Der Zeitenwandler

Knut Bergmanns Anthologie „Walter Scheel – Unerhörte Reden“

„Sicher, am 8. Mai 1945 brach das nationalsozialistische Regime endgültig zusammen. Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. Und wir atmeten auf, als dann das Ende da war. / Aber wir vergessen nicht, dass diese Befreiung von außen kam, dass wir, die Deutschen nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln, dass erst die halbe Welt zerstört werden musste, bevor Adolf Hitler von der Bühne der Geschichte gestoßen wurde.“ (Walter Scheel am 6. Mai 1975)

Walter Scheel (1919-2016) fand in der Rede, die er zwei Tage vor dem 30. Jahrestags der Kapitulation des Deutschen Reiches in der Bonner Universitätskirche hielt, Worte, die Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag nicht fand.

Richard von Weizsäcker sprach von „Befreiung“, er sprach über die Opfer, aber nicht über die Täter. Auch Walter Scheel überließ die Frage nach den Täter*innen seinen Zuhörer*innen: „Die Frage nach der Schuld? Ob er sich dessen schämen will, das mag jeder Deutsche, der in dieser Zeit als verantwortlicher Mensch lebe, mit sich allein abmachen.“ Selbst in den Passagen seiner Rede, in denen ein Eingeständnis der Schuld angebracht gewesen wäre, bleibt er vage. Vor allem drängt sich der Eindruck auf, als wäre mit dem Pronomen „wir“, das die gesamte Rede bestimmt und zunächst das Publikum in die Gedankenwelt des Redners einbeziehen soll, nicht immer dieselbe Gruppe gemeint. Mal sind es die Deutschen, mal die Zuhörenden, mal eine Teilgruppe der Deutschen, die bestimmte Ansichten und Einschätzungen teilt. Es dürfte auch nicht der historischen Wahrheit entsprechen, dass alle Deutschen – wie Walter Scheel sagte – am 8. Mai 1945 Erleichterung fühlten.

Aber der eigentliche Wert der Rede liegt in dem Eingeständnis, dass die Deutschen „nicht fähig waren, dieses Joch abzuschütteln“. Anders gesagt: Es gab wohl die ein oder andere Widerstandsgruppe, die versuchten, die NS-Herrschaft zu beenden, doch sie spielten in dieser Rede Walter Scheels keine Rolle. Aber zwischen den Zeilen zu lesen ist die Geschichte des Versagens der deutschen Mehrheitsgesellschaft angesichts des Horrors der Nazis. Und damit haben wir auch einen versteckten Hinweis darauf, wie sich Walter Scheel und viele seiner Zeitgenossen zu ihrem eigenen Verhalten in der NS-Zeit verhielten, vielleicht in gewissem Sinne gebannt, in sich und ihrer Zeit gefangen, untätig, vielleicht aber auch tätig in einem Sinne, den sie 30 Jahre später nicht mehr wahrhaben wollten.

Das sozialliberale Jahrzehnt

Walter Scheel hat die 1970er Jahre der Bundesrepublik Deutschland in der ersten Hälfte als Vorsitzender der FDP, als Vizekanzler und Außenminister, in der zweiten Hälfte als Bundespräsident maßgeblich geprägt. Die 1970er Jahre waren das sozialliberale Jahrzehnt, das es ohne sein Wirken nicht gegeben hätte. Zu Beginn führte diese sozialliberale Wende der FDP fast zur Spaltung der Partei und es wäre kaum auszudenken, was geschehen wäre, hätte Willy Brandt das Misstrauensvotum vom 27. April 1972 nicht überstanden. Dass es zu diesem Misstrauensvotum überhaupt kommen konnte, lag maßgeblich an den nationalliberalen Kräften in der FDP, beispielsweise an Erich Mende (1916-1981) und Siegfried Zoglmann (1913-2007), die dann auch die Partei verließen.

Die 1970er Jahre waren die Zeit, in der die FDP sich nicht wie in all den Jahren davor und dann wieder ab 1982 mit der konservativen Seite der Bonner und später der Berliner Politik verband. Es war die Zeit, in der sich die FDP, die er F.D.P. schreiben ließ, als Fortschrittspartei verstand und sich von der nationalliberalen Linie der 1950er und 1960er Jahre verabschiedete. Mit den im Oktober 1971 beschlossenen „Freiburger Thesen“ verfügte die FDP über eines der anspruchsvollsten Programme der Nachkriegszeit zur Überwindung der Spielarten des Kapitalismus, denen sie sich nach der international wirkenden neoliberalen Wende gegen Ende der 1970er Jahre wieder zuwandte. Das Jahr 1979 war dann auch das Ende des Wirkens von Walter Scheel.

An Walter Scheels politisches Wirken erinnern sich in der Tat leider nur wenige, obwohl er als Vizekanzler und Bundesaußenminister maßgeblich die sogenannten „Ostverträge“ gestaltete und in seine Zeit als Vorsitzender der FDP, die er F.D.P. schreiben ließ, die Verabschiedung der sogenannten „Freiburger Thesen“ fiel, die eine ursprünglich mehrheitlich nationalliberale in eine mehrheitlich sozialliberale Partei verwandelten. In die Zeit Walter Scheels als Vizekanzler und Außenminister fielen neben den Ostverträgen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China, das Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971, die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO am 18. September 1973 und der Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 mit der DDR.

Walter Scheel war kein Theoretiker. Die Rolle des Theoretikers des sozialen Liberalismus spielte in der FDP Karl-Hermann Flach (1929-1973) mit seinem Buch „Noch eine Chance für die Liberalen“, das er in seiner Zeit als Generalsekretär schrieb und 1971 veröffentlichte. Walter Scheel und Karl-Hermann Flach waren – so ließe es sich sagen – die beiden Hauptpersonen der sozialliberalen Wende der FDP in den Jahren 1969 und 1971. Die FDP der damaligen Zeit wäre jedoch nicht die Partei gewesen, die sie war, hätte sie nicht auf viele engagierte Frauen zählen können, nicht zuletzt Hildegard Hamm-Brücher (1921-2016), die im ersten Kabinett der sozialliberalen Bundesregierung Staatssekretärin im neu eingerichteten Bundesbildungsministerium war und maßgeblich das Bildungsprogramm prägte, die vom Bundeshauptausschuss der Partei am 18. März 1972 in Stuttgart beschlossenen „Stuttgarter Leitlinien einer liberalen Bildungspolitik“.

Als die FDP im Jahr 1982 die sozialliberale Koalition verließ und Helmut Kohl (1930-2017) zum Bundeskanzler wählte, stimmten die meisten Frauen auf dem FDP-Bundesparteitag gegen den Koalitionswechsel. Walter Scheel war nicht mehr im Amt, Karl-Hermann Flach lebte nicht mehr. Das sozialliberale Jahrzehnt war beendet. Ein deutliches Zeichen setzte die Jugendorganisation der FDP, die Deutschen Jungdemokraten, die sich von der FDP trennten. Nur wenige, so Gerhart R. Baum, der 1978 Bundesinnenminister wurde, blieben der Partei und bis heute ihren Ansichten treu. Es geschah wie gegen Ende der 1920er Jahre, als sich die Deutsche Demokratische Partei (DDP) durch Fusion mit der nationalliberalen Deutschen Staatspartei (DStP) ihrer linksliberalen Ursprünge beraubte.

Wegmarken der politischen Entwicklung

Die Reden Walter Scheels zitiert heute kaum noch jemand. Wer sich an Walter Scheel erinnert, denkt vielleicht an seinen Auftritt als Sänger des Volkslieds „Hoch auf dem gelben Wagen“ oder auch an seine Frau Mildred (1931-1985), die Gründerin der Deutschen Krebshilfe. Es ist das Verdienst von Knut Bergmann, eine Auswahl von 16 Reden Walter Scheels in einem Sammelband mit dem Titel „Unerhörte Reden“ zu veröffentlichen (Berlin, be.bra Verlag, 2021). Der Druck wurde von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit unterstützt. Jede Rede wird entweder von Knut Bergmann selbst, von Ewald Grothe oder von Gundula Heinen eingeleitet. Der Band enthält diverse Faksimiles, so auch ein Faksimile der Redekarte mit einem Teil des eingangs zitierten Textes. Knut Bergmann würdigt auch das Verdienst der Redenschreiber Walter Scheels, die ihn inspirierten und seine Ideen umsetzten. Auf einem Deckvermerk lesen wir Walter Scheels handschriftliche Würdigung der Vorlage: „Das ist eine sehr gute Darstellung!“

Alle 16 Reden sind Wegmarken der politischen Entwicklung nicht nur eines in der Erinnerung – so Knut Bergmann im Titel seiner Einführung – „Unterschätzten“, sondern auch der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Knut Bergmann spielt im Titel seiner Anthologie mit der doppelten Bedeutung des Wortes „unerhört“. In seinem Vorwort schreibt er: „Der vierte Präsident der Bundesrepublik Deutschland ist weithin vergessen – bezeichnenderweise existiert bislang keine Biographie von Scheel, die auch nur annähernd wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.“

Alle ausgewählten Reden haben hohe Qualität. Manche ähneln einem Essay, in dem aus verschiedenen Gesichtspunkten über ein Thema reflektiert und verhandelt wird. Allerdings war Walter Scheel in den 1960er und 1970er Jahren nicht der Einzige, der essayistische Reden hielt. Seine Reden sind nur in Ausnahmefällen Katalogreden, in denen Erfolge beziehungsweise Misserfolge der Regierung, je nachdem, ob die Rede von der Regierungsbank oder aus der Opposition gehalten wird, sie sind keine Kirchentagspredigten, sondern nüchterne Analyse politischer Entwicklungen. Stets finden wir Anklänge an Personen der Geschichte, denen sich Walter Scheel verpflichtet sieht, beispielsweise Thomas Jefferson (1743-1826), Aristide Briand (1862-1932) oder Gustav Stresemann (1878-1927).

Die 16 Reden sind chronologisch geordnet. Sie dokumentieren Vorgeschichte und Geschichte des sozialliberalen Jahrzehnts. Die erste von Knut Bergmann dokumentierte Rede hielt Walter Scheel als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit am 12. Juli 1966 in der Evangelischen Akademie in Tutzing, kurz vor dem Ende der damaligen von CDU/CSU und FDP gestellten Regierung, die letzte am 1. Juli 1979 im Deutschen Bundestag anlässlich der Vereidigung seines Nachfolgers im Amt des Bundespräsidenten Karl Carstens. Knut Bergmann dokumentiert Reden, die Walter Scheel in der Opposition während der ersten Großen Koalition, als Vizekanzler und Außenminister, unter anderem im Jahr 1973 vor den Vereinten Nationen in New York, als Bundespräsident vor dem Deutschen Bundestag hielt, zwei Reden vor den Bundesparteitagen der FDP in den Jahren 1968 und 1971 – beide fanden in Freiburg statt – sowie mehrere Reden an anderen Orten wie der Evangelischen Akademie in Tutzing, der Bonner Universitätskirche, der Eberhards-Kirche in Stuttgart (anlässlich der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer) hielt.

Demokratie braucht Unruhe

Walter Scheel pflegte einen abwägenden Stil, er wusste um die Grenzen der Regierungsgewalt, die sich daraus ergeben, dass Demokrat*innen regieren und nicht Despot*innen. Am 30. April 1968 spricht Walter Scheel als Vertreter der verschwindend kleinen Opposition im Deutschen Bundestag, die die FDP damals gegenüber der ersten großen Koalition aus CDU und SPD bildete: „Es reicht einfach nicht aus, das Instrumentarium der Exekutive zu erweitern, um einem Autoritätsverlust zu begegnen. Nur Leistungen dieses Parlaments und Leistungen dieser Regierung, wie sie die Regierung in ihrer eigenen Regierungserklärung sich selbst abverlangt hat, können hier einen Wandel schaffen. Keine Propaganda, keine noch so schöne Formulierung unserer Pressesprecher und unserer Pressestellen vermögen die Mittelmäßigkeit dieser Regierung zu überdenken, die bisher an ihr sichtbar geworden ist. Keine schönen Worte vermögen den Mangel an Leistung, an Entschlusskraft zu kaschieren. / Warum sage ich das? Weil alle Autorität in der Demokratie – und das gilt für die Autorität aller, die in der Demokratie ein Amt haben, vom Bundespräsidenten bis herunter zum Polizeipräsidenten – auf der Anerkennung durch die Bevölkerung, also auf einer Meinung beruht.“ Ich zitiere diesen Teil der Rede auch um zu zeigen, dass in den heutigen Parlamenten solche Reden inhaltlich wie stilistisch Seltenheitswert besitzen, wenn es sie überhaupt noch gibt.

Und wenige Absätze später sagt Walter Scheel: „Der Geist des politischen Widerstandes gehört nun einmal zu einer funktionierenden Demokratie. ‚Er ist oft‘, so sagt Thomas Jefferson, ‚die in Reserve gehaltene Macht der Revolution.“ Die Demokratie bewegt sich zwischen den Extremen der „Lethargie“ und der „Revolution“. Umso wichtiger ist es, „die Unruhe (…) im demokratischen Sinne“ zu begreifen und zu nutzen. In derselben Rede lobt Walter Scheel die protestierende Jugend: „Diese Jugend ist kritisch, politisch, demokratisch, wie kaum eine andere Generation vor ihr. / 1. Die Studenten sind von allen Bevölkerungsgruppen am besten über die politischen Probleme unseres Landes informiert. (…) 2. Die Studenten sind von allen Bevölkerungsgruppen die entschiedensten Anhänger der Demokratie.“ Er kritisiert diejenigen Politiker, die der Meinung sind, Protest ließe sich mit polizeilichen Mitteln gegenstandslos machen. Knut Bergmann betont in einem seiner begleitenden Texte das Verständnis Walter Scheels der FDP als „der eigentlichen Rechtsstaatspartei“.

Der Gegensatz heißt für Walter Scheel nicht rechts gegen links, sondern autoritär gegen demokratisch. Dies entspricht den Thesen Karl-Hermann Flachs, der Liberalismus und Kommunismus als die beiden konkurrierenden Politikentwürfe einander gegenüberstellte. Und die Seite der Demokratie vertritt die Jugend. Der Jugend gilt Walter Scheels Aufmerksamkeit in der letzten Rede, die er in einem Staatsamt hielt, der Rede vom 1. Juli 1979 zum Amtsantritt seines Nachfolgers. Er mahnt: „Aber wie soll sich die Jugend für einen Staat und eine Gesellschaft engagieren, die kein anderes Ziel kennt als eine Verlängerung der Gegenwart.“

Auf die Jugend kommt es an

In dieser Rede, die durchaus den Charakter eines politischen Testaments hat, spricht Walter Scheel die Energiepolitik als einen zentralen Politikbereich an. Diese Rede ist im Grunde eine Ansprache im Sinne der Fridays-for-Future-Bewegung avant la lettre. In diesem Zusammenhang lohnt sich daran zu erinnern, dass ein FDP-Innenminister, Werner Maihofer (1918-2009), das erste umfassende Umweltprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorlegte, das dann Helmut Schmidt (1918-2015) als Bundeskanzler in der Versenkung verschwinden ließ, ein ambitioniertes Programm, an das sich heute auch in der FDP niemand mehr zu erinnern scheint oder vielleicht auch gar nicht mehr erinnern möchte. Die Denkschrift „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome erschien 1972.

Ähnlich ambitioniert ist Walter Scheels Verständnis einer modernen Bildungspolitik, die er in mehreren Reden anspricht, so am 29. Januar 1968 auf dem Bundesparteitag der FDP in Freiburg: „Das Ziel einer modernen Bildungspolitik – einschließlich der Erwachsenenbildung – muss es sein, nicht nur spezifische Handgriffe zu lehren, sondern das allgemeine Bewusstsein dahinzuführen, dass es begreift, was geschieht. Nur auf diese Weise kann auch der politischen Unmündigkeit abgeholfen werden.“

Doch was heißt dies konkret? Hierzu hilft ein Blick in die „Stuttgarter Leitlinien einer liberalen Bildungspolitik“: „Selbstbestimmung ist nicht nur Grundlage der Menschenwürde, sie ist zugleich auch Voraussetzung für Mitbestimmung: Wird Mitbestimmung nicht vom selbständigen Urteil und der freien Entscheidung des einzelnen getragen, so ist sie Gedankenlosigkeit, Manipulation oder Gesinnungszwang. Eine demokratische Gesellschaft ist als auf die Selbständigkeit und Originalität des einzelnen angewiesen. Diese Fähigkeiten müssen möglichst früh entwickelt werden. Das bisherige Bildungssystem hat die Selbstbestimmung weitgehend verhindert: Nur in Ausnahmefällen hatten Schüler, Lehrlinge und Studenten selbst Einfluss auf Ziele und Inhalte ihres Bildungsganges. / Das gesamte Bildungssystemmuss ermöglichen, dass schon Kinder und Jugendliche mit zunehmendem Alter befähigt werden, auch in zunehmendem Maße selbstständig Ziele zu setzen und verfolgen zu können und ihren Ausbildungsgang verantwortlich mitzugestalten. Die F.D.P. berücksichtigt insofern neben dem Elternrecht verstärkt das Recht des Kindes.“ Die UN-Kinderrechtskonvention wurde erst 1989 beschlossen, sie wurde bis heute nicht im Grundgesetz verankert.

Wahre Worte angesichts der in den folgenden Jahrzehnten durchgehenden Neo-Liberalisierung der Bildungspolitik, die inzwischen zu einer Qualifizierungsmaschine verkommen zu sein scheint. Das Ende des sozialliberalen Jahrzehnts war auch das Ende einer zukunftsfähigen Bildungspolitik in Bund und Ländern. Die CDU/CSU instrumentalisierte den Bundesrat, um Bildungsrat und Bildungsgesamtpläne abzuschaffen. Dies gelang. Der letzte Sargnagel einer aktiven Bildungspolitik des Bundes war 2005 das sogenannte „Kooperationsverbot“. Wer erinnerte sich damals noch daran, dass Baden-Württemberg, das das Kooperationsverbot besonders heftig einforderte, das Bundesland war, auf dessen Betreiben seines Ministerpräsidenten Kurt-Georg Kiesinger (1904-1988) in den 1960er Jahren die Kooperation zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik überhaupt erst eingeführt wurde, um diesem damals rückständigen Land auf die Sprünge zu helfen?

1982 beerdigte der Gesamtschulkompromiss der KMK den kurzen Traum von Bildungsgerechtigkeit und Emanzipation durch Bildung. Und in den 2010er Jahren faselt die Partei Walter Scheels von einer „weltbesten Bildung“, von der eigentlich niemand so recht weiß, was das sein soll, oder fordert ein „Digital first“, das schon Walter Scheel in Frage stellte: „Die Summe der in Bonn installierten Computer ersetzt nicht deren Programmierung.“ Andreas Voßkuhle hat 2019 angesichts des 100. Jahrestages der Gründung der Volkshochschulen in der Frankfurter Paulskirche den Gedanken Walter Scheels ohne dessen Namen zu nennen angemahnt. Bildung – so Andreas Voßkuhle – ist „Empowerment“: Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.“

Walter Scheel fordert in seiner Rede vom 29. Januar 1968, „die Demokratie für den Protest durchlässig zu machen.“ Dies ist gleichermaßen ein Appell an Regierende und an Protestierende. Und die Regierenden sollten sich nicht zu sicher sein, dass nur ihr Standpunkt gelte: „Wer gegen die politische Unruhe ist, ist im Grunde kein Demokrat. Es gehört zum Wächteramt der Opposition (…), diese Unruhe zum Nutzen der Demokratie politisch umzusetzen.“ Zehn Jahre später, am 17. Juni 1978 sagte Walter Scheel im Deutschen Bundestag: „Aus unserem Streben nach Harmonie erklärt sich die Abneigung, die unser Volk im Laufe der Zeit gegen Konflikte, gegen Kritik, gegen den Streit der Meinungen entwickelte. Unser Streben nach Harmonie hinderte uns daran, mit freiem Meinungsstreit zu leben.“

Hannah Arendt vs. Carl Schmitt

Heute haben wir – so wage ich zu schreiben – zwei liberale Parteien im Deutschen Bundestag, die FDP und Bündnis 90 / Die Grünen. Auch in CDU, CSU und SPD findet sich durchaus viel liberales Gedankengut. Zu unterscheiden ist allerdings neoliberales von sozialliberalem Denken. Liberalismus und Demokratie dürfen sich eben nicht auf das Recht desjenigen reduzieren lassen, der über die zur Verwirklichung gesellschaftlich wünschenswerter Vorhaben erforderlichen Ressourcen verfügt. Es reicht nicht aus, wenn sich die FDP als Auto-Partei und die Grünen als Fahrradpartei inszenieren. Am Ende dieser Verkehrshierarchie leiden die Menschen, die zu Fuß gehen.

Hier scheiden sich die Geister, auch innerhalb der Parteien. Zu viele Bürger*innen und Politiker*innen verwechseln den Satz Hannah Arendts (1906-1975), dass es das Recht jedes Menschen sei, Rechte zu haben, mit dem eigenen Wunsch, recht zu haben. Der Wunsch nach widerspruchsfreiem Durchregieren, nach eindeutigen Lösungen, nach dem Niederschweigen derjenigen, die anderer Meinung sind, letztlich nach Harmonie, ein Begriff, der in der chinesischen Politik eine Hauptrolle spielt, führt letztlich zu einer autoritären Diktatur mit totalitärem Anstrich.

„Carl Schmitt war es, der sagte, wer die Macht habe, das zeige sich im Ausnahmezustand. Das ist eine Warnung. Auch im Ausnahmezustand bleibt in der Demokratie die Macht beim Bürger, oder die Demokratie geht zum Teufel.“ Dies sagte Walter Scheel im Deutschen Bundestag zu den Notstandsgesetzen. Henrike Roßbach bringt das Dilemma des heutigen Liberalismus in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 8. November 2021 auf den Punkt: „Freiheit ohne Verantwortung ist nichts weiter als das Recht des Stärkeren. Besonders gravierende Folgen hat ein derart einfältiger Freiheitsbegriff, wenn die individuelle Entscheidungsfreiheit auch dann noch hochgehalten wird, wenn eben diese Freiheit das Leben anderer gefährdet.“ Henrike Roßbach bezieht ihren Kommentar auf das Eintreten der FDP und anderer für die Freiheiten der Ungeimpften in der Pandemie sowie für unbegrenzte Geschwindigkeiten. Dahinter steckt jedoch mehr: Liberalismus bewährt sich erst dann, wenn er die Rechte der Schwachen anerkennt und die Schwachen stärkt. Eben das war die sozialliberale Botschaft der Freiburger Thesen der FDP im sozialliberalen Jahrzehnt.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im November 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 9.11.2021)