Die hässlichen Gesichter des Fußballs
Theoretische Zugänge zur Analyse von Exklusion und Hass im Sport
„Das Ideal menschlicher Beziehungen ist ihm der Klub, die Stätte eines auf rücksichtsvoller Rücksichtslosigkeit gegründeten Respekts. Die Freuden solcher Männer, oder vielmehr ihrer Modelle, denen kaum je ein Lebendiger gleicht, denn die Menschen sind immer noch besser als ihre Kultur, haben allesamt etwas von latenter Gewalttat.“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1951)
Es mag verwundern, dass Sport im öffentlichen Diskurs in der Regel widerspruchslos mit Fairness und Inklusion verbunden wird, obwohl doch letztlich jeder Sport, professioneller Sport ebenso wie Freizeitsport, von Konkurrenz, Sieg und Niederlage lebt. Menschen, die welchen Sport auch immer treiben, vergleichen sich miteinander und halten sich bei guten Ergebnissen gerne für etwas Besseres. Sie triumphieren, Erfolg macht sie stark und oft überheblich. Wer seine Ziele nicht erreicht, wer verliert, verdient selten Mitleid, Niederlagen werden als Versagen gedeutet. Wer zu wenig leistet, wird ausgeschlossen, Leistung wird als Begründung eines Ausschlusses gerne vorgeschoben, sodass sich niemand den Vorwurf machen muss, er habe sich des Mobbings oder einer wie auch immer gearteten gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit schuldig gemacht. Aber es gibt auch andere Gründe, jemanden auszugrenzen, beispielsweise Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität.
Nina Degele hat in ihrem 2013 bei VS Springer erschienenen Buch „Fußball verbindet – durch Ausgrenzung“ einen theoretischen Rahmen der Exklusion im Sport formuliert. Sie stellt die Frage: „Was verbindet Homophobie, Sexismus und Rassismus mit dem Glauben an die einende Kraft des Fußballs?“ Einen anderen theoretischen Rahmen testet Pavel Brunssen in seinem Buch „Antisemitismus in Fußball-Fankulturen – Der Fall RB Leipzig“, 2021 in Weinheim und Basel bei Beltz Juventa erschienen. Er wendet Ergebnisse der Antisemitismus- und Rassismus-Forschung an, um Freund-Feind-Bilder von Fußballfans zu analysieren. Beide thematisieren intersektionelle Verbindungen, beide entdecken immer wieder einen binären Code, für den das Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen das zentrale Modell zu bilden scheint, das vor allem im Fußball gut sichtbar wird. Die Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Theorie-Modelle lassen sich durchaus auf andere Sportarten übertragen.
(Un)kontrollierbare Gefühle
Nina Degele präsentiert eine empirische Untersuchung, die sie zwischen 2008 und 2011 mit 24 Gruppen und insgesamt 177 Teilnehmer*innen durchgeführt hat. Die Gruppengespräche dauerten zwischen 30 Minuten und zwei Stunden, 17 Gruppen kamen aus größeren Städten, die anderen aus Kleinstädten und Dörfern. Das Spektrum reichte von Akteur*innen in Freizeitligen, jungen wie älteren Menschen und schwul-lesbischen Fanclubs bis zu einem „Fanclub gegen rechts“ und einer Gruppe von Wohnungslosen. Unter den Teilnehmenden waren Akademiker*innen, Handwerker*innen, Angestellte, auch Studierende und Schüler*innen unterschiedlichen Hintergrunds.
Nina Degele beruft sich auf verschiedene Expert*innen der „dokumentarischen Methode“, beispielsweise auf die Autor*innen des 2006 bei Leske + Budrich erschienenen Sammelbandes „Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis – Grundlagen qualitativer Sozialforschung“ (Herausgeber*innen waren Ralf Bohnsack, Iris Nentwig-Gesemann und Arnd-Michael Nohl). Eine weitere Referenz ist das von 2001 ebenfalls bei Leske + Budrich veröffentlichte Buch „Das Gruppendiskussionsverfahren – Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung (Herausgeber waren Peter Loos und Burkhard Schäffer). Nina Degele: „Prädestiniert zur arbeitsteiligen Produktion von Gruppenmeinungen sind Menschen, die sich über ihre Zugehörigkeit zu Gruppen definieren und die aufgrund gemeinsamer Zugehörigkeiten und / oder Interessen soziale Einheiten bilden.“
Publikum, Profisport, Freizeitsport – so groß sind die Unterschiede nicht. Vor allem scheint die jeweilige Gruppe, der sich jemand zugehörig fühlt, eine wichtige Rolle bei der Entstehung ausgrenzender Sprüche und ausgrenzenden Verhaltens zu spielen. Daher wählte Nina Degele für ihre Untersuchung „Gruppendiskussionen“, denn die „Gruppenmeinung ist (…) keine Summe von Einzelmeinungen, sondern das Produkt kollektiver Interaktionen, das die Diskutant*innen ‚arbeitsteilig‘ vortragen.“
Im Fußball gab es immer schon Diskussionen über Ausgrenzung, Diskriminierung bis hin zu offen rassistischen Anfeindungen. Beachtet wird in der Regel jedoch nur das Verhalten des Publikums. Wie es in den Teams selbst zugeht, rückte eher in den Hintergrund. Christian Ewers dokumentierte in seinem Buch „Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weißer – Die Tragödie des afrikanischen Fußballs“ (Gütersloher Verlagshaus, 2010), wie in den Umkleidekabinen und auf den Plätzen in Deutschland der Rassismus blühte. Er zitiert Spieler und Trainer mit rassistischen Äußerungen, darunter Otto Rehhagel, in den Jahren 1995 und 1996 Trainer des FC Bayern München. Dieser „versuchte auf seine Weise, die Mannschaft auf ein Spiel gegen Hansa Rostock einzuschwören. Er rief: ‚Die N**** nehmen uns die Arbeitsplätze weg.‘ Für Rostock spielte Jonathan Akpoborie, ein Stürmer aus Nigeria.“
Das war nicht die einzige Entgleisung eines Trainers oder eines Spielers. „Paul Steiner, Verteidiger beim 1. FC Köln, pöbelte im Spiel gegen Nürnberg den senegalesischen Stürmer Souleyman Sané (*1961) an: ‚Scheiß-Nigger, hau ab. Was willst du in Deutschland?‘ Klaus Schlappner, Trainer des 1. FC Saarbrücken, sagte: ‚Der Schwarze ist undiszipliniert, verträgt den Winter nicht und hat Malaria.‘“ Im Fußball war und ist es nicht anderes als in der Gesellschaft. „Deutschland in den Neunzigern, das waren nicht nur brennende Asylantenheime und Hetzjagden auf Ausländer im Osten (sic!). Das war auch der kleine Rassismus im Alltag, im Stadion, Affengebrüll von den Rängen, wenn der Gegner einen schwarzen Spieler in seinen Reihen hatte, es flogen Bananen, Bayern-Fans winkten mit Aldi-Tüten, als Besiktas Istanbul in der Champions League zu Gast war.“ Das hat sich nicht geändert, aber immerhin riskieren Vereine, die nicht oder zu wenig gegen rassistische Pöbeleien unternehmen, inzwischen Geldstrafen, die Sperre ganzer Fanblocks oder sogar Platzsperren.
Warum sollten sich die Fans anders verhalten als ihre Vorbilder? Nina Degele beschreibt „Fußball als Projektionsfläche nationaler Identität“. Eine Folge, hier bezogen auf die WM 2006: „Die Patriotismusdebatte nahm in diesem Zusammenhang fast den gleichen Raum ein wie die Spielberichterstattung.“ Schmährufe aus dem Publikum entstehen gerade durch das im Stadion mögliche Gemeinschaftserlebnis. Ob sie auch ohne die Situation im Stadion entstanden wären, ist eine andere Frage, die ihre Antwort jedoch sicherlich in Studien zur Dynamik von Massenbewegungen in totalitär verfassten Staaten finden ließe. Die Aufmärsche in Stadien zur Zeit des Nationalsozialismus, der kommunistischen Staaten von der Sowjetunion bis hin zu Nordkorea, ähneln in der Choreographie einander. Sie sollen ein Wir-Gefühl im Publikum erzeugen, das in der Regel auch in die Choreographie einbezogen wird und sich letztlich auch im Alltag außerhalb des Stadions auswirkt, in Gesprächen in der Familie, in der Kneipe, am Arbeitsplatz. In einem demokratischen Land ist das Stadion – so Nina Degele – ein „Ventil für sonst unterdrückte Gefühle“, die eindeutig zwischen Freund und Feind unterscheiden. Ein Unterkapitel trägt die Überschrift. „Kontrolliert emotionalisieren“. Allerdings gibt es Abstufungen im Grad der Kontrolle bis hin zum Kontrollverlust. Grundlegend ist jedoch immer die „Fan-Fanobjekt-Beziehung“. In dieser „können Emotionen ausgelebt und ausprobiert werden, für die sonst kein Raum ist.“
Die im Sport als Akteur*in oder als Zuschauer*in ausgelebten Emotionen haben viel mit dem Wunsch nach Anerkennung in der eigenen Gruppe zu tun. Nina Degele zitiert „anerkennungstheoretische Überlegungen“ von Nancy Fraser, die diese in dem von ihr gemeinsam mit Axel Honneth herausgegebenen Band „Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse“ (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2003) – teilweise auch in Widerspruch zu ihrem Ko-Herausgeber – begründet hatte. Die Kontroverse bezog sich auf die Frage, ob es sich bei dem Wunsch nach Anerkennung beziehungsweise Integration um ein psychologisches oder ein gesellschaftliches Phänomen handele. Meines Erachtens ist dies jedoch eher eine Diskussion nach dem Henne-oder-Ei-Muster und letztlich für die Beschreibung des Gesamtphänomens nebensächlich. Ein gesellschaftliches Freund-Feind-Bild prägt die individuelle Performance so wie das Zusammentreffen der Performances verschiedener Individuen, die ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Zu- oder Abneigung verbindet, Gesellschaft konstituiert.
Hierarchien
Sportvereine, Teams sind hierarchisch organisierte Gemeinschaften. Das betrifft nicht nur die Ultras mit ihren Kapos, die dafür sorgen, dass die gesamte Gruppe zu gegebener Zeit in die von ihnen angestimmten Sprechchöre einstimmt. Es reicht aus, dass jemand Bewohner*in eines bestimmten Dorfes ist, um ihn*sie ein- oder auszuschließen. „Abgrenzungshorizonte müssen also keineswegs über Ethnizitäten hinweg oder gar global ausgreifen, Nationalität als Abgrenzungshorizonte muss gar nicht thematisiert werden.“ Der Unterschied zwischen einem Spiel in der Kreisklasse zwischen zwei Dörfern und dem Spiel zweier Nationalmannschaften liegt nicht im möglichen beziehungsweise realen Verhalten, sondern lediglich im Gegenstand der VerAnderung (Julia Reuter) der gegnerischen Mannschaft, die mitunter mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen identifiziert wird, deren Ablehnung die VerAndernden verbindet. „Vor allem die Gruppendiskussionen mit Dorfgruppen demonstrieren, dass und wie Verbindung und Geselligkeit über Ausgrenzung (von Frauen, Schwulen, Fremden (als Verschiebung von Ethnizität auf Dorfgrenzen)) funktionieren, hier werden die Ungleichheitsdimensionen Geschlecht, Sexualität und Hautfarbe / Ethnizität / Nationalität am besten sichtbar – mit Abstrichen auch Alter.“
Letztlich definieren sich Inklusion und Exklusion, Ausgrenzung, Diskriminierung und Hate-Speech binär und intersektionell. Nina Degele schreibt wenig über die Spezifika einzelner Formen der Diskriminierung, doch ist dies auch nicht ihr Thema. Ihr Thema ist der „Marsch durch die Innenwelt von Ungleichheitsdimensionen und Diskriminierungsformen.“ Und diese haben – beim Sport nicht verwunderlich – viel mit Körperlichkeit zu tun. Daher spielen im Sport Hautfarbe und Geschlecht eine so grundlegende Rolle. Interessant ist in diesem Kontext das Thema der Homosexualität. Männergruppen schließen nicht nur Frauen aus, sondern vor allem auch schwule Männer. „Mannsein ist konstitutiv an Heterosexualität und Nicht-Frausein geknüpft. Der Sport allgemein und die Dusche und Umkleide im Besonderen sind dabei homosoziale Räume der Mannwerdung in Abgrenzung zu Frauen und nicht-heterosexuellen Männern.“ Die Ablehnungsrituale gegenüber der gegnerischen Mannschaft, gleichviel ob es sich um die Mannschaft des Nachbardorfes oder eines anderen Landes handelt, orientieren sich an binnendifferenzierenden Hierarchien, am Status von Hautfarbe und Gender, gelegentlich auch am sozialen Status.
So wird die ständige Herabwürdigung des Frauenfußballs (ein merkwürdiger Begriff, denn wer spricht von Männerfußball?) erklärbar. Im 2021 erschienenen Film „Schwarze Adler“ von Torsten Körner wird die Hilflosigkeit von Männern gegenüber Fußball spielenden Frauen am Beispiel des Moderators Wim Thoelke (1927-1995) bei einem Auftritt im Aktuellen Sportstudio des ZDF mehr als deutlich. Wim Thoelke steht in der Mitte von vier Fußballerinnen im Nationaltrikot, die er um mehr als Haupteslänge überragt. Er redet sich um Kopf und Kragen. Irgendwie scheint Wim Thoelke nicht so recht zu wissen, was er sagt, obwohl sein Redefluss vermuten lässt, dass er es gemerkt haben muss, aber offenbar nicht wusste, wie er aus seinem einmal betretenen Fettnäpfchen wieder herauskäme. So kommt es wie es kommen muss. Er spricht von „anderen Sportarten wo Frauen ganz erstaunliche Leistungen erbringen, im Fußball wird das vielleicht auch mal der Fall sein“ (O-Ton Thoelke). Dazu passte eine ebenfalls in „Schwarze Adler“ dokumentierte Reportage des ZDF, in der skeptisch schauende Männer im Stadion gezeigt und die Zuschauer an den Bildschirmen beruhigt werden, die Frauen wüschen ihre Trikots doch selber, so wie sie die Trikots der Männer wünschen, ein Gleiches jedoch von den Männern nicht verlangten.
Nina Degele widmet mit Recht ein ganzes Kapitel dem Thema „Geschlechter differenzieren“. Diese VerAnderung von Frauen hat Methode: „Begriffe wie ‚immer‘ und ‚nie‘ schreiben Eigenschaften und Handlungsweisen als Probleme fest, und aufgrund solcher Charaktereigenschaften sei ihnen der gleiche Erfolg wie bei Männern verwehrt.“ Nina Degele referiert die Entwicklung des von Frauen gespielten Fußballs sowie von Frauen betriebener anderer Sportarten in den vergangenen 150 Jahren. Der DFB verbot Frauen Fußballspiele am 30. Juli 1955. Und als der DFB dann 1970 dieses Verbot aufhob, „wurde demnach nicht Fußball für Frauen geöffnet, sondern Frauenfußball als andere Sportart eingeführt.“ Das galt für die Bundesrepublik Deutschland, nicht für die DDR. Dort war Frauen Fußball nicht verboten, er wurde aber nicht gefördert, da nicht olympisch. Frauen hatten auch in anderen Disziplinen große Schwierigkeiten, ihre Beteiligung an Olympiaden durchzusetzen, beispielsweise im Skispringen und im Ringen. Boxen ist Frauen bei einer Olympiade nach wie vor verwehrt, statt Baseball gibt es Softball. Das Stereotyp des unweiblichen Sports, oft mit Sicherheitsbedenken verbrämt, weil die körperliche Konstitution des weiblichen Körpers den jeweiligen Sport nicht zuließe, durchzieht die Geschichte des offiziellen und professionellen Sports von Anfang an.
Allerdings beteiligen sich Frauen mitunter an dem vom DFB geschaffenen Mythos des von Frauen gespielten Fußballs als einer anderen Sportart. In Britta Beckers 2008 erschienenen Film „Die besten Frauen der Welt“ spricht die damalige Torhüterin Nadine Angerer (*1978) davon, dass Frauenfußball im Grunde „eine andere Sportart“ wäre. Auch Steffi Jones (*1972) geht dem DFB und der damit verbundenen medialen Debatte auf den Leim. Nina Degele zitiert sie: „Frauen interpretieren Fußball auf ihre ganz eigene Weise. Sie spielen eben feminin – elegant, mitunter technisch brillant. (…) Wir spielen vielleicht halt weniger kampfbetont, was auch an der weiblichen Physis liegt. Aber schön. Allein, wenn man sich die femininen Schnitte der Trikots unserer Nationalmannschaft ansieht, erkennt man auf den ersten Blick, dass Fußball und Weiblichkeit zusammenpassen.“ Nina Degele zitiert zur Interpretation Pierre Bourdieu (Pierre Bourdieu / Loic J. D. Wacqant, Revlexive Anthropologie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2006). Sie sieht „jene Form der Gewalt, die über einen sozialen Akteur unter Mittäterschaft dieses Akteurs ausgeübt wird.“ Ein Gegenbild formulierte Birgit Prinz (*1977) in einem ebenfalls von Nina Degele zitierten Interview vom 14. Februar 2004: „Wir möchten unseren Sport vermarkten, nicht unseren Hintern.“ Erst gegen Ende der 2010er Jahre wurden die knappen Outfits von Beachvolleyballerinnen und Turnerinnen ein kontrovers diskutiertes Thema. Die Regeln der weiblichen Kleidung im Sport werden jedoch nach wie vor vorwiegend von Männern gemacht.
Der Mythos vom unpolitischen Sport
All dies ist mitunter schwer zu fassen. In Gesprächen regiert der Ja-Aberismus. Niemand hat etwas gegen Frauen, die Fußball spielen, gegen Schwule, gegen Schwarze, doch dann kommt das „aber“, der Halbsatz, der zeigt, dass sich die jeweiligen Sprecher*innen dann doch für etwas Besseres halten als diejenigen, über die sie gerade sprechen. Das geschieht oft eher subtil und so lautet das Fazit Nina Degeles: „Explizite Beleidigungen und Gewalt markieren die manifeste Spitze von Ausgrenzungen, sie sind empirisch mit vergleichsweise wenig methodischem Aufwand zu rekonstruieren. Schwieriger wird es bei Latenzen und Ausweichstrategien (…)“, anders gesagt, bei den Subtilitäten des Ja-Aberismus und der VerAnderung. Allerdings markieren diejenigen, die sich so verhalten, ihr Verhalten als unpolitisch: „Für die meisten Fans gehören Politik und Sport unterschiedlichen Sphären an.“
Sport wird mit einer solchen Auffassung von gesellschaftlichen und politischen Debatten abgekoppelt. IOC, FIFA und andere Verbände werden geradezu zu eigenen Staaten und Staatenbünden, die ihre eigenen Gesetze erlassen und anwenden. Hier ließe sich der Ansatz Nina Degeles erweitern, indem die Verbindungen, Interaktionen oder auch Interferenzen zwischen Sport und Politik näher analysiert würden. Stephan Bollmann schreibt in „Monte Verità – 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt“ (München, Deutsche Verlags-Anstalt, 2017): „1896 wurden die ersten Olympischen Spiele unserer Zeit in Athen ausgetragen, nachdem sie im Jahr 393 wegen der Verehrung heidnischer Götter verboten worden waren. 1903 feierte die Tour de France ihre Premiere, 1904 kam es als Antwort auf die überbordende Popularisierung des Falls zur Gründung der FIFA, des Weltfußballverbands. ‚Sport ist definitiv zu einer neuen Religion geworden‘, schrieb die im Herbst 1900 gegründete französische Sporttageszeitung L’Auto-Vélo in einer ihrer ersten Ausgaben. Alle Ideologien des 20. Jahrhunderts – Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus – haben den Sport ideologisiert, und doch hat er sie alle überlebt, indem er zu seiner eigenen Ideologie geworden ist.“
Anders gesagt: politische Unschuld zeichnete den Sport nie aus, schon gar nicht die Funktionärseliten, die zwar auf der einen Seite jede Einmischung in politische Entwicklungen der Gastländer der jeweiligen Weltmeisterschaften oder Olympischen Spiele leugnen, aber durch ihre Vergabepolitik und die begleitenden Maßnahmen wie beispielsweise die UEFA mit dem 2021 verhängten Verbot, Stadien aus Protest gegen die LSBTI*-feindliche Gesetzgebung in Ungarn in den Regenbogenfarben leuchten zu lassen, nichts anderes tun als ihre eigene politischen Auffassungen für alle Teilnehmenden verbindlich zu machen.
Differenzkonstruktion – scheinbar antikapitalistisch
Die zentrale Frage des Buchs von Pavel Brunssen lautet: wie kommt es dazu, dass der Fußballclub RB Leipzig bei den Fans anderer Clubs dermaßen verhasst ist? Andrei S. Markovits schreibt im Vorwort mit Ausrufezeichen: „RB ist fremd!“ Es ist einerseits die Skepsis, „das Ressentiment gegen das Neue“, andererseits aber auch, „dass die Fremden und Neuen als kommerziell angesehen werden und somit als unauthentisch gelten.“ Pavel Brunssen geht es um „die Tiefendimensionen des Konfliktes“. Er stützt seine Analyse auf Textquellen aus Veröffentlichungen der Fan- und Ultra-Szene: „Die Textquellen wie Stellungnahmen, offene Briefe und Interviewpassagen umfassen vor allem Blogbeiträge, aber auch Veröffentlichungen in Fanzines, Flyer-Texte, einen Redebeitrag, ein Gedicht, einen Facebook-Eintrag sowie eine Petition.“ Die Quellen stammen aus 28 Vereinen, darunter auch einige Vereine unterer Ligen wie beispielsweise den Regionalligen.
Nun ist RB Leipzig nicht der einzige Verein, dessen Geschichte eine eng mit einem bestimmten Unternehmen verbunden ist. Das gilt auch für Bayer 04 Leverkusen, im Jargon der Fußballberichterstattung oft die „Werkself“ genannt, als handele es sich um eine Betriebssportgemeinschaft, für den VfL Wolfsburg oder den FC Ingolstadt. Besonders heftig waren die Reaktionen auf den schnellen Aufstieg der TSG 1899 Hoffenheim, in dessen Gründer Dietmar Hopp Fans anderer Mannschaften eine geeignete Projektionsfläche fanden, ihn auch persönlich als Vertreter der Kapitalisierung des Fußballs anzugehen. Das war und ist offenbar einfacher als einen ganzen Konzern anzugehen.
Und RB Leipzig? Pavel Brunssen zitiert beispielhaft die Ultras des SV Darmstadt 98, die „entscheidende Unterschiede“ zwischen den genannten Clubs und dem RB Leipzig sehen: „So hätten die Vereine aus Leverkusen und Wolfsburg sich ‚immerhin innerhalb ihres Betriebes und später auch des deutschen Fußballs hochgearbeitet‘ und seien nicht ‚künstlich entworfen‘ worden.“ Das ließe sich eigentlich auch für den RB Leipzig sagen, der in der fünften Liga das Startrecht des SSV Markranstädt übernahm und sich dann Jahr für Jahr bis in die Bundesliga vorarbeitete. Das ist im Fußball durchaus üblich. Auch andere Mannschaften haben das Startrecht einer anderen Mannschaft übernommen oder ihr Startrecht durch eine Fusion erhalten und nahmen den Spielbetrieb dann in der Liga des Vorgänger-Vereins auf. Allerdings schaffte nur der RB Leipzig den Aufstieg bis in die erste Liga. Im Eishockey und im Basketball verkauft gelegentlich ein kleiner Verein mit Startrecht in der Bundesliga seine Lizenz an einen Großstadtclub, der dann an seiner Statt dort spielte. Dies gab es bisher im deutschen Fußball nicht.
Immer wieder ist davon die Rede, dass Vereine wie der FC Schalke 04, Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach, der 1. FC Köln, der Hamburger SV und viele andere „Echte Arbeit“, „lokale Verwurzelung“, „Tradition“ verkörpern. Diese „Tradition“ lassen gegnerische Fans aber auch für Bayer 04 Leverkusen gelten, das auf eine lange Verbindung mit den Bayer-Werken zurückblickt. Ähnliches lesen wir zur Beziehung zwischen dem VfL Wolfsburg und den Volkswagen-Werken. Beim VfL Wolfsburg kommt hinzu, dass es die Stadt ohne die VW-Werke nicht gäbe, die Stadt wurde um die Werke herumgebaut. Es entstanden erst die Werke, dann die Stadt, dann der Verein, eine hohe Identifikation von Verein, Stadt und Unternehmen ist die Folge.
Einer der Vorwürfe an RB Leipzig lautet „feindliche Übernahme“: „Auch wenn es in Salzburg tatsächlich eine Übernahme von Austria Salzburg durch Red Bull gegeben hatte, auf welche sich die Ultras kritisch beziehen, deutet diese Aussage auf die zentralen Topoi der Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig hin.“ RB Leipzig hätte eben keine „Tradition“ und wäre ein Verein, mit dessen Gründung es ausschließlich um Kommerz gehe. Selbst die TSG 1899 Hoffenheim wird von den Fans offenbar nicht als kommerzielle Veranstaltung des Mäzens gesehen: „Die Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig hat die Ablehnung gegenüber Dietmar Hopp und die TSG Hoffenheim nicht nur quantitativ abgelöst, sondern wird von dieser, vermittelt durch Heimat- und Wurzelmetaphern, auch qualitativ unterschieden.“
Fangruppen, insbesondere Ultras der genannten Vereine aus Leverkusen, Wolfsburg, Ingolstadt und Hoffenheim, grenzen sich ausdrücklich von RB Leipzig ab. Diese Auffassung teilen auch die Fans anderer Vereine. So dokumentiert Pavel Brunssen Ultras des 1. FC Köln, die anerkennen, „dass Fans und Mitglieder des FC Ingolstadt sich um eine Begrenzung des Einflusses von Audi bemühen.“ Funktionäre denken offenbar ähnlich. Pavel Brunssen verweist auf Andreas Rettig, der auf Zeiten als Manager beim SC Freiburg, beim 1. FC Köln und beim FC St. Pauli zurückblicken kann und „in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (…) viele zentrale Elemente der Differenzkonstruktion zwischen der TSG Hoffenheim und RB Leipzig zum Ausdruck (brachte), wie sie auch von verschiedenen Fan- und Ultragruppen geäußert werden (…). Als Geschäftsführer der DFL habe er seine Unterschrift unter die Lizenz von RB Leipzig verweigert. Die TSG Hoffenheim sei etwas völlig anderes, ‚weil es sich um einen verlässlichen Investor mit familiärer Verwurzelung und Herzblut am Standort‘ handele.“ Andreas Rettig verweist auf die Praxis in anderen Ländern, beispielsweise in England, wo Fußballclubs von arabischen oder russischen Oligarchen aufgekauft werden. Das dürfe es in Deutschland nicht geben. Er plädiert für den Fußball als „Volkssport, der sich nicht noch weiter von den Menschen entfernen darf“, eine Formulierung, die Pavel Brunssen als „Sport des ‚Volkes‘“ zuspitzt. Weit ist diese Rhetorik nicht mehr von nationalistischer Rhetorik vergangener Zeiten entfernt.
Wie antisemitisch ist der Diskurs um RB Leipzig?
Pavel Brunssen orientiert sich an Ergebnissen der Antisemitismus-Forschung, so auch an dem von Julijana Ranc 2016 veröffentlichten Buch „‚Eventuell nichtgewollter Antisemitismus‘ – Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern“ (Münster, Westfälisches Dampfboot). Er verweist auch auf das damit entstehende Problem: „Die Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig mit Methoden und Konzepten der Antisemitismusforschung zu analysieren, bedeutet nicht, diese mit den Konzentrationslagern der Nazis oder mit Anschlägen auf Synagogen gleichzusetzen. Es bedeutet auch nicht, Kritik an RB Leipzig mit Antisemitismus zu verwechseln. RB Leipzig wurde und wird zur Genüge und völlig zurecht für undemokratische Mitgliederstrukturen oder fragwürdige Transfers mit Red Bull Salzburg kritisiert. Es gibt jedoch einen Moment, in dem die Kritik in Ressentiment umschlägt.“ Das Ziel Pavel Brunssens: es solle „sichtbar werden, was es mit der Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig auf sich hat.“
Zur Beantwortung seiner Fragen nutzt Pavel Brunssen Methoden und Ergebnisse der Antisemitismusforschung als Grundlagen einer Ressentimentforschung, die wiederum ein Teil von Antisemitismusforschung ist und gleichzeitig darüber hinaus geht. Es ließen sich sogar Parallelen zur Bewertung der Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie finden. Auch dort finden wir immer wieder Stereotype des Antisemitismus, zumindest völkischer Rhetorik, die alle, die in irgendeiner Form anders denken und handeln auszuschließt.
Antisemitismus ließe sich demnach nur bekämpfen, wenn alle denkbaren Vorstufen und Konnotate erkannt werden, und dazu gehört auch die Rhetorik gegen RB Leipzig. Pavel Brunssen: „Ich plädiere für eine antisemitismuskritische Perspektive, die mehr sein soll als ein anti-antisemitischer Standpunkt. Anstelle einer sich ausschließlich distanzierenden Haltung soll eine kritische Perspektive im Vordergrund stehen, welche antisemitische Denk- und Argumentationsmuster in ihren Tiefendimensionen zu verstehen sucht, ohne dabei mit erhobenem Zeigefinger auf die sich antisemitisch äußernden Subjekte zu zeigen.“ Er erkennt an, dass sich manche Fan- und Ultragruppen „seit Jahren gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Diskriminierung“ engagieren. Damit nähert sich Pavel Brunssen der Frage, ob auch etwas antisemitisch sein kann, das nicht unmittelbar auf Jüdinnen*Juden bezogen wird, sozusagen eine Spielart eines Antisemitismus ohne Juden wäre. Dies könnte im Bezug auf das hinter der Gründung des RB Leipzig steckende Geld zutreffen. „Für Ultras ist die ‚Kommerzialisierung‘ das entscheidende Problem des Fußballs, welche sie in RB Leipzig personifiziert sehen. Hier kann sich antisemitisches Denken und Fühle mit einem – zumindest für die Gruppe der Fußballfans – entscheidenden Problem verbinden, welches zur Virulenz des hier untersuchten Phänomens beiträgt.“ Anders gesagt: jede Gruppe schafft sich möglicherweise ihren eigenen Antisemitismus. „Die Annahme, dass der Antisemitismus nicht durch Jüd*innen, sondern durch die Haltung der Antisemit*innen, ihre Projektion und ihre Art zu denken und zu fühlen zu bestimmen ist, führt mich zu der These, dass sich dieses Denken und Fühlen auch gegen RP Leipzig richten könnte.“
Das verbindende Element ist hier eine der Varianten der Annahme vom angeblichen jüdischen Reichtum, der Jüdinnen*Juden befähige, die Herrschaft über einen bestimmten Bereich, möglicherweise sogar ganze Länder oder die ganze Welt zu übernehmen. Dies entspricht der von Pavel Brunssen zitierten These von Samuel Salzborn, „dass der moderne Antisemitismus im Unterschied zum vormodernen Antijudaismus eine ‚Abstraktionsleistung‘ vollziehe“, die sich wiederum auch auf Hannah Arendt berufen kann, die in dem 1955 erschienenen Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ unterschied. Pavel Brunssen zitiert Hannah Arendt: „Was aber den Antisemitismus angelangt, so ist offensichtlich, dass er politisch nur dann relevant und virulent werden kann, wenn er sich mit einem der wirklichen Probleme der Zeit verbinden kann.“
Der die Kritik an RB Leipzig wie ein roter Faden durchziehende Gedanke der „Kommerzialisierung“ wäre ein solches „wirkliches Problem der Zeit“. Damit wäre – so wage ich die These weiterzuspinnen – der Fall RB Leipzig nicht mehr und nicht weniger als ein Versuch antikapitalistischer Rhetorik, der immer wieder in antisemitische Ressentiments und Stereotype abzugleiten droht. Dietrich Mateschitz, seit der Gründung im Jahr 1984 Leiter des Unternehmens Red Bull, wird zu einem Wiedergänger von Rockefeller, Rothschild oder auch George Soros und anderen Magnaten stilisiert.
Pavel Brunssen spricht von einer „Gelegenheitsstruktur“, die das große Feld der „Kommerzialisierung des Fußballs“ strukturiere. Gelegenheit macht somit nicht nur Diebe, sondern auch Antisemit*innen. Die Kritik am RB Leipzig wäre möglicherweise so etwas wie eine Umwegkommunikation, wie wir sie bei antisemitischen Äußerungen immer wieder finden. Die Form der Kapitalismuskritik gegenüber dem RB Leipzig ist jedoch nur ein Begriffscluster, in dem antisemitische Stereotype aufgegriffen werden. Pavel Brunssen dokumentiert auch Tiermetaphern – Kapitel „Tiermetaphern: Von Ratten, Geiern und Heuschrecken“ – und Krankheitsmetaphern – Kapitel „Krankheitsmetaphern: Von Windpocken, Pest und ‚Bullenseuche‘“, die „Amerikanisierung“ als Variante des Vorwurfs der „Kommerzialisierung“ und nicht zuletzt der Vorwurf, „den ‚wahren Fußball‘ zu verraten“. Ein weiterer Punkt ist die Forderung nach „Authentizität“. Der „echte“ Deutsche ist hier der „echte“ Fußballfan und der ist eben nicht Fan des RB Leipzig. Gegner*innen des RB Leipzig verwenden das gesamte Arsenal antisemitischer Rhetorik, jeweils so wie es gerade passt.
Frauenfeinde
Und sie sind Frauenfeinde, Frauenverächter, so ließe sich hinzufügen. Pavel Brunssen überschreibt ein Kapitel „Tradition ist Männersache“, dies als Zitat markiert, Untertitel: „Zur Intersektionalität von Sexismus, Männlichkeitskonstruktionen und Antisemitismus“. „Die männliche Grammatik des Fußballs sorgt zwar für einen Ausschluss von Frauen, dieser ist jedoch nicht absolut. Frauen können vor allem dann an Fankultur teilnehmen, wenn sie sich als ‚echte‘ Fans bewiesen haben. Frauen müssen sich jedoch immer wieder aufs Neue beweisen.“ Damit sind wir wieder bei dem schon angesprochenen Thema der Mittäter*innenschaft, die wir selbst bei reflektierten Fußballspielerinnen finden. Sie können noch so erfolgreich sein, wenn die Männer ihren Raum beanspruchen, treten sie in die hinteren Reihen zurück. So erging es der mehrfachen Meister*innenmannschaft der Fußballbundesliga der Frauen, dem VfL Wolfsburg. „Als die VfL-Frauen 2017 nicht nur die Liga, sondern auch den Pokal gewannen, verbot der Verein dem Team die normalerweise folgende Feier in der Wolfsburger Innenstadt, da die Männermannschaft noch versuchte, den Abstieg in die 2. Bundesliga im Relegationsspiel abzuwenden. Den Frauen wurde unter Protest das Feiern verboten, weil die Männer um ihre Existenz in der Bundesliga kämpften. Diese ‚kleine Episode‘ verdeutlicht exemplarisch, dass der Publikumssport, der ‚echte‘ Fußball, stets männlich konstruiert ist.“
Die Fan- und Ultragruppen verhalten sich im Grunde wie eine Männergesellschaft aus der Zeit, in der sich Männer noch im Namen der Ehre duellierten. Ein solches Verhalten ist zwar in der heutigen Gesellschaft verpönt, doch im Fußball lässt es sich noch ausleben. Ute Frevert schreibt in „Vergängliche Gefühle“ (Göttingen, Wallstein, 2013): „So fest wie das Duell als Privileg des Adels und gehobenen Bürgertums die Ausgrenzung sozialer Unterschichten aus der ‚satisfaktionsfähigen Gesellschaft‘ zementierte, so gebieterisch zog es die Trennlinie zwischen Männern und Frauen zuweilen auch zwischen Juden und Christen. (…) Dass männliche Ehre am seidenen Faden körperlicher Gewaltbereitschaft und physischen Mutes hing, war ebenfalls ein zentraler Topos des langen 19. Jahrhunderts gewesen.“
Ute Frevert hat sich nicht mit Fußball und schon gar nicht mit modernen Fankulturen befasst, aber das, was sie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts analysiert, lässt sich meines Erachtens auf diese anwenden. Gewalt unter Fans lässt sich möglicherweise sogar als Ergebnis von Demokratisierung begreifen. Die zunächst nur unter Adligen möglichen Duelle, die dann auch im Bürgertum zugelassen waren, äußern sich heute als Duelle zwischen Fan-Gruppen. Ein beeindruckendes Dokument solcher Duelle zwischen Gruppen von Hooligans bieten der Film „Awaydays“ von Kevin Sampson aus dem Jahr 2009 sowie die Buchvorlage des Regisseurs aus dem Jahr 1982.
Entscheidend für das Funktionieren einer solchen männlichen Gesellschaft ist der Ausschluss bestimmter Gruppen, in der Geschichte immer wieder von Frauen und von Juden*Jüdinnen. Damit wären wir auch wieder bei der Markierung der Fans des RB Leipzig als – wie es in der Sprache von schlagenden Studentenverbindungen hieße – „nicht satisfaktionsfähig“. Der RB Leipzig übernimmt bezogen auf die „Männlichkeitskonstruktion“ vergangener Zeiten die Rolle der Juden und der Frauen, auch dies in der Form des antisemitischen Stereotyps des unmännlichen Juden. Pavel Brunssen: „Frauen sind qua Geschlecht, Fans von RB Leipzig qua Vereinszugehörigkeit von der Gewalt unter Männern ausgeschlossen. Beide Ausschlüsse funktionieren über die Berufung auf vermeintliche Natur. Frauen gelten als minderwertig, weil sie ‚von Natur aus‘ schwach seien. RB Fans werden als ‚unehrenhaft‘ wahrgenommen, da ihr Verein nicht natürlich gewachsen‘ sei. Frauen wie RB-Fans sind Gegenbilder zum Ideal des ‚Ehrenmannes‘ und deshalb nicht zu Gewalthandlungen ‚auf Augenhöhe‘ zugelassen.“
Der binäre Code im Fußball
Pavel Brunssen schließt an den Begriff des „Kulturellen Codes“ (Shulamit Volkov) an: „Vergleichbar dem Antisemitismus als ein ‚kultureller Code‘ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte RB Leipzig sich zu einem subkulturellen Code in der postnazistischen Gesellschaft, mit dem sich das Lager der ‚echten‘ Fans in Opposition zu allem stellen kann, was mit der ‚Kommerzialisierung‘ und dem ‚modernen Fußball‘ assoziiert wird.“ „Wir und die anderen“ – das ist die Botschaft auch hier. Es verwirklicht sich eine „binäre Eigenlogik des Fußballs in Bezug auf RB Leipzig entlang der Werte Eigenständigkeit, Mitbestimmung und Tradition“.
Antikapitalistisch, betont männlich – das ließe sich auch auf die Arbeiterbewegung bis in die 1920er Jahre beziehen. Möglicherweise lässt sich die Kritik am RB Leipzig als die Spitze eines Eisbergs betrachten, der den Namen Kapitalismus trägt und nichts anderes im Sinn hat als die Fans, die braven Arbeiter zu unterjochen und zu entmachten. Pavel Brunssen erkennt in dieser „Differenzkonstruktion“ sexistische Elemente aus. So „überschneiden sich antisemitisches Denken und Fühlen in der Ressentimentkommunikation gegen RB Leipzig mit Männlichkeitskonstruktion und Sexismus. Insbesondere das Bild der Hure weist Parallelen zu antisemitischen Frauenbildern auf.“ Die Fans des RB Leipzig werden von den Fans der anderen Vereine als schwach, verweichlicht, unmännlich, als Anhänger externer kapitalistischer Mächte markiert.
Es könnte auch ein anderer Verein sein, aber der RB Leipzig eignet sich vorzüglich, um antikapitalistische, sexistische und antisemitische Ressentiments auszuleben. Sport ist alles andere als ein freiheitlich-demokratisches Unterfangen. Und der Fußball macht in der Tat medienwirksam sichtbar, was in anderen Sportarten vielleicht nur im kleinen Kreis auffällt. „Der Fußball bietet mit seiner binären Struktur, dem Wettstreit zwischen zwei Teams, die als Repräsentanten ihrer jeweiligen Städte oder Regionen angesehen werden, ein niedrigschwelliges und zugleich wirkungsvolles Angebot zur Katharsis, also zur ersatzweisen Auslebung von Aggressionen.“
Norbert Reichel, Bonn
(Erstveröffentlichung im November 2022, Internetzugriffe zuletzt am 4.11.2021)