Die Deportation
Von Düsseldorf nach Riga – der 11. Dezember 1941
„Der Weg zum Schlachthof war ein Leidensweg, ein Spießrutenlaufen. Die Bevölkerung gaffte uns an, als habe sie bisher noch keine Menschen gesehen. Auch dieser Weg hatte ein Ende, und wir kamen in den Schlachthof, der eben von den Tieren verlassen war – auch demgemäß aussah. (…) So waren jetzt tausend Menschen, der gesamte Transport, versammelt.“ (Liesel Ginsburg-Frenkel, Erinnerungen an die Deportation und das Ghetto Riga, ungedrucktes Typoskript, ca. 1946)
1.007 Menschen, jüdische Frauen, Männer und Kinder, mussten sich auf Befehl der Gestapo am Nachmittag des 10. Dezember 1941 am Düsseldorfer Schlachthof einfinden. Sie kamen ganz überwiegend aus dem links- und niederrheinischen Gebiet: aus Mönchengladbach, Krefeld, Moers und den umliegenden kleineren Städten und Dörfern, aus Goch und Emmerich; einige wenige auch aus Duisburg und Düsseldorf. Zum Teil hatten sich die Menschen bereits einen Tag zuvor in lokalen Sammelstellen einfinden müssen und wurden dann mit dem Zug nach Düsseldorf gebracht.
Es war nach den beiden Massendeportationen vom Oktober und November 1941 in die Ghettos in Łódź und Minsk die dritte Massendeportation, bei der der Düsseldorfer Schlachthof als zentrale Sammelstelle im Regierungsbezirk diente.
Wir sind über den Ablauf der Deportation, über die mehrere Tage dauernde Fahrt nach Riga, über Leben, Überleben und Sterben im Ghetto Riga außerordentlich gut informiert, weil relativ viele schriftliche und mündliche Zeugnisse hierüber vorliegen. Z.B. von Hilde Sherman (1923-2011), geborene Zander, aus Rheydt und Alfred Winter (1918-2001) aus Korschenbroich, die ihre Erinnerungen in Buchform veröffentlichten. Weitere Erinnerungen stammen von Heinz (*1920, Todesdatum unbekannt) und Werner Samuel (1918-2010) aus Krefeld, von Sophie und Emma Nathan aus Emmerich, von Liesel Ginsburg (1915-2018), geborene Frenkel, aus Mönchengladbach, von Irene Dahl (1926-2000) und Emmi Mendel (1921-2011) aus Dormagen oder von Erna Valk (1905-1993) aus Goch.
Es gibt auch einen gleichsam „offiziellen“ ausführlichen Bericht des Polizeioffiziers Paul Salitter (1898-1972), der den Transport mit einem Kommando von insgesamt nur 15 Polizisten bewachte und nach Riga begleitete. Dieser „Salitter“-Bericht hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht, weil er den Zynismus, den Antisemitismus und die Gefühlskälte des Verfassers offenbart, nicht zuletzt mit seiner beeindruckenden Strichliste.
Die „Vorbereitung“
Die Naziführung hatte im September 1941 beschlossen, dass mit der Deportation der Jüdinnen und Juden aus dem Reichsgebiet so schnell wie möglich begonnen werden sollte. Ursprünglich waren als Zielort die besetzten sowjetischen Gebiete eingeplant gewesen – der Kriegsverlauf führte dazu, dass davon zunächst Abstand genommen wurde. Die ersten Deportationen aus dem Reich führten deswegen in das Ghetto Łódź, eine Stadt, die die Nazis nach einem preußischen General und NSDAP-Mitglied „Litzmannstadt“ nannten – im sogenannten „Warthegau“. Das Ghetto in Łódź war jedoch rasch vollkommen überfüllt, so dass als Ausweichghettos nun die Ghettos in den Städten Minsk und Riga ausgesucht wurden.
Im November 1941 fuhren deswegen die ersten Deportationszüge mit Tausenden von deutschen Jüdinnen und Juden nach Minsk, das ebenfalls bald niemand mehr aufnehmen konnte. Ende November, Anfang Dezember 1941 wurden in mehreren deutschen Städten Transporte nach Riga zusammengestellt: Berlin, Nürnberg, Stuttgart, Wien, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Kassel, Hannover oder Bielefeld.
Innerhalb eines Jahres wurden rund 25.000 Menschen in 25 Transporten nach Riga deportiert. Nicht alle kamen im Ghetto von Riga an. Die Angehörigen des ersten Transportes aus Berlin wurden kurzerhand in den Wald von Rumbula, im Süden, außerhalb von Riga, geführt und erschossen. Die Teilnehmer*innen der vier Transporte aus Nürnberg, Stuttgart, Wien und Hamburg kamen in das „Gut Jungfernhof“ – ein Arbeitslager der SS im Süden von Riga. Der Grund war einfach: im Ghetto von Riga war kein Platz, weil es bereits überfüllt war, mit lettischen Jüdinnen und Juden. Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion hatten die Besatzer es eingerichtet.
Die deutschen Machthaber beschlossen nun, Platz für die Neuankömmlinge aus dem Deutschen Reich zu schaffen. In zwei „Aktionen“, am 30. November sowie am 8. Und 9. Dezember schafften deutsche und lettische Polizei- und SS-Angehörige mindestens 25.000 lettische Jüdinnen und Juden in den Wald von Rumbula und ermordeten sie dort. Es verblieben nur noch etwa 4.000 lettische Juden im Ghetto, fast ausschließlich Männer, die als Arbeitskräfte benötigt wurden. Dieser Massenmord ereignete sich nur wenige Tage, bevor sich 1.007 Jüdinnen und Juden aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf am Düsseldorfer Schlachthof einfanden.
Die Ankunft am Schlachthof und die Deportation
Der Transport war Wochen zuvor von den lokalen Polizei- und Gestapobehörden zusammengestellt worden. Die Altersgrenze lag bei 65 Jahren, die meisten der Deportierten waren „arbeitseinsatzfähig“, sieht man von den vielen Kindern ab, die mit ihren Eltern deportiert wurden. Insgesamt waren es 103 Kinder bis zum Alter von 14 Jahren! Die jüngste, Mirjam Leven aus Krefeld war noch keine drei Monate alt.
Die Anordnung, dass sie zum Arbeitseinsatz im Osten „evakuiert“ werden sollten, hatten die Jüdinnen und Juden aus der Region einige Tage zuvor erhalten. Sie durften pro Person nur einen Koffer und ein Handgepäck mitnehmen. Aus den umliegenden Städten und Dörfern wurden sie entweder in LKWs transportiert oder in großen Gruppen mit dem Zug zum Düsseldorfer Hauptbahnhof gebracht. Von dort mussten sie zu Fuß einen recht beschwerlichen Weg bis zum Schlachthof antreten. Liesel Ginsburg berichtete, wie die Deportierten von der Düsseldorfer Bevölkerung angegafft wurden.
Am Schlachthof wurden die Menschen von Polizei- und Gestapobeamten empfangen und äußerst ruppig behandelt, es gab erste Misshandlungen, wie Hilde Zander, die spätere Hilde Sherman, später berichtete. Sie hatte sich freiwillig zum Transport gemeldet, weil sie mit ihrem Verlobten zusammenbleiben wollte, Kurt Winter aus Korschenbroich, der den „Evakuierungsbefehl“ erhalten hatte. Als sie im großen Pulk von Menschen die schmale Treppe zum Untergeschoss der Viehhalle heruntergedrängt wurde, verlor sie ihn aus den Augen: „Ich drehte mich um, wollte ihm etwas zurufen, als ich plötzlich einen Stoß in den Rücken bekam und die schmale Treppe in den Schlachthof hineinstürzte. Diesen Augenblick werde ich im Leben nicht vergessen. Oben bei der Treppe stand P (gemeint ist Georg Pütz, 1906-1971, JS) ein hoher Gestapobeamter. Mit wutverzerrtem Gesicht brüllte er hinter mir her: ‚Auf was wartest du noch? Auf die Straßenbahn? Die fährt für Dich niemals mehr.’“
Die Jüdinnen und Juden waren angesichts der zahlreichen gegen sie ergriffenen Maßnahmen einiges an Demütigungen gewohnt, und doch merkten viele, dass etwas Schreckliches passierte. Werner Rübsteck (1927-2011): „Eigentlich hat es auf dem Schlachthof in Düsseldorf bei mir klick gemacht. Ich hatte gefühlt, wo es hingeht. Und dann hat man uns ins Ghetto getrieben.“
In der Großviehhalle angekommen wurden die Menschen registriert, ihr Gepäck wurde durchsucht, zahlreiche Gegenstände konfisziert, wie Überlebende berichteten. Sie mussten ein Papier unterschreiben, dass sie auf ihr gegebenenfalls verbliebenes Vermögen verzichteten. Ihre Wohnungsschlüssel mussten sie abgeben. Das Finanzamt zog alles zugunsten des Deutschen Reiches ein, besiegelt durch Beamte des Amtsgerichts, die ebenfalls in der Viehhalle anwesend waren. Der gesamte mobile Besitz der Deportierten wurde in den nächsten Wochen von Finanzbeamten versteigert und von der Nachbarschaft günstig erworben. In die Wohnungen der Deportierten, zumeist sogenannte „Judenhäuser“, zogen andere Jüdinnen und Juden ein, die noch nicht „an der Reihe“ gewesen waren. Oder sie wurden „arisiert“. Erna Valk: „Wir standen in der nassen Halle ca. 24 Stunden. Jeder einzelne wurde einer Leibesvisitation unterzogen, und es wurden ihm alle wertvollen Sachen, doppelte Leibwäsche und das gesamte Reisegepäck abgenommen, ebenso alle Papiere. Am anderen Morgen standen wir stundenlang an einem Düsseldorfer Güterbahnhof. Die Kinder lagen im Schnee und weinten.“
Auf dem Weg zum Güterbahnhof versuchte ein Mann aus Verzweiflung, sich selbst zu töten. Am Bahnhof ging es äußerst hektisch zu, wie wir aus dem überlieferten Bericht des Polizeioffiziers Paul Salitter wissen. Er stand unter Zeitdruck und trieb die Menschen zur Eile an, natürlich ohne jede Rücksicht auf die Deportierten, sodass Familien auseinandergerissen wurden, und einige Wagen viel voller waren als andere. Die Fahrtkosten in Höhe von insgesamt 50 RM pro Person mussten die Deportierten selbst bezahlen.
Die Fahrt dauerte nach Riga drei Tage, wie Salitter seinen Vorgesetzten später berichtete. Die Menschen hatten zu wenig zu trinken dabei, auch die Essensvorräte waren schnell aufgebraucht. Die Heizung war in einigen Teilen des Zuges ausgefallen. Ich zitiere aus Salitters Bericht: „Um 19.30 Uhr wurde Mitau (Lettland) erreicht. Hier machte sich schon eine erheblich kühlere Temperatur bemerkbar. Es setzte Schneetreiben mit anschließendem Frost ein. Die Ankunft in Riga erfolgte um 21.50 Uhr, wo der Zug auf dem Bahnhof 1 ½ Stunden festgehalten wurde. (…) Am 13.12., um 23.35 Uhr, erreichte der Zug nach vielem Hin- und Herrangieren die Militärrampe auf dem Bahnhof Skirotawa. Der Zug blieb ungeheizt stehen. Die Außentemperatur betrug bereits 12° unter Null.“
Der Frost machte Salitter allerdings nur insofern Sorgen, weil seine Polizeibeamten offenbar nicht genügend warme Kleidung bei sich hatten. Das Schicksal der Deportierten interessierte ihn nicht. Über das Schicksal der Menschen war er sich vollkommen bewusst, wie sein Bericht zeigt.
(Über)Leben und Sterben im Ghetto Riga und in anderen Lagern
Nach einer Nacht im unbeheizten Waggon wurden die frierenden Menschen von SS aus den Personenwagen getrieben. Am Bahnhof warteten Ghetto-Kommandanten Krause und weitere SS-Leute. Helma Translateur (1923- „Als wir im Dezember 1941 auf dem Bahnhof Skirotawa ankamen, wurden diejenigen, „die nicht gut laufen konnten“, ganz freundlich aufgefordert, LKW’s zu besteigen. Im Gegensatz zu uns kamen diese Menschen nie im Ghetto an.“ Sie wurden mit den LKW’s direkt in eine nahe gelegene Erschießungsstätte gefahren und ermordet.
Hilde Sherman berichtet über die Ankunft in Riga: „Ein Mann aus unserem Transport, ein Herr Meyer, der bei seiner Frau stand und seine zwei kleinen Jungen von ungefähr drei und fünf Jahren aus den Armen trug, ging auf Krause zu und fragte sehr höflich: ‚Herr Kommandant, ist es sehr weit bis zum Ghetto?‘ Statt jeder Antwort hob Krause seinen schwarzen Krückstock mit silbernem Knauf und schlug Herrn Meyer damit ins Gesicht. Die beiden Kinder fielen auf den Boden, der Schäferhund sprang Meyer an und riss ihn um.“
Die Deportierten mussten zu Fuß mehrere Kilometer ins Ghetto von Riga marschieren, das in der „Moskauer Vorstadt“ gelegen war – ein ärmlicher Stadtteil, mit einfachen Häusern, in dem mehrere Wohnblöcke mit Stacheldraht abgesperrt waren – das Ghetto war in einen lettischen und einen deutschen Bereich aufgeteilt, der ebenfalls durch Stacheldraht getrennt war. Den Deportierten wurden Wohnungen in Straßen zugewiesen, die die deutschen Ghettobewohner*innen nach „ihren“ Transporten benannten – Düsseldorfer Straße, Kölner Straße, Bielefelder Straße usw.
Die Ankunft im Ghetto war ein Schock, denn die Spuren der unmittelbar vorangegangenen Morde der Polizei- und SS-Einheiten waren deutlich zu sehen. Irene Dahl berichtete: „Man trieb uns in das ‚Rigaer Ghetto‘, einen Stadtteil mit den primitivsten Häusern, die dort existierten. Ringsherum mit Stacheldraht eingezäunt und von Posten bewacht. Den Anblick, der sich dort bot, werde ich nie in meinem Leben vergessen. Das Blut von erschossenen Frauen und Kindern lag in festgefrorenen Lachen auf den Straßen und in den Häusern stand das Essen festgefroren auf den Tischen.“
Die Wohnverhältnisse in den Häusern waren sehr beengt, mit bis zu zwölf Personen in einem Raum. Glücklich war, wer mit seiner Familie zusammenbleiben konnte. Dies erhöhte natürlich auch die Überlebenschancen. Alle, die arbeitsfähig waren, wurden zur Zwangsarbeit herangezogen: Straßenreinigung, Schneeschippen, bald auch Arbeitskommandos in der Stadt, außerhalb des Ghettos, Be- und Entladen von Schiffen im Hafen, Torfabbau, Arbeit in Werkstätten und Betrieben von privaten Firmen, von Wehrmacht und SS oder in deutschen Behörden. Das Arbeitsamt befand sich in der Nähe des Ghettos, es koordinierte den Einsatz der deutschen und lettischen Jüdinnen und Juden. Ilse Rübsteck beschrieb den „Arbeitstag“: „Morgens um sieben Uhr war Appell, da wurden wir zur Arbeit eingeteilt. Wir machten alle Arten von Arbeit, wo uns die SS gerade gebrauchen konnte (…). Wir wussten nie, wohin es ging. Schon beim Appell konnte man sterben. Etwa, weil man nicht richtig stand oder falsch guckte. Das reichte aus, um einen Juden zu erschießen.“
Die Zwangsarbeit war überlebenswichtig, nur auf diese Weise war die Ernährung gesichert: weil man auf der Arbeitsstelle Essen erhielt und manchmal auch die Gelegenheit zum Tauschhandel hatte. Der allerdings bei Todesstrafe verboten war. Erna Valk über die Rückkehr ins Ghetto: „Abends wurden die ins Ghetto hereinkommenden Kolonnen von der SS kontrolliert. Fand man bei jemandem Lebensmittel, so kostete das das Leben. Täglich wurden Frauen oder Mädchen erschossen und Männer erhängt. Das war die Beschäftigung des Kommandanten, SS-Obersturmführer Krause, später Roschmann und Gymnich. Der Galgen stand in der Mitte des Ghettos, und wenn wir abends todmüde von der Arbeit kamen, wurden wir dorthin geführt, um die Erhängten zu sehen.“
Das Ghetto wurde vom Kommandanten SS-Obersturmführer Kurt Krause geleitet, einem früheren Berliner Kriminalbeamten. Ihm unterstanden einige deutsche und lettische SS-Angehörige, sein Assistent, Max Gymnich, war ein Gestapobeamter aus Köln. Ansonsten gab es eine Selbstverwaltung, eigene Ärzte, die so gut wie keine Medizin zur Verfügung hatten – und auch eine eigene Lagerpolizei. Ihre Rolle war – wie überall – umstritten, weil sie Handlangerdienste der SS ausüben musste, beispielsweise bei den Exekutionen. Andererseits konnten Lagerpolizisten helfen, auch beim Schmuggel von Lebensmitteln.
Im Dezember ließ die SS ein weiteres Arbeitslager errichten, etwa 20 km südöstlich von Riga, in Salaspils („erweitertes Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager“). Aufgebaut wurde es durch sowjetische Kriegsgefangene und Juden. Auch viele deutsche, österreichische und tschechische Juden, die eben im Ghetto angekommen waren, wurden eingesetzt, fast 2.000. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren katastrophal, zumal angesichts der niedrigen Temperaturen. Überlebende bezeichneten das Lager als Vernichtungslager: verlangt wurde Schwerstarbeit, es gab viel zu wenig zu essen, es fehlte jede medizinische Versorgung. Ferner: tägliche Übergriffe, Misshandlungen und Terror seitens der SS-Wachen. Im Sommer wurden die Überlebenden in das Ghetto Riga zurückgebracht. Nur etwa die Hälfte der nach Salaspils geschickten Menschen hatte überlebt. Alfred Winter beschrieb später seine deprimierende Arbeit im „Begräbniskommando“, das täglich die Gestorbenen beerdigen musste: „Während der Zeit, da ich, zusammen mit anderen, in den Apriltagen des Jahres 1942 beim Begräbniskommando war, mussten wir die Leichen ohne Handschuhe oder sonstige Ausrüstung mit den bloßen Händen anfassen. Da wir alle Frostwunden an den Händen hatten, holten sich viele der Juden Starrkrampfinfektionen. Vier, darunter mein eigener Bruder (Kurt, 1912-1942, JS), starben daran.“
Im Ghetto von Riga und auch im SS-Gut Jungfernhof nahm die SS immer wieder Selektionen vor und sortierte Alte und kranke Menschen sowie Kinder aus. Die „Aktion Dünamünde“ – die Düna, lettisch: Daugava, polnisch: Dźwina am 15. März 1942 war die erste große Selektion: rund 1.900 Menschen wurden aussortiert. Die SS stellte ihnen leichtere Arbeit in einer Konservenfabrik in Dünamünde in Aussicht – so bestiegen die Ahnungslosen die bereitgestellten Busse, die sie direkt zu den Mordstädten im Wald von Biķernieki brachten, der zweiten großen Massenmordstätte in Riga (neben dem Wald von Rumbula). Es folgten noch zahlreiche weitere solche „Aktionen.“ Emmi Mendel berichtet (publiziert in: Historisches Jahrbuch der Stadt Dormagen, 1985: „Der erste Todestransport aus dem Ghetto fand am 17. März 1942 statt. Aus Dormagen und Zons wurden Emilie Neuburger, Johanna Franken und Johanna Katz mit Gaswagen abtransportiert. (…) Wir haben Kenntnis von dem Tod nur dadurch erhalten, dass die Kleider und persönliche Habe der Betroffenen in der Kleiderkammer wiedergefunden wurden.“
Deutsche SS- und Polizeieinheiten ermordeten hier mit ihren lettischen SS-Helfern mindestes 35.000 Menschen, darunter 20.000 Jüdinnen und Juden aus Lettland, Deutschland, Österreich und Tschechien.
Als die Rote Armee 1944 näher rückte versuchten die Mörder, die Spuren zu verwischen. Aus jüdischen Häftlingen bestehende Sonderkommandos (Sk 1005) mussten die Massengräber öffnen, die stark verwesten Leichen verbrennen und die Knochen zermahlen. Anschließend wurden die Häftlinge als potentielle Zeugen erschossen. Leiter eines solchen Kommandos war der Breslauer Gestapobeamte und SS-Angehörige Walter Helfsgott (1911-1980) – er fand in den 1950er Jahren über die Organisation Gehlen, den Vorläufer des BND, zum Landeskriminalamt NRW in Düsseldorf. 1962 wurde er verhaftet und wegen einer vorherigen Tätigkeit in einem Einsatzkommando, das in der Ukraine gewütet hatte, zu vier Jahren Haft verurteilt.
Repression und Willkür der SS im Ghetto waren grenzenlos. Im Oktober 1942 entdeckte die SS eine Widerstandsorganisation, die von Angehörigen der jüdischen lettischen Lagerpolizei gedeckt worden war. Als Vergeltung wurde der gesamte lettische Ordnungsdienst erschossen. Der damals nur zwölfjährige Helmut Sachs aus Hemmerden war Augenzeuge der grausamen Erschießungsaktion, die erneut auf dem „Blechplatz“ durchgeführt wurde: „Ich konnte nur sehen, dass etwa 40 Meter von meinem Fenster entfernt auf dem Blechplatz sich ein kreisförmiges Gebilde von SD-Leuten gebildet hatte. Innerhalb dieses Kreises liefen, angefeuert durch lautes Schreien seitens der SD-Leute, eine Anzahl lettisch-jüdischer Lagerpolizisten. (…) Ich konnte beobachten, wie die jüdischen Lagerpolizisten immer im Kreise liefen und durch die Schüsse seitens der SD-Leute immer weniger wurden.“
Auflösung des Ghettos, Todesmärsche und Befreiung
Ab Juni 1943 wurde das Ghetto Riga nach und nach verkleinert, die verbliebenen Menschen wurden vor allem in das ebenfalls in Riga gelegene, seit März 1943 neu errichtete Konzentrationslager Kaiserwald verlegt, was ihre Situation nochmals verschlechterte, vor allem die Ernährungslage. Männer und Frauen waren fortan getrennt untergebracht. Im November 1943 wurde das Ghetto ganz aufgelöst. Erneut führte die SS eine große Selektion durch, wie sich der Krefelder Heinz Samuel erinnert: „Um 8.00 Uhr morgens kam der Befehl, Kinder und alte Leute antreten. […] Die Leute wurden von der SS mit vorgehaltenen Revolvern aus den Wohnungen getrieben, mussten zum Appellplatz und wurden dort von dem Menschenmörder Krause aussortiert. (…) Viele junge Mütter versteckten ihre Kinder, gaben ihnen Schlafpulver, um jedes Schreiben oder Weinen zu vermeiden, doch die meisten wurden von den Verbrechern gefunden.“
Die hier „selektierten“ Menschen kamen nach Auschwitz und wurden nach ihrer Ankunft ermordet. Die verbliebenen rund 12.000 Menschen kamen in das Konzentrationslager Kaiserwald – beziehungsweise in eines seiner zahlreichen Nebenlager im Stadtgebiet. Auch hier wurden sie zur Zwangsarbeit eingesetzt, etwa im Heeresbekleidungsamt der Wehrmacht, oder wieder im Hafen beim Ent- und Beladen von Schiffen, bei der Reichsbahn – auch die AEG betrieb ein eigenes Arbeitslager für jüdische Häftlinge in Riga.
Als die Rote Armee im Sommer 1944 immer weiter vorrückte, lösten die Deutschen den Komplex Konzentrationslager Kaiserwald nach und nach auf. Noch vorhandene Kinder sowie „Arbeitsunfähige“ wurden vor der Flucht ermordet, die verbliebenen rund 10.000 Inhaftierten wurden auf verschiedenen Wegen in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig verschleppt.
Hier war der Leidensweg noch nicht zu Ende – im Gegenteil, die Lebensbedingungen wurden immer fürchterlicher, sofern es bei diesem Schrecken Steigerungsformen vorstellbar sind, sie waren es. Rund 5.000 Jüdinnen und Juden wurden zusätzlich zu den vorhandenen Häftlingen in das Konzentrationslager gepfercht. Die Menschen wurden immer schwächer und schwächer und dennoch zu Schwerstarbeit herangezogen, weshalb viele das Lager später – zumindest für diesen letzten zeitlichen Abschnitt – als „Vernichtungslager“ bezeichnet haben.
Ende Januar 1945 wurde auch das Konzentrationslager Stutthof „evakuiert“, die Menschen wurden weiter nach Westen verschleppt. Wie viele noch in den letzten Wochen ermordet wurden, wissen wir nicht. Einige von ihnen gelangten von Stutthof über die Ostsee nach Hamburg in das Gefängnis Fuhlsbüttel, von dort in einem „Todesmarsch“ in das rund 100 km entfernte Arbeitserziehungslager „Nordmark“ bei Kiel. Dort wurden sie, wenige Tage vor Kriegsende, durch eine Mission des schwedischen Grafen Folke Bernadotte befreit.
Sicher ist, dass nur 98 Menschen der 1.007 am 11. Dezember 1941 aus Düsseldorf nach Riga deportierten Menschen ihre Befreiung erleben durften. Die meisten kehrten ihrer Heimat den Rücken und zogen den Aufbau eines neuen Lebens im Ausland, in den USA, in Großbritannien, in Israel vor. Die wenigen, die in ihre Heimat zurückkehrten, hatten es in der Regel nicht leicht. Sie hatten den größten Teil oder ihre gesamte Familie und Freunde verloren. Und die Heimat nahm sie nicht mit offenen Armen auf, wie Ilse Rübsteck berichtet: „Einem ehemaligen SS-Mann war das Haus inzwischen zugesprochen worden, weil niemand damit gerechnet hatte, dass von unserer Familie noch einer lebend wiederkommen würde. Na, und die mussten jetzt raus. (…) Das haben die uns für alle Ewigkeiten übelgenommen, dass wir zurückgekehrt sind.“ Marianne Stern-Winter resignierte: „Nachdem mir (…) beim Oberfinanzpräsidium (1946, JS) in schärfster Form erklärt worden war, dass ich nicht berechtigt sei, Gegenstände, die mir oder meinen Angehörigen gehört hatten, herauszuholen, habe ich die Suche eingestellt.“
Die Geschichte der Remigration, die Geschichte der sogenannten „Wiedergutmachung“ und „Entschädigung“? Dies ist eine andere Geschichte.
Joachim Schröder, Düsseldorf
Zum Weiterlesen und Weiterforschen:
- Der offizielle Ausstellungskatalog: Oliver von Wrochem, „Der Tod ist ständig unter uns“ – Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland, Berlin, Metropol, 2022.
- Biografien der meiste in diesem Essay genannten Personen sind ebenso wie Hinweise auf deren Lebenszeugnisse und weitere Quellen auf der Internetseite des Erinnerungsortes Alter Schlachthof zu finden. Am Erinnerungsort sind auch alle hier genannten unpublizierten Erinnerungen einsehbar.
- Ilse Rübsteck: Bericht Ilse Rübsteck, zit. in: Rüdiger Röttger: Davon haben wir (nichts) gewusst. Jüdische Schicksale aus Hochneukirch/Rheinland 1933-1945, Düsseldorf 1998.
- Helma Sherman, Zwischen Tag und Dunkel – Mädchenjahre im Ghetto, Frankfurt am Main / Berlin, Ullstein, 1984.
- Helmut Sachs: Aussage Helmut Sachs im Ermittlungsverfahren gegen G. Maywald, Hamburg 20.1.1966, Yad Vashem Archives, TR.19/64, Bl. 13 f.
- Heinz Samuel (1920-2007): Kurzer Bericht von unserem Leidensweg (Juni 1945): in: Wiener Library.
- Helma Translateur (1923-unbekannt)): Aussage im Ermittlungsverfahren gegen G. Maywald, Generalkonsulat in Los Angeles/USA, 21.5.1965, in: Yad Vashem Archives, TR.19/61.
- Erna Valk: Augenzeugenbericht ihrer Erfahrungen im Rigaer Ghetto und im Konzentrationslager Stutthof, in: Wiener Library.
- Alfred Winter (1918-2001): Zeugenaussage für den Nürnberger Prozess (15./16.10.1947) (NO 5448/5449). Zit. in: Herbert Schmid: Der Elendsweg der Düsseldorfer Juden, Essen 2005.
- Unmenschlich effizienter Terror – Ein Gespräch von Norbert Reichel mit Joachim Schröder wurde im Februar 2022 im Internetmagazin Demokratischen Salon veröffentlicht.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 22. Februar 2023. Der Text folgt einem Vortrag, den der Autor am 23. Februar 2023 im Begleitprogramm der Ausstellung im Alten Schlachthof Düsseldorf gehalten hat. Internetzugriffe zuletzt am 28. Februar 2023. Alle Bilder wurden vom Autor zur Verfügung gestellt. Das Titelbild zeigt die Umzäunung des Ghettos Ria an der Lāčplēša iela 161-163. Bis zum 25. Oktober 1941 mussten über 30.000 Jüdinnen und Juden aus Riga in das Ghetto umziehen, Foto: Musejs ‚Ebreji Latvijā‘.)