Der Weg zur Hölle?
Koalitionsvertrag der guten Absichten
Es ist das Recht eines Editorialisten, es auch einmal mit einem dramatischen Einstieg zu versuchen. Mein Versuch beginnt mit dem Satz: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“. Koalitionsverträge sind gute Vorsätze, aber manches, was wir dort lesen, ist nach kürzester Zeit obsolet. 1998 war es der Jugoslawien-Krieg, im Dezember 2021 die Pandemie. Dennoch besteht kein Anlass zu vorauseilendem Pessimismus. Andererseits besteht auch kein Grund zu vorauseilender Euphorie. Der aktuelle Koalitionsvertrag überzeugt durch nüchterne Sprache, Albernheiten wie die Ankündigung von „Entfesselungsgesetzen“ oder Infantilismen à la „Gute-Kita-Gesetz“ wurden vermieden. Manche Kapitel sind sehr konkret formuliert, andere eher vage, einige vielleicht auch einfach aus dem Grund, dass es zu viele Unwägbarkeiten gibt, beispielsweise in der Außenpolitik.
Kanzler*in, Minister*innen und Abgeordnete müssen nach bestem Wissen und Gewissen abwägen, was sie zu welchem Zeitpunkt beschließen. Dazu gehört das Bewusstsein, dass das Verfassungsgericht zu einem späteren Zeitpunkt Korrekturen verlangen könnte. So geschehen beim Urteil zum Klimaschutz: bisher mit wenig Wirkung, aber mit Start der neuen Bundesregierung steht wieder alles auf Anfang. Der gute Wille ist da, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass aus dem 1,5 Grad-Ziel sehr schnell eine 2,5 Grad-Wirklichkeit werden könnte. Und das ist nur einer der großen Problemkomplexe, die sich zu allem Überfluss auch noch alle gegenseitig verstärken.
Ich kann in einem Editorial den Koalitionsvertrag nicht im Detail bewerten. Sehr konkret formuliert sind die Passagen zur Forschungspolitik, zur Gesundheitspolitik, in Teilen zur Bildungspolitik. Zuversichtlich stimmen Aussagen zur Verbriefung und Sicherung der Rechte von Minderheiten, zur Abschaffung von § 219a StGB, zum „Demokratiefördergesetz“. Zu diesem Vorhaben lesen wir: „Die Finanzierung sichern wir dauerhaft ab.“ Das ist der Maßstab! Leider lesen wir nicht, wie die Bundesregierung die Finanzierung der demokratiefeindlichen Arbeit der der AfD zuzurechnenden Desiderius-Erasmus-Stiftung mit Steuergeldern verhindern will. Will sie? (Und was wollen die demokratischen Fraktionen des Deutschen Bundestages uns damit sagen, dass die AfD den Vorsitz des Innenausschusses erhält? Ein „Signal der Gedankenlosigkeit“, so Christoph Heubner, Vize-Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.)
Gibt es so etwas wie ein gemeinsames Verständnis der drei Parteien über die Ziele? „Mehr Fortschritt wagen“? Die misslungene Willy-Brandt-Reminiszenz in der Überschrift wirkt peinlich: Auch die Lektüre der ersten Absätze erschließt nicht, was gemeint sein könnte. Ich zitiere: „Die Welt ist am Beginn eines Jahrzehnts im Umbruch, deshalb können wir nicht im Stillstand verharren. Die Klimakrise gefährdet unsere Lebensgrundlagen und bedroht Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Deutschland und Europa müssen angesichts eines verschärften globalen Wettbewerbs ihre ökonomische Stärke neu begründen. Im internationalen Systemwettstreit gilt es, unsere Werte entschlossen mit demokratischen Partnern zu verteidigen. Zugleich verändert die Digitalisierung die Art und Weise wie wir wirtschaften, arbeiten und miteinander kommunizieren. Unsere Gesellschaft wird älter und diverser. Auch gilt es, gesellschaftliche Spannungen in Zeiten des schnellen Wandels zu reduzieren und das Vertrauen in unsere Demokratie zu stärken.“
Das sind Allgemeinplätze. Aber was fehlt? Was ist mit der wachsenden Ungleichheit? Die Bertelsmann-Stiftung hat eine Studie veröffentlicht, die darlegt, dass es nur drei Länder in der OECD gibt, in denen soziale Ungleichheit mehr wächst als in Deutschland. Und das nicht erst seit vorgestern. „Wohlstand“ und „ökonomische Stärke“ sind keine konkreten Ziele, das ist Wunschzetteldenken. Die Koalitionsparteien verabredeten eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 EUR, die Einführung einer Grundsicherung für Kinder, aber auch die Ausweitung von Mini-Jobs. Die Gesellschaft spaltet sich nicht nach diversen Identitäten, sie spaltet sich nach sozialen Kriterien, die aber oft genug identitätspolitisch interpretiert werden. Höchste Gefahr für die freiheitliche Demokratie droht, wenn zu viele Menschen das Gefühl haben, den Zugang zu einem selbstbestimmten Leben zu verlieren. Was bedeuten „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“? Diese Begriffe und die „Demokratie“ prägten das sozialliberale Jahrzehnt der 1970er Jahre, dessen Impulse mit den neoliberalen Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte verschwanden. Längst vergessen?
Und was ist mit Außen- und Sicherheitspolitik? Im Editorial vom November 2021 habe ich das Fehlen dieser Politikbereiche im Sondierungspapier vermerkt. Im Koalitionsvertrag finden wir einen nach Ländern sortierten Katalog, stets im Kontext aufrichtiger Bekenntnisse zu Europäischer Union und NATO. Immerhin verzichteten die Koalitionsparteien auf pseudopazifistische Anwandlungen wie sie der Fraktionsvorsitzende der SPD vor der Wahl verkündete. Deutschland wird sich nicht von der NATO abkoppeln, indem die in Deutschland lagernden Atomwaffen nach Polen verlegt werden. Das Sicherheitsbedürfnis Polens und der baltischen Staaten wird anerkannt. Zumindest hier gibt es – auch wenn der Begriff nicht fällt – einen Hauch von Solidarität, obwohl nirgendwo deutlich wird, was das im Ernstfall eigentlich heißt. Und was ist mit dem Bekenntnis zur Sicherheit Israels? Das Bekenntnis zur finanziellen Unterstützung der UNRWA, die dafür bekannt ist, nicht nur mittelbar palästinensischen Terrorismus zu finanzieren, konterkariert sie.
Hat die Bundesregierung eine Idee, was es bedeuten könnte, wenn 2022 Emmanuel Macron die Wahl in Frankreich verliert (zurzeit weniger wahrscheinlich) oder 2024 Donald J. Trump wiedergewählt wird (alles andere als unwahrscheinlich)? Was könnte sie tun, um Demokrat*innen gegen Anti-Demokrat*innen zu unterstützen? Die Europäische Union hat nicht viel Zeit sich als freiheitlich-demokratische Macht zu bewähren, natürlich im „Schulterschluss“ (furchtbarer Begriff, aber passend) mit Joe Biden. Wie wird sich die Bundesregierung zu den Initiativen des französischen Staatspräsidenten verhalten, die ihre Vorgängerin abgelehnt hatte? Leider wirkt das außenpoIitische Kapitel mitunter naiv, gerade in seinen Textstellen zu China, zum Iran, zur Ukraine, leider auch zu Auflösungserscheinungen des Rechtsstaates in Polen und Ungarn. Zu Beginn der Amtszeit soll der neue Bundeskanzler der chinesischen Regierung mitgeteilt haben, es gebe keine grundlegenden Änderungen in der deutschen Außenpolitik, während die neue Außenministerin in ihren ersten Auftritten eine klare Sprache pflegte. Sie fand klare Worte zum Iran und zur Ukraine, sie betonte Gemeinsamkeiten von EU und NATO, wie ich sie gerne im Koalitionsvertrag gelesen hätte.
Die Herausforderungen – oder wie auch immer Sie es nennen wollen – sind enorm: wirksamer Klima- und Artenschutz weltweit, Solidarität und Sicherheit in der Sozialpolitik, eine selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik, dies alles auf der Grundlage freiheitlich-demokratischer Werte, die Stärkung der Europäischen Union, ein humanistisch orientiertes Management von Migration. Eine solche Analyse hätte ich mir in der Präambel des Koalitionsvertrags gewünscht. Es geht um viel mehr als eine diffuse „ökonomische Stärke“, es geht um „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“, weltweit. Es müsste eigentlich auf der Hand liegen, wie Klimakrise und Migration, soziale Ungleichheit und die Bedrohung der freiheitlichen Demokratie einander bedingen. „Mehr Solidarität wagen“ – das wäre doch was gewesen.
Bernd Ulrich und Hedwig Richter haben im August 2021 in der ZEIT geschrieben, dass Zumutungsfreiheit gegenüber den Bürger*innen als leitendes Prinzip des Wahlkampfs erscheine. „Bereit weil ihr es seid“? Eigentlich sollte Politik nicht zuwarten, sondern dafür werben, dass das Notwendige mehrheitsfähig wird. Und dazu braucht es nicht nur Vorsätze. Wie gesagt: der Weg zur Hölle…
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2021, Internetlinks wurden am 23. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)