Der weiße Blick

Afrikanischer und afrodeutscher Fußball in Europa

„Es wird zur Zeit sogar schlimmer. Obwohl wir mittlerweile in einer globalen Welt leben, gibt es immer noch Menschen in diesem Land, die etwas gegen andere Menschen haben, nur weil sie anders aussehen. Und solange es diese Engstirnigkeit gibt, müssen noch mehr Filme wie „Schwarze Adler“ gezeigt werden. Der Rassismus ist nicht weg, er ist unterschwelliger geworden.“ (Jimmy Hartwig am 14.4.2021 in einem Interview der Süddeutschen Zeitung)

Jimmy Hartwig (*1954) ist einer der Protagonisten von Torsten Körners im Jahr 2021 erschienenen Film „Schwarze Adler“ (auf Amazon Prime frei verfügbar). Der Titel des Films bezieht sich gleichermaßen auf afrikanische und afro-deutsche Fußballer*innen sowie auf das Logo der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, das die Spieler*innen auf der Herzseite ihres Trikots tragen. Thema des Films ist die Spanne zwischen erlebter Diskriminierung und dem Stolz, das Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft tragen zu dürfen. Leitmotivisch wird zwischen den Kapiteln des Films immer wieder die deutsche Nationalhymne gespielt, jeweils in einer neu verfremdenden Variation. Wir sehen die Spieler*innen mit geschlossenen Augen, die vielleicht ihren Traum der Zugehörigkeit zur deutschen Nationalelf träumen. Erst in der Schlussszene öffnet Jimmy Hartwig die Augen, verweist auf sein Nationalmannschaftstrikot, das ihm immer noch passe. Eigentlich könne er damit „auflaufen“, sein Fazit: „Alles richtig gemacht“.

Ob alle in „Schwarze Adler“ zu Wort kommenden Spieler*innen das eines Tages, wenn sie das Alter Jimmy Hartwigs erreicht haben werden, auch so sehen, mag offen bleiben. Zu präsent sind die Erlebnisse mit Rassismus und Diskriminierung. Shary Reeves (*1969) sagt, sie wäre „wie eine Aussätzige behandelt“ worden, andererseits haben sie im Verein „ersatzweise so etwas wie eine Familie für mich“ gefunden. Ähnlich äußert sich Steffi Jones (*1972), allerdings mit deutlich versöhnlicherem Ton.

Die Ambivalenz der Erlebnisse belegen diverse Bücher, die vor etwa zehn Jahren erschienen sind und somit auch die von Jimmy Hartwig angesprochene Kontinuität belegen. Christian Ewers veröffentlichte im Jahr 2010 sein Buch „Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weißer – Die Tragödie des afrikanischen Fußballs“ (im Gütersloher Verlagshaus), Michael Horeni 2012 die Tripelbiographie „Die Brüder Boateng – Drei deutsche Karrieren“ (Stuttgart, Tropen, J.G. Cotta’sche Buchhandlung). Christian Ewers zitiert im Titel einen der erfolgreichsten afrikanischen Fußballer, Samuel Eto’o (*1981) aus Kamerun. Er sagte ihn bei seiner Vorstellung als Neuzugang des FC Barcelona im Stadion Camp Nou.

Der Hymnenstreit

Rassismus ist ein Politikum, sollte es zumindest sein, auch wenn diejenigen, die sich rassistisch oder rassismusaffin äußern, sich selbst für unpolitisch halten. Wie politisch Sport ist, belegt der Streit um nationale Symbole. Ein weltweit ikonisch gewordenes Bild ist der Kniefall des amerikanischen Football-Profis Colin Kaepernick (*1987). Colin Kaepernick erhob sich am 14. August 2016 aus Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt bei der Nationalhymne nicht, sondern blieb sitzen. Eine Woche später kniete er nieder, eine Geste, der andere Spieler folgten. Es gab heftige Auseinandersetzungen um diese Geste und um seine Person. Als Spieler wurde er nicht mehr eingesetzt, seine Verträge wurden nicht verlängert, er fand keinen neuen Verein. Der damals noch nicht gewählte US-Präsident Donald J. Trump mischte sich ein und die Geste wurde zu einer politischen Geste, die auch politisch bekämpft wurde.

Mesut Özil (*1988) ist einer der besten deutschen Fußballer, die jemals in der Nationalmannschaft spielten. Er wurde in Gelsenkirchen geboren, ist dort aufgewachsen, hat dort die Schule besucht und – wie viele andere deutsch-türkische Jungen – in den örtlichen Jugendmannschaften gespielt, in seinem Fall bei Rot-Weiß Essen und dem FC Schalke 04. Er wurde Profi bei Werder Bremen, Nationalspieler und gewann internationale Erfahrung bei Real Madrid und beim FC Arsenal in London. Inzwischen spielt er bei Fenerbahce Istanbul. Er ist einer der deutschen Fußballweltmeister des Jahres 2014. Im Jahr 2012 sagte er „Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht. Bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutschtürke?“ Warum denken wir immer so in Grenzen?“ Seine Internationalität, seine Mehrsprachigkeit, all dies nützte ihm nichts, seine Erfahrung: Türke bleibt Türke.

Das schlechte Abschneiden der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer im Jahr 2018 wurde zu einem großen Teil ihm angelastet, in diesem Zusammenhang erfuhr er, dass es in der deutschen Öffentlichkeit ungern gesehen wird, wenn sich jemand mit deutsch-türkischer Biographie mit dem türkischen Staatspräsidenten fotografieren lässt. Aber dieses Foto war nur der Endpunkt einer Entwicklung, die auch als systematisches Mobbing bezeichnet werden könnte. Im Zentrum stand der Hymnenstreit: Mesut Özil sang nicht mit. Und das hielten offenbar viele Deutsch-Deutsche für einen Skandal.

Mesut Özil steht mit dieser Erfahrung nicht alleine. In „Schwarze Adler“ äußert sich Shary Reeves entsprechend: „Man wächst in diesem Land auf und gehört nicht dazu. Man soll aber dazugehören, denn alle da draußen wollen, dass man die Hymne mitsingen soll. Das geht nicht, das steht im Widerspruch zu den eigenen Emotionen, das funktioniert einfach nicht. Ich muss in einem Land leben können und dürfen, wo die Menschen mich so annehmen, wie ich bin, wo ich verstanden werde und wo ich mich wohlfühle. Das kann nicht sein, dass es nur nach deren Bedingungen passiert und dass in dem Moment die Bedingung da lautet, du hast aber jetzt mitzusingen.“

Shary Reeves ist heute Journalistin, Moderatorin und Schauspielerin, sie war als Jugendliche Mitglied im Kader des U-16-Nationalteams. Sie berichtet, wie der damalige Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft der Frauen, Gero Bisanz, sie abkanzelte, sie könne nicht Nationalspielerin werden, denn sie habe nicht mal einen deutschen Pass. Nach dieser Äußerung wollte sie nicht mehr. Nur am Rande: warum wird beim Fußball bei Frauenmannschaften immer darauf hingewiesen, dass es eine Mannschaft des Frauenfußballs ist, während bei Männermannschaften das Geschlecht nie genannt wird?

Der deutsche Pass dürfte jedoch nicht das eigentliche Problem sein. Ein Beispiel: in einer anderen Sportart, dem Eiskunstlauf, sorgte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble dafür, dass die Medaillenkandidatin Aljona Savchenko im Eilverfahren eingebürgert wurde, damit sie als Deutsche starten konnte. Sie war eben eine Medaillenkandidatin ersten Ranges. Es musste also etwas anderes sein. Und eines der Distinktive des Mobbings gegen Mesut Özil war die Hymne. Doch auch bei der Hymne gibt es wiederum Unterschiede. In „Schwarze Adler“ fährt die Kamera an der Mannschaft vorbei und wir sehen, dass Mesut Özil nicht der Einzige ist, der nicht singt. Auch Lukas Podolski singt nicht. Doch offenbar war dies für die Medien ebenso wenig ein zu skandalisierendes Thema wie die schnelle Einbürgerung von Aljona Savchenko. Das sind doppelte Standards, die möglicherweise – so wage ich zu spekulieren – damit zu tun haben, dass die Hautfarbe oder die deutsch-türkische Familie eine Rolle spielen, eine deutsch-polnische oder deutsch-ukraïnische Familiengeschichte jedoch nicht.

Mesut Özil lebt jetzt in der Türkei. Der deutsch-brasilianische Fußballspieler Cacau (*1981) hat für sein Leben eine andere Schlussfolgerung gezogen. Er berichtet in „Schwarze Adler“, dass ihm ältere Menschen auf der Straße gratuliert hätten, weil er die Hymne mitgesungen habe. Auch seine Mitspieler hatten etwas für ihn: mit der deutschen Staatsbürgerschaft verliehen sie ihm den Vornamen „Helmut“, der ihn dann in seiner Karriere begleitete. Die Hymne und die Reaktion dieser Menschen gäben ihm – so Cacau – ein „Gefühl der Zugehörigkeit“, eben das Gefühl, das Mesut Özil und Shary Reeves nicht erleben durften. Da nützte es offensichtlich wenig, wie im Off des Films zu hören, dass der damalige Bundestrainer Joachim Löw (*1960) darauf verwies, „was diese Mannschaft für Integration tut und getan hat“, es käme aber nicht darauf an, ob „sie mal die Hymne nicht mitsingen“, schließlich gebe es auch andere Möglichkeiten, sich vor dem Spiel auf das, was kommt, mental vorzubereiten.

Das Absingen der Nationalhymne bei Sportveranstaltungen hat in Deutschland eine lange Geschichte, die zu rekapitulieren lohnt, um darüber nachzudenken, warum diesem Akt eine solch hohe Bedeutung zugemessen wird. 1954 sang die deutsche Fußballnationalmannschaft nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft im Berner Wankdorfstadion die erste Strophe der Nationalhymne, wohlgemerkt: die erste Strophe! Die Deutschen im Stadion sangen mit und vielleicht nicht nur diese. Im Stadion saß auch Ignaz Bubis, neben seinem Freund Helmut Schön.

Lange Jahre wurde die Hymne bei Sportveranstaltungen nicht mehr gesungen, nicht von den Spielern, nicht vom Publikum. Erst 1982 nach der von Helmut Kohl verkündeten „geistig-moralischen Wende“, bei der eigentlich niemand so recht wusste, möglicherweise nicht einmal der neu gewählte Bundeskanzler selbst, was konkret damit hätte gemeint sein können, gab es eine Renaissance der Nationalhymne bei Sportveranstaltungen, so bei den Fußballpokalendspielen, die natürlich – wie hätte es anders sein können – wieder regelmäßig im symbolträchtigen Berlin stattfanden. Viele Besucher*innen sangen im Stadion mit. Und so wurde dies auch von den Mannschaften verlangt, vor allem von der Nationalmannschaft. Wer den schwarzen Adler auf dem Trikot trug, trug ihn als Herzenssache und sollte daher auch die Hymne singen. So die Erwartung.

Alle Spieler*innen, die einmal für die deutsche Nationalmannschaft gespielt haben, bestätigen in „Schwarze Adler“, wie stolz sie darauf waren, den schwarzen Adler auf der Brust zu tragen. Aber offenbar reicht ein solches Bekenntnis nicht aus. Hinzukommen muss die Hymne, gesungen, nicht nur gehört. Wie textsicher die deutsch-deutschen Zuschauer*innen im Stadion sind, wäre eine interessante Frage. Damit alle den Text mitsingen können, werden die Stadionleinwände zum Teleprompter.

Weiß, weißer geht’s nicht

Auf der Internetseite des Films „Schwarze Adler“ beschreibt der Regisseur Torsten Körner, wie er auf den Gedanken kam, diesen Film zu drehen. Es war ein Waschmittel, Persil, das mit der deutschen Nationalmannschaft beworben wurde. Die deutsche Nationalmannschaft spielt traditionell in weißen Trikots, die natürlich – zumindest vor dem Spiel – alle schön sauber ausschauen sollen. Auf dem Karton des beworbenen Waschmittels waren zwei weiße deutsche Nationalspieler zu sehen, Per Mertesacker (*1984) und Manuel Neuer (*1986). Die Frage stellte sich, welche Botschaften damit angetriggert wurden. Der Film geht der Frage nach den Botschaften, mit denen gerade auch die afrikanischen und afrodeutschen Spieler*innen leben mussten, mit Testimonials, Interviews, Portraits und Dokumentarszenen nach.

Der Film bietet ein Bild der bundesdeutschen Gesellschaft von den 1950er Jahren bis heute. Ich wage zu behaupten, dass kaum eine Branche so sehr das kollektive westdeutsche Gedächtnis bestimmen dürfte wie die Waschmittelbranche. Wer in den 1950er, 1960er oder 1970er Jahren aufgewachsen ist, kennt Clementine, den Weißen Riesen, weiß um das schlechte Gewissen der Frauen, deren Wäsche nicht weich genug geworden ist. Die Farbe weiß, die eigentlich gar keine Farbe ist, gewann ihre Bedeutung vielleicht als Kontrapunkt zum Staub des Kriegsschutts, aber sie prägte wohl auch schon vorher das kollektive deutsche Bewusstsein. In „Schwarze Adler“ gibt es eine Dokumentarszene mit Stukas im Weltkrieg, die „Bleichsoda, Ata, Persil“ heißen und damit wohl die Aufgabe hatten, die zu bombardierenden Regionen zu reinigen. Die Metapher der „ethnischen Säuberung“ wird nach wie vor verwendet, wenn ganze Regionen und alle dort lebenden Menschen, gleichermaßen Soldat*innen und Zivilist*innen, angegriffen, zerstört, vernichtet werden. Und dann gab es im Nachkriegs-Deutschland noch den berüchtigten „Persilschein“, der im Zuge der Entnazifizierung die Unschuld des den Antrag stellenden Alt-Nazis bescheinigen sollte und das oft genug wirkungsvoll tat.

Jimmy Hartwig erzählt im Film, dass er sich als Kind stundenlang mit Kernseife gewaschen habe. Steffi Jones (*1972) fragte als kleines Mädchen aufgrund ständiger Hänseleien im Kindergarten ihre Mutter, was sie tun könne, um weiß zu werden. Der Film illustriert diese Aussage mit Werbe-Sendungen der 1950er und 1960er Jahre. Wir sehen im Fenster einer Waschmaschine das Gesicht Roberto Blancos (*1937), das nach Nutzung des beworbenen Waschmittels „Blanco“ weiß geworden ist. In einem anderen Spot sagt ein eher einem Pinguin ähnelnder Schwarzer Junge über die flatternde weiße Wäsche, so weiß wolle er auch gerne sein. Zum Rollenbild des Fußballs noch in den 1990er Jahren: es gab einen (im Film nicht enthaltenen) Werbespot, in dem die weißen Mütter weißer Nationalspieler dafür sorgten, dass die Trikots immer schön weiß gewaschen waren.

Torsten Körner bringt die Botschaft solcher Werbemaßnahmen auf den Punkt: „Das Weiße war so etwas wie „eine tyrannische oder, sagen wir, exkludierende Erfolgsformel, die es jenen Spielern schwer machte, die nicht wie Fritz Walter, Jürgen Klinsmann oder Lothar Matthäus aussahen. Oder stimmte diese Vermutung nicht? Wie ließe sich das überprüfen? Wie wäre es, wenn man Spieler, die dieses Werbebild noch 2020 ausschloss, nach ihren Erfahrungen befragte? Wie war es, den schwarzen Adler auf der Brust zu tragen? Gab es die vermuteten Hürden und Vorurteile?“

Es gab und gibt sie, mitunter auch in scheinbar wohlwollender Form. Bezeichnend ist die Exotisierung Schwarzer Fußballer*innen. Guy Acolatse (*1942), der in den 1960er Jahren drei Jahre lang beim FC St. Pauli spielte und jetzt in Paris lebt, berichtet, wie er von Fans angestarrt wurde, eine Erfahrung, die der Präsident des Vereins ausnutzte. Er sagte seinem Schwarzen Spieler, es sei gut, dass er da wäre, da kämen mehr Zuschauer. Fremdbezeichnungen wie „Schwarze Perle“ oder „Schwarzer Bomber“ gehören zu dieser exotisierenden Vermarktung Schwarzer Fußballer. Beverly Ranger (*1953), 1975 deutsche Meisterin mit dem Bonner SC und 1977 mit der SSG Bergisch Gladbach 09, war 1975 Schützin des Tors des Monats, ein Tor, das einen Vergleich mit dem legendären 2:0 Diego Armando Maradonas gegen die englische Nationalmannschaft verdient. Ernst Huberty (*1927) stellte Beverly Ranger in der Sportschau der ARD vor. Eingeleitet wurde dies mit dem Lied „Blond und kaffeebraun…“, gesungen von Vico Torriani (1920-1998).

Die in „Schwarze Adler“ dokumentierten Kindheitsberichte der Spieler*innen belegen, dass die Beleidigungen, Anfeindungen und Jagden, die afrodeutsche Fußballer*innen ertragen müssen, nichts Neues, erst in den letzten Jahren Entstandenes sind. Sie sind – wie Monika Schwarz-Friesel im Hinblick auf den Antisemitismus nicht müde wird zu sagen – „die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“. Und exotisierende Bewunderung ist alles andere als ein Kompliment, auch wenn Sportschaumoderator*innen dies meinen.

Erwin Kostedde (*1946), der erste afrodeutsche Fußballnationalspieler, sagt: „Was das ist, mit so einer Hautfarbe durch Deutschland zu laufen, das können Sie sich gar nicht vorstellen. (…) Das lässt einen nicht los.“ Er berichtet von Sprechchören mit der Parole „Wir wollen keine Schwatten“, die er von deutschen Fans bei seinem Länderspiel in Wembley zu hören bekam. Die Wirkung war enorm: „Ich habe gespielt wie ein Eimer Wasser.“ Anthony Baffoe (*1965) berichtet von Affengeräuschen. Und es macht keinen Unterschied, ob man*frau in Deutschland oder in einem anderen Land geboren ist. In „Schwarze Adler“ zeigt Torsten Körner Szenen aus einem Dokumentarfilm des Jahres 1957 mit dem Titel „Toxi lebt anders“. Der betont sachliche Sprecher verkündet die für ihn unerschütterliche Botschaft, dass die Kinder der GI’s „ein dreifacher Makel“ markiere. Sie seien unehelich, hätten einen „farbigen Vater“ und verwiesen alleine durch ihre Existenz auf die Besatzung. Die Mutter muss sich im Beisein ihrer fünfjährigen Tochter Toxi insistierende Fragen des nicht sichtbaren Reporters anhören, warum die Mutter das Kind nicht zur Adoption „abgegeben“ hätte.

Sollten die Spieler*innen in dieser Atmosphäre für die deutsche Nationalmannschaft spielen oder für eine andere? Diese Frage lösten die Spieler*innen jeweils individuell. Otto Addo (*1975) spricht davon, Gerald Asamoah habe „den schwierigen Weg“ gewählt, nicht für Ghana, sondern für Deutschland zu spielen, aber er sehe diese Entscheidung als die richtige, „für die Gesellschaft“. Gleichwohl gab es während der WM 2006 auch die Kampagne der NPD gegen Patrick Owomoyela (*1979) mit dem Slogan „Weiß ist nicht nur eine Trikotfarbe“. Die Urheber des Flugblatts wurden nach längerem Hin und Her zwischen den Instanzen wegen Volksverhetzung verurteilt. Und immerhin gibt es auch so etwas wie Solidarität. Als Alexander Gauland 2016 glaubte, sagen zu müssen, dass Jérôme Boateng als Fußballspieler geschätzt werde, aber niemand ihn als Nachbarn haben wolle, gab es in den Stadien Transparente mit der Aufschrift „Jérôme, sei unser Nachbar“ oder „Jérôme zieh neben uns“.

Gnadenlos

Wie in den Medien Bilder von Schwarzen Fußballern geprägt werden, belegt die Karriere der drei Brüder Boateng. Michael Horeni hat 2012 ihre Geschichte mit dem Untertitel „Drei deutsche Karrieren“ veröffentlicht Es ist die Zeit der „deutsche(n) Internationalmannschaft“ der Weltmeisterschaft des Jahres 2010 in Südafrika. In der Vorrunde spielten die Mannschaften von Deutschland und Ghana gegeneinander. In jeder der beiden Mannschaften spielte einer der beiden fußballerisch erfolgreichen Brüder Boateng, die BILD-Zeitung titelte mit Verweis auf die Stadtteile, in denen die beiden aufgewachsen waren: „Wedding gegen Wilmersdorf“. Jérôme (*1988) spielte für Deutschland, Kevin (*1987) für Ghana. Der beste Fußballer wäre eigentlich – so Michael Horeni – der dritte und älteste Bruder George (*1982) gewesen, doch das ist wiederum eine andere Geschichte.

Michael Horeni erzählt die Vorgeschichte. Kevin spielte am 15. Mai 2010 für den FC Portsmouth im Endspiel um den englischen Cup gegen den FC Chelsea. Er foulte den Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, Michael Ballack (*1976), sodass dieser bei der Weltmeisterschaft nicht eingesetzt werden konnte: „Das Foul von Kevin Boateng aber hat Folgen wie kein Foul zuvor im deutschen Fußball. Es ist das Foul im deutschen Fußball.“ Kevin wird zum „Fußballfeindbild“ in Deutschland schlechthin.

Und dies geschieht in einer gesellschaftlichen Stimmung, die unabhängig von der „deutschen Fußballinternationalmannschaft“ kurz vor einem neuen Höhepunkt fremdenfeindlicher und rassistischer Ressentiments steht: „In den Tagen, als Kevin zum nationalen Fußballfeindbild wird, schafft sich Deutschland noch nicht ab. Thilo Sarrazins Kampfschrift ist kurz vor der Weltmeisterschaft noch nicht auf dem Markt, es gibt auch noch nicht das Buch vom ‚Ende der Geduld‘ der Berliner Richterin Kirsten Heisig über die Gewalttätigkeit vor allem von türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen und den hilflosen Umgang des Staates damit. / Was es aber schon gibt, ist das verbreitete Gefühl, dass in der Gesellschaft etwas aus dem Ruder läuft.“

Es ließe sich durchaus annehmen, dass Kevins Foul geradezu wie gerufen kam. Kevin wurde zum Schuldigen par excellence, zu dem Sündenbock, der in die (afrikanische) Wüste geschickt werden konnte. Es ist auch die Zeit der „Hymnendebatte“ im deutschen Fußball. „Die Debatte um die Nationalhymne signalisiert Jérôme und den anderen Nationalspielern mit nicht (nur) deutschen Wurzeln, dass ihnen ihre nationale Identität noch immer nicht selbstverständlich zugestanden wird.“

Dies ist die eine Seite. Die andere ist der Erfolg der deutschen Mannschaft in Südafrika, manche meinen sogar gerade wegen der durch den Ausfall Michael Ballacks erforderlichen taktischen Umstellungen, auf jeden Fall wegen der Kreativität und Qualität der „Bindestrich-Deutschen“. Mesut Özil, Sami Khedira (*1987), Jérôme Boateng wurden zu Helden. „Diese Nationalmannschaft zeigt: Wenn man als Migrant hier lebt, kommt man durch eigenen Ehrgeiz, eigene Kraft und eigene Leistung voran.“ So sieht das der damalige deutsche Bundesinnenminister. Der damalige Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, ist skeptischer. Er spricht davon, dass es in Deutschland „viele junge Özils, Khediras und Boatengs auch der Chemie oder Mathematik“ gebe, doch „deren Karriere ende oft schon mit der Anmeldung in einer Hauptschule.“ (jeweils zitiert nach Christian Ewers).

Ähnlich wie Mesut Özil erlebte auch Jérôme Boateng die Ups and Downs der Zu- und Abneigung der Presse. In einem Qualifikationsspiel zur Weltmeisterschaft in Südafrika wurde er des Feldes verwiesen und rechtfertigte sich nach dem Spiel damit, dass er nicht anders hätte handeln können, weil sonst sein Gegner den Ausgleich geschossen hätte. „Am nächsten Tag steht in den Zeitungen, dass sich Jérôme Boateng mit seinem Foul ein bisschen auch für Deutschland geopfert hat.“ Gleichwohl betrifft das Foul seines Bruders auch ihn: „Als hätte er dabei geholfen, den Kapitän umzutreten.“

Es ist im Fußball im Grunde nicht anders als in einer Wrestling-Liga. Es gibt die Guten und es gibt die Bösen. Der Unterschied: Beim Wrestling wissen alle Zuschauer*innen, dass die einen die Guten und die anderen die Bösen nur spielen. Selbst die Berührungen und Schläge sind – wie in jedem Stunt – nur gespielt. Niemand schlägt jemanden. Im Fußball sind die Schläge und Verletzungen jedoch echt, mal mit Absicht, mal als Unfall, und die Konsequenzen sind immer real. Letztlich entscheidet hier nicht das Management, wer die Guten und wer die Bösen spielen darf. Dies entscheidet das Publikum, das wiederum von den Medien unterstützt oder sogar aufgehetzt wird. Den als Böse markierten Spielern wird unterstellt, dass sie einen grundsätzlich bösen Charakter haben und dass sie als Feinde zu betrachten sind. Auch das ist in der Wrestling-Liga anders, da dort die Bösen ihre Fans haben und jede*r Zuschauer*in genau weiß, dass alles eben nur ein Spiel ist.

Fußball ist eben nicht bloß ein Spiel. Der Fall Boateng ist ein Musterbeispiel für die Gnadenlosigkeit des Fußballs und er betrifft nicht nur Kevin und ihn nicht erst nach dem Foul an Michael Ballack. Michael Horeni dokumentiert die Anfeindungen, die die drei Brüder Boateng schon bei Jugendspielen vor allem im Berliner Osten erlebten. Auch das Framing der Presse fehlte nie. Sport-BILD veröffentlichte im Frühjahr 2007 ein Portrait von Kevin, Jérôme, Änis Ben-Hatira (*1988), Ashkan Dejagah (*1986) und Zafer Yelen (*1986) mit dem Titel „Aus dem Ghetto direkt in die Bundesliga“ und kommt zu dem Schluss: „Fußball hielt die Riesen-Talente von Alkohol und Drogen fern.“ Umkehrschluss: Und wer es im Fußball nicht schafft?

Aber vielleicht gibt es Hoffnung: Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 27. August 2020 davon, dass mehrere US-amerikanische Profi-Sportligen wegen des Mordversuchs von weißen Polizisten an dem Schwarzen Jacob Blake in (Wisconsin) ihre Spiele abgesagt hatten. Jürgen Schmieder schreibt: „Es ist eine Geste, die von der Dimension her an Tommy Smith und John Carlos erinnert, die bei den Olympischen Spielen 1968 ihre Fäuste in den Himmel reckten, als die US-Hymne gespielt wurde. Oder an Muhammad Ali, der 1966 den Kriegsdienst verweigerte und dafür verhaftet wurde. Und an Colin Kaepernick, der vor exakt vier Jahren begann, sich beim Abspielen der Hymne vor Footballspielen hinzuknien, von Trump deshalb als ‚Hurensohn‘ beschimpft wurde und seit 2017 arbeitslos ist. Sind die Zeiten eines Avery Brundage endgültig vorbei? „Die Spiele gehen nicht weiter.“ Kevin Prince Boateng spielte einige Zeit beim AC Mailand. Auf rassistische Beleidigungen reagierte die gesamte Mannschaft und verließ den Platz. Seit der Saison 2021/2022 spielt Kevin Prince Boateng wieder bei Hertha BSC Berlin. In „Schwarze Adler“ sehen wir lange Einstellungen mit von Fangruppen erstellten antirassistischen Aufklebern, darunter ein Aufkleber, auf dem das Bein eines Schalker Spielers ein Hakenkreuz zertritt.

Wer sich als Spieler*in wehrt, profitiert von diesen Solidaritätsbekundungen auf dem Platz nicht. Shary Reeves und Jordan Torunarigha (*1997) berichten von den Platzverweisen, die sie erhielten, nachdem sie sich gegen die andauernden Beleidigungen ihrer Gegenspieler*innen wehrten, Jordan Torunarigha, indem er eine Getränkekiste an der Trainerbank umstieß, Shary Reeves, indem sie ihre Gegnerin ein wenig schubste. Einige Fans waren allerdings aufgeklärter als die jeweiligen Schiedsrichter. Am nächsten Spieltag war ein Transparent zu sehen: „Gemeinsam gegen Rassisten im Notfall mit Getränkekisten #25“. Die 25 war Jordan Torunarighas Rückennummer. Shary Reeves kommentiert all diese Ereignisse in einer Einstellung zum Schluss des Films mit kaum unterdrückten Tränen: „Ich liebe dieses Land, aber manchmal denke ich…“

Es ist sicherlich viel passiert, Gutes und Schlechtes, Versöhnendes und Polarisierendes. Beverly Ranger spricht von „progress“ und „regress“ zur gleichen Zeit. Michael Horeni beschreibt die Gleichzeitigkeit beider Entwicklungen. Die eine Seite repräsentiert der damalige Bundespräsident Christian Wulff, den Michael Horeni wie folgt zitiert: „Die Mannschaft war bester Botschafter im Sinne unseres Landes in der Welt. Sie hat viele Sympathien erworben und ein Bild von einem bunten, weltoffenen Deutschland gezeichnet – von Boateng bis Özil, von Schweinsteiger bis Lahm (…). Unser Land kann dankbar und stolz auf diese Mannschaft sein.“ Die andere Seite: wenig später erschien Thilos Sarrazins Buch vom sich abschaffenden Deutschland: „‚vor zwei Monaten haben die Leute noch Sami Khedira, Mesut Özil und Jérôme Boateng zugejubelt. Jetzt jubeln sie Sarrazin zu‘, sagen Politikexperten in Talkshows. So empfinden das auch die Spieler.“

„Spielzeug-Politik“

Die Ambivalenz dieser Entwicklungen besteht nach wie vor. Christian Ewers zitiert Ojokojo Torunarigha (*1970), den Vater Jordans, ehemals Spieler beim Chemnitzer FC: „Ich wurde geliebt als Fußballer und abgelehnt als Mensch, als Schwarzer. Einmal abends wollte ich in die Disco ‚Elios‘ hieß die, ich hatte mich extra schick angezogen, aber der Türsteher sagte: ‚Du kommst hier nicht rein, so nicht.‘ Am nächsten Tag habe ich das meinen Mitspielern erzählt, und die sprachen dann mit dem Boss vom ‚Elios‘, und plötzlich war alles kein Problem mehr. ‚Du musst das nächste Mal nur sagen, dass du der Ojokojo vom FC bist‘, sagten sie. Ich habe es nie wieder beim ‚Elios‘ versucht. Dass du aufgespalten wirst in eine gute und in eine böse, schwarze Hälfte – das war das Schlimmste in all den Jahren.“ Der erste Satz dieses Statements wird auch in „Schwarze Adler“ zitiert.

Christian Ewers beginnt sein Buch „Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weißer“ mit den Stereotypen, die sich in den Zeitungen und in anderen Medien dank des erfolgreichen Wirkens vieler Sportjournalisten (hier ist die ausschließliche Verwendung der männlichen Form angebracht) durchgesetzt haben: „Die Geschichte des Fußballs ist von Anfang an die Geschichte eines Missbrauchs (…). In den Augen Europas ist Afrika oftmals der geschundene, dunkle Kontinent, das Herz der Finsternis. Oder aber es ist farbenfroh, etwas naiv und ungebildet, aber doch so fröhlich und so vital. Zwischen diesen beiden Polen scheint es nichts zu geben. / Umgekehrt ist Europa in den Augen Afrikas das Paradies.“

Doch wie sieht dieses Paradies aus? Gerald Asamoah erzählt in „Schwarze Adler“, dass sein Bild von Deutschland durch den Otto-Katalog geprägt wurde, den seine Mutter in Ghana hatte. Christian Ewers dokumentiert die Versuche von Charles Kwablan Akonnor (*1974), als Trainer seinen Spielern in Ghana ein realistisches Bild von Europa zu vermitteln, ein Misserfolg: „Akonnor hat keine Chance gegen die Macht der Bilder. Englands Premier League, Spaniens Primera División und Italiens Serie A sind fast rund um die Uhr im Satelliten-TV zu sehen; irgendwo läuft immer eine Wiederholung. ‚Europa fühlt sich für die Jungs so nah an‘, sagt Akonnor. ‚Sie kommen in Chelsea-Trikots zum Training, sie denken, sie hätten kapiert, worum es geht in Europa. Aber sie wissen nichts.‘“ Charles Akonnor sagt, dass viele Spieler denken, sie hätten nach drei oder vier guten Spielen alles, was sie bräuchten, um erfolgreich in der europäischen Champions League zu spielen, und er sei mit seinen Warnungen „der Fiesling, der ewige Nörgler. Derjenige, der sie kleinhalten will und nicht fördern.“

Samuel Eto’o und andere, die es dann tatsächlich in die Champions League geschafft haben, gelten als Vorbilder und Helden. Dazu Samuel Eto’o selbst: „Für uns Afrikaner ist jeder ein Held, der es in Europa schafft, trotz aller Steine, die ihm in den Weg gelegt werden. Heute weiß ich natürlich, dass Europa kein Märchenland ist. (…) Wir Afrikaner lieben Geschichten, in denen das Unmögliche wahr wird. Und wir erzählen sie gern ein bisschen heldenhafter, als sie in Wirklichkeit waren.“ Gegenüber den jungen afrikanischen Spielern müsse er „jeden Tag ein Klischee widerlegen.“ Fußball ist in Afrika das Aufstiegsversprechen schlechthin.

Vielleicht lässt sich diese Rolle des Fußballs mit der Rolle des Stierkampfs im frankistischen Spanien vergleichen. Für in Armut aufwachsende junge Männer war der Stierkampf lange Zeit das Aufstiegsversprechen schlechthin, das inzwischen jedoch längst durch den Fußball abgelöst worden ist. Die beiden Journalisten Larry Collins und Dominique Lapierre haben die Mechanismen dieses Mythos in ihrem Buch „… oder du wirst Trauer tragen – Das phantastische Leben des El Cordobès“ (deutsche Ausgabe 1968 bei Bertelsmann in München erschienen, französische Erstausgabe ein Jahr vorher) beschrieben: „Dieser Weg, der vor den Hörnern der Stiere vorbeiführt, lockte im Verlauf der nächsten eineinhalb Jahrhunderte Tausende junge Spanier mit seinem Versprechen an, Hunger und Elend zu besiegen. Für einige wenige brachte er Ruhm und Geld. Für die meisten aber führte er nur zu Leiden und Verzweiflung. Und für vierhundert Söhne Spaniens in den Tod.“ Natürlich erzählen Larry Collins und Dominique Lapierre die Geschichte vom Ursprung des Stierkampfs in Ronda, als ein junger Tischler namens Francisco Romero einen Stier mit seinem Hut von dem vom Pferd gestürzten adligen Stierkämpfer ablenkte. Eine schöne Geschichte, vielleicht mit einem relativ großen wahren Kern, zumindest im Hinblick auf das soziale Aufstiegsversprechen, das sich realisieren ließ, weil der Stierkampf zu Fuß den Stierkampf zu Pferde weitgehend ablöste und zu einem populären Fest wurde, das der Diktator Franco sogar gezielt einsetzen konnte, indem er eine geplante Demonstration gegen seine Politik mit einer Live-Übertragung eines Stierkampfes mit dem damals populärsten Matador El Cordobès verhinderte.

Christian Ewers dokumentiert Gespräche mit prominenten Fußballern, die in der Championsliga spiel(t)en, und unbekannten, die am Stadtrand von Paris und anderswo als illegale Einwanderer vergeblich von einer erfolgreichen Profikarriere träumen. Er lässt Schwarze Spieler, Manager, Trainer (ausschließlich Männer) selbst zu Wort kommen und entlarvt die europäische „Spielzeug-Politik“, wie sie der Manager eines sansibarischen Clubs bezeichnet: „Sie haben uns den Fußball gegeben, wie man jammernden Kindern Spielzeug schenkt: Hier, nehmt, spielt, und seid schön ruhig. Vielleicht haben die Briten mit ihren Mannschaften gar nicht so ungern gegen uns verloren. Wir hatten unsere kleinen Siege auf dem Platz, und sie hatten das Kommando im echten Leben.“

Träume und Lügen

Christian Ewers zitiert den Historiker und Pädagogen Dickson A. Mungazi (1929-2008), der in seinem Buch „The Mind of Black Africa“ (Westport, Connecticut, Praeger, 1996) „vier Phasen in der Beziehung zwischen Europäern und Afrikanern“ analysiert. Es beginnt mit der Abwertung Afrikas und seiner Bewohner*innen in der europäischen Aufklärung, beispielsweise bei Immanuel Kant, der behauptete, dass Afrikaner*innen – er benutzte ein anderes Wort – „von der Natur aus kein Gefühl (hätten), welches über das Läppische stiege.“ Damit hätten die europäischen Mächte eine Rechtfertigung für ihre Kolonialpolitik gefunden, die sie im 19. Jahrhundert als Zivilisationsprojekt anpriesen, eine Auffassung, die sich noch in der französischen Politik der beginnenden 2000er Jahre finden ließ, als Nicolas Sarkozy verfügte, in den Schulbüchern sollten vorrangig die zivilisatorischen Erfolge der französischen Kolonialpolitik dargestellt werden. Die dritte Phase ist das Ende des Kolonialismus durch „Intelligenz und Kraft der Afrikaner, die sich ihre Freiheit nur deshalb erkämpfen konnten, weil die Besatzer sie nicht ernst nahmen.“ Die vierte Phase wäre dann „die Phase des Selbstbetrugs“. Akteur*innen sind einerseits die neuen oft in Europa oder den USA ausgebildeten afrikanischen Eliten, andererseits aber auch die vielen Menschen, die von einem sozialen Aufstieg in Europa träumen, der sie befähige, auch ihre Familien zu ernähren. Und eben dies ist der Traum – oder wenn man so will der „Selbstbetrug“ – vieler junger afrikanischer Fußballer.

Nicht-Regierungsorganisationen, die sich der Entwicklung afrikanischer Staaten widmen, pflegen diesen Mythos, gerade vor der ersten Fußballweltmeisterschaft in einem afrikanischen Land, Südafrika im Jahr 2010.Fußball ist für sie ein „Zauberwort“. „Kaum eine Initiative, die nicht ein Fußball-Projekt aufgelegt hätte im Jahr vor der Weltmeisterschaft; sie heißen ‚Coaching for Hope‘, ‚Project Hope‘ oder ‚Multipurpose Talent Group‘.“ Christian Ewers berichtet, dass es 2008 eine eigene Konferenz zum Thema für die Region Western Cape (Südafrika) gab, in der 203 Projekte, davon 107 in Kapstadt genannt wurden. Was dies für einen jungen Mann bedeuten kann, beschreibt Christian Ewers am Beispiel von Martin Africa. Christian Ewers traf ihn, der wirklich so heißt, bei seinem Trainer Ernst Jacobs. Ursprünglich war der junge Martin ein Kleinkrimineller, den aber der Fußball – so sagt er selbst – „von der Straße geholt“ habe, „ich muss keine schmutzigen Dinge mehr tun.“

Martin Africa war Kapitän der südafrikanischen Mannschaft bei der Obdachlosen-WM 2009 in Mailand. Doch dann geschah es. Africa und seine Mannschaftskameraden versackten, vertranken ihr Geld und verpassten den Flug. David Abrahams, der Teammanager, holt sie wieder zurück und ist eigentlich ratlos. Soll er den Spielern die Wahrheit sagen? Sie werden es mit dem Fußball nicht schaffen, Martin Africa wird nicht Trainer werden. Aber auf der anderen Seite: „Fußball war das Seil, das wir Martin gereicht haben, um da unten rauszukommen. Und jetzt soll ich dieses Seil durchschneiden? Das bringe ich nichts übers Herz.“ Es bleibt dabei, die Aufforderung sich anzustrengen, der Beste zu sein, für Martin Africa wie für die Spieler des Gegners und deren Trainer Sadick da Silva. Solche Sätze „sind Lob und Ansporn zugleich, sie halten den Traum vom FC Liverpool lebendig, von der großen Karriere in Europa. Diese Sätze sind Lügen, Liverpool ist eine Lüge, aber wenn da Silva die Wahrheit sagte – er hätte seinen Jungen wohl ganz verloren.“

Einige europäische Mannschaften haben aus der Not junger afrikanischer Spieler ein Geschäftsmodell gemacht. Sie haben sogenannte Farm-Teams in Afrika. Christian Ewers beschreibt dies am Beispiel von Ajax Amsterdam: „Ajax ist ein Sinnbild für europäische Arroganz gewesen, ein Beispiel dafür, dass mit einer kolonialen Attitüde nichts zu erreichen ist. Ein Beispiel dafür, dass es ein neues Denken braucht, eine neue Haltung. Wer Erfolg haben will in Afrika, muss sich einstellen auf die Menschen, auf ihre Stärken und Schwächen, auf ihr Leben.“ Diese Einsicht ist das Ergebnis von Gesprächen, die Christian Ewers mit Maarten Stekelenburg, dem damaligen Leiter der Jugendabteilung Ajax Cape Town in Südafrika, und seinen Kollegen führte. Leitendes Interesse ist die Rekrutierung – ich denke der Begriff passt hier – von jungen Nachwuchsspielern, die ihren Weg in die Niederlande schaffen sollten und dann vielleicht bei Ajax Amsterdam oder einem anderen Klub der Eredivisie mehr oder weniger erfolgreich spielen. Gesucht wurden Nachfolger der legendären Surinam-Fraktion um Ruud Gullit (*1962).

Walter Ammann, in der Elfenbeinküste tätig, versucht Ähnliches, aber seine eigentlichen Gegner sind die Bilder von Europa, die über Satellitenfernsehen verbreitet werden und von Spielervermittlern ausgenutzt werden, „immer wieder gibt es Abwerbeversuche von Agenten, die einen schnelleren Weg zum großen Geld versprechen. Warum erst mit 18 Jahren kassieren, wenn es auch schon mit 15 geht? Warum bleiben in einem Land mit düsterer Perspektive?“ Im Grunde ist das, was im afrikanischen Fußball geschieht, ein gigantischer Etikettenschwindel. Es bleibt beim Träumen, ein Team heißt bezeichnend La Dream Team, das letzte Kapitel des Buches heißt „Die Gestrandeten von Saint-Denis“. Dort erfahren wir von der gar nicht ungewöhnlichen Geschichte junger Männer, die ihren Familien in Ghana, in der Elfenbeinküste, im Senegal und anderswo regelmäßig Geld zuschicken, sodass die dort gebliebene Familie glauben muss, ihr Junge habe es geschafft. „Wieder eine falsche Geschichte mehr, die Sehnsüchte weckt (…) und irgendwann werden aus Geschichten Legenden. Auch deshalb ist Afrika in Bewegung, auch deshalb gibt es Migration – nicht nur wegen Kriegen, Seuchen und Hunger.“ Das sind die „Pull-Faktoren (…) die Menschen aus ihrem Land ‚herausziehen‘ und zu Wandernden machen. Sie lösen einen gewaltigen Sog aus, die Illusion, Europa sei ein Kontinent der Toleranz und Offenheit, der gut bezahlten Jobs und der täglich neuen Chancen.“

Bei dem in Europa überall herrschenden Mangel an Fachkräften klingt das gar nicht einmal so falsch, aber wir zeigen in Afrika europäischen Fußball, nicht europäisches Handwerk, nicht die Bedarfe in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, und das große Geld verdienen Fußballspieler. Umso absurder ist das Bemühen mancher Städte und nicht zuletzt des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn, Fachkräfte für Kindertages- und Pflegeeinrichtungen weltweit einzuwerben, während diejenigen, die bereits hier sind, in sogenannten „Aufnahmeeinrichtungen“ festgehalten werden, lange Zeit auf einen Bescheid warten oder sich in der Illegalität durchschlagen müssen.

Der Film „Schwarze Adler“ endet mit einem Zitat von Frantz Fanon, das Buch von Christian Ewers zitiert ihn auf den ersten Seiten. Zunächst Christian Ewers mit einem Text aus dem 1961 erschienenen Klassiker „Die Verdammten dieser Erde“ („Les damnés de la terre“): „Gegenüber der kolonialen Ordnung befindet sich der Kolonisierte in einem Zustand permanenter Spannung. Die Welt der Kolonialherren ist eine feindliche Welt, die ihn zurückstößt, aber gleichzeitig ist sie eine Welt, die seinen Neid erregt. Der Kolonisierte ist ein Verfolgter, der ständig davon träumt, Verfolger zu werden.“ Und in „Schwarze Adler“ lesen wir: „Und dann geschah es, dass wir dem weißen Blick begegneten. Dabei wollte ich ganz einfach ein Mensch unter anderen Menschen sein.“

Norbert Reichel, Bonn

(Erstveröffentlichung im November 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 8.11. 2021)