Die illiberale Wende

Ein Gespräch mit Michal Hvorecký über die Wahlen in der Slowakei

„Nach wie vor bezeichneten wir andere als Extremisten, ansonsten wären wir aufgefallen. Wir stellten die Begriffe auf den Kopf. Trolle zu kritisieren, so erweckten wir den Anschein, war ein Verbrechen oder eine fixe Idee, eine Krankheit, eine regelrechte Perversion. Wer gegen uns war, stellte sich auch gegen die Nation. Wir verwirrten die Leute, vergrößerten Chaos und Angst und stilisierten uns dann zu Rettern. Je schlimmer, desto besser für uns Trolle.“  (aus: Michal Hvorecký, Troll, Stuttgart, Tropen, 2018)

In dem dystopischen Roman „Troll“ beschreibt Michal Hvorecký die Entstehung und die Eigendynamik von Desinformationskampagnen, die wir zurzeit immer wieder in diversen Wahlkämpfen erleben. Die jüngsten Wahlen in der Slowakei fanden am 30. September 2023 statt und führten zu einem Regierungswechsel. Das hatte auch viel mit einem alles andere als sachgerechten Framing der Begriffe und der politischen Propaganda zu tun. Das funktioniert zum Glück für die liberale Demokratie nicht immer.  In Polen gewann die liberale Opposition die Wahlen gewann. In der Slowakei entschied jedoch Robert Fico mit seinem nationalistischen Kurs die Wahlen für sich. Michal Hvorecký kommentierte die Wahlergebnisse bereits in einem Interview vom 2. Oktober 2023 im Deutschlandfunk.

Inzwischen hat Robert Fico, der mit seiner Partei SMER mit fast 23 Prozent die meisten Stimmen gewinnen konnte, eine Koalition mit der HLAS, die vor wenigen Jahren noch mit der SMER eine gemeinsame Partei bildete und der in Teilen rechtsextremen SNS eine Regierung bilden können. Diese Regierungsbildung ist nicht nur das Aufsehen erregende Comeback eines Politikers, der die Slowakei bereits zehn Jahre als Premierminister führte, sondern auch eine Kehrtwende der Slowakei, die sich in Zukunft am Modell der „illiberalen Demokratie“ Viktor Orbáns zu orientieren scheint und nicht mehr bereit ist, die Ukraine zu unterstützen. Ob Robert Fico auch die an ihm bekannten pragmatischen Neigungen wieder in den Vordergrund seines politischen Handelns stellen wird, bleibt eine offene Frage. Zurzeit sieht es nicht danach aus. Mit der neuen slowakischen Regierung hat das bisher weitgehend isolierte Ungarn mit der Slowakei einen Bündnispartner gefunden. Dies zeigte sich auch bereits bei den ersten Auftritten auf der Bühne der Europäischen Union.

Michal Hvorecky, Foto: Martina Simkovicova.

Michal Hvorecký ist zum zweiten Mal Gast im Demokratischen Salon. In dem Gespräch „Das Land dazwischen“ hat er die oppositionelle slowakische Literatur während der kommunistischen Zeit vorgestellt. Thema waren Autor:innen, die gegen die kommunistische Herrschaft opponierten, damals noch in einem Staat gemeinsam mit der heutigen Tschechischen Republik. Michal Hvorecký ist Autor von bisher sechs Romanen, die im Tropen-Verlag erschienen. Er schreibt zurzeit an seinem siebten Roman. Alle Romane sind dank seines kongenialen Übersetzers Mirko Kraetsch in deutscher Sprache lieferbar. Michal Hvorecký arbeitet im Goethe-Institut in Bratislava.

Eine One-Man-Regierung

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass die Wahlergebnisse in der Slowakei einer Achterbahn gleichen. OLaNo, die bisherige Regierungspartei verlor fast 22 Prozent, davon profitierten vor allem die Liberalen mit plus 11 Prozent, die sozialdemokratische HLAS mit plus 11,6 Prozent, die Partei, die jetzt zum wiederholten Male den Premierminister stellt, SMER, jedoch nur mit plus 4,6 Prozent. Die zukünftige Regierung unter Robert Fico wird von SMER, HLAS und der in Teilen rechtsextremen SNS gebildet. Andere rechtsextreme Parteien sind gescheitert. Immerhin konnte sich die liberale PS um 11 Prozent auf 18 Prozent verbessern, sodass sie jetzt die Opposition anführen wird. Die bisherige Regierungspartei konnte nur noch 8,9 Prozent erringen. Wie bewertest du diese Wahl?

Michal Hvorecký: Im Grunde ist es erst einmal wichtig, dass die Wahl frei und demokratisch war. Wir hatten mit 68,5 Prozent Wahlbeteiligung eine Rekordteilnahme. Keine der Parteien hat die Glaubwürdigkeit der Wahl bezweifelt. Das Ergebnis entspricht der Lage der gespaltenen Slowakei und der Enttäuschung über die Regierungsführung von Igor Matovič, bedingt teilweise auch durch die Corona-Pandemie. Die Stimmen für SMER mit Robert Fico, der schon bereits zehn Jahre lang Premierminister war, waren zu erwarten. SMER nennt sich inzwischen nicht mehr nur Sozialdemokratie, sondern slowakische Sozialdemokratie. Wie in vielen europäischen Ländern gibt es eine Tendenz zur autoritären Machtführung und einer Schwächung des Vertrauens in die Demokratie. Dem entspricht der Erfolg populistischer Parteien Mitte-Rechts oder auch sehr rechts.

Michal Šimečka und Enmanuel Macron, Internetseite der Partei Progresivne Slovensko.

Es hätte auch eine andere Möglichkeit der Regierungsbildung gegeben. Die größte Überraschung ist der große Erfolg von Progresívne Slovensko (PS), der liberalen Partei mit ihrem Vorsitzenden Michal Šimečka, die den zweiten Platz erreichte. Sie erreichte mit 18 Prozent so viele Stimmen wie sie noch nie eine liberale Partei in der slowakischen Geschichte erreichte. Theoretisch wäre es möglich gewesen, eine Regierungskoalition um diese Partei zu gründen. Sie wäre allerdings weniger stabil, sie wäre eine Mischung von Konservativen, Liberalen, älteren und jüngeren Menschen, auch mit einigen Apparatschiks der Vergangenheit. Das aber ist gescheitert. Wir haben eine neue Regierungskoalition. Am 25. Oktober wurde das Parlament eröffnet. Die neue Regierung bewarb sich um das Vertrauen des Parlaments. Es erwarten uns rechtspopulistische vier Jahre.

Norbert Reichel: Schafft die Regierung vier Jahre?

Michal Hvorecký: Ich glaube schon. Robert Fico ist ein sehr erfahrener Politiker. Er war zehn Jahre Premierminister, dann war seine Partei noch zwei weitere Jahre an der Macht. Er verfügt über einen ausgeprägten Willen zur Macht. Er hat in der Wahlkampagne hart gekämpft. Ich glaube, er wünscht sich eine langjährige Regierung, nicht nur eine Übergangsphase. Das hat er vorher auch schon geschafft. Seine starke Seite war immer, dass er viele Partner in seinen Koalitionen im wahrsten Sinne des Wortes kaputtgemacht hat. Ein Beispiel ist Vladimir Mečiar, den er in seiner ersten Regierung zur politischen Leiche gemacht hat. Er hat die slowakische Nationalpartei fast verschlungen, auch die grüne Partei niedergeschlagen und später gekauft. Wäre ich jetzt sein Koalitionspartner, würde ich mir große Sorgen um die Zukunft meiner Partei machen. Er ist mit Sicherheit der stärkste Mann der neuen Regierung. Viele sprechen von einer One-Man-Regierung. Er wird mehr oder weniger alleine regieren und seinen Koalitionspartnern seine Politik diktieren.

Norbert Reichel: Was bedeutet das für Peter Pellegrini und die HLAS? Diese ist auch eine sozialdemokratische Partei und eine Abspaltung von Ficos Sozialdemokratie.

Peter Pellegrini, Internetseite der Partei HLAS.

Michal Hvorecký: Vor einem Jahr hatten viele erwartet, dass Peter Pellegrini die Wahlen klar gewinnt. Er lag in allen Umfragen an der Spitze. Nur in der Zeit der multiplen Krisen zeigte sich, dass seine Art der Politik nicht mehr ankam. Er pflegte einen medial orientierten Populismus, hatte keine klare Meinung, wollte immer nur lächeln, gut aussehen, schöne Bilder produzieren, sich als Mensch des Volkes stilisieren. Er war ein Mann ohne Inhalte. Man könnte fast sagen: ein Mann ohne Eigenschaften. Er war eine Figur, bei der man nicht mehr wusste, ob er rechts oder links oder in der Mitte war. Es gab keine klare Meinung zur Klimakrise, zur Umweltverschmutzung, zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Er wollte mit allen befreundet sein und das hat ihn sehr geschwächt. Er ist der Verlierer der letzten Monate des Wahlkampfes. Ich denke, es kommt wieder zu einer starken Alliierung von SMER und HLAS. Das war ja mal eine Partei. Es sind weitgehend immer noch die gleichen Personen. Auch in der Öffentlichkeit wird es für die Gesellschaft schwer sein einzuschätzen, ob jemand zur SMER oder zur HLAS gehört. Fico hat mit seinen klaren Positionen diesen Wahlkampf gewinnen können. Er landete mit etwa zehn Prozent vor Pellegrini.

Norbert Reichel: Der dritte Koalitionspartner ist die SNS, die Slowakische Nationalpartei. Wie ist diese einzuschätzen?

Michal Hvorecký: Das ist meine größte Sorge für die Zukunft der Slowakei. Diese Partei kämpfte um das Überleben, sie musste die fünf Prozent erreichen, die sie mit 5,6 Prozent gerade einmal schaffte. Der Grund war, dass der Parteivorsitzende, Andrej Danko, in diesem Überlebenskampf auf seine Parteiliste sehr problematische Personen aus dem rechten Spektrum und aus der Desinformationsszene geholt hat, leitende Figuren von Fake News, Influencer einer neuen Generation, auch viele jüngere Leute zwischen 30 und 40 Jahren, die in der Corona-Zeit große Follower-Gruppen aufbauen konnten, auf TikTok, Instagram, Facebook, Telegram. Dankos Vorstellung war, dass sie ihm mit ihren Stimmen in der letzten Phase des Wahlkampfs helfen. Das war auch tatsächlich der Fall.

Im Endeffekt ist jedoch nur Danko Parteimitglied, alle anderen Parlamentarier auf seiner Liste sind unabhängige Kandidaten aus dem sehr rechten oder sogar extremistischen Spektrum. Diese neun Parlamentarier sind sehr fragwürdige Personen. Zwei von ihnen sind als Minister:innen für das Kulturressort und das Umweltressort nominiert worden. Das ist ein Skandal und das ist eine große Schwäche dieser Regierungskoalition, denn es ist einfach schwer akzeptabel und auch schon ein großes Thema in den Medien. Es gab große Petitionen mit über 10.000 Unterschriften. Die Partei selbst ist damit sehr unglücklich. Führende Mitglieder der Partei sind nicht mehr im Parlament, die Partei wird von Menschen mit einem ganz anderen Programm vertreten. Viele sind Neofaschisten. Es ist das erste Mal, dass wir wieder Neofaschisten in der Regierung haben.

Kulturkampf

Norbert Reichel: Fico hat in seinem Wahlkampf einen sehr nationalistischen oder vielleicht sollte ich sagen nationalbetonten Wahlkampf geführt, eine Art Slowakei-First-Politik. Das muss nicht heißen, dass er selbst in allen Punkten nationalistisch denkt. Er galt lange Zeit auch als Pragmatiker. Aber es sieht doch so aus, dass die Partei von Pellegrini zwischen SMER und SNS zerrieben wird. Themen wie Umwelt spielen dann kaum noch eine Rolle.

Michal Hvorecký: Der neue Umweltminister ist ein Klimaleugner. Die neue Kulturministerin ist eine klar prorussische Agentin. Sie arbeitet im Dienste des Kremls. Das sind geopolitisch sehr verwirrte Persönlichkeiten. Unsere Mitgliedschaft in der EU und in der NATO zweifeln sie an. Sie bezweifeln Verpflichtungen gegenüber der Ukraine. Ich gebe Fico die Schuld, dass er das zulässt. Es ist etwas anderes, eine Koalition zu bilden, aber solche Leute in die Regierung aufzunehmen.

Fico ist ein guter Redner, er kann Menschen faszinieren. Er agierte im Wahlkampf viel rechter als er eigentlich denken dürfte. Aber ihn motiviert sicherlich auch eine Art Rache. Seine Äußerungen nach den Wahlen waren alles andere als ermutigend. Er sagte, ich zitiere, das bedeutet das Ende der NGO’s, oder er behauptete, die neue Regierung wird nicht mehr mit klassischen Medien kommunizieren, nicht mehr mit den Qualitätsmedien, die Hauptpartner für die Regierung seien die alternativen Medien. Das heißt, er wird offensichtlich diese Tendenz auch als Regierungschef fortsetzen. Das könnte ein europäisches Problem werden, nicht nur ein slowakisches.

Norbert Reichel: Damit sind wir bei einem zentralen Thema. Die Slowakei war ein Teil der seit 1991 sogenannten Višegrád-Gruppe, der neben der Slowakei Tschechien, Ungarn und Polen angehören. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine wurden diese vier Staaten vor allem wegen ihrer restriktiven Haltung zur Migrationspolitik zu einer relevanten Größe in der Europäischen Union. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine änderte sich diese Auffassung zwar nicht, wohl aber wurden die Bindungen zwischen den vier Staaten auf eine Probe gestellt, weil sich Ungarn anders als die drei anderen Staaten immer wieder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen die Russische Föderation aussprach. Die Slowakei wird nicht aus der EU und auch nicht aus der NATO austreten, aber ich denke, sie wird möglicherweise einen nationalen Kurs fahren wie ihn Ungarn oder in Polen die inzwischen wohl abgewählte PiS-Regierung repräsentieren.

Michal Hvorecký: Robert Fico ist ein erfahrener Europäer, ein europaweit bekannter osteuropäischer Politiker. Nur hat er sich in den letzten Jahren sehr radikalisiert, gerade in der Corona-Zeit, er hatte Auftritte bei Impfgegner-Versammlungen, bei Demonstrationen gegen die Corona-Regeln. Er wurde damit auch Teil der immer stärkeren prorussischen Szene. Er hat auch gesagt, keine Patrone mehr an die Ukraine. Vorher hatte die Slowakei sogar Kampfjets geliefert. Die Slowakei gehörte zu den zehn engagiertesten Ländern der Welt in der Unterstützung der Ukraine, gemessen an der Bevölkerungszahl. Damit wird Fico Schluss machen. Das ist die erste wichtige Entscheidung, die eine langfristige Konsequenz haben wird. Und er ist ein großer Bewunderer von Viktor Orbán und von dessen Vorstellung einer illiberalen Demokratie.

Norbert Reichel: Das ist ja recht ungewöhnlich, dass ein slowakischer Regierungschef den ungarischen mag.

Michal Hvorecký: Das ist das erste Mal, dass die slowakischen Rechten einen Ungarn vergöttern. Das erste Mal vielleicht in der Geschichte. Es ist vielleicht sogar lustig, aber nicht wirklich. Die Situation ist jedoch anders als in Polen und in Ungarn, denn die Slowakei hat noch immer starke unabhängige Medien. Wir haben mindestens drei große unabhängige kritische Medien: Dennik N, Dennik SME sowie Actuálne SK, eine Online-Plattform. Fico will mit denen nicht mehr kommunizieren. Wir haben aber auch noch sehr starke öffentliche Radiosender, Fernsehkanäle. Und wir haben eine starke Zivilgesellschaft.

Norbert Reichel: Welche Möglichkeiten hat Fico, Personen bei Fernseh- und Radiosendern oder auch bei Zeitungen auszutauschen? Das hat ja die PiS in Polen gemacht, sodass man bei der Wahl vom 15. Oktober 2023 durchaus fragen darf, wie hoch die PiS verloren hätte, wenn die Opposition in den Medien dieselben Rechte gehabt hätte wie die Regierung. Was wird die slowakische Regierung angehen?

Michal Hvorecký: Unbedingt. Das wird von Anfang an das große Thema. Die neue Kulturministerin ist ehemalige Fernsehmoderatorin und auch für die öffentlich-rechtlichen Medien zuständig.

Norbert Reichel: Gibt es Überlegungen Ficos, auch die Justiz zu reformieren wie das Orbán in Ungarn getan hat und in Polen die PiS es zum Abschluss gebracht hätte, wenn sie die Wahlen gewonnen hätte.

Michal Svorecký: Bei uns ist die Situation in gewisser Hinsicht noch absurder, vielleicht sogar gefährlicher. Ficos Wahlkampf war auch ein Wahlkampf gegen die Rechtsstaatlichkeit. Gegen viele seiner Genossen, seiner engsten Parteifreunde, wird prozessiert. Das betrifft auch Peter Pellegrini. Auch gegen ihn wird prozessiert. Es gab in der letzten Regierung von Fico große Probleme mit Korruption. Investigative Journalisten und Justiz haben mehrere große Skandale aufgedeckt. Es gab über 20 Mitglieder der Partei, gegen die prozessiert wurde. Ficos großes Thema im Wahlkampf war, wer Korruption vorwerfe, dem gehe es nur um politischen Kampf gegen seine Partei. Das hat er seinen Wählern gut vermitteln können und war damit erfolgreich. Er hat mit seinen Aussagen das Vertrauen in die Justiz sehr beschädigt. Er sprach sogar von einem Krieg der Polizei. Der Polizeichef ist auch sofort abgetreten.

Ich glaube, uns erwartet ein Kampf um die unabhängige Justiz und die Rechtsstaatlichkeit. Das kulminierte schon damals im Doppelmord an Jan Kuciak und Martina Kusnirova. Die damaligen Demonstrationen waren die größten Demonstrationen seit der samtenen Revolution. Jetzt scheint es, als hätte es die fünf Jahre bis heute nicht gegeben und dieselben Menschen sind wieder an der Macht.

Stadt und Land, arm und reich

Norbert Reichel: Gibt es Unterschiede zwischen Land und Stadt, Ost und West?

Kirche der Erhöhung des heiligen Kreuzes in Dolný Kubín, Slowakei, Foto: Oto Zapletal, Wikimedia Commons.

Michal Hvorecký: Ficos Partei hat in fast allen Landkreisen gewonnen außer in Bratislava. Die Spaltung ist ähnlich groß wie in Österreich, Ungarn, Polen. Es ist auch die große Herausforderung gerade für Progressivisten, ob sie es schaffen, die Bevölkerung auf dem Land anzusprechen. Es gab auch Gegenkampagnen, auch mit Unterstützung der Kirchen. Es wurde ihnen vorgeworfen, sie wollten Dutzende von Geschlechtern einführen, die slowakische Identität kaputtmachen und ähnlicher Unsinn. Aber so etwas kommt in ländlichen Regionen an und die Wahlergebnisse für die PS dort enttäuschten.

Norbert Reichel: Welche Rolle spielen die Kirchen?

Michal Hvorecký: Die Slowakei ist immer noch ein katholisches Land. Von etwa 5,5 Millionen Einwohnern gehen etwa 900.000 am Sonntag regelmäßig in die Kirche. Die Kirche hat einen großen Einfluss auf die Politik. Es gab vor der Wahl einen sehr politischen Hirtenbrief der Bischöfe. Es ging darin nicht um Korruption oder einfach um den Aufruf, wählen zu gehen. Es ging um Gender-Ideologie, um LSGBTI*, es wurde Panik verbreitet, es wurden Ängste geschürt, es wurde behauptet, mit den Progressiven kommt eine Apokalypse in die Slowakei. In den besonders katholischen Gebieten, vor allem im Norden und im Osten, wird eine christdemokratische Partei, die KDH, gewählt, jetzt mit etwa sieben Prozent nach einer Pause wieder im Parlament. Auch diese Partei ist deutlich rechter geworden. Der Parteivorsitzende der KDH hat vor der Wahl behauptet, LSGBTI* ist eine genauso große Gefahr wie die Korruption. Dann hat er sich korrigiert, er meine nicht die Menschen, sondern nur die Ideologie.

Norbert Reichel: Klingt aber doch alles sehr nach Putins Rede vom „Gayropa“. Die Menschen in der Ukraine wären nicht nur „Nazis“, sondern auch noch schwul. Alles Unheil kommt vom Westen.

Michal Hvorecký: Genau so. Es ist eine gefährliche Verschwörungserzählung. Die KDH ist zwar in der Opposition, aber bei bestimmten Themen wie dem Verbot der Adoption für schwule Paare wären sie auf Ficos Seiten. Bei diesen Themen kann sich Fico auf diese Partei verlassen. Kulturkämpferische Themen, Identitätspolitik.

Norbert Reichel: Gibt es in der Slowakei soziale Verwerfungen, die bei der Wahl eine Rolle spielten oder hätten spielen können?

Häuserblocks und Parkplätze in Košice, Slowakei, Foto: Oto Zapletal, Wikimedia Commons.

Michal Hvorecký: Das ist eigentlich die große Frage. Mit seinen vorigen Regierungen hatte Fico das Glück, dass er in guten Zeiten an die Macht kam, mit Wirtschaftsaufschwung, niedriger Inflation, niedriger Arbeitslosigkeit. Das ist jetzt ganz anders. Er kommt das erste Mal in einem Zeitalter der multiplen Krisen an die Macht. Die Slowakei erlebt eine hohe Teuerung, weitere Auswanderung aus der Slowakei. Das konnte nicht gestoppt werden. Es gibt im Osten und im Südosten fast menschenleere Gebiete mit schwacher Infrastruktur. Es wird ernst. Fico hat keinen wirklichen wirtschaftlichen Plan für Erneuerung. Früher hat er das ähnlich wie die PiS in Polen gelöst, mit viel Geld an die Bürger:innen. Aber die Staatskasse ist leer. Ökonomen warnen, man müsse sparen, dürfe nicht mehr so viel Geld ausgeben. Ich erwarte eine sehr schwierige Zeit. Ich befürchte, dass die wirtschaftlich Schwächsten am meisten darunter leiden werden.

Norbert Reichel: Die Erfahrung zeigt, dass wirtschaftlich Schwache Menschen dann entweder gar nicht mehr wählen, weil sie so sehr mit dem Überleben beschäftigt sind, oder dass sie auf rechte Ideologen hereinfallen, die ihnen mit Verschwörungserzählungen den Eindruck vermitteln wollen, sie wären die Erlöser von allem Elend.

Michal Hvorecký: Das ist es. Ich befürchte, dass die Identitätspolitik eine sehr starke Rolle spielen wird. Die Gefahr ist da, dass man sich nicht ernsthaft mit den gesellschaftlichen Problemen beschäftigt, sondern sich gegenseitig vorwerfen wird, die Gesellschaft mit Genderfragen, mit registrierten Partnerschaften von Homosexuellen – die es bei uns immer noch nicht gibt – zu zerstören und Ähnliches.    

Hoffnung auf die Zivilgesellschaft?

Norbert Reichel: Wie wird sich die Zivilgesellschaft in dieser kulturkämpferischen Atmosphäre verhalten?

Michal Hvorecký: Ich sehe eine Hoffnung in der starken Zivilgesellschaft. Die Öffentlichkeit wird sehr genau hinschauen. Da bin ich mäßig optimistisch. Ich spüre, dass dies angesichts der SNS-Ministerin ein großes Thema werden wird. Es wird viele Proteste auf den Straßen geben wie wir das schon vor fünf Jahren nach dem Doppelmord an Jan Kuciak und Martina Kusnirova erlebt haben. Wir erlebten das auch danach, eine Zeit, in der die Slowakei zu einem sehr politisierten Staat wurde, mit vielen neuen Internetseiten, Blogs. Das Land bleibt gespalten, aber ich bin nicht nur pessimistisch.   

Norbert Reichel: Ich könnte mir eine Entwicklung wie in Polen vorstellen, wo die Oppositionsparteien sehr viele Menschen auf die Straße brachten, während die Regierungspartei PiS die Teilnehmer:innen ihrer Demonstrationen mit Bussen aus der Ferne herbeitransportieren musste. Dazu kam in Polen natürlich auch die Rolle der Frauen, insbesondere angesichts der extrem rigiden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, die weltweit nur von El Salvador übertroffen werden, wo Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten, eingesperrt werden, weil sie verdächtigt werden, die Fehlgeburt selbst herbeigeführt zu haben. Jarosław Kaczyński warf schließlich in seiner Verzweiflung vor der Wahl Frauen vor, sie würden zu viel trinken. Sind ähnliche Entwicklungen auch in der Slowakei denkbar?

Bratislava Panorama, Foto: Marc Rychael, Wikimedia Commons.

Michal Hvorecký: Ich glaube schon. Aber das Ergebnis in Polen, über das ich mich sehr gefreut habe, zeigt auch, wie wichtig es für die demokratische Opposition ist, Koalitionen zu schaffen, Kompromisse zu finden, sich zu einigen. Das ist in der Slowakei nicht der Fall. Es könnte ein anderes Ergebnis geben, wenn es eine Bereitschaft zur Koalitionsbildung vor der Wahl gegeben hätte, eine Allianz gegen Fico zu bilden. Es gibt einige kleine Parteien wie die Demokraten, eine neue Partei, die mit 2,9 Prozent nicht einmal die Drei-Prozent-Grenze für den Erhalt staatlicher Unterstützung erreichte. Es war in allen Umfragen klar, dass diese Partei die Fünf-Prozent-Hürde nicht überschreiten würde. Man hat sie öffentlich immer wieder aufgefordert, beendet euren Wahlkampf, sagt euren Wählern, wählt Progresívne Slovensko, wählt die Christdemokraten, wählt eine andere Partei. Das hat diese Partei bis zum Schluss nicht gemacht. Auch Mikuláš Dzurinda und die Partei die Blauen, Modrí, hat dies nicht getan. Das war eine Neubelebung der alten christdemokratischen Koalition aus den Nullerjahren, die damals grandios scheiterte. Dzurinda erreichte nicht einmal ein Prozent bei den Umfragen. Auch das sind etwa 10.000 Stimmen, die hätten helfen können, eine Mehrheit gegen Fico zu schaffen.

Norbert Reichel: Das alte Elend der Linken und der Liberalen! Die Rechten sind da geschickter. Das haben wir zuletzt auch in Italien erlebt. Hätten die liberalen und linken Kräfte sich verbündet, hätten sie die Mehrheit erringen können. Jetzt regiert Giorgia Meloni, die bei allen Denkwürdigkeiten wenigstens eindeutig für die NATO und für die EU eintritt, was ihre beiden Bündnispartner, vor allem die Lega, nicht unbedingt tun. Die Freundschaft Berlusconis mit Putin war legendär, ähnlich wie in Deutschland bei Gerhard Schröder. In Polen war es anders. Da gab es auf der liberalen Seite Bündnisse, durch die Abwahl der PiS-Regierung möglich wurde.

Michal Hvorecký: Das Problem besteht auch darin, dass es in der Slowakei eigentlich keine richtige linke Partei mehr gibt. Fico und Pellegrini sind eher Konservative, nationale Mitte, Fico sogar rechts, ihre Parteien sind keine sozialdemokratischen Parteie. Viele Inhalte, der Kampf gegen Migration, die Menschenrechte, die Rechte von Minderheiten, sind bei ihnen eher rechts positioniert. Uns fehlt eigentlich eine linke Partei, ähnlich wie in Polen mit der Lewica, die sich an der Koalition gegen Kaczyński beteiligte. Es geht um die Bereitschaft, Kompromisse zu finden.

Versagen der deutschen Kulturpolitik

Norbert Reichel: Eine wichtige Rolle gegen illiberale und autoritäre Entwicklungen spielen liberale und demokratische Kultureinrichtungen. Du arbeitest beim Goethe-Institut in Bratislava. Aber die deutsche Außenministerin hat im Einvernehmen mit der Staatsministerin für Kultur und Medien, beide Mitglied der Grünen, die Goethe-Institute als Spargelegenheit entdeckt. Neun Goethe-Institute in Frankreich, Italien, den Niederlanden, auch das Institut in Washington D.C. sollen geschlossen werden. Als wir das vor etwa zwei Jahren miteinander sprachen, nanntest du die Einsparungen im Goethe-Institut in Bratislava. Hat sich das fortgesetzt?

Veranstaltung im Goethe-Institut Bratislava, Foto: Michal Hvorecký..

Michal Hvorecký: Uns betreffen diese Mittelstreichungen sehr stark. Wir bekommen das alles mit, was da vor sich geht. Es ist ein großes Thema in der Region, auch in anderen Regionen von Mittel- und Osteuropa. Wir müssen ständig Drittmittel für unsere Projekte über Privatstiftungen, EU-Fördermittel einwerben. Das nimmt einen großen Teil unserer Arbeitszeit in Anspruch, sodass wir unsere eigentliche kulturelle Arbeit reduzieren müssen. Ehrlich gesagt bin ich von dieser neuen deutschen Außenkulturpolitik sehr enttäuscht. Es wird an der ganz falschen Stelle gespart, bei Kultur und Bildung. Das Sparergebnis wird für die Staatskasse nur sehr wenig erbringen. Die Konsequenzen vor Ort sind langfristig und ziemlich katastrophal. Einerseits beschwert man sich, dass die deutsche Sprache immer weniger gesprochen wird, gerade auch in Osteuropa, wo die deutsche Sprache immer schon ein wichtiger Teil des Kulturerbes war und ist. Andererseits müssen wir Stipendien für Deutschlehrer:innen und Fördergelder für Übersetzungen streichen. Wir kürzen an allen Stellen, auch bei der Zusammenarbeit mit slowakischen Institutionen, die an der Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen interessiert sind. 

Ich bin tief enttäuscht. Ich glaube stark an Soft-Power. Da hat sich Deutschland in den Nachkriegsjahren, auch in der neoliberalen Zeit einen guten Namen gemacht. Als andere Institutionen wie das British Council, das Institut Français unter heftigen Einsparungen litten, hat das Goethe-Institut doch sehr stark die Position gehalten. Jetzt – auf einmal – im 21. Jahrhundert kommt es zu dieser kopflosen neuen Art der Kulturpolitik. Ich verstehe das einfach nicht und bezweifele, dass das gut ankommt.

Norbert Reichel: Verantwortlich sind zwei grüne Politikerinnen. Das versteht auch in Deutschland kaum jemand. In den Qualitätsmedien ist das ein großes Thema, wurde es aber erst, als die Schließungen bekannt wurden. Die vorangegangenen Reduzierungen der Mittel hatten noch nicht diese Aufmerksamkeit erreicht. Aber konnten sich British Council und Institut Français wieder konsolidieren?

Michal Hvorecký: Nein, das ist leider so geblieben. Die haben schon damals ihre Programme deutlich reduzieren müssen. Das machen wir jetzt im Goethe-Institut auch.

Norbert Reichel: Wie sieht es mit der Zusammenarbeit mit Österreich aus?

Michal Hvorecký: Österreich hat ein eigenes Kulturforum, das Österreichische Kulturforum. Österreich ist eines der wenigen Länder, die kein Goethe-Institut haben. Das hat sicherlich historische Gründe. Aber es gibt einen Austausch zwischen Wien und Bratislava, der aber auch ausgeweitet werden können. Aus sprachlichen Gründen bleibt in Bratislava allerdings die Orientierung auf Kośice, Brno und Prag noch immer deutlich intensiver, auch aus sprachlichen Gründen, als zur Nachbarstadt Wien.

Norbert Reichel: In Österreich denken viele wahrscheinlich erst an Böhmen, das heutige Tschechien, und die Slowakei blieb eher im Windschatten.

Michal Hvorecký: Es gibt viele Wiener:innen, die noch nie in Bratislava waren. Für viele Wiener:innen endet die Welt am Westbahnhof. Ich kenne auch sehr viele Österreicher:innen, die noch nie in der Slowakei waren. Da gibt es wohl noch einen eisernen Vorhang in den Köpfen.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 31. Oktober 2023, Titelbild: Goethe-Institut in Bratislava, Foto: Michal Hvorecký.)