommem Studium, in Gebet und Wohltätigkeit herbeizusehnen. Der Betar organisierte sich in der osteuropäischen Diaspora in paramilitärischer Form mit Uniformierung (in braun!), Aufmärschen und Fahnenappellen, was seinen Gegnern Gelegenheit gab, die Gruppierung trotz ihres Bekenntnisses zur Demokratie als faschistisch abzustempeln.

In Lettland war dem Betar unter der Herrschaft des rechtslastigen Diktators Karlis Ulmanis seit 1935 wie allen möglichen politischen Organisationen die öffentliche Betätigung untersagt; intern funktionierte die Bewegung weiter und wahrte ihre starke Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft des Landes, die mit etwa hunderttausend Menschen um die fünf Prozent der lettischen Bevölkerung ausmachte.

Innerhalb dieser sich in der Zwischenkriegszeit rasch säkularisierenden Volksgruppe war die Politisierung stark. Keines der Kinder Jankel Ginsburgs blieb dem chassidischen Lebensstil verbunden: Die älteste Schwester Emma wandte sich der politischen Linken zu, der Bruder Jeschajahu, Schaj genannt, den rechtsliberalen „Allgemeinen Zionisten“, Alexander Ginsburg und seine Schwester Chana dem Betar am rechten Ende des jüdischen politischen Spektrums. Ginsburg zitierte später gerne den Widerwillen seiner Mutter gegen den führenden sozialistischen Zionisten David Ben-Gurion, der „niemals eine Krawatte“ trug – seltsam, da der chassidische Ehemann Rachel Ginsburgs sicherlich dieses Kleidungsstück ebenfalls mied, wenn auch aus anderen Motiven als Ben-Gurion.

Während Chana Ginsburg in den Dreißigerjahren nach Palästina auswanderte, diente ihr jüngerer Bruder nach dem Abitur als Rekrut in der lettischen Armee – gegen jüdische Tradition, aber ganz im Sinne von Jabotinskys Forderung, junge Juden sollten sich schon in der Diaspora militärisch schulen. Abrascha Ginsburg war schon als Kind ein begeisterter Schwimmer und Ruderer gewesen. Am frühen Morgen seiner Barmitzwa, also mit kaum 13 Jahren, machte er, ganz gegen die religiöse Konvention, einen kurzen Badeausflug, der damit endete, dass er beim Schwimmen eine Frau vor dem Ertrinken rettete, also das höchste aller positiven Gebote der Religion erfüllte. Die gerettete Frau erschien wenige Stunden später bei der Barmitzwa und machte das sensationelle Ereignis gebührend bekannt. Dem jungen Lebensretter trug das gleichzeitig Lob und Schimpf durch seinen streng gläubigen Vater ein. So jedenfalls Alexander Ginsburgs eigene Erzählung, die zu den wenigen Bruchstücken aus der Geschichte seiner Kindheit gehörte, die er Jahrzehnte später offenbarte. Plausibler wäre die ebenfalls bemerkenswerte, aber nicht ganz so dramatische Variante, dass der 12-jährige Ginsburg seine Heldentat einige Tage oder Wochen vor seiner Barmitzwah vollbrachte, die fast ertrunkene Frau dann aber bis zu diesem Tag wartete, um ihrem Retter vor viel Publikum und zur großen Überraschung seiner Familie zu danken. Und in Daugavpils lebte noch in den Neunzigerjahren ein alter Herr, der erzählte, der junge Abrascha Ginsburg habe ihn vor vielen Jahren vor dem sicheren Ertrinken gerettet. Zwei parallele tatsächliche Begebenheiten? Oder einmal Dichtung, einmal Wahrheit?

Es ist nicht mehr zu ermitteln.

Dafür stehen Begebenheiten fest, die Jahrzehnte später viel unglaublicher klingen. Auf der Ostsee kreuzte im Sommer 1938 ein Segelschulschiff namens „Theodor Herzl“, gekauft und finanziert von revisionistischen (also Jabotinsky-treuen) Zionisten aus Riga. Einer der Matrosen war mein Vater, zu dieser Zeit Jurastudent in Riga. Die Eleven sollten nach Jabotinskys Vorstellung Soldaten einer zionistischen Kriegsmarine werden. Abrascha Ginsburg, der Lebensretter aus dem weitab vom Meer gelegenen Dünaburg, hoffte damals noch auf eine Ausbildung zum Marineoffizier im italienischen Civitavecchia. Jabotinsky hatte entsprechende Verhandlungen mit dem faschistischen Italien geführt, und einige Betar-Mitglieder hatten bereits einen entsprechenden Kurs begonnen. Damit war aber nach kurzer Zeit Schluss: Die Wandlung Mussolinis vom potenziellen Gegner zum Gefolgsmann Adolf Hitlers bedeutete für meinen Vater, dass er Italien erst 1953 kennen lernen sollte, als deutscher Tourist.

Lettland, Palästina und die Russen

Auch aus Ginsburgs ursprünglicher Studienabsicht – Medizin – war nichts geworden: wegen des gegen Juden gerichteten „Numerus clausus“ an der Universität Riga. Stattdessen begann er, vermutlich etwas lustlos, das Studium der Jurisprudenz, das in Riga dreisprachig – lettisch, russisch und deutsch – von Statten ging. Die Professoren waren Baltendeutsche, und viel später war das einzige lettisch-sprachige Buch im überquellenden Bücherschrank meiner Eltern das Lettische Bürgerliche Gesetzbuch der Zwischenkriegszeit, im Wesentlichen wohl das deutsche BGB in Übersetzung.

Ginsburg sagte später immer wieder, das Studium habe ihm intellektuell viel weniger gegeben als vorher die Gymnasialzeit. Tatsächlich hatte er als Gymnasiast eine eindrucksvolle literarische und historische Bildung erworben: Gerne zitierte er später vor allem die klassische russische Literatur (etwa Krilow, Puschkin, Dostojewskij), aber auch deutsche und französische Schriftsteller, die er zuerst meist in russischen Übersetzungen kennen gelernt hatte; stolz war er auch auf seine guten Lateinkenntnisse. Dagegen ging sein Interesse an juristischen Sachverhalten nie über unmittelbar berufsbezogene Angelegenheiten hinaus. Wenn er später rechtliche Fragen ansprach, dann oft in übermäßig vereinfachter Weise und mit Standardfloskeln, an die er sich klammerte.

Der Nutzwert des Jurastudiums muss ihm sowieso fraglich erschienen sein, denn der zionistische Impuls zur Auswanderung nach Palästina bestand sicherlich weiter, auch wenn die britische Mandatsmacht damals den Zuzug von Juden stark drosselte. Für jüdische Juristen war andererseits der Arbeitsmarkt in Lettland eng, da Juden nur in seltenen Ausnahmefällen in den Staatsdienst aufgenommen wurden. Dass Ginsburgs Bruder das geschafft hatte und Richter geworden war, hätte ihm selbst später vielleicht geholfen.

Ginsburg war an der Universität Riga Mitglied einer farbentragenden zionistischen Studentenverbindung, die dem Betar verbunden war. In den Reihen des Betar, der im Lettland des Diktators Ulmanis trotz der staatlichen Repression eine starke Stellung in der großen jüdischen Minderheit hatte, stieg er zum Spitzenfunktionär auf. Während seiner Studentenzeit nahm er an einer Weltkonferenz der Bewegung in Brünn in der Tschechoslowakei teil. Unter den rechtsgerichteten Zionisten gab es damals scharfe Spannungen: zwischen Jabotinsky und dem deutlich radikaleren, viel jüngeren Chef des polnischen Betar, Menachem Begin. Der prangerte alle Bemühungen Jabotinskys um Zweckbündnisse mit Nichtjuden als illusorisch an – der Antagonismus von Juden

und dem Rest der Menschheit war für Begin gleichsam naturgegeben, für Jabotinsky ein historisches Phänomen, das gerade der radikale Zionismus aus der Welt schaffen wollte. Aus Ginsburgs wenigen späteren Äußerungen ließ sich entnehmen, dass er damals für Jabotinsky und gegen Begin Partei ergriff.

Als Ende 1939 die sowjetische Bedrohung stärker wurde, gab der Diktator Ulmanis den politischen Bewegungen Lettlands wieder mehr Freiheit – eine kurze Blüte vor dem endgültigen Aus. Kurz vor der sowjetischen Besetzung, im Frühjahr 1940, trat Ulmanis in Dünaburg auf, nicht weit von der Grenze zum aggressiven Nachbarn entfernt. Bei dieser Gelegenheit stand Ginsburg an der Spitze der örtlichen Betar-Jugendlichen, die – vermutlich gemeinsam mit anderen, jüdischen und nichtjüdischen Gruppierungen – dem Staatschef ihre Unterstützung bekundeten. Der sprach die Worte: „Jeder tue seine Pflicht! Ich an meinem Platz, ihr an eurem Platz!“ Es war vergebens.

Die sowjetische Annexion Lettlands veränderte Ginsburgs Lebensumstände. Der Student, der gerade erst das Examen zum „Magister Juris“ bestanden hatte, wurde Angestellter in einem Rigaer Verlag, wo er mit der Übersetzung der sowjetischen Gesetze aus dem Russischen ins Lettische beschäftigt war. Eine gute Zeit war das nicht für den jungen Mann. „Du kennst die Russen nicht!“, war drei Jahrzehnte später sein immer wiederkehrender Spruch, mit dem er seine Vorbehalte gegen die Ostpolitik Willy Brandts begründete. Aber das ist ein Vorgriff auf eine Zeit und auf eine Situation, die sich der junge jüdische Jurist im Riga des Jahres 1940 auch nicht mit der größten Phantasie hätte ausmalen können.

Das Ghetto

Am 22. Juni 1941, einem Sonntag, feierte Ginsburg seinen Geburtstag im Café Schwarz, das als beliebter Treffpunkt der Rigenser Deutschen eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Der baltendeutsche Humorist Heinz Ehrhardt hat über die Rigaer Cafés Schwarz und Reiner den Merkspruch überliefert: „Bei Reiner ist der Kaffee schwarz, aber bei Schwarz ist er reiner“ – Erinnerung an harmlose Zeiten, die an diesem 22. Juni endeten.

In die Geburtstagsfeier platzte die Nachricht vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Binnen weniger Tage war ganz Lettland von der Wehrmacht erobert. Riga wurde Hauptstadt des „Reichskommissariats Ostland“, ein Nazi aus Lübeck übernahm das Bürgermeisteramt, die SS die Herrschaft über die Hansestadt, ihren lettischen Kollaborateuren gewährten die neuen Herren statt der Freiheit von Fremdherrschaft nur die Freiheit, beim Völkermord zu assistieren.

Die Schwestern Ginsburgs und seine Mutter konnten sich in den sowjetischen Machtbereich retten und überlebten den Massenmord an den europäischen Juden hinter den sowjetischen Linien in einer Kolchose bei Kuibyschew (heute Samara) an der Wolga, wo Emma als Buchhalterin arbeitete. Ginsburg, sein Vater und sein Bruder wurden Ghetto-Häftlinge. Der Vater und der Bruder wurden im Herbst 1941 am jüdischen Versöhnungstag bei einer Massenerschießung ermordet. Nach dem Krieg wurde berichtet, Jankel Ginsburg sei am Vorabend des hohen Feiertages von Mithäftlingen gefragt worden, ob unter den schrecklichen Lebensbedingungen im Ghetto das strenge Fastengebot für den Jom Kippur gelte. Er habe geantwortet: „Die Gebote gelten für Menschen, wir sind keine Menschen mehr.“

Alexander Ginsburg war einer der wenigen lettländischen Juden, fast nur jüngere Männer, die den Mordaktionen des Jahres 1941 entgingen. In Riga bestand für diese Männer seit Ende 1941 das „lettische Ghetto“ als kleiner, eigens abgesperrter Bereich des Judenghettos, in dem ansonsten die aus Mitteleuropa nach Riga verschleppten Juden zu wohnen hatten – ohne die sofort nach der Ankunft Ermordeten waren das etwa 12.000 Menschen. Die Juden wurden zur Zwangsarbeit in wechselnden so genannten „Kommandos“ zusammengefasst. In seiner Rigaer Häftlingszeit arbeitete Ginsburg zum Beispiel in einer Auto-Reparaturwerkstatt der Wehrmacht, beim Torfabbau in der Nähe des Dorfes Olaine nordwestlich von Riga und als eine Art Hausmeister und Einkäufer im deutschen Offizierheim am Wöhrmannschen Park unweit des Rigaer Hauptbahnhofs. Das aufwendig verzierte Jugendstilgebäude war vor 1940 Sitz des Lettischen Vereins gewesen, einer für die Nationalbewegung der Letten seit der Zarenzeit wichtigen Kulturvereinigung. Nach dem Krieg fand dort die für sowjetische Verhältnisse avantgardistische lettische Filmemacherszene ein Zuhause.

Der Wehrmacht diente das Haus als hotelartige Etappe auf dem Weg zwischen Heimat und Front, und einige Dutzend versklavter Juden fanden hier für relativ kurze Zeit einen Arbeitsplatz, an dem es zu essen gab, wo ausreichend geheizt, nicht geschlagen und nicht gemordet wurde. Zufall? Doch ein Indiz, dass es nicht nur „Verbrechen der Wehrmacht“ in dieser Zeit gab? Wahrscheinlich war es das Werk einzelner Wehrmachtsangehöriger mit relativ niedrigen Dienstgraden, bei denen sich in heute nicht aufklärbarer Weise Mitleid mit der Einsicht vermengte, dass halbwegs menschlich behandelte Zwangsarbeiter mehr leisteten als solche, die nur gequält wurden. Unter den im Offiziersheim arbeitenden jüdischen Ghettohäftlingen lernte Ginsburg 1942 seine spätere Frau Liesel Frenkel kennen, die aus dem Rheinland nach Lettland verschleppt worden war.

Das Rigaer Ghetto wurde Anfang November 1943 aufgelöst. Ginsburg wurde Häftling im Konzentrationslager Kaiserwald, das sich im Rigaer Stadtgebiet befand. 1944 deportierte die SS die überlebenden Kaiserwalder Häftlinge über die Ostsee ins Reichsgebiet. Ginsburg kam ins KZ Stutthof bei Danzig, an das er später besonders schlimme, nie erzählte Erinnerungen hatte. Von dort wurde er abermals verschleppt. Im Frühjahr 1945 war er als Häftling des KZ Buchenwald in einem Außenlager im Magdeburger Stadtteil Buckau inhaftiert und arbeitete mit seinen Kameraden im Grusonwerk, einem Rüstungsbetrieb, der zum Krupp-Konzern gehörte. Wie er später berichtete, behandelten dort deutsche Volkssturmmänner als Vorarbeiter die Juden unmenschlicher, als er das von den SS-Männern gewohnt war.

Befreit!

Aber Ginsburg überlebte, und jetzt kann ich endlich über fünf Jahrzehnte in Freiheit berichten. Für den Sohn und Berichterstatter ist das viel angenehmer, aber wird er seinem väterlichen Objekt gerecht, wenn er schnell eine neue Seite aufschlägt? Jurek Beckers Blank warnt: „Du musst nicht denken, so ein Lager ist von einem Tag auf den andern zu Ende. Schön wär das. Wirst befreit, gehst raus, und alles ist vorbei. So ist es leider nicht, ihr stellt euch das viel zu einfach vor, das Lager läuft dir hinterher.“ Mein Vater hat so etwas nie gesagt, wohl nicht, weil es für ihn anders war als für Blank, sondern weil er – keine Romanfigur, sondern ein Mensch – weil er schwieg.

Magdeburg wurde 1945 von der amerikanischen Armee befreit. Ginsburg wurde zusammen mit einer kleinen Gruppe lettländischer Lagerkameraden von den Amerikanern versorgt und in eine Stadtwohnung eingewiesen. Kurz darauf übernahmen die Sowjets in Magdeburg das Kommando. Die Sowjetische Militäradministration betrachtete die Juden aus dem Baltikum als eigene Bürger und nahm sie in ihre Dienste. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse boten sich den Befreiten viele Möglichkeiten. Ginsburg schlug das Angebot aus, einen hohen Posten in der Magdeburger Kommunalverwaltung zu übernehmen, und arbeitete in der für Demontage zuständigen Abteilung der Militäradministration. Sein ihm vorgesetzter Offizier, so erinnerte sich Ginsburg später, gab sich nach Monaten der Zusammenarbeit als Jude zu erkennen. Er empfahl den meisten der befreiten jungen Juden, im Westen ein neues Leben zu beginnen, zu dem tüchtigen Ginsburg aber sagte er: „Dich nehme ich mit nach Moskau zu Mikojan“ – damit Ginsburg unter dem mächtigen sowjetischen Handelsminister Karriere machen sollte.

Dieses Versprechen war für Ginsburg das Signal, aus dem sowjetischen Machtbereich zu fliehen. Gemeinsam mit den meisten seiner lettländisch-jüdischen Kameraden entkam er 1946 in den amerikanischen Sektor Berlins – für die Sowjets ein schweres Verbrechen. Nach kurzem Aufenthalt in Berlin siedelte er nach Bayern über, wo damals viele osteuropäische Juden in von den Amerikanern kontrollierten Aufnahmelagern als so genannte „entwurzelte Personen“ („Displaced Persons“, DPs) auf die Möglichkeit zur Reise in ein Einwanderungsland warteten. Ginsburg hielt sich eine Weile im DP-Lager Weilheim in Oberbayern auf, später zog er nach München. Ihren Lebensunterhalt verdienten viele DPs durch Schwarzhandel und Schmuggel. Ginsburg bot sich etwas anderes, Besseres: Ganz ähnlich wie viele andere nachmalige Funktionäre der nachkriegsdeutschen jüdischen Gemeinschaft wurde er in dieser Zeit Verbindungsmann zwischen der jüdischen Bevölkerungsgruppe und der Besatzungsmacht.

Ginsburg trat in die Dienste der amerikanischen Armee, die einen jungen Mann mit seinem Hintergrund, seinen Sprach- und Rechtskenntnissen offenbar gut gebrauchen konnte. Das war mit Gewissheit kein Seitenwechsel. Für Ginsburgs zionistische Tätigkeit in dieser Zeit gibt es einen Beleg: ein Photo aus dem Jahr 1947 oder 1948, das ihn als Redner bei einer zionistischen Versammlung in einem DP-Lager zeigt. Mit Ascher Ben-Nathan, dem Koordinator der aus britischer Sicht illegalen Einwanderung aus Süddeutschland und Österreich nach Palästina, war Ginsburg persönlich bekannt. Viel später berichtete Ginsburg, dass ihm damals ein Vertreter in den Lagern tätigen amerikanisch-jüdischen Wohlfahrtsorganisation Joint eine Außendienststelle in Marokko anbot – er musste das ablehnen, weil er nie Französisch gelernt hatte. Sein Dienst bei den Amerikanern führte auch nicht zur Auswanderung in die USA, und es kam auch nicht zur Übersiedlung nach Israel: ein biographischer Bruch, den aufzuklären dem Autor dieser Zeilen als Sohn ebenso wichtig wie schwierig geblieben ist.

Vorerst blieb Ginsburg also in Oberbayern – und in Deutschland blieb er auf Dauer. Das hat vor allem mit seiner Eheschließung mit einer aus Deutschland stammenden ehemaligen KZ-Kameradin zu tun, die nach dem Krieg an ihren Geburtsort Rheydt zurückgekehrt war und dort eine Textilhandlung betrieb. Im Jahr der Heirat 1949 wurde Ginsburg Angestellter des Landesinnenministeriums von Nordrhein-Westfalen in der Wiedergutmachungsabteilung. Der sozialdemokratische Innenminister Walter Menzel übertrug die langsam anlaufende Entschädigung von Opfern der Naziherrschaft am liebsten Mitarbeitern, die selber Verfolgte des Nationalsozialismus gewesen waren. So wurde Ginsburg zum Landesbediensteten, nachdem er sich in seiner schriftlichen Bewerbung auf die Mitteilungen beschränkt hatte, er sei 34 Jahre alt, Jurist und KZ-Überlebender.

Sollen Juden in Deutschland leben?

In seinen 24 Jahren im nordrhein-westfälischen öffentlichen Dienst blieb Ginsburg Angestellter, erhielt also nicht den für die Karriere viel zuträglicheren Beamtenstatus. Offenbar hatten die entscheidenden Politiker und hohen Beamten Bedenken über Ginsburgs wirkliche Loyalität in Konflikten zwischen jüdischen Antragsstellern und deutschem Interesse. In der Tat machte er später nie einen Hehl daraus, dass er die sehr oft ungerechten Regelungen des Bundesentschädigungsgesetzes stets im Sinne der NS-Opfer auszulegen geneigt war. Das kam seiner beruflichen Stellung nicht zu Statten – ebenso wie die Korruptionsvorwürfe und -verfahren gegen Wiedergutmachungsbeamte in anderen Bundesländern in den Fünfzigerjahren, die manche Politiker zu einem Generalverdacht gegen alle mit solchen Angelegenheiten befassten Mitarbeiter verleiteten.

Ginsburg war bis 1953 im Düsseldorfer Innenministerium tätig. Dann wurde in Nordrhein-Westfalen die Abwicklung der Wiedergutmachung aus dem Ministerium in die Regierungsbezirke verlegt. Fast zwei Jahrzehnte war Ginsburg beim Regierungspräsidenten in Köln beschäftigt, zuletzt über Jahre als stellvertretender Leiter des Wiedergutmachungsdezernats.

Bis 1957 lebte Ginsburg mit seiner Frau und dem 1951 geborenen Sohn in Rheydt (heute Mönchengladbach), dann zog die Familie an seinen Arbeitsort Köln um. Er wurde ein engagiertes Mitglied der Kölner Synagogengemeinde. Seit 1960 gehörte er zu den zwölf Mitgliedern der „Repräsentanz“, der Vertretungskörperschaft der Gemeinde. Nach kurzer Zeit wählten ihn die Repräsentanten in den ehrenamtlichen Gemeindevorstand, dem er bis Ende 1988 ununterbrochen angehörte, immer als faktisch erster unter Gleichen innerhalb des zwei- oder dreiköpfigen Gremiums. Bei den alle drei oder vier Jahre stattfindenden Neuwahlen der Repräsentanz wurde Ginsburg stets mit der höchsten Stimmenzahl aller Kandidaten wieder gewählt. Biographie und Wesen prädestinierten ihn zum Vermittler zwischen den religiös, landsmannschaftlich und vom Lebensschicksal während der Nazizeit sehr unterschiedlich geprägten Gemeindemitgliedern.

Wie wenige jüdische Funktionäre in Nachkriegsdeutschland vereinigte Ginsburg jüdische mit weltlicher Bildung, Kommunikationsfähigkeit gegenüber der Umwelt und Einfühlungsvermögen für die Emotionen der sich in Deutschland fremd fühlenden Nachkriegsjuden. Gegenüber dem Staat Israel äußerte er tiefe Zuneigung und unerschütterliche Loyalität. Er wandte sich aber leidenschaftlich gegen Bevormundung durch israelische Diplomaten und Emissäre. Er lehnte die These ab, die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik seien Übergangsgebilde, deren Ende durch Auswanderung und Aussterben abzusehen sei.

Ob Juden in Deutschland leben sollten oder nicht, war nach seiner Meinung die Entscheidung jedes Einzelnen, dem die offizielle jüdische Gemeinschaft „weder zu- noch abraten“ könne. Allerdings sah Ginsburg die Gefährdung der Juden durch Antisemiten und Neonazis in Deutschland nicht als groß an, seit die in den Jahren zuvor erstarkte NPD 1969 den Einzug in den Bundestag verfehlt hatte. Er befürwortete auch den Aufbau der 1979 gegründeten Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg, die von vielen als Zeichen permanenter jüdischer Ansiedlung in der Bundesrepublik gesehen wurde. Dabei bemühte er sich, auf die Gefühle der Vertreter unterschiedlicher religiöser Strömungen in der jüdischen Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen.

Ginsburgs eigene Religiosität war von einem gewissen Relativismus geprägt. Von religionskritischen oder philosophischen Fragen wollte er nichts hören, sofern sie ihm wie eine Beschädigung jüdischer Tradition erschienen. Gelegentlich äußerte er aber, dass er selbst nicht völlig verstehe, was dem Judentum letztlich zu Grunde liege. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgte er theologische Erörterungen zwischen Christen und Juden, wie sie in den Sechzigerjahren auf hohem Niveau in der Kölner Christlich-Jüdischen Gesellschaft stattfanden. Von seinen Auslandsreisen als Vertreter des Zentralrats der Juden zu internationalen jüdischen Begegnungen brachte er große Sympathien für Tendenzen der religiösen Reform mit – heftig hielt er allerdings daran fest, dass die Einheit des Judentums nicht gefährdet werden dürfe.

In Angelegenheiten der Kölner jüdischen Gemeinde kooperierte er reibungslos mit dem Rabbiner Emanuel Schereschewski, einem kompromisslosen Orthodoxen und religiösen Zionisten. Dass Schereschewski nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1967 seinen Nationalismus in Expansionismus und Araberhass steigerte, störte Ginsburg nicht, der sich jetzt wieder zu den Ansichten des Ultranationalisten Jabotinsky bekannte – allerdings nur in Fragen des israelisch-arabischen Konflikts. Bezeichnenderweise hatte Ginsburg 1966 einmal wütend den Gottesdienst verlassen, als Schereschewski in einer Predigt die Opfer des nazistischen Massenmordes als „Kontingente“ bezeichnete, deren Tod zur Wiedergeburt des Staates Israel beigetragen und damit einem guten Zweck gedient habe.

Ginsburg lehnte die Unterordnung des Diaspora-Judentums unter das israelische Zentrum scharf ab. Im privaten Kreis sagte er des Öfteren, dass für ihn die Einwanderung sämtlicher Juden der Welt nach Israel nicht wünschenswert sei. Er zitierte gern die Meinung Schereschewskis, das Judentum brauche durchaus Reformen, die aber von der Gesamtheit der Juden akzeptiert werden müssten: Es müsse daher einen neuen Sanhedrin geben – nach dem Vorbild der religiösen Gelehrtenversammlung, die im Jerusalem des Zweiten Tempels lange Zeit das Sagen hatte.

Die religiöse Praxis des orthodoxen Judentums spielte für Ginsburgs Alltagsleben keine große Rolle mehr. Ohne etwa Speise- und Schabbat-Vorschriften zu beachten, äußerte er großen Respekt vor rabbinischer Gelehrsamkeit und war regelmäßiger und aktiver Teilnehmer der Gottesdienste am Schabbat und an den Feiertagen. Oft äußerte er einen gleichsam patriotischen Stolz über die jüdische Religion, die er als große Kulturleistung des jüdischen Volkes verstand: Nicht Gott hatte Israel erwählt (obwohl Ginsburg eine solche klare Aussage immer vermieden hätte), sondern Israel Gott – und das konstituierte sowohl die welthistorische Rolle des Judentums als auch den Grund, warum Abfall vom jüdischen Volk für Ginsburg bei aller sonstigen Wandlung von der chassidischen Kindheit über die rechtszionistische Jugendphase zum weitgehend in Deutschland akkulturierten Juden undenkbar war.

In diesen Gedanken spiegelt sich seine Prägung durch den Agnostiker Jabotinsky, aber auch durch den einflussreichen nichtzionistischen Historiker Simon Dubnow, den Ginsburg kurz vor dessen Ermordung im Rigaer Ghetto 1941 noch gehört hatte. Dubnow, nach dessen Theorie die jüdische Religion stets ein Instrument zum Erhalt der jüdischen Nation gewesen war, äußerte nach Ginsburgs Erinnerung im Angesicht des eigenen Untergangs die Meinung, das Wüten der Nazis sei eine der zyklisch das jüdische Volk heimsuchenden Katastrophen – wie zuvor der Massenmord während der Kreuzzüge und die spanische Inquisition. Für Ginsburg, der inzwischen so zu sagen zum deutschen Juden geworden war, bedeutete diese Interpretation Dubnows sicher auch eine gewisse Relativierung der Shoah, die ihm die Etablierung in Deutschland leichter machte.

So deutlich war das von Ginsburg freilich nie zu hören. Eigene theologische oder geschichtsphilosophische Äußerungen vermied er. Das minderte nicht sein hohes Ansehen als Redner innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. In seinen Reden, etwa bei Festveranstaltungen in der jüdischen Gemeinde, fiel er oft in die Sprechmuster der Freimaurerei („Baumeister aller Welten“ für Gott usw.), ohne dass sich daraus eine geschlossene Weltanschauung hätte ableiten lassen. Er war zusammen mit mehreren Männern aus seinem jüdischen Freundeskreis einer Freimaurerloge beigetreten, in dem offensichtlichen Bestreben, in Köln nichtjüdische Freunde zu finden, die mit dem Nationalsozialismus ganz bestimmt nichts zu tun gehabt hatten.

Von sonstigen formalen Bindungen hielt Ginsburg sich fern. 1949 hatte er bei der ersten Bundestagswahl noch die neonazistische Deutsche Rechtspartei gewählt, „damit die so viel Stimmen bekommen, dass die Alliierten aufmerksam werden und einschreiten“. Er erzählte das später ohne Rücksicht darauf, wie skandalös so etwas jetzt wirken musste, zumal im Vergleich zur späteren Einstellung dieses einstigen DRP-Wählers zu Deutschland und zum deutsch-jüdischen Verhältnis. Seit den frühen Fünfzigerjahren war er Stammwähler der SPD und galt auch in seinem beruflichen Umfeld als SPD-Sympathisant, ohne dass er je Mitglied der Partei wurde. Auch hierin nahm er Muster des deutschen Judentums an, die auf eine Zeit lange vor 1933 zurückgingen – Denk- und Verhaltensmuster, die ihm seine Frau und auch zumeist ältere deutsch-jüdische Freunde und Mitstreiter im privaten Bekanntenkreis wie in den jüdischen Organisationen vermittelten. In der Nachkriegszeit hatte er gegen einen der berühmten Auftritte des jüdischen Violinisten Jehudi Menuhin in Deutschland wegen Menuhins deutschfreundlicher Haltung demonstriert.

Später erschien Ginsburg seiner jüdischen und nichtjüdischen Umgebung geradezu als Exponent eines versöhnlichen Neuanfangs im Zusammenleben von Juden und Mehrheitsgesellschaft in Deutschland. Ganz verstanden hat er sich in dieser Hinsicht wahrscheinlich selbst nicht, sicher war nur, dass er extreme Urteile verabscheute, ganz wie der „Boxer“, wie Beckers Blank: „Lassen wir die Frage offen, wie viel mir das Land hier bedeutet. (…) Wenn ich es hassen würde, würdest du nichts erfahren, und wenn ich es lieben würde, würdest du noch weniger erfahren. Jedes Mal, wenn ich einen darüber reden gehört hab, ist er mir lächerlich vorgekommen.“

Im Zentralrat der Juden in Deutschland

Seit 1961 bekleidete Ginsburg ehrenamtliche Spitzenstellungen im Zentralrat der Juden in Deutschland und in der Vermögensträger-Organisation „Jüdischer Gemeindefonds Nordwestdeutschlands“. Aus Ablehnung eines politischen Stils, den er als marktschreierisch und unproduktiv erachtete, war Ginsburg stets bestrebt, den Aufstieg des Berliner Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski in eine überregionale Leitposition zu verhindern. Galinskis stetes Heischen nach öffentlicher Aufmerksamkeit und seine Neigung zu pauschalen Verdammungen war Ginsburg wesensfremd und ganz persönlich zuwider. Er unterstützte aus dieser Haltung heraus den langjährigen Generalsekretär des Zentralrats, Henrik George van Dam, und den Karlsruher Gemeindevorsitzenden Werner Nachmann, der für ein Bekenntnis der jüdischen Gemeinden zu Deutschland und für eine konservative politische Grundorientierung eintrat.

Nachmann, seit den Sechzigerjahren Vorsitzender des Zentralrats, wurde mit van Dams Tod 1973 zur politisch eindeutig tonangebenden Figur im organisierten westdeutschen Judentum. Ihm verdankte Ginsburg seine Wahl zum Generalsekretär des Zentralrats, ein Amt, das er im September 1973 antrat. Aus dem Staatsdienst schied er aus.

Nur sehr zögerlich machte sich der neue Generalsekretär Ginsburg vom Schatten seines verstorbenen Vorgängers van Dam frei, eines Rechtsanwalts aus Berlin, der die Nazizeit in England überlebt hatte, erklärtermaßen weder religiöse noch ethnische Bindungen mit seiner Zugehörigkeit zur jüdischen „Schicksalsgemeinschaft“ verband, nach 1945 jedoch als kluger Fürsprecher der Juden erst gegenüber der britischen Besatzungsmacht und dann gegenüber der Bundesregierung Einfluss auf die Rechtssystematik und die Praxis der bundesrepublikanischen Wiedergutmachungsleistungen genommen hatte. Dem ehrenamtlichen Vorsitzenden Nachmann, ein Jahrzehnt jünger und wesentlich dynamischer als Ginsburg – Nachmann war kein KZ-Überlebender, sondern hatte im französischen Untergrund die Zeit des Massenmordes überstanden – diente der neue Generalsekretär als bis zur Selbstverleugnung getreuer Adlatus. Das machte scheinbar seine Position scheinbar unangreifbar, minderte aber seine Bedeutung im jüdischen Leben Deutschlands. Das schon unter van Dam bescheidene Büro des Zentralrats in Düsseldorf wurde unter Ginsburg weiter verkleinert. Es war lange nicht erkennbar, welche wesentliche Aufgabe nach Verabschiedung der wichtigeren Bonner Wiedergutmachungsgesetze der Organisation noch verblieben war.

Aus der Rückschau waren zwei Ereignisse für die politische Rolle des Zentralrats bedeutsam, von denen eins noch vor Ginsburgs Wechsel ins Amt des Generalsekretärs fiel: der Mordanschlag auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 und der israelisch-arabische Krieg im Oktober 1973. Beides führte zu Verstimmungen zwischen den Regierungen in Bonn und Jerusalem, wegen derer die Bundesregierung offenbar erhebliche internationale Imageschäden befürchtete. Um dieses Risiko zu begrenzen, kultivierten der Außenminister Walter Scheel und andere Vertreter von Regierung und Opposition das Verhältnis zum Zentralrat in vorher ungekannter Weise. Die jüdischen Funktionäre sahen sich mehr denn je als für die jüdische Sache nützliche Mittler zwischen Deutschland und der Weltjudenheit sowie dem israelischen Staat, wogegen israelische Diplomaten eher befürchteten, der Zentralrat könne ihnen ins Handwerk pfuschen und sich schlimmstenfalls zur Bemäntelung einer Israel gegenüber feindlichen Politik Bonns hergeben. Diese Spannung zwischen den Zentralratsführern Nachmann und Ginsburg und der israelischen Botschaft in Bonn verstärkte sich im Laufe der 15 Jahre bis 1988 zeitweise zu hinter verschlossener Tür unverhüllter Antipathie.

Für Ginsburg, der sich selbst stets als hundertprozentigen Verfechter israelischer Belange sah – mit zunehmendem Alter bekannte er sich oft zu den radikal nationalistisch-zionistischen Positionen seiner Jugend –, bedeutete dieser Konflikt eine emotionale Belastung. Dass daraus auch eine Gefährdung seiner Stellung im jüdischen Leben erwachsen könnte, erschien vor Nachmanns Tod und den anschließenden Enthüllungen über dessen Unregelmäßigkeiten als Verwalter von Entschädigungsgeldern freilich schwer vorstellbar.

Außenpolitische und innenpolitische Bühnen

Um so wichtiger war es Ginsburg, dass er von führenden israelischen Politikern persönliche Anerkennung erfuhr: Vor 1977 war es der Außenminister Jigal Alon, der Ginsburg als nützlichen Mittler zwischen Jerusalem und Bonn akzeptierte und entsprechend würdigte; nach dem israelischen Regierungswechsel von 1977 entwickelte er insbesondere zu dem aus Deutschland stammenden Innenminister Josef Burg ein auch im persönlichen Umgang herzliches Verhältnis. Von besonderer politischer und emotionaler Bedeutung war für Ginsburg eine Begegnung mit dem grundsätzlich die deutsch-jüdische Annäherung ablehnenden Ministerpräsidenten Menachem Begin, der im kleinen Kreis 1979 oder 1980 eine Delegation des Zentralrats empfing und sie seiner Sympathie und seiner Liebe zur deutschen Kultur versicherte:

Für Ginsburg war das nicht nur ein Triumph der von ihm mit geführten deutsch-jüdischen Organisation, sondern auch die Legitimation seines ungewöhnlichen Lebensweges durch den Führer jener politischen Gruppe, in der er als Jugendlicher und Student seine Heimat hatte. „Das ist ein schönes Land“, hatte Begin Ginsburg zufolge über Israel gesagt – auf Deutsch, und das klang dann in den Ohren seines einstigen Betar-Kameraden wie ein Bekenntnis zu Israel und zu Deutschland zugleich. Ansonsten lag Ginsburgs Bedeutung bei derartigen Kontakten in Israel und mit jüdischen Persönlichkeiten aus anderen Ländern darin, dass er tief von der jüdischen Kultur Osteuropas geprägt war, fließend Jiddisch und Hebräisch sprach und sich auf Englisch verständigen konnte. All das traf auf Werner Nachmann oder auch den ewigen innerjüdischen Opponenten Heinz Galinski nicht zu.

Gerade wegen Ginsburgs komplexer Biographie konnte er den Konflikt zwischen Judentum und Leben in Deutschland, zwischen Israel-Begeisterung und dem Anspruch auf staatsbürgerliche Integration für sich selbst lösen: Im Grunde bekannte er sich zu einer doppelten Loyalität, die man Jahrzehnte später als „multikulturell“ bezeichnet hätte. Mit Definitionen und feinsinnigen Erörterungen hielt er sich nicht lange auf, als offizieller Sprecher der Judenheit in Deutschland umschiffte er manche Klippe durch verbale Manöver (Zionist sein hieß dann „das Aufbauwerk in Israel unterstützen“). Bekennermut musste er sich selbst antrainieren – in den Sechzigerjahren traute er sich noch nicht, Tel Aviver Taxifahrern mitzuteilen, aus welchem Land er kam.

Das änderte sich irgendwann: Mit wirklichem Eifer kritisierte er jüdische Zeitgenossen, die sich mit Hinweis auf ihre Zugehörigkeit zum Judentum unter dem Motto „Dies ist nicht mein Land“ von Deutschland distanzierten, und ebenso sehr verachtete er Diasporajuden, die nicht für Israel und nicht für die jüdische Gemeinschaft ihres Wohnlandes einstanden. Vielen Juden in Deutschland – bis hin zu Gemeindeführern und Zentralratsfunktionären – warf er vor, diese beiden negativen Attitüden in sehr egoistischer Absicht zu verquicken. Solche Bindungslosigkeit nannte er „doppelte Illoyalität“, und das war genau das Gegenteil seines Ideals, der doppelten Bindung an Deutschland und Israel, an Judentum und an universelle Ziele. Dieses Ideal gab Ginsburg nie auf, doch seine Umsetzbarkeit erschien ihm im Lauf der Jahre immer schwieriger. Vor allem erwies sich die Vorstellung als Illusion, auf Grund seiner doppelten Bindung sei er und mit ihm der Zentralrat prädestiniert, Verbindungen zwischen Bonn und Jerusalem, Deutschen und Israelis wesentlich mit zu formen.

Greifbarer als die Mittlerrolle des Zentralrats im deutsch-israelischen Verhältnis war seine Rolle in Bonn. Mit deutschen Politikern aus Bund und Ländern trafen Nachmann und Ginsburg in den Siebzigerjahren immer wieder zusammen. Die hierbei eröffneten Kontakte führten unter anderem – gegen den Widerstand der israelischen Regierung und darum auch Galinskis (der ein Jahrzehnt später in dieser Frage die Position seiner abgetretenen Gegner Nachmann und Ginsburg mit Leidenschaft und Erfolg vertreten sollte) – zur ersten Aufnahme sowjetischer Juden in der Bundesrepublik, vor allem aber zu einer Reihe von Fördermaßnahmen zugunsten der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in den einzelnen Bundesländern, die in den Achtzigerjahren in der Regel zu Staatsverträgen führten, welche die Finanzierung der jüdischen Gemeinden sicher stellten. Diese starke Stellung der Zentralratsführer Nachmann und Ginsburg im politischen Leben kontrastierte mit der schwachen Stellung der Dachorganisation gegenüber den jüdischen Landesverbänden und Gemeinden – das galt besonders für Ginsburg persönlich, der im Gegensatz zu Nachmann das Licht der Öffentlichkeit geradezu scheute.

Dennoch entwickelte Ginsburg auch zu deutschen Politikern und hohen Beamten persönliche Beziehungen, wobei er allerdings fast immer hinter Nachmann zurückstand. So verhielt es sich im Kontakt der beiden zu Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dessen engem Mitarbeiter und späteren Nachfolger Klaus Kinkel. Zu Ginsburgs bevorzugten Gesprächspartnern im Lauf seiner Amtszeit als Generalsekretär und zuvor zählten etwa der Staatssekretär Paul Frank aus dem Auswärtigen Amt, der Bundesinnenminister Gerhart R. Baum, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau sowie einige Bundestagsabgeordnete, die der Zentralrat in den Siebzigerjahren zu einer gemeinsamen Reise nach Israel eingeladen hatte – was immer das auch am Ende bewirkte: Zu dieser Gruppe gehörte etwa der CDU-Politiker Philipp Jenninger, der sich viel später, in Ginsburgs Unglücksjahr 1988, mit einer völlig verunglückten Gedenkrede zum Jahrestag der Pogromnacht von 1938 um sein Amt als Bundestagspräsident brachte.

Genau zehn Jahre zuvor war die Welt für Ginsburg ganz anders. Mit größtem Stolz verzeichnete er die Tatsache, dass er am 40. Jahrestag des 9. November 1938 den Bundeskanzler Helmut Schmidt und den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann zu Reden in einer Gedenkstunde in der Kölner Synagoge gewann. Die Veranstaltung mit dem gegenüber Israel sehr kritischen deutschen Regierungschef und dem einstigen jüdischen Hauptverhandler bei den Wiedergutmachungsabkommen wurde zum symbolischen Höhepunkt der Tätigkeit Ginsburgs. Goldmann, bürgerlicher zionistischer Politiker und Fürsprecher einer gegenüber Israel selbstbewussten Diaspora zugleich, Jude aus dem Baltikum und gleichzeitig deutscher Jude – der Mann, der in freundschaftlichem Verhandeln mit der politischen Elite Westdeutschlands Milliardenzahlungen zugunsten jüdischer Individuen und Organisationen initiiert hatte – war ganz offenbar Ginsburgs Vorbild. Weil Ginsburg, dem KZ-Überlebenden, die Selbstsicherheit und Souveränität des im Laufe eines langen Lebens vom Schicksal verwöhnten Goldmann jedoch fehlte, blieb ihm ein ähnlicher Erfolg versagt. Stattdessen lehnte er sich bedingungslos an den vergleichsweise mediokren Nachmann an: Ursache seines schließlich traurigen Abgangs von der jüdisch-politischen Bühne.

Und außerhalb dieser Bühne gab es für ihn immer weniger Leben. Gut: Alexander Ginsburg hatte eine Frau, einen Sohn, Freunde, mit denen er Karten spielte oder gelegentlich zum Fußball ging. Er las Bücher, aß mehr als ihm guttat – aber all das, den Eindruck erweckte er, ging ihn von Jahr zu Jahr weniger an. Das KZ, hatte er mir in einem der seltenen derartigen Gespräche einmal verraten, habe er nach eigener Meinung auch darum überstanden, weil er damals sicher war, dass er nicht mehr lange zu leben hatte – und dann wollte er, so der nachträgliche Bericht, das grauenhafte, aber welthistorisch höchst interessante Ereignis, zu dessen Opfern er gehörte, wenigstens auf das Genaueste beobachten, statt sich irgend welchen Emotionen hinzugeben. Also: In den schlimmsten Nöten lebte er nicht sein Leben, sondern beobachtete es.

Schwindender Einfluss

Daran – so glaube ich heute – hat sich nie mehr viel geändert. Wieder wie Arno Blank: „Sie sind so inaktiv“, sagt die Frau, die dem Romanhelden Beckers nach dem Krieg hilft, seinen Sohn wiederzufinden. Der KZ-Überlebende im Roman hat es aufgegeben, aktiv zu leben, und das wird im Lauf der Zeit immer ausgeprägter. Auf die Idee, ein Mensch mit diesem Handicap könnte gleichzeitig ein öffentliches Amt bekleiden, ist der Berliner Romancier nicht gekommen. So aber war es in der Realität des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Von Werner Nachmann dominiert, richtete der Zentralrat seine Tätigkeit immer mehr auf Repräsentation aus; im innerjüdischen Leben in Deutschland verlor die Organisation zunehmend an Bedeutung. Bezeichnend für diese Entwicklung war, dass Nachmann an seinem Karlsruher Wohnsitz seit etwa 1980 eine Art Büroleiter des Zentralrats amtieren ließ, der de facto dem Generalsekretär die Geschäftsführung weiter Bereiche aus der Hand nahm. Außerhalb eines sehr engen Kreises um Nachmann war das niemandem bekannt. Es handelte es sich um einen Nichtjuden, den aus Karlsruhe stammenden früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Gerold Benz, der hinter den Kulissen im Zusammenspiel mit Nachmann die typische Lobbyistenrolle eines in Verbandsdienste getretenen Ex-Politikers zu spielen suchte. Dass das offizielle Büro des Zentralrats Mitte der Achtzigerjahre von Düsseldorf nach Bonn umzog, war da fast nur noch von symbolischer Wichtigkeit.

Im innerjüdischen Bereich bemühte sich der Generalsekretär Ginsburg in den späten Siebzigerjahren um Aktivitäten, die sowohl von dem ganz auf die Außenrepräsentation konzentrierten Nachmann wie den auf ihre Eigenständigkeit bedachten Gemeinden kritisch gesehen wurden. Ergebnis waren die sechs „Jugend- und Kulturtagungen“, die der Zentralrat unter der Ägide Ginsburgs von 1977 bis 1983 in verschiedenen deutschen Städten veranstaltete. Diese Treffen, an denen jeweils um die hundert zumeist jüngere Juden teilnahmen, sollten nach dem Willen Ginsburgs und der mit ihm zusammen arbeitenden Initiatoren eine Art kleines Pendant zu den Kirchentagen und Katholikentagen der großen Konfessionen darstellen. Wieweit das erklärte Ziel erreicht wurde, dem schwachbrüstigen religiösen und kulturellen Leben der jüdischen Gemeinden Impulse zu geben, blieb schwer messbar; für die meisten Teilnehmer waren die Veranstaltungen jedenfalls wichtige Elemente jüdischer Erwachsenenbildung und Identitätsfindung. Der Generalsekretär selbst betrachtete die Aktivitäten seiner jugendlichen Mitwirkenden mit wohlwollender Skepsis: „Wenn so eine Tagung zu einer einzigen Ehe von Teilnehmern führt, hat sie sich schon gelohnt“, sagte er einmal halb im Scherz und beschrieb damit ein drängendes Problem der jüdischen Gemeinden – die Aufzehrung durch Assimilation an die Umwelt.

In den Gremien des Zentralrats musste Ginsburg die Tagungen stets verteidigen – zu groß war die Angst von Einwirkungen in die Gemeindeautonomie, vor weitgehend imaginären Verletzungen ängstlich gehüteter Traditionen durch junge, im Netz der Gemeindefunktionäre nicht verankerte Teilnehmer, vor eingebildeter Unterwanderung durch linkslastige alternativer Politik oder Lebensgestaltung zugeneigte Juden. Der Berliner Gemeindevorsitzende Galinski bemühte sich darum, dass aus der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland allenfalls Gegner des Projekts zu den Tagungen anreisten; auch Nachmann sah diese Aktivität seines Gefolgsmanns als bestenfalls dubiose Marotte an, während die israelische Botschaft die Kunde verbreitete, die Tagungen seien tendenziell antizionistische Umtriebe. All das führte dazu, dass die junge Tradition dieser Veranstaltungen einschlief, als die ursprünglichen jugendlichen Organisatoren wegen beruflichen Engagements und Familiengründungen ihre Aktivitäten einstellten.

Auch sonst ließ in dieser Zeit Ginsburgs Einfluss auf den Zentralrat weiter nach. Der konservative Nachmann war seit dem Bonner Regierungswechsel von 1982 auf den SPD-Sympathisanten Ginsburg weniger angewiesen. Vor allem war aber der Rückgang von Ginsburgs Elan überdeutlich fest zu stellen. Aus der Rückschau wird deutlich, dass der Mitsechziger unter frühen Stadien einer Hirnerkrankung litt, die er damals noch vor anderen und auch sich selbst gegenüber verbergen konnte. Im privaten Kreis wies er jeden Gedanken an einen Wechsel in den Ruhestand weit von sich – dass sein Kollege und Freund Nachmann ohne ihn im Amt nicht zu Recht kommen würde, ließ sich gut argumentieren. Wie sehr das stimmte, wusste Ginsburg selbst nicht: Nachmann war dringend darauf angewiesen, dass formal für die Geschäftsführung des Zentralrats jemand verantwortlich war, der ihn weder kontrollieren wollte noch konnte.

Treue

Nachmann und Ginsburg hatten 1980 ihren größten Erfolg in Bonn errungen: Als so genannte „Schlussgeste“ zur Wiedergutmachung des an Juden begangenen nationalsozialistischen Unrechts bewilligte die Regierung Schmidt Zahlungen in Gesamthöhe von 440 Millionen Mark. 40 Millionen Mark waren für den Zentralrat bestimmt; 400 Millionen Mark sollten von jüdischen Organisationen an bislang ohne Entschädigung gebliebene Überlebende gezahlt werden. Das Geld, so wurde vereinbart, ging je nach Bedarf in Tranchen an den Zentralrat, der es auf Anforderung an die jüdische Zentralorganisation Claims Conference in New York weiterleitete. Mit der komplizierten Regelung war Haushaltsvorschriften Genüge getan; gleichzeitig war sehr zum Unwillen der Regierung in Jerusalem und ihrer Diplomaten in Bonn der Staat Israel an der Verteilung der Gelder nicht beteiligt. Das lag durchaus in der Intention sowohl der Bundesregierung als auch des Zentralrats. Dessen Finanzgebaren als Transferstelle wurde in den folgenden Jahren von niemandem überwacht.

Völlig unbekannt – auch in den Gremien des Zentralrats – war die Tatsache, dass der Generalsekretär schon 1981 einem Wunsch Nachmanns entsprochen hatte. Er hatte dem Karlsruher Geschäftsmann alleiniges Zeichnungsrecht über das Konto eingeräumt, das dem Transfer der Millionensummen diente. Ginsburg erklärte seine Bereitwilligkeit später mit seinem Vertrauen in den Freund Nachmann und der Meinung, dieser habe als alleiniger Verwalter des Kontos seine Bonität als Kreditnehmer gegenüber seiner Hausbank verbessern können und wollen: Erklärungen, die angesichts der später in schwerster Form ausgebrochenen Demenzkrankheit Ginsburgs verständlich werden – mangelnde Urteilsfähigkeit verband sich mit kritiklosem Gehorsam gegenüber einer Person des Vertrauens.

Als Nachmann Anfang 1988 überraschend im Alter von 62 Jahren starb, war Ginsburg schon zu krank, als dass er mit den ihm schnell bekannten Problemen hätte fertig werden können. Nachmanns Sekretärin wies ihn auf Unterlagen hin, die Unterschlagungen im großen Stil zumindest nahelegten – kurz nach der eindrucksvollen Trauerfeier für Nachmann in Karlsruhe, bei der Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl dem Toten die letzte Ehre gaben. Helmut Kohl ging so weit, Ginsburg persönlich am Telefon zu drängen, er müsse jetzt das Amt Nachmanns übernehmen, damit im Zentralrat alles so gut weiter gehe wie bisher und nicht etwa der aus Kohls Sicht unbequeme Galinski das Ruder übernähme.

Was Kohl an Nachmann so geschätzt hatte, war dessen Politik der „stillen Diplomatie“: antisemitische Vorfälle niemals zum Anlass der Kritik an der Bundesrepublik im Allgemeinen zu machen, jede Verurteilung des Rechtsextremismus mit dem Hinweis zu verbinden, der Linksextremismus sei für die Juden genau so schlimm, Ablehnung auch nur der geringsten Kooperation mit kommunistenfreundlichen oder anderen linksradikalen Gruppierungen, immer wieder Lob des guten Einvernehmens zwischen den Juden und staatlichen Stellen (insbesondere dann, wenn an der Spitze der jeweiligen staatlichen Einrichtung Politiker des bürgerlichen Lagers standen; über Sozialdemokraten oder gar Grüne konnte sich Nachmann sehr abfällig äußern). Viele Juden kritisierten Nachmanns Linie als Leisetreterei: Ginsburg dagegen bezog stets für Nachmann Partei. Er begründete das damit, dass die Juden in Deutschland nur mit solcher Konzilianz ihre wichtigen Ziele erreichen könnten: eine dem Staat Israel gegenüber freundliche Bonner Politik, Unterstützung der Politiker für den Aufbau jüdischer Einrichtungen in Deutschland und ein Abflauen antisemitischer Einstellungen.

Für einen wirklichen Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft hatte Nachmann 1978 gesorgt, als er den wegen seiner Mitwirkung an Todesurteilen der NS-Marine schwer angegriffenen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger mit den gerade für Juden skandalösen Argumenten verteidigte, Filbinger habe nur seine Pflicht getan und überhaupt nichts besonders Schlimmes. Ginsburg hielt in diesem Konflikt treu zu Nachmann, half ihm mit Formulierungen zur schriftlichen Begründung seiner Position und setzte sein damals noch erhebliches Gewicht innerhalb des Zentralrats dafür ein, dass Nachmann die Affäre unbeschädigt überstand – ein Einsatz, der vielleicht am Anfang von Ginsburgs langsamem Machtverlust stand. Während Nachmann in Diskussionen mit Juden seine Haltung mit dem hanebüchenen Argument begründete, Filbinger habe ja nicht Juden zu Tode gebracht, sondern deutsche Soldaten, wogegen aus jüdischer Sicht nichts einzuwenden sei, verteidigte Ginsburg Nachmann mit dem unwesentlich weniger fragwürdigen Hinweis, die Juden seien auf die Gunst des baden-württembergischen Regierungschefs angewiesen, sonst werde es nichts mit der geplanten jüdischen Hochschule in Heidelberg. Sogar die von ihm selbst in anderen Zusammenhängen als moralisch dubios abgelehnte Idee, aus der Nazizeit belastete deutsche Politiker – Adenauers unseliger Staatssekretär Globke ließ grüßen – seien notgedrungen die für jüdische Anliegen Aufgeschlossensten, fand sich in seiner eher hilflosen Verteidigung.

Ginsburg hatte kein Verständnis für spontane, den Rahmen der Honoratiorenpolitik sprengende jüdische Protestaktionen gegen antisemitische Erscheinungen. Das zeigte sich bei den Vorgängen um den gemeinsamen Besuch Kohls und des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf einem Soldatenfriedhof mit Gräbern von SS-Leuten 1985 („Bitburg-Affäre“), als amerikanische jüdische Funktionäre ihr Befremden über die der Bundesregierung weit entgegenkommende Haltung des Zentralrats zeigten. Das zeigte sich im selben Jahr auch bei den Vorgängen um die durch jüdische Bühnenbesetzer verhinderte Uraufführung eines judenfeindlich wirkenden Theaterstücks in Frankfurt („Fassbinder-Affäre“) – Auseinandersetzungen, bei denen die in den Neunzigerjahren als Sprecher der Juden in Deutschland Ton angebenden Frankfurter Ignatz Bubis und Michel Friedman Ansehen gewannen. Nachmann blieb seiner gerade auch in jüdischen kreisen umstrittenen Politik zum Trotz weiter hochgeachtet und vielfach geehrt – Ginsburg dagegen war in diesen Jahren trotz seines Amtes zu einer Randfigur geworden. Deutlich wurde das bei der offiziellen Feier seines 70. Geburtstages in der Synagogengemeinde Köln – ranghöchste nichtjüdische Gäste waren der in seiner Partei kaltgestellte ehemalige Innenminister Baum, der Spitzenkandidat der wenige Wochen zuvor bei der Landtagswahl blamabel gescheiterten nordrhein-westfälischen CDU und der mit Ginsburg persönlich nicht bekannte Stellvertreter des Kölner Oberbürgermeisters, dessen Rede sich in einem Lob des Beitrags der heimatvertriebenen Schlesier für den Wiederaufbau der Domstadt erschöpfte.

Hilflos und resigniert

Ginsburgs weiterhin bedingungsloses Eintreten für die israelische Außenpolitik änderte nichts an seinem miserablen Verhältnis zur israelischen Botschaft. Der Botschafter Jitzchak Ben-Ari, mit dem Nachmanns und Ginsburgs Widersacher Galinski engen Kontakt pflegte, versuchte vermutlich, die Stellung der beiden Spitzenpersonen des Zentralrats zu unterminieren. Wegen des hohen Respekts der deutschen Diasporajuden vor der israelischen Staatlichkeit war ein solches Ziel für ihn jedenfalls kein Ding der Unmöglichkeit. „Sie kommen auf die schwarze Liste der Feinde des jüdischen Volkes“ offenbarte Ben-Ari den beiden Funktionären einmal aus nichtigem Anlass, nachdem er sie von den Sicherheitsbeamten am Eingang seiner Botschaft gründlich hatte schikanieren lassen – als ob es sich um potenzielle Bombenleger gehandelt hätte. Sich in diesem Konflikt zu behaupten, ihn irgendwie beizulegen – dazu fehlte dem Generalsekretär des Zentralrats die Energie. Vorboten seiner Krankheit verbanden sich mit den Relikten seiner Lebensgeschichte zu einer unentrinnbaren Resignation. Hätte er mit mir darüber geredet, hätte es ähnlich geklungen wie in Jurek Beckers Roman: „Ob ich mir nicht vorstellen könne, fragt er, dass es eine Art von Müdigkeit gibt, die jede Aktion unmöglich macht… Der Kampf gegen die Müdigkeit sei sein letzter und vielleicht der schwerste seines Lebens gewesen, er habe ihn verloren.“

Während Ginsburg in den letzten Jahren seiner Amtszeit fast verstummte, bot Nachmann immer wieder Angriffspunkte. So etwa Anfang 1986: Ein CSU-Bundestagsabgeordneter namens Fellner hatte wegen einer Wiedergutmachungsforderung Nachmanns wörtlich geäußert, immer, „wenn in deutschen Taschen Geld ist“, seien die Juden mit Forderungen da – Nachmann sprach ihn öffentlich gegenüber allen Vorwürfen frei. Kurz darauf machte der Ausspruch des Bürgermeisters einer Kleinstadt aus der Nähe von Düsseldorf die Runde in Deutschland, in Anbetracht der leeren Gemeindekasse sollte man am besten „einen reichen Juden erschlagen“. Die Gegenreaktion des Zentralrats war unhörbar, Ginsburg vertrat resigniert im kleinen Kreis die Meinung, der Ausspruch sei wohl eine Redensart, die man nicht ernst nehmen müsse. Eine entsprechende Nachsicht, öffentlich geäußert, brachte Ginsburg 1987 eine schlechte Presse: Der Deutschlandfunk, in dessen Rundfunkrat Ginsburg seit annähernd zwei Jahrzehnten den Zentralrat vertrat, kam durch Enthüllungen über die NS-Vergangenheit eines leitenden Mitarbeiters in Schwierigkeiten. Ginsburg äußerte sich auch vor Journalisten abwiegelnd über die Affäre und verniedlichte die Schuld des Betroffenen: eigentlich ganz im Sinne Nachmanns, der aber die problematische Wirkung solcher Äußerungen begriff. Nachmann hatte keine Skrupel, gegenüber anderen Journalisten die Haltung Ginsburgs auf Senilität zurück zu führen. Ginsburg hat das nie erfahren. Er hielt Nachmann über dessen Tod hinaus die Treue, auch noch, als er von Nachmanns Untreue erfuhr.

Um Nachmanns Nachfolge als Vorsitzender des Zentralrats bewarben sich nach dessen Tod im Januar 1988 Heinz Galinski aus Berlin und ein nach 1945 geborener Gegenkandidat. Anfang Februar hatte Nachmanns Sekretärin Ginsburg auf die Unregelmäßigkeiten im Verhalten des Verstorbenen hingewiesen. Mit einer Hilflosigkeit, die damals noch wie depressive Verzweiflung wirkte, erbat Ginsburg den Rat seiner Angehörigen. Die Familie drängte ihn, die beiden Nachfolgekandidaten und das Bundesfinanzministerium sofort ins Bild zu setzen und auf Grund seines hohen Alters sein Amt zur Verfügung zu stellen. Dass er diesen Rat scheinbar akzeptierte, dann aber ganz anders handelte, lässt sich nur mit der inzwischen für ihn selbst bedrohlichen, für Laien aber immer noch nicht wirklich erkennbaren Demenzkrankheit erklären.

Ginsburg suchte offenbar als Ersatz für den verstorbenen Nachmann eine neue Autorität, eine neue Anlehnungsperson: Er offenbarte sich einem über 80jährigen jüdischen Funktionär, der als Freund Galinskis und enger Vertrauensmann israelischer Einrichtungen bekannt war, dann auch Galinski, der um diese Zeit zum Nachfolger Nachmanns gewählt wurde. Galinski richtete es so ein, dass er später den Eindruck erwecken konnte, als erster habe ihn ein Vorstandsmitglied einer jüdischen Gemeinde in Nachmanns badischer Heimat auf die Unregelmäßigkeiten aufmerksam gemacht. Diese später auch in der Presse verbreitete Version sollte vermutlich davon ablenken, dass Ginsburg ein Vertuschen der Affäre innerhalb des Zentralrats nicht vorzuwerfen war. So weit ich weiß, hat Galinski nach seiner Wahl keinen Versuch unternommen, dem Generalsekretär den Rücktritt auch nur zu empfehlen: Der hilflose Mann im Amt war ihm offenbar noch einige Wochen nützlich.

In diese Zeit – April 1988 – fällt ein gemeinsamer Besuch Galinskis und Ginsburgs beim Minister in Helmut Kohls Kanzleramt. Aus dem, was Ginsburg unmittelbar danach berichtete, ließ sich nur Folgendes schließen: Wolfgang Schäuble stimmte mit den jüdischen Vertretern darin überein, dass die Affäre – vorzügliche Munition für Antisemiten – keinesfalls publik werden sollte; man vereinbarte Stillschweigen und diskrete Regulierung des finanziellen Schadens. Innerhalb des Zentralrats erfuhren jedoch mindestens die 18 Mitglieder des Direktoriums der Organisation rasch von den Vorgängen. Ginsburg hüllte sich in seiner Hilflosigkeit in ein Schweigen, das viele ihm später als Anerkenntnis von Schuld ankreideten. Hinzu kam, dass Nachmann größere Geldbeträge auf ein Konto Ginsburgs überwiesen hatte: Ginsburg teilte später mit, das sei in der Zeit nach der RAF-Terrorwelle geschehen, weil Nachmann fürchtete, entführt zu werden, und darum seinem Vertrauten Geld für einen eventuellen Freikauf anvertrauen wollte. Ginsburg überwies dieses Geld auf Drängen seiner Familie auf ein Konto des Zentralrats. In seiner Verwirrung informierte er aber niemanden im Zentralrat über diesen Schritt, so dass ein großes Rätselraten über die Millionenüberweisung und vermutete sinistre Motive des Generalsekretärs entstand.

Im Mai 1988 wurde die gesamte Angelegenheit aus einer nie aufgedeckten Quelle der Öffentlichkeit bekannt. Galinski erzwang noch am selben Tag die Beurlaubung des willenlos wirkenden Generalsekretärs, den er kommissarisch durch einen jüdischen Journalisten ersetzte, der seit Langem aus persönlichen Gründen in Ginsburg einen Feind gesehen hatte. Der Bundesregierung, die jetzt trotz des Schäuble-Gesprächs im April versicherte, bis dahin keine Ahnung von der Affäre gehabt zu haben, versprach Galinski die schonungslose Aufklärung des Falles. Das hatte zur Folge, dass potenzielle Endempfänger der Bonner Zahlungen am Ende keinen Schaden litten, weil die Bundesregierung sich öffentlich vernehmbar verpflichtete, eventuell für die Auszahlungen fehlendes Geld zu ersetzen.

Ansonsten beschränkte sich die Aufklärungsbereitschaft Galinskis und seines neuen Generalsekretärs im Wesentlichen darauf, einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer die Unterlagen des Zentralrats zu übergeben und der Presse Hinweise auf die angebliche Verstrickung Ginsburgs in Nachmanns Machenschaften zuzustecken, wobei sich diese Hinweise ausnahmslos als falsch oder irrelevant herausstellten. Galinski war offenbar der Meinung, er brauche einen lebenden Sündenbock für die Nachmann-Affäre, und das verband sich mit seiner jahrzehntelangen Animosität gegen Ginsburg und der entsprechenden Marschrichtung der israelischen Diplomatie.

Ginsburg, offenbar durch diese Ereignisse psychisch gebrochen, trat im Juni endgültig vom Amt des Generalsekretärs zurück. Seine Interessen gegenüber dem Zentralrat wie gegenüber der Öffentlichkeit ließ er nur noch von seinem Rechtsanwalt wahrnehmen, der in allen juristischen Fragen für schnelle Lösungen im Sinne seines Mandanten sorgte: Trotz entsprechender informeller Bemühungen von Seiten des Zentralrats sah die in Sachen des verstorbenen Nachmann ermittelnde Karlsruher Staatsanwaltschaft keinen Grund zu irgendwelchen Ermittlungen gegen Ginsburg, und in arbeitsrechtlicher Hinsicht verpflichtete sich der Zentralrat unter Galinskis Führung, gegen den ausgeschiedenen Generalsekretär keine Forderungen zu erheben. Hierbei spielte offenbar eine Rolle, dass Galinski als Mitglied der engsten ehrenamtlichen Führungsgruppe des Zentralrats zu Nachmanns Lebzeiten ebenso wenig wie der hauptamtlich tätige Ginsburg je auch nur einen Verdacht geschöpft hatte. Eine wirkliche Untersuchung der Vorgänge hätte womöglich Galinski und weitere jüdische Gemeindeführer in Schwierigkeiten gebracht, und an so einer Aussicht fanden auch Mitglieder der Bundesregierung kaum Gefallen.

Im Frühherbst 1988 zog der vom Zentralrat bestellte Prüfbericht der Frankfurter Buchprüfungsgesellschaft „Treuhand“ Bilanz des materiellen Schadens: Nachmann hatte insgesamt 29 Millionen Mark veruntreut, von denen ein Teil sichergestellt werden konnte, ein Teil in den maroden Privatfirmen des Unternehmers Nachmann versickert und ein Teil verschwunden war. Ungeachtet dieser Ergebnisse sorgte die neue Führung des Zentralrats für eine Intensivierung der Kampagne gegen Ginsburg, der sich immer noch an sein Amt als Vorstandsmitglied der Synagogengemeinde Köln klammerte. Ohne den mindesten Anhaltspunkt wurde in jüdischen Kreisen das haltlose Gerücht geschürt, Ginsburg habe Geldmittel der Kölner Gemeinde veruntreut, und Galinski selbst machte Kölner jüdischen Opponenten Ginsburgs das später nie eingelöste Versprechen, einer der ihren werde nach erfolgtem Sturz Ginsburgs im Zentralrat ein hohes Amt einnehmen. Der Konflikt in Köln eskalierte und wurde gegen den Willen Ginsburgs und seiner verbliebenen Freunde in die Lokalpresse getragen. Gleichzeitig verzeichneten diese Freunde mit großem Schrecken den Abbau seiner geistigen Leistungsfähigkeit, den sie auf die üblen Erfahrungen des ablaufenden Jahres zurückführten. Ginsburg litt offenbar darunter, dass sich auch Weggefährten von ihm zurückzogen oder gar vernehmlich die angeblichen Aufklärungsbemühungen Galinskis lobten.

Krankheit und Tod

Im Dezember 1988 wurde die Repräsentanz der Kölner Synagogengemeinde neu gewählt. Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten stand Ginsburgs Name nicht auf dem Stimmzettel, und damit endete auch sein Amt im Vorstand der Gemeinde. Es folgten wenige Jahre des von außen gesehen friedlichen Ruhestandes. Familienmitglieder und Freunde führten intellektuelle Ausfälle des zeitlebens hoch intelligenten, vielseitig interessierten und humorvollen Mannes auf Depression infolge der Ereignisse des Jahres 1988 wie auch infolge der Leidenszeit im KZ zurück. Immer wieder wurde ein langsam fortschreitender Verfall durch Erholungsphasen unterbrochen, und im Herbst 1991 stellte sich Ginsburg auch wieder in der von ihm so geliebten Synagogengemeinde zur Wahl. Nach Stimmenzahl auf Platz acht wurde er in die Repräsentanz der Gemeinde gewählt und eröffnete die erste Sitzung als Alterspräsident.

Wenige Wochen zuvor hatten Ärzte bei Ginsburg die Alzheimersche Krankheit festgestellt, die jetzt, nach langer Kaschierung, nicht mehr zu übersehen war. Dabei kämpfte Ginsburg erbittert den aussichtslosen Kampf gegen den Verlust des Intellekts. Noch nach der ihm bekannten Diagnose las er Zeitungsartikel über die Krankheit, die ihn befallen hatte – zu einem Zeitpunkt, da er Dinge, die ihn nie im Grunde seines Herzens interessiert hatten, buchstäblich vergessen hatte. Der einstige Fußballfan wusste etwa nicht mehr, was er da sah, wenn im Fernsehen Bundesligaspiele übertragen wurden. Schlimmer war das Vergessen des richtigen Umgangs mit den ganz banalen Gegenständen des Alltags: ein Martyrium für seine Frau, die ihn über Jahre pflegte. Andere Dinge, die ihm Zeit seines Lebens wichtig waren, blieben länger in seinem Gehirn haften: Im Frühsommer 1992 versuchte er noch, sich mit seinen Enkelkindern beim Minigolf zu amüsieren und seinem Sohn aus seinem Leben zu erzählen (was er in seiner guten Lebensphase fast nie getan hatte). Und fast ein Jahr nach der Diagnose – zum letzten Mal nach über 30 Jahren ohne Unterbrechung – trug Ginsburg am Versöhnungstag in der Kölner Synagoge das Buch des Propheten Jonah vor: ein langer hebräischer Text, fehlerfrei in traditioneller Melodie, nach 22 Stunden des Fastens am Nachmittag des Jom Kippur, und das zu einer Zeit, da er ihm zuvor fremde Texte nicht mehr lesen konnte. Monate später erzählte mir mein Vater ohne erkennbaren Anlass von der Begegnung des Rogatschowers mit Bialik: Fragment eines ungeschriebenen geistigen Testaments, in dem es um die Größe und Vielfalt des Judentums ging.

Die unheilbare Krankheit schritt fort. Im Frühjahr 1993 gab Ginsburg die Teilnahme an Sitzungen auf, bis zum Juli 1993 besuchte er noch jeden Schabbat den Gottesdienst. Danach konnte er auch die gewöhnlichsten alltäglichen Dinge nicht mehr ohne Hilfe verrichten; professionelle Pflege wurde erforderlich. Die Pflegerinnen waren Kontingentflüchtlinge aus der früheren Sowjetunion, mit denen er anfangs noch Russisch sprach; er half ihnen auch beim Deutsch lernen und erklärte ihnen Einzelheiten der jüdischen Religion. Der Richter, der im November 1993 seine Pflegebedürftigkeit feststellte, konstatierte in der nach einem Besuch bei dem Kranken gefällten Entscheidung, Ginsburg sei zwar selbst auf einfache Fragen – Name, Datum, Aufenthaltsort – nicht mehr in der Lage zu antworten („Desorientierung“ nennen das die Psychiater), dabei aber von großer Freundlichkeit und offenbar bemüht, es dem Gesprächspartner in allem Recht zu machen. Angehörige hatten weiterhin den Eindruck, dass er mit dem Rest seines Verstandes seinen Zustand sehr wohl begriff und darunter unbeschreiblich litt.

All das hörte nach und nach auf. Im Sommer 1994 konnte Ginsburg kein Gespräch mehr führen und nur selten auf an ihn gerichtete Worte nachvollziehbar reagieren. Der Kranke war bettlägerig und nahm nichts mehr erkennbar wahr. Vielleicht auch seine Krankheit nicht mehr.

„Manhig Bejissrael“

Ginsburg starb am 5. Januar 1996. Bei seiner Beerdigung bezeichnete der Kölner Gemeinderabbiner den Verstorbenen, den er nicht mehr persönlich gekannt hatte, als „Manhig Bejissrael“„Führer in Israel“, ein Titel des biblischen Moses. Der alte israelische Politiker Josef Burg, kurz zuvor über Ginsburgs Gesundheitszustand unterrichtet, sagte über ihn: „Ich liebe ihn“. Zu Ginsburgs 80. Geburtstag hatte Johannes Rau an seine Adresse geschrieben, er habe „das wachsende Vertrauen zwischen Christen und Juden, die Zusammenarbeit des Landes Nordrhein-Westfalen mit seinen jüdischen Gemeinden und Mitbürgern nachhaltig gefördert und eigentlich erst möglich gemacht“.

Die Erkrankung, die Ginsburgs letzten Lebensabschnitt verdüsterte, gehört durchaus in die Darstellung seines Lebensweges. Auch wenn das nicht die herrschende Meinung der Mediziner ist: Viel spricht dafür, dass die Anlage zur Demenzkrankheit schon lange vor ihrem fürchterlichen Ausbruch bestimmte Verhaltensweisen zeitigt. Dazu mag gewaltiger, früh selbst empfundene Mängel kompensierender Lerneifer gehören, eine atemberaubende biographische Wandlungsfähigkeit, disziplinierte Lebensführung, aber auch Gleichgültigkeit gegenüber vergangenen eigenen Lebensabschnitten und in ihnen wichtigen Personen, Angst vor eigener Kreativität und Originalität, Schroffheit, die durch bewusste Liebenswürdigkeit kompensiert wird, rhetorische Sprachgewalt, die sich in schriftlichen Äußerungen überhaupt nicht wiederspiegelt.

Ich beschreibe hier meinen Vater, und er ist in all diesen Beziehungen nicht der Einzige. Der Politiker Egon Bahr hat in seinen Memoiren einen ganz ähnlichen Menschen beschrieben, und ich zitiere das hier, weil manchen westdeutschen Lesern mittlerer und älterer Jahrgänge durch die Parallele einiges klar werden könnte. Was Alexander Ginsburg in der kleinen Welt der nachkriegsdeutschen Juden war, war in der deutschen Politik jener Zeit der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner. Über den schreibt Bahr, „dass dieser Mann, von seiner berühmten Rede, (mit der die SPD ihre Opposition gegen die Außenpolitik der CDU-Regierung aufgab, HJG) im Juni 1960 abgesehen, keinen inhaltlich gestalteten, innovativen Vorschlag gemacht hat.(…). Es war nicht seine Sache, ein neues Konzept zu entwickeln oder eine Theorie oder ein Grundsatzprogramm (…). Aber es gab keinen, der wie Wehner mit vergleichbarer Kraft, Stärke, Entschiedenheit, Konsequenz eine politische Entscheidung, wenn sie einmal gefallen war oder klar war, wie sie fallen würde, durchsetzte, verfocht, erzwang, verteidigte.“

Im Sommer 1967, wenige Monate nach dem erstmaligen Eintritt von Jabotinskys Epigonen Menachem Begin in die Jerusalemer Regierung, lernte ich in Israel alte Betar-Kameraden meines Vaters kennen. Es sei schade, sagten sie, dass er nicht nach Israel ausgewandert war. Diese Klage kannte ich schon, die Begründung aber nicht: „Wir könnten ihn heute als Minister so gut gebrauchen!“ Hatten sie Recht? Wäre Awraham Simcha Ginsburg – das waren ja die jüdischen Vornamen, die seine Eltern ihm gegeben hatten und die er in seiner Kölner Zeit auch in der Synagoge nie mehr benutzte – als Likud-Politiker noch halsstarriger gewesen als Menachem Begin? Oder vielmehr noch umlernfähiger und menschenfreundlicher als Eser Weizman, aber ebenso anfällig für die Verführungen des Amtes? Oder wäre er auch in Israel an einem Übermaß an Loyalität und Gutgläubigkeit gescheitert? Das vielleicht nicht, weil einem in der Vorkriegszeit nach Palästina ausgewanderten Mann die Deformation durch das KZ erspart geblieben wäre.

Doch all das ist nur Grübelei, angestellt von einem Menschen, den es in jedem dieser ausgedachten Fälle so nicht geben würde. Und der weiß, wie mangelhaft diese Erinnerungen sind, gemessen an Alexander Ginsburgs Wirklichkeit. Jeder Mensch ist eine Welt, lehren die jüdischen Weisen, und manche Welten sind besonders kompliziert. Aber das ist eben so, und Jurek Beckers Blank tröstet mich: „Wenn du unbedingt objektiv sein willst, dann geh und beschreib ein Fußballspiel. Bei mir geht das nicht, ich gerate sonst in ein schiefes Licht.“

Was bleibt, wenn wir uns dementsprechend mit unserer Subjektivität bescheiden? Dann bleibt Alexander Ginsburg für seinen Sohn und überhaupt für alle, die noch an ihn denken, ein Überlebender der Katastrophe. Auch wenn die Überlebenden – paradox genug – sterblich sind: Für sie alle gilt der Ruf der Auschwitz-Häftlinge: „Mir lebn ejwig!“ Mehr als für uns mit einer halbwegs normalen Biographie privilegierte Nachgeborene. Schwer ist es für uns, aus so einer Lebensgeschichte Schlüsse zu ziehen, gerade noch kann ich aber einen

Schluss finden: Auf dem Grat zwischen kindlicher Pietät, dem Versuch kritischer Würdigung und der Bemühung, mit familiärer Last fertig zu werden, fällt mir eine kleine Geschichte ein, die Alexander Ginsburg 1992 erzählte, gezeichnet von der Krankheit, welche die Zunge des verschwiegenen Mannes manchmal löste. Zuhörer waren sein sechsjähriger Enkel und sein Sohn. Wir fuhren im Auto, hörten Nachrichten, und der Name des damaligen Bundesfinanzministers Theo Waigel fiel im Radio. Aber jetzt lasse ich meinen Vater erzählen:

„Dem Waigel muss ich das Geld zurückgeben, wenn ich mal nach Bonn komme.“ Was für Geld, frage ich, sinnlose Äußerungen des Kranken gewohnt, aber auch in der Angst, das Trauma der Nachmann-Affäre peinige wieder einmal den alten Mann. Aber etwas ganz anderes höre ich jetzt: „Für die Kinokarte.“ Gute Psychiater empfehlen, mit solchen Patienten zu plaudern, wie immer es geht, also: Welche Kinokarte? Und da weicht die Krankheit noch einmal aus dem Gesicht und der Diktion, und ich habe keinen Grund, die Wahrheit dieser Erzählung zu bezweifeln: „Wir mussten außerhalb des Offiziersheims“ – aha: Riga 1942! – „den Judenstern tragen, und Sternträger durften da nicht auf dem Bürgersteig gehen. Ich wurde zum Einkaufen in die Stadt geschickt und zog den Mantel so über die Jacke, dass man den Stern nicht sah. Und da sah ich das Kino: Jud Süß mit Heinrich George. Geld hatte ich zum Einkaufen dabei, also habe ich eine Karte gekauft und bin hineingegangen.“ Wie bitte – der Ghettohäftling unterschlägt Geld der Wehrmacht, um unter Lebensgefahr ausgerechnet … „Ich wollte wissen, was sie über uns sagen. Ja, und dann – mitten im Film: Das Licht geht an. Razzia, deutsche Polizei. Ich wusste, jetzt ist es aus. Da sieht mich eine Reihe hinter mir der Unteroffizier Weigel (…).“ Aus dem Offiziersheim? „Lass ́ mich ausreden, sicher aus dem Offiziersheim, und als die Polizisten auf uns zu kommen, sagt der Weigel: ‘Der Mann gehört zu mir‘, steht auf und geht mit mir aus dem Kino ins Offiziersheim zurück. Also wenn ich in Bonn bin, kriegt der Waigel endlich das Geld zurück.“

Waigel, Weigel? Natürlich zwei verschiedene Menschen, das begreift der Gesunde sofort. Wie sich der Lebensretter schrieb, wusste Ginsburgs Frau genau: Schließlich saß sie 1942 im Offiziersheim als Zwangsarbeiterin an der Schreibmaschine. Meine Mutter wusste auch, dass Weigel den Krieg nicht überlebt hat. Die Geschichte hat Alexander Ginsburg ein halbes Jahrhundert lang keinem erzählt. Und wer heute und in Zukunft seiner gedenkt, möge den gerechten Unteroffizier nicht vergessen.

Hans Jakob Ginsburg, Düsseldorf

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im April 2023. Der Text ist die aktualisierte und überarbeitete Fassung eines 2005 in „Trumah“, der Zeitschrift der Jüdischen Hochschule Heidelberg, erschienenen Artikels.)