Dialogpolitik – eine konkrete Utopie?

Ein Gespräch mit der Bundestagsabgeordneten Lamya Kaddor

„Nur in der Auseinandersetzung mit anderen können wir den Faden der personalen Identität aufnehmen und flechten. In dieser Abhängigkeit von anderen, durch die sich die eigene Identität erst findet und immer wieder neu ausrichtet, besteht unsere Verletzbarkeit als sprachliche Wesen.“ (Carolin Emcke, Weil es sagbar ist – Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2013))

Dialog im Respekt vor dem Gegenüber, Bereitschaft zu konstruktivem Streit, Klarheit in den Aussagen, fachliche Expertise und Souveränität – dies zeichnet das Engagement der Islamwissenschaftlerin, Publizistin und Pädagogin Lamya Kaddor aus. Im September 2021 wurde sie in den Deutschen Bundestag gewählt. Sie wurde 1978 in Ahlen (Westfalen) geboren und lebt in Duisburg. In Nordrhein-Westfalen engagierte sie sich in einem Programm des Kommunal- und Heimatministeriums als Heimatbotschafterin. Im August 2021 habe ich mit ihr über Entwicklungen des Islam in Deutschland gesprochen, die sie als eine der Gründerinnen des Liberal-Islamischen Bundes mitgestaltet. Unser zweites Gespräch vom Mai 2022, das hier dokumentiert wird, betraf ihre neuen Funktionen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag.

Im Deutschen Bundestag ist sie als innenpolitische Sprecherin Nachfolgerin der zur Parlamentarischen Geschäftsführerin der Fraktion von Bündnis 90 / Die Grünen gewählten Irene Mihalic. Darüber hinaus ist sie stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und religionspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. In ihren Presseerklärungen als Bundestagsabgeordnete äußert sie sich profiliert und dezidiert zu Menschenrechten, zuletzt in Syrien und im Iran, zu Terroranschlägen auf israelische Zivilist*innen sowie zu dem im irakischen Parlament beschlossenen Kontaktverbot gegenüber Israelis.

Innen- und Außenpolitikerin

Norbert Reichel: Als Bundestagsabgeordnete pendelst du zwischen Duisburg und Berlin. Im Berliner Hauptbahnhof sah ich jetzt sehr auffällige und ansprechende Werbung für die Stadt Duisburg.

Lamya Kaddor: Ich steige immer am Ostbahnhof aus, habe das daher noch gar nicht gesehen, aber ich wohne gerne in Duisburg.

Selfie auf dem Tempelberg

Norbert Reichel: Ein Schwerpunkt deiner Arbeit ist die Tätigkeit als innenpolitische Sprecherin.

Lamya Kaddor: Das ist eine meiner Tätigkeiten, aber ich habe darüber hinaus einen Sitz als stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und bin in dieser Funktion Sprecherin für den Nahen Osten. Diese Funktion kommt im Grunde einem Vollsitz gleich, gerade angesichts der Vielfalt der Länder dieser Region.

Innenpolitisch ist es schon etwas Besonderes, in Regierungsverantwortung zu arbeiten, auch wenn das Innenministerium selbst nicht von den Grünen geleitet wird. Das macht Abstimmungsprozesse komplizierter und ist auch mit mehr Verantwortung behaftet. Aus der Opposition heraus ist Politik vor diesem Hintergrund doch etwas einfacher. Man kann sie frecher und offensiver gestalten. Koalitionsgespräche zwischen drei Fraktionen machen manches langwieriger. Allerdings haben wir auch eine Innenministerin, die das Herz an der richtigen Stelle hat.

Am Anfang meiner Zeit im Bundestag war die Corona-Politik das Hauptthema. Wir haben im Dezember das Infektionsschutzgesetz verabschiedet. Dieses Thema rückte Ende Februar durch den russischen Angriff auf die Ukraine schlagartig in den Hintergrund. Aus innenpolitischer Sicht stellt sich jetzt die Frage, ob wir im Zivil- und Katastrophenschutz gut genug aufgestellt sind. Haben wir genügend funktionierende Bunker, genügend funktionierende Sirenen, wie gut ist das THW ausgestattet? Natürlich auch die Frage rund um Migration, Geflüchtete, die Aufnahme von Menschen aus der Ukraine. Diese Frage ist seit dem 24. Februar 2022 omnipräsent. Ebenso wie die Fragen zu Cyberkriminalität und Desinformationskampagnen, die wir zu erwarten haben, die schon längst da sind. Das sind im Grunde die großen Themen, mit denen ich mich als innenpolitische Sprecherin derzeit beschäftige. Hinzu kommt das Dauerthema Rechtsextremismus. So oft lesen wir in den Medien, dass beispielsweise irgendein Soldat mit seinem Arsenal, das er irgendwo gebunkert hat, aufgeflogen ist. Der Rechtsextremismus ist für die Innere Sicherheit von zentraler Bedeutung, der Islamismus zurzeit nicht mehr in dem Maße, obwohl er dennoch ebenso omnipräsent ist.

Davon trennen möchte ich meine eigene Zuständigkeit in der AG Innen der Bundestagsfraktion. Meine eigene Zuständigkeit liegt natürlich stark beim Islamismus, aber eben auch beim Umgang mit Opfern terroristischer Gewalt. Wie gehen wir als Staat mit Hinterbliebenen terroristischer Gewalt um? Hinterbliebene des Terroranschlags vom Breitscheidplatz in Berlin haben Schlimmes erzählt, wie der Staat mit ihnen umgegangen sei. Wie kann man, wie sollte man damit umgehen, kann man ein Protokoll, Verfahrensregeln dazu entwickeln? Natürlich bin ich auch der politischen Bildung treu geblieben. Ich habe die Zuständigkeit für die Bundeszentrale für politische Bildung, habe dort einen Sitz im Kuratorium. Schließlich der große Bereich als religionspolitische Sprecherin, der lag vorher nicht im Aufgabenbereich der innenpolitischen Sprecherin. Dazu gehören die Deutsche Islamkonferenz, die Staatsleistungen für Kirchen, jüdisches Leben sichtbarer machen und stärken.

So weit das Potpourri der innenpolitischen Themen. Zur Außenpolitik: hier geht es in meiner Arbeit nicht nur um die Staaten der arabischen Halbinsel, den Oman, den Jemen, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Bahrein, auch um Jordanien, den Libanon, Syrien, den Irak. Auch der Iran, der schon ein eigenes Thema wäre, gehört dazu, natürlich Israel und der Nahost-Konflikt. Das ist schon ein großes Feld.

Norbert Reichel: Ich lese regelmäßig deine Presseerklärungen, verweise auch gelegentlich darauf, zuletzt im April 2022 im Hinblick auf Angriffe auf israelische Zivilist*innen und auf Entwicklungen in Syrien. Vor wenigen Tagen hast du eine Presseerklärung zum am 21. Mai 2022 drohenden Vollzug des Todesurteils gegen den iranisch-schwedischen Wissenschaftlers Ahmad Reza Jalali veröffentlicht. Welchen Einfluss hat man als Bundestagsabgeordnete bei solchen humanitären Anliegen?

Lamya Kaddor: Zu Ahmad Reza Jalali: er wurde am 21. Mai nicht hingerichtet. Der Einfluss einer Abgeordneten ist nicht gering, aber er ist auch nicht weltbewegend. Es kommt auch darauf an, um welche Konflikte es sich handelt. Es ist schwer abzuschätzen, ob eine Presseerklärung der zuständigen Berichterstatterin dort ankommt, worauf sie zielt. In dem Fall hat sich kein Vertreter der iranischen Botschaft gemeldet.

Norbert Reichel: Das hätte ich auch für unwahrscheinlich gehalten, es sei denn, die Botschaft hätte das Lied von der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten des von ihr vertretenen Landes gesungen. Keine Reaktion war vielleicht sogar hier die günstige Variante.

Lamya Kaddor: Mag sein. Ich denke schon, dass solche Erklärungen wahrgenommen werden. Gerade im Nahen Osten, in Israel und in den palästinensischen Gebieten gibt es seit Wochen Auseinandersetzungen, zuletzt um den Tod der Journalistin Shireen Abu Akleh. Ich habe darüber mit dem palästinensischen Gesandten in Deutschland und dem israelischen Botschafter gesprochen. Im vertraulichen Gespräch lässt sich schon einiges ansprechen.

Norbert Reichel: Man twittert es nicht gleich herum.

Lamya Kaddor: Genau das ist es. Ich werde oft von Menschen, die aus dem Nahen Osten stammen, angesprochen, von denen manche meinten, ich würde jetzt eine konfrontative Politik machen. Ich werde gefragt, was macht denn die Regierung Israels, oder was macht hier die Hamas? Das beantworte ich auch kritisch, aber es ist absurd anzunehmen, dass ich alles kommuniziere, was ich berede. Das macht eigentlich auch niemand. Es muss einen geschützten Raum geben. Da muss ich mich der Kritik stellen, aber das Allermeiste findet im geschützten Raum statt.

Pro-palästinensisch und pro-israelisch – das ist kein Widerspruch

Jerusalem

Norbert Reichel: Wie schwierig die Situation ist, zeigt eine jüngste Entscheidung des irakischen Parlaments. Ich darf deine Presseerklärung vom 27. Mai 2022 zitieren: Die Entscheidung des irakischen Parlaments, die Kontakte zu Israel unter Strafe zu stellen, ist ein verheerendes Signal für die gesamte Region. Während andere arabische Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, der Sudan, Bahrain und Marokko durch die „Abraham Accords“ politisch wie auch wirtschaftlich mit Israel eine historische Normalisierung der Beziehungen eingeleitet haben, entschieden sich die irakischen Parlamentarier*innen am Donnerstag einstimmig für das Gegenteil. Demnach ist es allen Iraker*innen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes verboten, Beziehungen zu Israel aufzubauen, das Land zu besuchen oder die Normalisierung zu fördern. Die Verabschiedung dieses Gesetzes gefährdet den Frieden, da es zum Ziel hat, die Normalisierung der Beziehungen mit Israel in der Region zu untergraben. Die Entscheidung fällt in eine Zeit zunehmender Eskalation zwischen Israel*innen und Palästinenser*innen, die in die gesamte Region ausstrahlt. Auch Israel muss Schritte unternehmen, um die angespannte Lage zu beruhigen und zum Beispiel den Tod der US-palästinensischen Journalistin Shirin Abu Akleh endgültig aufzuklären sowie weitere Provokationen radikaler Gruppen an den heiligen Stätten Ost-Jerusalems zu vermeiden. Eine langfristige Annäherung zwischen Israel und der arabischen Welt kann nur durch Vertrauen, Wahrung der Menschenrechte und gemeinsame Friedensinitiativen gelingen. Dabei darf die Sicherheit und das Existenzrecht Israels nicht kompromittiert werden, für die wir eine besondere historische Verantwortung haben.“

Konkret zum Fall des Todes von Shireen Abu Akleh, der wohl als Anlass zu diesem Beschluss missbraucht wurde: ich habe den Eindruck, dass die israelische Seite großes Interesse an einer Aufklärung hat, sie hat die Herausgabe der tödlichen Kugel erbeten, doch dies wurde von der palästinensischen Seite abgelehnt. Natürlich stellt sich auch immer die Frage, wenn eine Kugel übergeben und untersucht würde, ist es tatsächlich die tödliche Kugel, um die es geht? Letztlich ist es schwer, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, sodass Emotionen über den weiteren Verlauf des Konflikts entscheiden, auch unabhängig davon, was israelische Regierung und palästinensische Autonomiebehörde tun.

Lamya Kaddor: Auf beiden Seiten – das habe ich in den letzten Tagen immer wieder in meinen vielen Gesprächen erfahren – besteht wenig Vertrauen. Keine der beiden Seiten vertraut der anderen. Das haben sie alle gemein. Das prägt den gesamten Konflikt. Seit Jahren. Seit Jahrzehnten. Deshalb ja, die Israelis sind bemüht, die Palästinenser trauen der israelischen Regierung nicht, dann sollte es eine unabhängige Kommission machen, das wollten wiederum die Palästinenser nicht.

Die Bilder des Begräbnisses haben mich schockiert. Man sollte tunlichst vermeiden, solche Bilder zu produzieren. Das ist einfach würdelos. Das ist zu weit gegangen. Und trotzdem – das möchte ich auch sagen: wir bewegen uns in einem Diskursraum, in dem man sehr schnell von Antisemitismus redet, von pro Palästina oder pro Israel, von israelbezogenem Antisemitismus, wo man schnell durch eine Positionierung Entweder-oder in einem solchen Diskurs landet. Das halte ich auch für schwierig. Alle, die jetzt rufen, da wurde eine palästinensische Journalistin kaltblütig ermordet, obwohl sie als Pressevertreterin deutlich zu erkennen war, möchte ich auch sagen: in Mexiko werden jeden Tag Journalist*innen ermordet, jeden Tag. Mexiko ist – so die Organisation Reporter ohne Grenzen – das gefährlichste Land für Journalist*innen. Das bekommen wir hier gar nicht mit.

Norbert Reichel: Mexiko ist in der Tat ein ganz besonders heftiger Fall. Nicht nur im Hinblick auf Journalist*innen. In Ciudad Juárez wurden Tausende von Frauen ermordet. Gezielter Femizid. Und aufgeklärt wird so gut wie nichts.

Lamya Kaddor: Natürlich kann man das eine nicht mit dem anderen vergleichen. Aber es ist zumindest ein Fünkchen Wahrheit drin, warum uns dieser Teil der Welt so sehr interessiert und alles, was im Nahen Osten passiert, so symbolisch aufgeladen wird. Das hat seine Gründe, in der Dauer des Konflikts, und in der Frage, warum sich der Konflikt nicht lösen lässt, aber man muss auch sagen: alle beteiligten Seiten instrumentalisieren auch sehr schnell. Es ist für mich einfach das zu sagen, es ist nun einmal sehr schwierig, aber es täte allen Seiten nur gut, eine kritische Distanz zu sich selbst zu bekommen. Jeden Tag erreichen uns Nachrichten von ermordeten Journalist*innen in Mexiko und das wird hier in Deutschland nicht einmal wahrgenommen. Zuletzt noch am 10. Mai 2022.  

Norbert Reichel: Der Nah-Ost-Konflikt wird auch in Deutschland bemerkenswert emotional diskutiert. Ich wurde beispielsweise gefragt, ob ich bei meinen doch sehr pro-israelisch gehaltenen Texten kritische Rückmeldungen erhielte, konnte aber sagen, dass dies nur selten der Fall wäre, weil ich nicht auf den sozialen Netzwerken unterwegs war. Einen Fall hatte ich vor einiger Zeit aus dem Kontext der Partei, der wir beide angehören. Jemand wollte mir erklären, dass BDS nicht antisemitisch wäre, allerdings anders als man es vielleicht erwartet in friedlichen Worten, relativ unaufgeregt. Diese Diskussion ist in Deutschland aufgeladen, in manchen Ländern wohl noch heftiger, so beispielsweise in Großbritannien. Ich halte es für kaum leistbar, diese emotionalen Diskussionen aufzulösen.

Jerusalem, Grabeskirche

Lamya Kaddor: Das ist auch wirklich schwierig. Jede*r von uns ist in diesem Kontext angefixt. Gerade wenn man sich als gläubiger Mensch versteht. Jerusalem ist für alle drei monotheistischen Religionen eine der heiligsten Stätten, im Judentum, im Christentum, im Islam. Natürlich bewegt das. Und doch muss man nach Jahrzehnten des Konflikts mit unzähligen Opfern versuchen, objektiver auf die Sache zu schauen. Ich erfahre auch, dass viele Erwartungen an mich als arabischstämmige Abgeordnete geknüpft werden. Ich müsste dann doch automatisch pro-palästinensisch sein, gegen den Staat Israel eingestellt. Ich erkläre dann, ich bin zwar pro-palästinensisch, aber ich bin auch pro-israelisch. Das bekommen viele nicht zusammen. Hier muss ich viel Aufklärungsarbeit leisten. Da gibt es viele Erwartungen, ich möchte nicht sagen Erwartungsdruck, aber eine Erwartungshaltung. Da muss ich ein bisschen bremsen. Ich muss ja schauen, mit wem kann man sprechen, mit wem eher nicht, mit wem sollte ich was besprechen, worüber sollten wir lieber nicht spreche? Das braucht eine Weile. Ich habe – so denke ich – einen ganz guten Draht zu beiden Seiten.

Nächste Woche werde ich meine erste Nahost-Reise als Bundestagsabgeordnete antreten, mit Beginn in Israel und in den palästinensischen Autonomiegebieten. Das komplette Programm steht noch nicht fest. Ramallah, vielleicht auch Bethlehem, auf jeden Fall Jerusalem. Ich möchte mir auch ein eigenes Bild von Scheich Dscharrah machen. Ich werde in der Knesset sein, mit Meretz sprechen. Ich gehe dort auch als religionspolitische Sprecherin hin, es geht um den Dialog zwischen den Religionen. Es geht nicht nur um das, was unterschiedliche Positionen betrifft, sondern auch um Gemeinsames. Das ist vielleicht auch viel wichtiger. Insofern steht ein Besuch an der Klagemauer an, ein Besuch auf dem Tempelberg. Ich würde auch gerne die Grabeskirche besuchen. Ich weiß nicht, ob das alles klappt, gerade aus Gründen der Sicherheit.

Norbert Reichel: Bei allen Debatten gibt es Kuriosa wie die Leiter, die von außen vor der ersten Etage der Grabeskirche zu sehen ist und die niemand verrücken darf, weil nicht geklärt werden kann, wer sie dahingestellt hat. Vielleicht ein treffendes Symbol für die Unversöhnlichkeiten und das fehlende Vertrauen, so unscheinbar die Leiter als Gegenstand ist.

Lamya Kaddor. Ich war schon da. Das ist vielleicht ein Vorteil. Ich bin auch nicht nur in Israel und in Palästina. Ich fahre nach Abu Dhabi, nach Katar und dann in den Libanon.

Norbert Reichel: Im Libanon hatten jetzt bei den Wahlen eine überraschend hohe Zahl von Kandidat*innen Erfolg, die nicht zu den üblichen Verdächtigen der libanesischen Politik gehören. Wirst du mit ihnen sprechen?

Libanon

Lamya Kaddor: Das haben wir vor. Im Libanon gibt es so viele Anknüpfungspunkte, zum Beispiel die Migration. Es gibt Bestrebungen, die syrischen Geflüchteten loszuwerden. Man will sie nicht mehr. Das hört man in der Türkei immer wieder auch von Erdoğan. Die Hafenexplosion, die wirtschaftliche Lage, jetzt der Ukrainekrieg mit seinen verheerenden Auswirkungen auf die Ernährungssituation. Libanon ist in hohem Maße abhängig von den Weizenlieferungen aus der Ukraine. Im Libanon bleibe ich auch ein wenig länger als an den anderen Orten. Es wäre sehr wichtig, den Libanon zu stabilisieren und dafür zu kämpfen.

Norbert Reichel: Du kannst in den wenigen Tagen nicht die Probleme lösen, aber wichtige Signale setzen. Dazu gehört auch die Anerkennung aufgrund deines – so sage ich es mal – migrantischen Images, sodass deine Gesprächspartner*innen erfahren, dass Migrant*innen in Deutschland etwas zu sagen haben.

Lamya Kaddor: Das geht in beide Richtungen. Ich kenne das ja, dass mich viele in eine Schublade stecken wollen, gerade in den Debatten um den Islam. Aber es ist schon eine Genugtuung, es macht mir Freude zu erleben, wenn Leute erfahren, dass man mich in die falsche Schublade gesteckt hat. Was macht sie denn jetzt da im Nahen Osten? Welche Themen spricht sie an? Das ist eine große Chance. Ich werde nicht allen Erwartungen entsprechen. Aber als Grüne habe ich aus meinen Gesprächen mit den Botschaftern aus dem Nahen Osten – ich habe mit allen gesprochen – viel positives Feedback erhalten. Bisher sind die Grünen in diesem Themenfeld nicht so übermäßig präsent gewesen.

Norbert Reichel: Mit Ausnahme von Joschka Fischer in seiner Zeit als Außenminister, aber das ist schon lange her.

Lamya Kaddor: Es wird sehr positiv wahrgenommen, dass jemand sich darum kümmert, der sich auskennt, der aus dem Kulturkreis kommt, dafür bekannt ist, auf Dialog zu setzen, Brücken bauen möchte. Inzwischen weiß ja auch fast jede*r, dass meine Kinder im jüdischen Kindergarten waren.

Norbert Reichel: Du gibst ein Beispiel für muslimisch-jüdischen Dialog.

Lamya Kaddor: Vielleicht auch im Sinne von Schalom Aleikum.  

Die Kunst des Überblicks

Norbert Reichel: Wir haben mit Annalena Baerbock eine Außenministerin, die sich feministische Außenpolitik zum Programm gemacht hat. Wir wissen, dass vor allem Frauen und Kinder in ganz besonderem Maße von den Konflikten in dieser Welt belastet sind. Die aus der Ukraine Geflüchteten sind vor allem Frauen und Kinder, die alles aufgegeben haben, die nicht wissen, ob sie ihre Männer, ihre Väter wiedersehen werden.

Lamya Kaddor: Meine inhaltliche Arbeit in der Außenpolitik hat drei Vorzeichen: einmal die Menschenrechte, meines Erachtens typisch für die Grünen, die Frage von Minderheiten, gerade im Nahen Osten, der ein Konglomerat von vielen verschiedenen Ethnien ist, die es auch immer wieder geschafft haben, miteinander zu leben, und die Frauenfrage. Das sage ich auch als Islamwissenschaftlerin. Ich möchte vor Ort mit Frauen sprechen, die in ihrem Wirkungskreis diese Anliegen vorantreiben. Ich glaube, das wird zu wenig gesehen, das wird ein Schwerpunkt meiner Reise. Ich habe bewusst gesagt, dass ich solche Initiativen treffen möchte. Und natürlich die Dialoginitiativen. Das vierte ist die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit: Bekämpfen der Desertifikation, Aufbereitung von Trinkwasser, Erneuerbare Energien.

Norbert Reichel: Ich habe vor wenigen Tagen auf arte eine Dokumentation über jordanische Boxerinnen gesehen. Sie zeigt junge Frauen, die oft genug gegen Widerstände ihrer Familien durchsetzen, dass sie boxen dürfen, mit jungen Männern gemeinsam trainieren dürfen. Das gefällt nicht allen, aber es zeigt, wie diese jungen Frauen ihr Selbstbewusstsein über diesen Sport entwickeln. Das Boxen hat bei uns oft einen eher halbseidenen Ruf mit Hang zur kriminellen Szene. Das gibt es natürlich. Für Jugendliche ist es meines Erachtens aber auch eine Chance, den eigenen Körper kennenzulernen, lernen, was Kraft bedeutet, was man damit anrichten kann, Gewalt, die eigenen Aggressionen zu beherrschen, Fairness und Selbstdisziplin einzuüben, sich zurückzunehmen und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Es gibt gute Programme gerade in Verbindung mit Jugendsozialarbeit. In deutschen Schulen ist Boxen als Schulsport leider nicht zugelassen. Ich denke, das ist für junge Frauen gerade in männlich dominierten Ländern eine große Chance.

Lamya Kaddor: Auch im Iran ist das ein großes Thema. Auch Fußball. Ob Frauen Fußball spielen dürfen, ob sie ins Stadion dürfen.

Norbert Reichel: Das Thema des Films „Offside“ von Jafar Panadi aus dem Jahr 2006.

Beirut, Libanon

Lamya Kaddor: Beispiele und Themen gibt es genug. Die Schwierigkeit ist eher, sich auf Themen zu konzentrieren. Ich sehe meine Aufgabe nicht im Kulturdialog – auch wenn das sicherlich wegen meiner Person schon automatisch mitläuft. Ich mache Politik, wie gesagt, vor allem mit den drei Schwerpunkten: Dialogpolitik, Frauenpolitik als feministische Außenpolitik, Menschenrechte und Minderheiten, inbegriffen natürlich auch Fragen rund um den Islamismus, zum Beispiel im Irak, wo viele Leute im Gefängnis sind. Und vor kurzem in Israel gab es einen Anschlag, den der IS für sich in Anspruch nahm. Bisher verband man den IS nicht unbedingt mit Israel.

Norbert Reichel: Im Sinai gibt es eine IS-Zelle, die bereits mehrfach durch Terroranschläge auf sich aufmerksam machte, aber das liegt in Ägypten. Gegenstand war das Thema in der zweiten Staffel von Fauda, immerhin somit schon Teil der Populärkultur. Das ist zumindest ein Anzeichen für die Befürchtungen in der Bevölkerung. Ich fand gerade die Darstellung der Frauen in Fauda bemerkenswert, auf der palästinensischen Seite wie auf der israelischen. Männer dominieren, Männer bestimmen die Agenda. Frauen haben kaum Einfluss, es sei denn sie passen sich den männlichen Mustern an wie die israelische Kämpferin Nurit oder die Selbstmordattentäterin Amal, die zu Beginn der ersten Staffel ihren bei einem misslungenen Einsatz des Teams getöteten Mann rächt.

Lamya Kaddor: Das ist natürlich ein Thema, ob es dem IS gelingen könnte, Leute in der Region zu rekrutieren, was ihnen eigentlich relativ leichtfallen dürfte. Das sind die Sicherheitsfragen: was geschieht im Jemen, was in Saudi-Arabien, was in Syrien? Aus Syrien ziehen sich die Russen offenbar mehr und mehr zurück, nimmt der Iran jetzt den Platz ein? Letzte Woche gab es wieder einen Zwischenfall, die Israelis bombardierten eine iranische Stellung in Syrien, und zum ersten Mal schossen die Russen zurück. Das sollte ein einmaliger Fall bleiben, aber das ist im Grunde nach wie vor ein Pulverfass. Auch die Vorstellung Erdoğans, eine Million zurzeit noch in der Türkei lebende Syrer*innen in der Region um Afrin anzusiedeln, all das bedürfte mehr Aufmerksamkeit. Es ist im Grunde ein Fulltime-Job, alleine den Nahen Osten zu screenen.

Norbert Reichel: Ich bewundere immer Journalist*innen, die wie beispielsweise Lea Frehse für die ZEIT von Beirut aus die gesamte Region von Casablanca bis Teheran überblicken soll. Ist das überhaupt möglich?

Lamya Kaddor: Das ist schwierig. Mein Vorteil: ich screene den Nahen Osten seit etwa zwanzig Jahren. Man hat immer wieder Bewegungen auf dem Schirm, weiß ein paar Dinge. Seit einem halben Jahr lese ich regelmäßig die Morgenlage des Auswärtigen Amts. Das kostet in der Regel etwa ein bis zwei Stunden, um sich auf dem Laufenden zu halten. Es geht nicht nur ums Lesen, man muss sich auch fragen, was bedeutet das, beispielsweise wenn sich gerade einmal der türkische mit dem saudi-arabischen Außenminister trifft. Das muss man alles einordnen können. Das kann ich in meiner Tätigkeit als innen- und religionspolitischen Sprecherin nicht andauernd auf dem gleichen Niveau aufrechterhalten.

Manche Migrant*innen sind gleicher als andere Migrant*innen

Norbert Reichel: Eines deiner Themen war schon vor deiner Kandidatur für den Deutschen Bundestags die Migration. Wir haben vor Kurzem gesehen, was am Berliner Hauptbahnhof los war, als die Menschen aus der Ukraine dort ankamen. Mein Eindruck war, dass die Aufnahme ganz gut organisiert war, auch wenn der Berliner Senat daran vielleicht nicht so viel Anteil hatte. Jetzt habe ich den Eindruck, dass – vorsichtig formuliert – ukrainische Geflüchtete gegenüber Geflüchteten aus außereuropäischen Ländern auf der Überholspur sind. Nur ein Beispiel: Arbeitserlaubnisse für ukrainische Geflüchtete werden schnell erteilt, während andere seit Jahren darauf warten oder ihre Anstellungsträger sich alle paar Monate um eine Verlängerung bemühen müssen. Das gehört meines Erachtens auch in die Zuständigkeit des Innenministeriums. Es geht um Gleichbehandlung von Geflüchteten – ich entschuldige mich für dieses furchtbare Wort, aber es trifft den Kern.

Lamya Kaddor: Darauf habe ich auch aufmerksam gemacht. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als würden wir Menschen, die geflüchtet sind und bei uns Schutz suchen, unterschiedliche Formen von Schutz anbieten. Langsam aber sicher bekomme ich das Gefühl, dass es nicht gleich gut läuft. Es gibt unterschiedliche Gründe: der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist für uns eindeutiger zu beschreiben, es ist eindeutig, wer der Aggressor ist und wer der Angegriffene, wer Opfer ist. Daraus speist sich eine gewisse Hilfsbereitschaft. In Syrien sah das anders aus.

Qatar

Die geographische Nähe hat auch etwas mit emotionaler Nähe zu tun. Die Ukraine ist uns gesellschaftlich näher. In Syrien ist die Lage auch erheblich komplizierter. Da kämpft ein Machthaber gegen sein eigenes Volk. Es gibt keinen ausländischen Aggressor, gegen den man sich verteidigen müsste, sondern einen Machthaber, der sich ausländische Hilfe gegen sein eigenes Volk holt, aus Russland, aus dem Iran, die Söldnergruppe Wagner und andere Milizen. Dann haben wir noch die Türkei, die den Nordosten Syriens besetzt. Hinzu kommt zwischenzeitlich auch Saudi-Arabien. Das macht es viel komplizierter, nach Freund-Feind-Schema zu bewerten. Syrien ist weiter weg, die Menschen sehen anders aus. Und man darf nicht vergessen: hier prägen ukrainische Frauen mit ihren Kindern und Haustieren das Bild von Geflüchteten, dort sind es Männer, junge Männer, die von vielen per se als Kriminelle gesehen werden.

Norbert Reichel: Siehe die Kölner Silvesternacht. Von einem Tag auf den anderen kippte die Stimmung. Die Willkommenskultur des Herbstes 2015 kam zu einem Ende, auch als politisches Narrativ.

Lamya Kaddor: Genau so. Ich rechtfertige nichts, ich erkläre nur, warum es zu einer Ungleichbehandlung kommt. Aber ich denke jetzt auch an die KMK. Natürlich ist es gut, dass Ukrainer*innen nach der Massenzustromrichtlinie der EU kein Asyl beantragen müssen. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zur früheren unions-geführten Regierung. Ukrainer*innen haben damit andere Rechte als diejenigen, die nicht unter diese Richtlinie fallen. Andererseits aber: warum beschloss die KMK, dass ukrainische Schüler*innen hier studieren dürfen, obwohl sie keinen Abschluss haben? Ich finde es richtig, dass wir helfen, wenn jemand in Not ist. Aber wir haben auch viele andere Geflüchtete, die ihre Schullaufbahn nicht abschließen konnten, die keinen Abschluss machen konnten. Warum wurde denen das nicht angeboten? Ich kenne viele Lehrerkolleg*innen aus meiner Zeit als Lehrerin. Sie berichten von den Jugendlichen und Kindern, die warten mussten und erleben, dass Schulen jetzt ukrainische Kinder und Jugendliche aufnehmen, die anderen aber nach wie vor warten müssen. Das verstehe ich nicht. Da sage ich: das ist Ungleichbehandlung. Das habe ich auch mehrfach erwähnt. Ich glaube, man ist sich inzwischen des Problems bewusst.

Norbert Reichel: Hört man es sich an und moderiert es dann ab?

Lamya Kaddor: Ja und nein. Es ist schon ein Problembewusstsein da, aber es wird viel mit Artikel 24 der EU-Massenzustromrichtlinie argumentiert.

Norbert Reichel: Warum trifft die auf Syrer*innen nicht zu?

Lamya Kaddor: Weil sie damals nicht in Kraft gesetzt wurde. Die wurde damals auch bei den Bosnier*innen nicht in Kraft gesetzt.

Norbert Reichel: Es fehlt also nur der politische Wille.

Lamya Kaddor: Das hat viel damit zu tun. Ich besuche seit Längerem Kommunen, Unterkünfte für Geflüchtete. Die Kommunen haben viel gelernt: wie registrieren wir, was geschieht dann, was in welcher Abfolge? Erkenntnisgewinn, Lernerfahrung. Das kommt den Ukrainer*innen heute natürlich auch zugute. Kommunen, Schulen, die Ämter wissen inzwischen, wie es geht. Das ist aber nun auch ein Präzedenzfall, wenn irgendwann noch einmal andere Menschen nach Deutschland einwandern müssen, weil sie fliehen müssen, wird man sich darauf berufen können, was wir heute im Ukraine-Krieg möglich gemacht wurde. Es ist doch das, was wir uns immer gewünscht haben, unkompliziert, dynamisch, um auf bestimmte Notstände eingehen zu können und nicht immer behäbig hintendran zu sein, also quasi in der Krisensprache gesprochen: vor die Welle zu kommen und nicht dahinter.

Lange weggeschaut – viel zu lange

Norbert Reichel: Ich kann mir gut vorstellen, dass noch so manche aus Afrika nach Europa kommen werden, nicht nur angesichts der Klimakrise, auch wegen des durch den Ukrainekrieg absehbaren Zusammenbruchs der Nahrungsmittelversorgung in verschiedenen Ländern. Ich nenne nur Kenia oder den Libanon, die fast komplett von Weizenlieferungen aus Russland und der Ukraine abhängig sind. Vielleicht bleiben die Flüchtenden vorerst in Nachbarländern, aber irgendwann kommen sie auch bei uns an. Ich denke an das Buch „Move – Das Zeitalter der Migration“ von Parag Khanna (deutsche Ausgabe 2021 in Berlin bei Rowohlt), der ein Szenario für eine Erderwärmung von vier Grad vorstellt. Ganze Regionen in Afrika, in Asien, in Südeuropa werden unbewohnbar.

Lamya Kaddor: Wir sehen es doch gerade an Indien, was da los ist. Die Leute sterben in der Hitze von fast 50 Grad Celsius. Und was geschieht im Irak, in Syrien? Diese Länder werden immer häufiger von schlimmen Sandstürmen erfasst. Die Menschen können nicht mehr auf die Straße, weil sie zu ersticken drohen. Du kannst nicht mehr einkaufen, nichts mehr machen. Das sind Dinge, die uns beschäftigen sollten, Desertifikation in großen Teilen der Region, in Afrika, wir werden Klimaflüchtlinge haben, die hier einwandern werden. Es ist gut, dass wir eine bestimmte Praxis haben, aber wir dürfen keine Ungleichbehandlung zulassen, denn dann hätten wir ein rechtsstaatliches Problem.

Norbert Reichel: Und ein humanitäres.

Gegenüber von Lamya Kaddor die Energieministerin der Vereinigten Arabischen Emirate

Lamya Kaddor: Das sowieso. Dieser Krieg ist ja auch aus einem gewissen Überraschungsmoment zu bewerten. Es hat kaum jemand geglaubt, dass Putin das macht. Nur wenige andere, ich gehörte allerdings dazu, haben einen russischen Angriff auf die Ukraine für durchaus möglich gehalten. Wer Syrien zehn Jahre lang verfolgt hat, weiß genau, was dieser Mann, was Putin zu tun vermag und wie skrupellos er vorgeht. Er hat in Syrien ganze Landstriche dem Erdboden gleich gemacht. Es sind Menschen in Lagern, die nichts mehr zu essen haben und deshalb Gras und Katzen essen müssen. Das ist für Syrer ein Frevel, Katzen zu essen. Mich hat es definitiv nicht überrascht, dass Putin einmarschiert ist. Viele Politiker*innen haben indes in Syrien weggeschaut.    

Norbert Reichel: Es hat sie auch nicht interessiert. Libyen ist ein weiterer Fall, wo niemand richtig hinschaut.

Lamya Kaddor: Vielleicht ist es auch das schlechte Gewissen, wir können es uns nicht wieder leisten, in einem globalen Konflikt auf der falschen Seite zu stehen. Was auf dem Mittelmeer los ist, interessiert uns ja weiterhin nicht.

Norbert Reichel: Die tödlichste aller Grenzen.

Lamya Kaddor: Und nach wie vor fliehen Menschen über das Mittelmeer, nach wie vor haben wir das Schleuser-Problem nicht im Griff. Fabrice Leggeri, der Chef von FRONTEX, musste Gott sei Dank gehen. Das ist alles sehr unbefriedigend. Lösungen lassen sich nur im europäischen Kontext umsetzen. Gut ist natürlich, dass es jetzt mit Blick auf die Ukraine eine europäische Solidarität gibt, wie es sie vorher nicht gab – das sage ich auch als Innenpolitikerin. Sie bröckelt manchmal, aber sie ist im Grundsatz da. Es besteht die Hoffnung, dass sie auch bei der nächsten Krise da ist.

Norbert Reichel: Inzwischen gibt es in Deutschland so langsam ein Gefühl für die Bedrohung, die Polen und die baltischen Staaten in Putins Russland sehen. Auch das haben wir lange genug ignoriert.

Lamya Kaddor: Ja, die Annexion der Krim haben wir alle wahrgenommen. Es ist vielleicht zuvor manches vor dem Hintergrund des Syrien-Krieges untergegangen. Auch Russlands Rolle im Syrien-Krieg war und ist ja vielen unklar. Manche glauben bis heute, es gehe ihnen allein um die Wiederherstellung des Friedens, zumindest um Dialog, Russland sei bloß da, um gegen Dschihadisten zu kämpfen. Doch so einfach ist das eben alles nicht. Doch darüber wird hinweggeschaut. Die Krim ist auch nicht irgendein Ort. Es gab die Krim-Tataren mit eigener Kultur, mit eigener Sprache, die vertrieben wurden. In Geschichtsbüchern wird von Deportation gesprochen. Das hat natürlich aus meiner speziellen Sicht als Nahost-Berichterstatterin Potenzial zur Eskalation, auch im Hinblick auf Islamisten. Die könnten sich durchaus darauf beziehen, dass die Krim-Tataren Muslime sind, die die Russen vertrieben haben. Es ist nicht absehbar, ob sich das auswirken wird, aber es ist wichtig, solche historischen Zusammenhänge präventiv auf dem Schirm zu haben.

Norbert Reichel: Helmut Schmidt hat nach der Annexion der Krim in einem Interview die Eigenstaatlichkeit der Ukraine angezweifelt. Es war nicht nur der böse Schröder, über den jetzt alle herfallen, noch eine ganze Menge andere sahen das auch so. Karl Schlögel hat das in seinem Buch „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“ (München, Carl Hanser) bereits 2015 analysiert. Ich persönlich halte es für wenig fair, jetzt von der CDU her über Manuela Schwesig herzufallen. Die CDU hat damit offenbar nichts zu tun gehabt, doch wer hat Nordstream 2 im europäischen Kontext durchgesetzt? Das war die damalige Bundeskanzlerin, die sich zurzeit sehr zurückhält, möglicherweise aus gutem Grund.

Lamya Kaddor: Wenn man die wirtschaftlichen Interessen immer an die Spitze der Prioritätenliste stellt und alles andere unterordnet, kann daraus nichts Gutes werden. Die Grünen haben lange gesagt, was geschehen könnte und müsste. Wir haben frühzeitig gesagt, dass wir die Ortskräfte in Afghanistan rechtzeitig herausholen müssten. Manche sind heute noch da.

Norbert Reichel: Grüne Positionen waren nicht immer so eindeutig. Es gab und gibt auch bei den Grünen durchaus naiv-pazifistische Vorstellungen. Bei den Forderungen nach einem Rückzug beispielsweise aus Afghanistan wurde zwar immer die Forderung nach einer neuen Strategie erhoben, aber wie diese aussehen könnte, war nicht Gegenstand der Forderung, vielleicht aber war das auch einfach noch nicht möglich, weil grüne Positionen – oder ich sage lieber: Mahnungen – von den Mehrheitsfraktionen im Bundestag nicht ernst genommen wurden.

Lamya Kaddor: Wir haben fast 80 Jahre lang geglaubt, dass in Europa Kriege und Unterdrückung nicht mehr möglich wären. Krieg und Unterdrückung bekommen Menschen meiner Generation, aus den 80er oder 90er Jahren nur aus Erzählungen mit.

Norbert Reichel: Selbst die Jugoslawien-Kriege waren irgendwie weit weg.

An der Kotel

Lamya Kaddor: Ich hatte Berührungen damit – auch über meine syrischen Familienangehörigen. Es war vielen hier nicht bewusst, dass Menschen in großen Teilen der Welt nicht in Freiheit leben, nicht aussuchen dürfen, was sie essen, was sie sagen oder nicht sagen, wen sie lieben oder nicht lieben wollen. Freiheit wurde in Deutschland, zumindest in Westdeutschland immer als selbstverständlich erachtet. Auch als Religionspädagogin hatte ich mit dem Thema Unfreiheit stets zu tun. Die große Mehrheit in Deutschland jedoch dürfte sich erst seit dem 24. Februar 2022 ernsthaft mit solchen Fragen beschäftigen, ob man hier wirklich sicher genug ist, ob alles wirklich so selbstverständlich ist, wie wir meinen. Nichts ist selbstverständlich.

Norbert Reichel: Das geht hin bis zu Zivil- und Katastrophenschutz. Ich wage die Behauptung, dass 90 Prozent der Menschen die verschiedenen Sirenensignale nicht voneinander unterscheiden können.

Lamya Kaddor: Geschweige denn wissen, wo es hier Bunker gibt, abgesehen davon, dass wir kaum funktionierende Bunker haben. Viele wissen auch nicht, was Bevorratung bedeutet, was und wie viel wovon man bevorratet, wie man sein Computerprogramm schützt, auf welche Mails man niemals antworten sollte.

Norbert Reichel: Zivil- und Katastrophenschutz, Cybersicherheit – diese Themen hast du benannt und sie haben viel miteinander zu tun. Viele Menschen verhalten sich durchaus widersprüchlich. Gegen ein Impfregister wehrt man sich, hinterlässt seine Daten aber an jeder Supermarktkasse, um von irgendwelchen Rabatten zu profitieren.

Lamya Kaddor: Das ist in der Tat sehr ambivalent. Konstantin von Notz hat getwittert, dass die Impfbereitschaft viel höher gewesen wäre, wenn es sich um die Affenpocken gehandelt hätte, weil unansehnlich und fürchterlich und man vor Augen hat, was das heißt. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich viele Menschen einfach von vornherein für gesund halten, wenn sie nicht sehen, welche Wirkungen eine Krankheit hat.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juni 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 27. Mai 2022. Alle Bilder wurden mir von Lamya Kaddor zur Verfügung gestellt, die auch die Rechte hat.)

(P.S.: Am 3. Juli 2022 wurde gemeldet, dass die in diesem Text erwähnte Kugel, durch die Shireen Abu Akleh starb, von den palästinensischen Behörden an die USA übergeben worden sei.)