Die Macht der Bücher

Djaili Amadou Amal und das Ringen um die Selbstbestimmung der Frauen

„Der einzige Unterschied zwischen meinen Kameradinnen, die in der Unterordnung verharrten, und mir ist, dass ich gelesen habe.“ (Djaili Amadou Amal wiederholt diesen Satz in diversen Interviews und in ihren Romanen)

Ohne ihren unbändigen Drang zu lesen wäre sie nicht geworden, wer und was sie heute ist: Djaili Amadou Amal ist eine der weltweit einflussreichsten Schriftsteller*innen des afrikanischen Kontinents. 2020 wurde sie mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet, einem Preis, der 1988 von bretonischen Schulen initiiert wurde und heute vom französischen Bildungsministerium verliehen wird.  Die Preisträger*innen werden von ca. 2000 Schüler*innen aus ca. 50 Schulklassen aus der Shortlist des aktuellen Prix Goncourt ausgewählt. Schüler*innen lesen die nominierten Werke, treffen und diskutieren mit den Autor*innen und empfehlen in einem festgelegten Verfahren landesweit Autor*innen für die Lektürelisten an französischen Schulen. Ein Preis, der Djaili Amadou Amals eigenen Initiativen, junge Menschen zum Lesen zu bringen, sehr entspricht.

Wer ist Djaili Amadou Amal?

Djaili Amadou Amal wurde 1975 in Maroua, Kamerun, als Tochter eines Vaters aus dem Stamm der Peul/Fulbe/Fulani und einer ägyptischen Mutter geboren und wuchs mit diesen beiden Traditionen in einer Großfamilie auf. Bereits früh entdeckte sie ihr Interesse für Literatur, das sie, mangels anderer vorhandener Bibliotheken in einer katholischen Mission stillte. Am liebsten las sie die Romane afrikanischer Schriftsteller*innen und europäische historische Romane.

Ihr Ziel stand ihr klar vor Augen: sie wollte Journalistin werden.

Dem aber stand die Tradition ihrer Herkunftsfamilie entgegen. Gemäß der Fulani-Tradition wurde sie mit 14 mit einem wesentlich älteren Mann zwangsverheiratet. Sie durfte aber weiter die Schule besuchen und flüchtete vor dem erdrückenden Alltag in die Welt der Bücher. Und sie begann Tagebuch zu schreiben. 1998 verließ sie ihren Mann und ging als zweite Frau eine Ehe mit einem polygamen Mann ein. Gewalt und Brutalität an Frauen, Thema ihrer eigenen Romane, kennt sie aus eigener Traumatisierung. Ihren beiden Töchtern aus dieser Ehe wollte sie dieses Schicksal ersparen und zog in den Süden Kameruns – nicht zuletzt um den Belästigungen und Drohungen ihres zweiten Mannes und dessen Familie, die sogar ihre Kinder entführten, zu entkommen.

Djaili Amadou Amal ermächtigte sich selbst durch ihre Bildung und verfolgte zielstrebig ihren Traum, Schriftstellerin zu werden. Heute wohnt sie mit ihrem dritten Mann und den drei gemeinsamen Kindern in Douala. Ihren Töchtern hat sie den Weg ins Studium geebnet.

Schreiben als Widerstand und Aufklärung

2010 veröffentlichte sie ihren ersten Roman unter dem Titel „Walaande, l’art de partager un mari.“. 2017 folgte der zweite Roman „Munyal, les larmes de la patience“, wie der erste bei Ifrikiya erschienen, in Frankreich 2020 in den Éditions Emmanuelle Collas neu editiert und unter dem Titel „Les Impatientes“ veröffentlicht. Dieser Roman gewann den Prix Goncourt des Lycéens. Der Orlanda Verlag, zum Glück wie sein Vorgänger Orlanda Frauenbuchverlag mit einem Faible für nicht europäische Frauenliteratur, nahm sich der deutschen Übersetzung an, der Roman seit 2022 in deutscher Sprache unter dem Titel „Die ungeduldigen Frauen“ verfügbar.

Man könnte sagen, Djaili Amadou Amal verarbeite in ihren Romanen die eigenen Traumata. Ganz sicher weiß sie, wovon sie schreibt: Munyal. Munyal ist mit Geduld nur sehr unzureichend übersetzt, es ist das in der Tradition überkommene und von den Mitgliedern der Familien einer Dorfgemeinschaft nicht hinterfragte Sich-Fügen von Frauen in ihre Nichtexistenz als Teil einer Ehe, im Gefüge einer polygamen Ehe, als Ziel männlicher Brutalität und Gewalt, die in der Dorfgesellschaft als normal gilt und nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn geahndet wird.

Im Roman erfahren wir die miteinander verwobenen Geschichten dreier Frauen, Ramla, Hindou, Safira. Ramla, wissbegierig und klug möchte studieren und in einer großen Stadt mit ihrem Freund wohnen, wird aber an einen reichen angesehenen aber viel älteren Mann als dessen zweite Frau verheiratet. Hindou wird wie ihre Schwester Ramla am gleichen Tag an einen brutalen und drogensüchtigen Cousin vergeben. Safira ist die erste Frau von Ramlas Mann und schaut mit Argwohn auf ihre Co-Ehefrau, der sie das Leben so schwer wie möglich macht. Hindou wird von ihrem Mann äußerst brutal misshandelt und flieht mit letzter Kraft zu ihrer Ursprungsfamilie. Ihre Flucht bringt tiefe Unehre über ihre Mutter und ihren Vater, der sie sofort durch eine Verwandte wieder zum prügelnden und vergewaltigenden Ehemann zurückbringt. Ramla gelingt irgendwann die Flucht, sie taucht unter. Safira erkennt, dass Mißgunst ihre eigene Situation auch keineswegs verbessert hat. In Ramla hätte sie eine kluge und des Lesens und Schreiben kundige Verbündete haben können. Drei Frauenleben, scheinbar unausweichliche Lebenszwänge.

Gerade ist in Frankreich der nächste Roman von Djaili Amadou Amal erschienen: „Coeur du Sahel“. In diesem Roman geht es um Klassenunterschiede, Sklaverei, Rassismus und Diskriminierung unter den unterschiedlichen Ethnien Kameruns. Menschen, die aufgrund mangelnder Bildung und der Zugehörigkeit zur „falschen“ Ethnie keine andere Chance zum Überleben sehen, als sich in den wohlhabenderen Familien als Hausangestellte, eher Sklav*innen, zu verdingen – Demütigungen und Gewalt selbstverständlich inklusive. Diese Form der Sklav*innenhaltung ist bekannt – und ein gesellschaftliches Tabu. Übergriffe werden folglich von niemandem geahndet, am allerwenigsten vom Staat.

Djaiili Amadou Amal beschreibt diese verletzten Leben fast nüchtern, fast unbeteiligt, und doch so, dass eigentlich allen, die dies lesen, der Atem stockt. Wo ist der Ausweg?

Es ist alles geschehen und geschieht noch und unentwegt. Amal weist in die befreiende Richtung: Frauen müssen um ihre Rechte wissen, bevor sie darum kämpfen können. Frauen brauchen Mut, um über das Erlebte sprechen zu können, sprechen, damit die Wahrheit ans Licht kommt, damit Gewaltakte als das beschrieben werden, was sie sind: Verbrechen. Damit die Täterperspektive entlarvt wird. Damit Traumata als Traumata erkannt werden und wenn nicht Heilung, dann doch Linderung möglich ist. Damit es keine Opfer mehr gibt. Letztes ist ein idealistischer Wunsch. Frauen werden ja nicht nur in „Stammesgesellschaften“, um dieses kolonialistische Wort zu benutzen, in Gesellschaften, die einer anderen Tradition und Struktur folgen als denen, die wir in Europa zu kennen glauben, misshandelt. Die Decke ist dünn, auf der wir stehen. Zwei Stichworte nur: während der Lockdowns in der Pandemie ist es überall vermehrt zu massiven Fällen häuslicher Gewalt gekommen, zweitens: das christliche Abendland erlebt gerade einen der größten Skandale mitten in der Katholischen Kirche, der Hüterin der christlichen Werte. Djaili Amadou Amal verweist nur zu Recht darauf, dass sie zwar das beschreibt, was sie selbst erlebt hat, Gewalt gegen Frauen findet in allen anderen Ländern der Erde statt. Niemand darf schweigen. Es muss gesagt werden, was geschieht und was verschwiegen werden soll oder sich hinter Traditionen versteckt, gehört aufgedeckt und ans Licht gebracht.

Selbstermächtigung durch Bildung

Djaili Amadou Amal spricht aus, was ist. Und sie handelt. Kraft ihrer eigenen Ermächtigung sorgt sie dafür, dass Frauen empowert werden. Der Weg dahin führt über Bildung, über die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben und sich durch Literatur die Welt zu erweitern. 2012 hat sie die Organisation Femmes du Sahel gegründet, mit dem Ziel, Frauen, die weit ab von den großen Zentren leben, Bildungszugänge und Ausbildungswege zu eröffnen. Ein weiteres Ziel ist die Sensibilisierung gegen Zwangsverheiratungen und Gewalt gegen Frauen. Ein wichtiges Teilprojekt sind kleine mobile Bibliotheken, dort, wo sonst kein Zugang zu Büchern bestünde. In den am meisten isolierten Dörfern, in denen die Kinder nicht einmal in der Schule mit Büchern in Berührung kommen, werden mit Spendengeldern kleine Bibliotheken unter der Aufsicht der Dorfältesten und der Lehrperson eingerichtet. Kinder, vor allem Mädchen sollen lernen, für sich selbst zu denken. Starke Frauen eröffnen sich ein selbstbestimmtes Leben, starke Frauen bringen auch die Gesellschaft, in der sie so leben, nach vorne – indem sie Bildung und Wissen weitergeben und gesetzte Einschränkungen  uf ihren Sinn für gesunde Entwicklung hinterfragen, zum Beispiel.

Dass das Engagement für Bildung und Selbstbewusstsein von Frauen und Mädchen nicht auf ungeteilte Anerkennung stößt, lässt sich vermuten. Djaiili Amadou Amal ist nach eigener Aussage Anfeindungen ausgesetzt, denn sie spricht Tabus an, wie die Zwangsehe und die Rolle der (unsichtbar gemachten) Frauen in der Gesellschaft, es ist ein Tabubruch, wenn sie den Männern ihr uneingeschränktes Zugriffsrecht auf die Körper ihrer Frauen abspricht. Die einen hassen sie dafür und greifen sie an, andere wiederum applaudieren ihr.

Absolut kritisch sieht Amadou Amal die Rolle von Boko Haram, die auch in Kamerun noch aktiv sind und junge Mädchen im Namen von Religion und Tradition entführen. Bildung ist aus Sicht dieser Sekte des Teufels und wird unterbunden. Mädchen werden aus den Schulen heraus entführt. Das schürt doppelt die Angst und verhindert, dass Familien den Schulbesuch ihrer Töchter fördern. Wer mehr über diese islamistische Sekte und Terrororganisation wissen möchte, lese den 2020 bei Hoffmann und Campe in deutscher Sprache erschienenen Roman „Das Mädchen“ von Edna O’Brien und Wolfgang Bauers Buch „Die geraubten Mädchen – Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas“ (Berlin, Suhrkamp, 2016). Wenn feministische Außenpolitik ein afrikanisches Thema hat, dann steht dieses ganz vorne auf der Tagesordnung. Und auch hier spielt post-kolonialistische Ignoranz keine kleine Rolle.

Auch deshalb schreibt Djaili Amadou Amal und kämpft dafür, dass die Weltöffentlichkeit den Blick nicht abwendet, nur weil die großen Satellitenantennen der Nachrichtensender gerade auf einen anderen Schauplatz gerichtet sind. Djaili Amadou Amal ist eine Stimme, die gehört wird, der man zuhören sollte.

Unbedingt lesen! Und ein kleiner Appell an den Verlag: auch die anderen Romane übersetzen!

Zum Weiterlesen:

Walaande, l’art de partager un mari (Ifrikya 2010)

Mistrijjo la mageuse d’âmes (Ifrikiya 2013)

Munyal, les larmes de la patience (Éditions Proximité 2017)

Les Impatientes (Éditions Emmanuelle Collas 2020)

Le Coeur du Sahel (Éditions Emmanuelle Collas 2022), deutsche Übersetzung von Ela zum Winkel: Die ungeduldigen Frauen (Orlanda Verlag 2022)

Weitere Texte über Djaili Amadou Amal auf der Seite der Deutschen Welle, in der Zeitschrift Jeune Afrique sowie auf der Seite von Afrique Femme.

Beate Blatz, Köln (Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im September 2022, Übersetzungen aus dem Französischen von der Autorin, Internetzugriffe zuletzt am 28. August 2022)