Türke bleibt Türke

Über Grenzen in der Integrationspolitik

„Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht. Bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutschtürke?“ Warum denken wir immer so in Grenzen?“ (Mesut Özil 2012)

Mesut Özil hat exzellenten Fußball spielend manche Grenze überschreiten dürfen. Doch heute, im Jahr 2019, haben manche den Eindruck, dass er mit seiner öffentlich gepflegten Vorliebe für den türkischen Präsidenten Grenzen für und um sich selbst gezogen hat. Die Frage, warum er diese gezogen hat und heute noch zieht, wird niemand beantworten können.

Möglicherweise aber wirkt bei ihm das, was in der Psychologie als „Priming“ bezeichnet wird: er war immer der Türke und der soll er auch bleiben. Also verhält er sich irgendwann auch wie erwartet. Und die, die über ihn sprechen, sagen, dass sie es immer schon gewusst haben: Türke bleibt Türke.

 „Unser Lebensgefühl ist die Entfremdung“

Das geht nicht nur Fußballspielern so. Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham sind erfolgreiche und geschätzte Journalistinnen, deren Artikel und Reportagen in der ZEIT m.E. zu dem Besten gehören, das zurzeit in einer deutschen Zeitung über außenpolitische Irrungen und Wirrungen geschrieben wird. Auch sie können und dürfen in ihrem Beruf (fast) jede beliebige Grenze überschreiten. Sie haben aber auch das Buch „Wir neuen Deutschen – Wer wir sind, was wir wollen (Hamburg, Rowohlt, 2012) geschrieben. Ihr Fazit holt alle, die von Gleichberechtigung und Gleichstellung, von Begegnung auf Augenhöhe, unabhängig von Herkunft und Kultur oder wie auch immer man es nennen will, träumen, wieder auf den Boden der Tatsachen zurück:

„Unser Lebensgefühl ist die Entfremdung. Sie wird begleitet von der Angst, die anderen in der Harmonie ihrer Gleichheit zu stören. Von der Angst, von den anderen als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. Selten reden wir über dieses Gefühl. Wer könnte uns schon verstehen? Wir wollen normal sein, und wenn das nicht geht, wollen wir wenigstens so tun, als ob.“

Das ist das Grundgefühl von Menschen mit einer internationalen Geschichte. Das Grundgefühl der anderen ist die Angst vor Fremdem. Zu den „Fremden“ schlechthin wurden in den letzten zehn Jahren vor allem die Muslime und mit ihnen Türk*innen und Araber*innen, denen per se unterstellt wurde und wird, sie wären radikale Muslime. Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham datieren den Beginn dieser Entwicklung auf das Jahr 2010, das Erscheinungsdatum von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“. Verstärkt wurde die Wirkung des Buches durch den 11. September 2001.

„Wir und die anderen“ – das ist die Grundformel, aber Fremdheit hat viele Ausformungen. Die „Muslime“ bieten sich als Gegenbild an, aber nicht nur sie. So wie sich beispielsweise Menschen mit türkischer Familiengeschichte immer wieder für die Politik des türkischen Präsidenten rechtfertigen müssen oder ungefragt als dessen Unterstützer*innen gezählt werden, geht es vielen Jüdinnen und Juden, die erleben müssen, wie sie – ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und ihrer persönlichen Ansichten – selbst in sich als gebildet und liberal definierenden Kreisen pauschal für die Politik von Benjamin Netanjahu verantwortlich gemacht werden.

Das Ergebnis: Wir sind auf dem Weg zu einer „Gesellschaft, die ihre liberalen Prinzipien verrät; die sich denen verschließt, die anders sind. In einer solch hermetischen Gesellschaft hätten nicht nur Muslime keinen Platz – alle, deren Herkünfte nicht eindeutig sind, würden nicht dazugehören. Die Angst vor den Muslimen ist im Kern eine Angst vor allem Fremden und jeder Veränderung. Es ist eine Angst, die uns alle meint.“

Integration? Guter Witz

Zwei Bücher, von denen eines ein Roman ist, der auch eine (Auto-)Biographie, das andere ein autobiographisches Buch, das auch ein Roman sein könnte, beschreiben nüchtern und anschaulich, wie es sich anfühlt, die Fremde zu sein, die sich am besten in ihrem Fremdsein einrichten sollte.

„‘Ich lache, weil du Integration gesagt hast.‘ / Er sah mich fragend an. / „’Meine Eltern kommen aus der Türkei.‘ / ‘Und?‘ / ‘Mann, Integration und Türken, verstehst du es wirklich nicht.‘ / Er schmunzelte, aber so lustig wie ich fand er es nicht.“

Dieser Dialog ist eine Szene des Romans „Ich bin Özlem“ von Dilek Güngör (Berlin, Verbrecher Verlag, 2019). Dilek Güngör dekonstruiert das Vokabular der Integration, das „Integrationsgeschwätz“ um „Herkunft“ und „Kultur“, das Menschen folklorisiert. „Und was die anderen tun und glauben, nennt man Sitten und Gebräuche, Folklore und fremde Kultur, während das Eigene das Eigene ist und keine Merkmale hat.“

Manches, was Özlem erlebt, erinnert an eine Szene, die Mark Terkessidis in seinem Buch „Interkultur“ (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2010) referiert. Ein Lehrer nahm den kleinen Mark als Experten für alles Griechische in Anspruch. Der Grieche in der Klasse weiß doch sicher alles über Perikles! Er ist ja Grieche.

So ergeht es auch Özlem, die aber nicht nur Deutschen ständig erklären muss, ob sie im Urlaub in die Türkei fährt, ob sie türkisch kocht, ob ihre Kinder Türkisch lernen. Ihre türkeistämmigen Mitmenschen verhalten sich genauso. Sie – so Özlem – „dürfen so indiskret werden, wie sie wollen. (…) Ich bin eine von ihnen und werde immer eine von ihnen bleiben, ihr Mädchen, dass sie ausfragen dürfen, obwohl ich längst eine erwachsene Frau bin. Ich entkomme ihnen nicht, in ihren Augen bleibe ich Türkin, ganz gleich was für einen Pass ich habe.“

Ständig erlebt Özlem, dass sie sich mit anderen „vergleichen“ muss. Dabei spielt es schließlich keine Rolle mehr, ob andere dies verlangen. „Ich selbst mache aus mir eine Türkin.“ Sie ergibt sich in diese passive Rolle, indem sie die von anderen vermuteten Eigenschaften zu ihrem eigenen Selbst erklärt. Özlem fragt sich, wann sie „aufgehört (habe), ‘ich bin aus Deutschland‘ zu sagen“.

Es wird unmöglich, das „Fremdsein“ hinter sich zu lassen: „Ich bin die, die nicht dazugehört, die anders ist, die anders aussieht, anders heißt. 39 bin ich jetzt und fühle mich dennoch wie das kleine Mädchen im Kindergarten, das sich nicht verständlich machen kann und nicht mitspielen darf. Das Angst hat, dass es stinkt.“ Türkin bleibt Türkin.

 „Schwarz-weiße Gegenwelten“

Irena Brežná ist 1968 als Achtzehnjährige aus der damaligen Tschechoslowakei in die Schweiz geflohen. Drastisch, unerbittlich schreibt Irena Brežná in „Die undankbare Fremde“. (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2012) über die Geschichte ihrer Einwanderung. Ihre erste Erfahrung: der zugewanderten jungen Frau wird der Name genommen, indem all die schönen Zusätze, Dächer und Akzente, die Namen in der mitgebrachten Muttersprache haben, ignoriert werden. Es wird mit längerem Aufenthalt noch schöner: „Die Einheimischen liebten es, die Fremden mit ihren Dialekten zu bewirten (…) Der Dialekt war der Geruch der Sippe, ihr Erkennungsmerkmal.“ Hilft die Flucht in die „Schriftsprache“?

Wer zuwandert, vor allem dann, wenn dies aus einem Land erfolgt, in dem das tägliche Überleben ständig bedroht ist, hat sich anzupassen und dankbar zu sein: „Sich von der Gemeinschaft abzukapseln, um mit schönen Dingen fremdzugehen, diesen Luxus konnte sich eine Gesellschaft leisten, in der das elementare Überleben nicht von anderen abhing.“ Dankbarkeit, das ist eine der Vokabeln, mit denen Einheimische Zu- und Eingewanderte gerne gefügig machen wollen, Dankbarkeit für geringste Leistungen des für ein Überleben Notwendigen, caritativ getarnt, im Subtext subtile Form von Miss- und Verachtung. Ein eigener Wille, eine eigene Persönlichkeit sind nicht gefragt.

Auf der anderen Seite entschuldigen sich die Schweizer*innen immer wieder, oft auch „schon präventiv“ in einer wortreichen „konjunktivreichen höfischen Sprache“. Dies belegt Irena Brežná mit einem kurzen Dialog zur Bitte, ein zugiges Fenster zu schließen. Auch diese Bitte ist Teil einer Sprache, die die „Fremde“ erst erlernen muss. „Die Einheimischen wussten nicht, dass das Leben ein Kampf ist, sie hatten eine sanfte Mitbürgerin erwartet, die auf ihre ständigen Ermahnungen unentwegt Entschuldigung murmeln würde.“

Aber nicht alle Verhaltensweisen werden einer Entschuldigung für wertgehalten. Sie werden ohne viel Federlesens durchgesetzt, ein Recht, das der „Fremden“ nicht zugestanden wird. Bei Nachbarn spielt sich ein „richtiges Vater-Sohn-Drama“ ab. Der Vater lebt „die Wirtschaft und das Militär“ als geradezu religiöse Pflicht, „ein einziger Glaubenskuchen“. „Als gewöhnlicher Füsilier mit Handgranate oder als Panzerabwehrlenkwaffensoldat hätte er die Versuchsratten in der Pharmaindustrie nicht befehlen dürfen. Karriere da, Karriere dort, das eine ging nicht ohne das andere.“ Der Sohn, der sich gegen diesen Vater auflehnt, hingegen „hat meine Diktatur zum Reich des Guten verklärt.“ Irena ist für ihn eine „Verräterin“. „Schwarz-weiße Gegenwelten. Meine farbige Erfahrung brauchten sie nicht.“

Dem kann sich die „Fremde“ nicht entziehen. Sie assimiliert die vorgefundenen und aufgezwungenen Eindeutigkeiten. „Schicht um Schicht lagern sich in meiner Persönlichkeit die kulturellen Erfahrungen ab. (…) Aus transformativem Handeln, nicht bloß aus dem Gefallen an einer neuen Kultur erwächst Identität. Und nicht jedes Wolfsrudel ist auch meines.“

Das Zufluchtsland hat seine eigene Staatssicherheit, die Gruppe der Zugewanderten richtet sich in ihrem Zuwanderungszustand ein, das „Volk der Fremden“, unabhängig davon, ob die Zugewanderten unter sich überhaupt eine einheitliche Gruppe bilden können. „Ich fand ein neues Wir. Da war sie, die Meinungsäußerungsfreiheit, Nicht per Gesetz garantiert, wir lebten sie im Untergrund wie in den Diktaturen, aus denen wir geflüchtet waren. Wir kosteten von den verbotenen Früchten der lästernden Erkenntnis und waren längst nicht mehr im Paradies. Wie es unter der polierten Oberfläche brodelte, gekränkte Gefühle, feindselige Gedanken schwirrten umher, der Aufruhr der Einwanderer braute sich zusammen und brach doch nie aus. Wir trugen den Protest nicht hinaus, er fand weder auf Tribünen noch auf Bildschirmen statt. Näherte sich uns ein Einheimischer, verstummten wir, als hörte ein Agent der Staatssicherheit mit. Wir setzten harmlose Mienen auf, geübt im Tarnen.“

Integrationsfolter

Es ist schon schwer, einen Begriff für die Menschen in Deutschland zu finden, die entweder nicht in Deutschland geboren sind oder einen Namen haben, der darauf verweisen könnte, dass sie in einem anderen Land geboren wurden. Begriffe wie „Migrationshintergrund“, „Zuwanderungsgeschichte“, „Fremde“, „interkulturell“, „multikulturell“, „transkulturell“, „türkischstämmig“, „türkeistämmig“ verraten die Hilf- und Sprachlosigkeit der Menschen, die sie benutzen. Und „Integration“? „Im Grunde birgt der Begriff Integration stets eine negative Diagnose.“ (Mark Terkessidis, Interkultur).

Integrationszwang, Gemeinschaftszwang,– werde so wie wir, ganz im Sinne des Kaspar in der Version Peter Handkes: „Ich möchte ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Die „Sprachfolter“, die Kaspar zuteilwird, schafft Ordnung, aber es ist nicht die Ordnung Kaspars: „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen.“ Was bleibt ist ein Zerrbild des göttlichen Ebenbildes, das der Mensch angeblich sein soll. Ein Tour de Force rund um den Satz „Ich bin, der ich bin“, endet im dreimaligen Beharren auf dem identitätsdefinierenden Satz schlechthin: „Ich bin, der ich bin. / Ich bin, der ich bin. / Ich bin, der ich bin.“ Dreimal krähte der Hahn.

Offenbar funktionieren so auch Schulen, die in der Regel das Spiegelbild oder – wenn man will – die Erfüllungsagentur der gesellschaftlichen Konventionen sind. Mark Terkessidis: „Die Rhetorik der Krise ist in Deutschland stets auch eine der Migration, da die Migration selbst als Krisensymptom gilt, Man redet nicht von einer allgemeinen Krise der Schule, die es dringend zu reformieren gilt, sondern von Kitas und Schulen, an denen der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bei 80 Prozent liegt. Doch solche Zahlen sagen überhaupt nichts aus – es sei denn, man nimmt an, die Zukunft dieser Kinder stehe bereits geschrieben.“ Priming eben.

Der Ausweg

Wer in seinem Viertel, in seiner Stadt bleibt, bleiben muss, hat kaum eine Chance. Dilek Güngör lässt Özlem am Schluss des Romans resignieren: „Ich bin zu müde, um Ordnung zu schaffen, selbst wenn ich in der Wohnung Ordnung schaffe, ordnet sich nichts in meinem Kopf. (…) Ich will hier sitzen und mir diese Bilder anschauen, mich in Ordnung fühlen, so wie ich bin. (…) Mit Zufriedenheit können Leute wie ich nichts anfangen.“

Irena Brežná findet eine Lösung. Sie reist, als Dolmetscherin für Schweizer Behörden, in ihrem Engagement für die Rechte von Frauen in Guinea, Tschetschenien und verschiedenen osteuropäischen Ländern. „Ich fing an, über die Grenzen zu gehen, um noch mehr Fremdheiten einzufangen, wechselte Sprachen, weitete den Blick. Nun lebte ich in vielen Fremdheiten.“ Allerdings ist das nur eine individuelle Lösung, die an der gesellschaftlichen Realität nichts ändert. Die bleibt wie sie ist: „Mit der häufigen Frage, woher ich käme, warf man mich hinaus. In der offensichtlichen Fremde all der Länder, die ich durchreiste, durfte ich fremd bleiben.“

Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham dokumentieren die Alternativen. Einerseits: „Wir sehnen uns nach einem Ort, an dem wir sein können, statt das Sein vorzuspielen.“ Doch diesen Ort gibt es offenbar nicht. Nicht nur in Deutschland, auch bei den Reisen in die Türkei, nach Polen oder nach Vietnam erfahren die Autorinnen Fremdheit. Andererseits: sie sind alle drei – wie Irena Brežná – privilegiert, aufgrund ihrer vielfältigen Erfahrungen und ihrer Freiheit, das Erfahrene in der (Er-)Kenntnis verschiedener Weltregionen zu reflektieren: „Wir neuen Deutschen lernen erst gerade, mit unserer Identität zu spielen. Wir sehen die Möglichkeiten, die sie uns bietet. Das haben wir unseren Eltern voraus.“ Das Privileg zu reisen, Grenzen (fast) beliebig zu überschreiten, sich an unterschiedlichen, oft weit auseinander liegenden Orten zurecht zu finden, die Welt ihrer Eltern zu transzendieren – all dies haben die Menschen nicht, die kaum eine Chance haben, den Stadtteil, das Dorf, in dem sie gestrandet sind, zu verlassen. Sie bleiben die „Fremden“. Fremd bleibt fremd.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im August 2019.)