Der Mythos von der sauberen Verwaltung
Zum 80. Jahrestag der Wannseekonferenz
Vor 80 Jahren, am 20. Januar 1942, trafen sich 15 Spitzenbeamte des Deutschen Reiches in einer Villa am Wannsee, um über die Vernichtung der Juden und Jüdinnen in Europa zu beraten. Die Leitung lag bei Reinhard Heydrich, die Vorbereitung bei Adolf Eichmann, eine Sekretärin protokollierte.
Es gibt eine Fülle von Literatur über diese Konferenz und die handelnden Personen. Die Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz bietet auf ihrer Internetseite Bücher, Broschüren, Filme, die Interessierte per Internet-Shop oder bei einem Besuch erwerben können. Die Joseph Wulf Bibliothek, benannt nach dem Initiator der Gedenkstätte, enthält über 75.000 Medien. Die Gedenkstätte bietet Führungen für Jugendliche und für Erwachsene, für Schulen und jede andere erdenkliche Bildungsveranstaltung. Tagungen, die auch online verfolgt werden können, sorgen für wissenschaftlichen Austausch und vertiefte Diskussionen.
Die eindrucksvolle Ausstellung bietet einen umfassenden Einblick in die effiziente und effektive Organisation des Menschheitsverbrechens der Shoah. Sie zeigt auch, was davon zu halten ist, wenn Zeitzeug*innen behaupten, sie hätten „nichts gewusst“. Wir sehen beispielsweise auf einem Foto die an einer Erschießung teilnehmende Leni Riefenstahl. Sie ist entsetzt, die jungen Soldaten um sie herum wirken teilnahmslos. Immerhin: sie zeigt eine emotionale Reaktion. „Davon haben wir nichts gewusst!“ – so der Titel eines Buches von Peter Longerich (München, Siedler, 2006) – diese Aussage ist eine der Erzählungen, die einfach nicht stimmt. Sie stimmt nicht im Hinblick auf den letzten Akt der Ermordung in Vernichtungslagern oder an Erschießungsstätten, denn Wehrmachtssoldaten und Wachpersonal berichteten ihren Familien in Briefen, schickten Fotos. Sie stimmt nicht für den Alltag der Schikanen, Hetzjagden und Deportationen gegen Jüdinnen und Juden. Alles war sichtbar, nicht nur für die unmittelbar Beteiligten. Wer sehen wollte, sah, wer hören wollte, hörte.
Doch was geschah an jenem Wintertag in dieser Villa am Wannsee? Andrej Angrick versieht seinen Beitrag zum Dokumentationsband „Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942“ (herausgegeben von Norbert Kampe und Peter Klein, erschienen bei Böhlau) mit der Überschrift „Die inszenierte Selbstermächtigung? Motive und Strategie Heydrichs für die Wannsee-Konferenz“. Genau dies ist der Punkt: die Wannsee-Konferenz sorgte dafür, dass die bisher offenbar ungeklärte Federführung geklärt wurde. Sie lag nun bei Reinhard Heydrich als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), auf dessen ehemaligen Gelände heute die Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ liegt.
Der genannte Dokumentationsband enthält zahlreiche Dokumente im Faksimile, darunter das Protokoll der Konferenz. Ich empfehle ergänzend den als DVD im Shop des Hauses der Wannsee-Konferenz erhältlichen Film über die Konferenz, den Heinz Schirk im Jahr 1984 inszeniert hatte und der mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. Wir sehen etwas, das in ministerialer Fachsprache Ressortbesprechung genannt wird. Die Teilnehmer tauschen sich fachlich versiert und emotionslos über die Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen aus, als wenn sie über einen Gesetzentwurf zur Änderung der Straßenverkehrsordnung, ein Straßenbau- oder ein Wohnungsbauprogramm verhandeln würden. Es gibt durchaus Meinungsverschiedenheiten, aber zum Schluss sind Federführung und weiteres Vorgehen geklärt. Die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, die ohnehin schon begonnen hatte, kann nun noch effektiver, noch effizienter durchgeführt werden.
Wir sehen eine andere Art der von Hannah Arendt diagnostizierten „Banalität des Bösen“, wir sehen die versierte Beiläufigkeit und Konsequenz, mit der Verwaltung handelt, Ideologie und Verwaltung Hand in Hand. NS-Beamte trugen Uniform oder zumindest ihr Parteiabzeichen, sie waren Täter, auch wenn sie nicht selbst Hand anlegten. Hans-Christian Jasch und Christoph Kreutzmüller herausgegebene Buch „Die Teilnehmer – Die Männer der Wannsee-Konferenz (Berlin, Metropol Verlag, 2017). Nur am Rande: zehn der Teilnehmer hatten studiert, acht hatten einen Doktortitel. Sie waren gebildete und erfahrene Fachleute. Michael Wildt hat ähnliche Biografien in seinem Buch „Generation des Unbedingten – Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes“ (Hamburger Edition 2003) vorgestellt.
In diversen Prozessen versuchten die Angeklagten, ihre Rolle zu bagatellisieren. Der letzte in der Reihe der Nürnberger Prozesse, der Wilhelmstraßenprozess, verhandelte gegen Spitzenbeamte der NS-Verwaltung, darunter Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Dessen Sohn Richard, der spätere Bundespräsident, damals junger Assessor, assistierte dem Verteidiger seines Vaters, Hellmut Becker, dem späteren Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Hellmut Becker trug vor, dass aus einer Paraphe seines Mandanten an einem Vermerk zur Deportation französischer Juden und Jüdinnen keine Täterschaft, nicht einmal Mittäterschaft geschlossen werden könne. Mit seiner Paraphe habe dieser der in dem Vermerk notierten Ermordung weder zugestimmt noch habe er sie veranlasst. Nachlesbar ist dies in den Gesprächen, die Frithjof Hager mit Hellmut Becker führte und die unter dem Titel „Aufklärung als Beruf“ 1992 in München bei Piper veröffentlicht wurden.
Der langjährige Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Hans-Christian Jasch, hat den Beitrag der deutschen Beamtenschaft in einer lesenswerten Biografie eines weiteren Angeklagten im Wilhelmstraßenprozess ausführlich untersucht, Titel des Buches: „Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik – Der Mythos von der sauberen Verwaltung“ (München, Oldenbourg Verlag, 2012). Willhem Stuckart war einer der 15 Teilnehmer der Wannsee-Konferenz. Das Buch ist einmal mehr ein ausgezeichneter Beleg dafür, wie sich aus der Biografie eines einzelnen Menschen eine Welt erschließen lässt, in diesem Falle die Welt einer nicht nur passiv kollaborierenden, sondern auch in Planung und Umsetzung der Verbrechen des Nationalsozialismus aktiv handelnden öffentlichen Verwaltung.
Hans-Christian Jasch resümiert: „Das Beispiel Stuckarts illustriert zudem, dass es auch in der – vermeintlich weltanschaulich weniger ‚aufgeladenen‘ traditionellen Ministerialbürokratie in diesem Fall der Innenverwaltung –, deren Funktion die Nazis – bei all ihrem Tun – nie grundsätzlich in Frage stellten, Akteure gab, die dem Nationalsozialismus ideologisch eng verbunden waren und die NS-Revolution aktiv mitgestalten wollten. Durch politisches Gespür und eigene Initiative verstanden sie es, sich und ihren Behörden auch neben der SS- und Parteibürokratie einen erheblichen Einfluss- und Wirkungskreis zu erhalten. Ausgehend von traditionellen Zuständigkeiten – etwa im Staatsangehörigkeits- oder Personenstandsrecht – machten sie sich ihre oftmals überlegene juristische Fachkunde und politische Erfahrung zunutze und traten nicht selten durch besonders radikale Initiativen in Erscheinung.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2022, Internetlinks wurden am 23. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)