Die pluralistische Demokratie und ihre Freunde
Ein Gespräch mit dem Historiker Till van Rahden
„Zwar verbanden sich widersprüchliche Vorstellungen mit der Idee der Demokratie als Lebensform. Doch schon lange vor dem Jahr 1968 warnten viele davor, die Demokratie allein als Staatsform zu begreifen. Das Wagnis der Demokratie könne nur gelingen, wenn es von einer demokratischen Stimmung getragen sei, die sich nicht in formalen Verfahren erschöpfe, sondern im sozialen Leben zu pflegen sei.“ (Till van Rahden, Demokratie als Lebensform – Ein deutsches Missverständnis, in: Till van Rahden, „Demokratie – eine gefährdete Lebensform“, Frankfurt, Campus, 2019)
Der Historiker Till van Rahden (*1967) lehrt Deutschland- und Europastudien an der Université de Montréal, ist zudem auch an anderen Hochschulen präsent, etwa an der Carleton University in Ottawa, den Universitäten in Mainz und Siegen sowie am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien, am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und dem Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität. Im Zentrum seiner Forschungen und seiner Lehre steht die Frage nach der Demokratie als Lebensform in einer pluralistischen Gesellschaft. Seine Dissertation wurde unter dem Titel „Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925“ (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2000) veröffentlicht. Unter dem Titel „Jews and other Germans“ erschien 2008 eine amerikanische Ausgabe bei der University of Wisconsin Press.
Till van Rahden veröffentlichte mehrere Bücher, in deren Titel die Demokratie genannt wird, so das bereits zitierte Buch „Demokratie – eine gefährdete Lebensform“ und – als Herausgeber gemeinsam mit Johannes Völz (Goethe-Universität Frankfurt am Main) „Horizonte der Demokratie – Offene Lebensformen nach Walt Whitman“ (Bielefeld, transcript, 2024). Das Buch ist der erste Band der Reihe „Democratic Vistas – Demokratische Horizonte“. Seine neueste Monographie „Vielheit – Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus“ (Hamburg, Hamburger Edition, 2022) nennt im Titel den zweiten zentralen Begriff seines Denkens. Weitere von ihm mitherausgegebene Bücher und von ihm verfasste Aufsätze nennt unter anderem der Wikipedia-Artikel, der auch einige biographische Hinweise enthält.
Er bezieht sich auf Traditionen, die bis in die Weimarer Zeit sowie ins 19. Jahrhundert zurückreichen, beispielsweise auf Hans Kelsen, den er in „Demokratie – eine gefährdete Lebensform“ zitiert. „Laut Kelsen ist ‚gerade die Synthese‘ der liberalen Idee der Freiheit mit dem demokratischen Ideal der Gleichheit für die Demokratie charakteristisch. Damit wandte er sich gegen die lange Tradition, beide Prinzipien gegeneinander auszuspielen.“ Demokratie ist nicht nur „Herrschaftsform“, sondern auch „Lebensform“.
Jüdische Inspirationen
Norbert Reichel: Sie haben sich in ihrer Dissertation mit der jüdischen Gemeinde in Breslau beschäftigt, eine Gemeinde mit einigen prominenten Mitgliedern, etwa der Familie Lasker, Renate Lasker-Harpprecht sel. A. und Anita Lasker-Wallfisch. Jüdische Inspirationen für die Demokratie – so würde ich vielleicht den Tenor dieser und anderer Ihrer Studien beschreiben.
Till van Rahden: Ausgangspunkt war für mich – auch wenn mir das damals nicht immer bewusst war – ein Interesse daran, wie Menschen zusammenleben, die durch unterschiedliche kulturelle Traditionen geprägt sind, welche Chancen und welche Konflikte sich daraus ergeben. Ich wollte keine Stadt für meine Dissertation auswählen, in der sich nur zwei Gruppen gegenüberstanden, zum Beispiel eine protestantische und eine katholische oder eine protestantische und eine jüdische. Ich wollte mich mit einer Konstellation beschäftigen, in der es mindestens drei sichtbare religiöse Gruppen gab. Da boten sich nur Frankfurt am Main und Breslau an. Die Provinz Schlesien war katholisch geprägt, Breslau dagegen mehrheitlich protestantisch, aber mit einer bedeutenden katholischen Minderheit. Und es gab eine große jüdische Gemeinde, die schon Ende des 18. Jahrhunderts eine der größten jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum war, Ende des 19. Jahrhunderts die zweitgrößte Gemeinde Preußen mit etwa 20.000 Gemeindemitgliedern.
Zur Vorgeschichte dieser Arbeit gehört mein Studium in den USA. Ich habe dort etwa im Jahr 1992 eine Magisterarbeit über katholischen Antisemitismus an der Johns Hopkins University in Baltimore geschrieben. Baltimore war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Stadt mit vielen unterschiedlichen Gruppen, Religionen und Sprachen. Eigentlich wollte ich nicht nur über Antisemitismus schreiben, sondern über die Geschichte der Beziehungen unterschiedlicher Gruppen untereinander. Dazu gehören auch Konflikte. In der Magisterarbeit musste ich das Thema einschränken und habe mich auf den katholischen Antisemitismus konzentriert, bei dem Baltimore auch eine Schlüsselrolle spielte.
Aus dieser Erfahrung habe ich mitgenommen, dass es fruchtbar sein kann, nicht nur auf Feindschaft und Ausschluss, nicht nur auf Konflikte zu schauen, sondern darauf, wie sich soziale Kreise kreuzen und wie Menschen mit Konflikten leben. Während des Studiums in Baltimore habe ich mit oft mit amerikanischen Historikerinnen und Historikern wie Hasia Diner, David Gerber, Marion Kaplan und vor allem John Higham ausgetauscht. In einer Zeit, in der sich jüdische Historiker mit der Geschichte der Juden in den USA, italienische Historiker mit der Geschichte der italienischen Einwanderer, irische mit der Geschichte der Iren befassten, betonte Higham, es müsse auch möglich sein, nach den Beziehungen, den Querverbindungen der Gruppen, dem Gemeinsamen und dem Trennenden zu fragen. Für eine Untersuchung im Sinne dieser Frage am Beispiel des deutschsprachigen Europas bot sich Breslau an.
Norbert Reichel: Im Krieg wurden viele Archive und Dokumente zerstört. Wie sah die Dokumentenlage in Breslau aus?
Till van Rahden: Obwohl die Nationalsozialisten Breslau in den letzten Wochen des Krieges zur Festung erklärten und die Zerstörung der Stadt in Kauf nahmen, sind viele Archivalien in Wrocław erhalten. Viele Dokumente waren in Außenlagern deponiert. An manchen Aktenordnern hing in 1990er Jahren noch der Lehm von Feldern, auf denen sie zeitweise gelagert hatten. Das sind keine Arbeitsbedingungen wie im Bundesarchiv. Doch mit ein wenig Polnischkenntnissen konnte man sich durch die Findbücher lesen und hatte dann Zugang zur weitgehend erhaltenen Überlieferung der Stadt, des Regierungspräsidiums und des Oberpräsidiums der Provinz Schlesien. Es war eine facettenreiche Überlieferung, die man auf der Ebene der jüdischen Gemeinde, der Geschichte jüdischer Überlebender, dies dann im Abgleich mit weiteren Dokumenten in New York, in Cincinnati und anderswo aus- und bewerten konnte.
Norbert Reichel: Bei der Recherche brauchten Sie Deutsch und Polnisch als Sprache. Auch Jiddisch?
Till van Rahden: Nein. Ich glaube, seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der jüdischen Gemeinde Breslau kaum noch jiddisch geschrieben. Das heißt nicht, dass einzelne Familien, die seit etwa 1880 aus dem zaristischen Polen und Russland nach Breslau kamen, nicht zu Hause noch jiddisch gesprochen haben. Breslau hatte keine lebendige jiddische Kulturszene.
Norbert Reichel: War die Breslauer Gemeinde eine liberale Gemeinde, eine Reformgemeinde oder eher eine orthodoxe Gemeinde?
Till van Rahden: Breslau ist für diese Frage von besonderer Bedeutung. In der Frühphase der Konflikte zwischen Reformjudentum und orthodoxem Judentum war der Geiger-Tiktin-Streit in den 1840er Jahren ein Symbol dieser Auseinandersetzung. Diese wurde von beiden Seiten so intensiv geführt, dass wichtige jüdische Gemeindeeinrichtungen, das Krankenhaus, Altersheime, das Waisenheim, enorme Probleme bekamen, weil die Gemeinde wegen des Steuerstreiks keine Mittel hatte, um die Einrichtungen zu unterhalten. Daraus ergab sich eine Art Leben und Leben lassen. Am Ende gab es drei Strömungen in Breslau: Die Orthodoxie, das liberale Reformjudentum – das war die numerische Mehrheit – und das, was man heute konservatives Judentum nennt, mit einer der wichtigsten Ausbildungsstätten für Rabbiner. Diese drei Strömungen existierten in einer nicht unbedingt liebevollen Koexistenz, aber die Gemeinde hat sich später nie wieder so gespalten wie in den 1840er Jahren.
Norbert Reichel: Wie sah die jüdische Gemeinde Breslau aus, als sie für Ihre Arbeit recherchierten?
Till van Rahden: Die große Zäsur war das Jahr 1933. Es gab dann unterschiedliche Wellen der Vertreibung und der Emigration. Ein großer Teil der in Breslau gebliebenen Juden wurde 1941, 1942 deportiert und ermordet. Es überlebten nur wenige – sei es in Breslau, sei es in einem Versteck im Umland. Es gibt auch nur wenige, die nach 1945 zurückkamen. Die Stadt war unter der Verwaltung der Roten Armee, dann unter polnischer Verwaltung, zunächst noch mit einem relativ hohen deutschen Bevölkerungsanteil. Und viele derjenigen, die zurückgekommen waren, blieben nicht. Ignatz Bubis etwa wurde 1927 in Breslau geboren und lebte dort bis 1935, als er mit seinen Eltern nach Polen zog. Nachdem er das Ghetto und das Arbeitslager überlebt hatte, kam er 1945 für kurze Zeit nach Breslau zurück. Dort fühlte er sich aber fremd und zog weiter in die westlichen Besatzungszonen. In den folgenden Jahren versuchte Bubis zunächst, sich in Pforzheim und in Berlin durchzuschlagen.
Breslau war ab 1947/1948 eine polnische Stadt, wo sich vor allem Polen ansiedelten, die aus Lemberg vertrieben worden waren. Damals gab es eine kleine jüdische Gemeinde. In den späten 1960er Jahren, im Zuge der damaligen Welle des Antisemitismus in Polen, haben viele unter ihnen die Stadt verlassen und sind in die USA oder nach Israel ausgewandert. Heute ist die Gemeinde winzig. Doch hat es für Polen eine hohe symbolische Bedeutung, dass es wieder jüdisches Leben im Land gibt.
Vielheit, Vielfalt, Diversity, Diversität
Norbert Reichel: Der polnische Antisemitismus wäre noch ein anderes Thema, ebenso wie der Antisemitismus in der Sowjetunion und in anderen Ostblockstaaten. Aber das wäre dann Gegenstand eines anderen Gesprächs. Michael Hänel hat im Demokratischen Salon darüber in seinem Essay „Die Protokolle der Weisen von Moskau“ geschrieben, Martin Jander und Anetta Kahane haben einen Band über die „Juden in der DDR“ herausgegeben. Wenn wir heute über Antisemitismus sprechen, kommt häufig ein anderer Begriff ins Spiel, der Begriff der „Minderheit“, die im Gegensatz zur „Mehrheitsgesellschaft“ gesehen wird, die von manchen mit dem populären Begriff von Birgit Rommelspacher dann auch gleich als „Dominanzgesellschaft“ charakterisiert wird. Aber was bedeutet es eigentlich, wenn wir eine Gruppe als „Minderheit“ bezeichnen?
Till van Rahden: Viele Studien zur Geschichte der europäischen Juden beschreiben diese als Randgruppe, Außenseiter oder – was neutraler klingt – als Minderheit. Gleichzeitig gibt es eine Historiographie, die vor allem aus der Geschichte des polnischen und russischen Judentums kommt, über private Städte wie Opatów, die im Besitz von Adeligen waren, in denen der jüdische Bevölkerungsanteil im 18. Jahrhundert bei 65 bis 75 Prozent lag. Im deutschsprachigen Bereich findet man dies in sogenannten „Judendörfern“ im Südwesten und auch in manchen anderen Gegenden. Das sind aber in der Regel nur kleine Dörfer.
Wichtiger ist: Liest man Texte aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, findet man keine Passage, in der die jüdische Bevölkerung als Minderheit bezeichnet wird. Das ist erst einmal eine interessante Beobachtung, vor allem im Hinblick darauf, dass wir heute wie selbstverständlich von der jüdischen Minderheit in der europäischen Geschichte sprechen. Später habe ich dann versucht, begriffsgeschichtlich zu rekonstruieren, seit wann das Gegensatzpaar von Mehrheit und Minderheit sich als selbstverständliche Formel etabliert hat, um alle möglichen Formen von Verschiedenheit zu sortieren. Da geht es um Religion, um Kultur, da geht es um sexuelle Orientierung und viele andere Verschiedenheiten mehr. Es ist die Zeit unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg nach den Pariser Friedensverträgen, in denen das Prinzip des Minderheitenschutzes festgeschrieben wird. An dieser Begrifflichkeit halten wir bis heute fest. Dagegen spielte der Gegensatz von Mehrheit und Minderheiten in Debatten über kulturelle und religiöse Verschiedenheit bis ins frühe 20. Jahrhundert keine Rolle. Insofern liegt es nahe, darüber nachzudenken, ob dieser Gegensatz überhaupt so wichtig ist. Klammert man diesen Gegensatz ein, wird eine andere Frage wichtiger: die Frage der Macht.
Norbert Reichel: Damit landen wir schnell bei wertenden Begriffen wie „Dominanzgesellschaft“ oder auch bei allen Facetten von „Identitätspolitik“.
Till van Rahden: Welche Gruppe hat welchen Zugang, möglicherweise sogar einen privilegierten Zugang zu den Schaltstellen der Macht? Wie ist dieser Zugang umkämpft und welche Mittel setzt die Gruppe ein, die die Machtzentren kontrolliert, um ihre Privilegien zu verteidigen? Das ist keine Frage von Zahlenverhältnissen, es geht nicht darum, ob der Anteil einer Gruppe bei fünf, 15 oder 50 Prozent liegt.
Norbert Reichel: Der entscheidende Begriff, mit dem sich Machtverhältnisse beschreiben ließen, wäre dann „Zugang“. Das kann Zugang zu Schulen und Hochschulen, zu Geld, zu Produktionsmitteln, zu den Medien, zum Internet sein.
Till van Rahden: Dabei spielt auch Antisemitismus eine Rolle. Schaut man, welche Berufsgruppen Juden im 19. Jahrhundert offenstanden, wird deutlich: Je näher man an die Schaltstellen der Macht kam, desto höher wurden die Hürden. Ging es um die entscheidenden Schaltstellen, war Juden bis in die Weimarer Zeit hinein der Zugang verwehrt. Dazu gehörte etwa die Offizierslaufbahn.
Breslau war eine bedeutende Großstadt. Dem Magistrat und er Stadtverordnetenversammlung gehörten auch jüdische Politiker an, aber erst in der Weimarer Republik gab es jüdische Oberbürgermeister. Bis 1918 mussten Oberbürgermeister in Preußen vom König bestätigt werden. Jeder wusste: das Haus Hohenzollern würde niemals einen jüdischen Oberbürgermeister im Amt bestätigen.
Norbert Reichel: In der Weimarer Republik fanden viele jüdische Intellektuelle eine Heimat in den demokratischen Parteien, zum Beispiel stark in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die ich zumindest für die erste Hälfte der 1920er Jahre als einen Vorläufer der sozialliberalen FDP der 1970er Jahre betrachten möchte.
Till van Rahden: Wenn man nicht nur auf einzelne liberale Parteien blickt, zeigt sich, dass in manchen Kommunen das liberale jüdische Bürgertum das Rückgrat des Liberalismus und besonders des Linksliberalismus bildete. Einer der bekanntesten Namen in Breslau war Adolf Heilberg, leider heute weitgehend vergessen, ein damals bekannter Pazifist, lange Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft, ein bedeutender Jurist, der sich auch für Fragen des Völkerrechts interessierte und die linksliberale Partei in Breslau und in Schlesien geprägt hat. Ein wichtiger Ideengeber, der aus Breslau stammte, war der Philosoph Ernst Cassirer, der als Rektor der Hamburger Universität versucht hat, ein politisches Ideal zu entwickeln, das wir heute als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnen, nämlich dass das Zusammenleben in einer Demokratie nicht auf der gemeinsamen Herkunft, sondern auf dem Versprechen der Gleichheit und Freiheit des sozialen Rechtsstaats beruht.
Diese politischen Ideen wurzeln in den politischen Konflikten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals bildete sich ein pluralistisches Gesellschaftsbild heraus, das – wenn die Weimarer Republik Kraftquellen hatte – auf jeden Fall dazu gehörte. Zentral war dabei der heute kaum noch geläufige Begriff der Vielheit. Hermann Heller etwa begriff das Mehrheitsprinzip der Demokratie 1927 als ein „technisches Mittel“, dank dessen „das Volk als Einheit über das Volk als Vielheit herrschen“ könne. Volkssouveränität setzt voraus, so der aus einer jüdischen Familie aus dem schlesischen Teschen stammende Staatsrechtler, dass eine für alle verbindliche Entscheidung möglich ist, während zugleich das demokratische Volk als Vielheit erhalten bleibt.
Insofern liegt es nahe, das Nachdenken über Verschiedenheit nicht von der Frage der Gleichheit zu lösen. Systematisch wie politisch könnte es sich lohnen, Debatten über Diversity, Diversität beziehungsweise Vielfalt immer auf Fragen des demokratischen Zusammenlebens zu beziehen, Begriffe wie Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit also immer mitzudenken. Statt auf die Begriffe der Vielfalt, Diversität oder Diversity zurückzugreifen, dabei als fruchtbarer erweisen, auf den Begriff der Vielheit bzw. Pluralität zu setzen, wie ihn Hermann Heller oder der amerikanische Dichter Walt Whitman geprägt haben. Beide nutzen diesen Begriff eher beschreibend als normativ. Das scheint mir anregend. Die Rede von der Vielheit ist zugleich normativ schwächer als auch politischer und vor allem offener als die Begriffe der Vielfalt, Diversität oder Diversity.
Gerade wenn die Frage der Verschiedenheit im Zentrum steht, ist es fragwürdig, das demokratische Zusammenleben mit dem Begriff der Vielfalt, der Diversität zu erfassen, weil wir es dann über den Leisten eines Konzepts schlagen, der auf die Welt der Flora und Fauna verweist. Der Vielheit des Demos wird man nicht gerecht, wenn wir sie mit dem Bild der Vielfalt der Arten oder der Biodiversität begreifen. Am Ende landen wir schnell bei der Versuchung, jede Verschiedenheit entlang einer eindeutigen Taxonomie zu sortieren. Wenn wir fragen, wie sich die Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie unterscheiden und wie sie mit diesen Unterschieden leben können, sollten wir Antworten vermeiden, die an die hierarchische Klassifikation einer Schmetterlingssammlung erinnern. Anerkennungskonflikte in einer liberalen Demokratie verkennen wir, wenn wir sie anhand der Logik des (kulturellen) Artenschutzes beschreiben. Wer fragt, wie das Recht auf Verschiedenheit konkret begründet und ausgestaltet werden kann, sollte die Denkfigur der Biodiversität vermeiden. Wem es darum geht, die biologische Vielfalt zu erhalten, der fordert, „invasive gebietsfremde Arten“ zu kontrollieren und zu bekämpfen, um „die einheimische Tier- und Pflanzenwelt“ zu schützen. Das ist eine Forderung, die leicht in den ethnopluralistischen Rassismus der Neuen Rechten umschlagen kann. Menschliche Verschiedenheit ist eine Frage der Gesellschaft nicht der Natur, so verlockend es ist, beide gleichzusetzen.
Kultureller Pluralismus
Norbert Reichel: In Ihrer Arbeit spielt der Begriff des „Universalismus“ eine Rolle. Da geht es meines Erachtens ums Eingemachte. „Universalismus“, oft mit despektierlichem Unterton als „Kosmopolitismus“ diffamiert, bezieht sich auf etwas, das in politischen Reden gerne als „westliche Werte“ bezeichnet wird, aber eigentlich die Menschenrechte meint, was sich viele aber nicht zu sagen trauen, nicht zuletzt wegen des inzwischen auch bei westlichen Linken und Liberalen sowie bei Staaten des sogenannten „Globalen Südens“ verbreiteten Kolonialismusverdachts. Welche Rolle spielt das Judentum bei der Entstehung des westlichen Universalismus?
Till van Rahden: Sicherlich sind der Messianismus und das Heilsversprechen im Judentum eine wichtige Quelle des modernen Universalismus, im „Westen“ wie auch anderorts. Antisemitische beziehungsweise judenfeindliche Philosophen dagegen galt alles „Jüdische“ immer als das Partikulare, das Tribale. Das ist die Konfliktlage im 19. Jahrhundert. Von jüdischer Seite wurde und wird immer wieder freundlich, geduldig betont, wie zentral jüdische Traditionen für die Entstehung eines säkularen Universalismus sind.
Heute stellt sich die Situation anders dar. Pointiert: In den heutigen Debatten stehen sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber. Die eine Seite kritisiert den Universalismus, den Anspruch allgemeiner Gleichheit, allgemeiner Menschenrechte, als verlogen, als eine Form von Schönfärberei, um die tatsächlichen Gewaltverhältnisse zu verschleiern. In Sonntagsreden werden – auch das jetzt pointiert formuliert – die Menschenrechte und der Universalismus hochgehalten, doch ab Montagfrüh greifen wieder alle Ausschlussmechanismen.
Mir leuchtet vieles an solcher Kritik ein. Doch frage ich mich, ob es sinnvoll ist, auf das Prinzip universeller Gleichheit und das Ideal universeller Gerechtigkeit zu verzichten? Welche Möglichkeiten gibt es, die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gerade dadurch mit neuem Leben zu erfüllen, dass wir die berechtigte Kritik am europäischen bzw. westlichen Universalismus ernstnehmen und in Rechnung stellen? Ich habe versucht zu zeigen, dass es in jedem Universalismus auch Spuren von Partikularismus gibt. Es kann eben nicht den weltumspannenden, allgemeingültigen Universalismus geben, der Lösungen für alle Probleme bietet. Stattdessen können wir gleichsam universelle Ideen ins Spiel bringen und uns gleichzeitig klarmachen, dass die Art und Weise, in der wir das tun, auch immer Teil einer partikularen Haltung ist.
Norbert Reichel: Dann ist das Universelle das Verhältnis verschiedener Partikularismen zueinander. Damit wären wir wieder bei der Ausgangsfrage Ihrer wissenschaftlichen Arbeit, wie sich verschiedene Gemeinschaften zueinander verhalten.
Till van Rahden: Es geht nicht mehr darum, abstrakte universalistische Prinzipien herauszudestillieren und für alle Zeiten bei allen Fragen anzuwenden, sondern um die Verschränkung von Universalismen im Widerstreit. Universalismus ist nur im Plural zu haben. Universelle Prinzipien können nur in einer partikularen Gestalt wirksam werden. Kein Universalismus – und sei er noch so abstrakt – ist rein, jeder Universalismus ist verschmutzt. Statt nach der Zauberformel des allgemeingültigen Universalismus zu suchen, könnten wir danach fragen, wo der universalistische Anspruch solcher Argumente an seine Grenzen stößt, auch erkennen, wie sie durch bestimmte Formen des Partikularismus verschmutzt sind. Erst diese Erkenntnis eröffnet die Chance, die konkreten Universalismen im Widerstreit auszuhalten.
Norbert Reichel: Sehen Sie Unterschiede in der amerikanischen und der europäischen Debatte zu diesem Thema?
Till van Rahden: Ja und nein. In den 1980er und 1990er Jahren war ziemlich klar zu erkennen, dass es große Unterschiede gab, auch große Missverständnisse. Deutlich wurde das etwa bei den Debatten um „Multikulturalismus“. Multikulturalismus ist in Kanada seit Oktober 1971 offizielle Regierungspolitik, was die konservative Mehrheit im Juli 1988 noch einmal bestätigte. In Deutschland herrscht die Vorstellung vor, Multikulturalismus wäre ein Kampfwort einer ideologischen Verschwörung von Leuten, die – zugespitzt formuliert – einem primitiven Tribalismus das Wort reden.
Norbert Reichel: Zurück zu den „Lagerfeuern“! So beschrieb das Zygmunt Bauman in „Retrotopia“ (Berlin, edition suhrkamp, 2017).
Till van Rahden: Gibt es Reaktion und Kritik an diesen Debatten, wundert man sich über den polemischen Ton. Ähnlich scharf wurde in deutschen Debatten der achtziger und neunziger Jahre auch zwischen Kommunitarismus und Liberalismus unterschieden. Das hat sich inzwischen abgeschwächt. Inzwischen gibt es etwa einen parteiübergreifenden Konsens, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das ist nur ein Symbol für das, was sich verschoben hat.
Norbert Reichel: Ich stimme weitgehend zu. Andererseits habe ich den Eindruck, dass mit Rhetorik und manchen konkreten Maßnahmen gegen „illegale Immigration“ von manchen dieser Konsens indirekt wieder in Frage gestellt wird. Nicht alle unterscheiden zwischen willkommenen Fachkräften und nicht willkommenen Illegalen.
Till van Rahden: Als ich mich mit den amerikanischen Debatten um den „kulturellen Pluralismus“ beschäftigte – das ist der amerikanische Begriff für die Debatte um den „Multikulturalismus“ –, fiel mir auf, dass der Begriff auf jemandem zurückgeht, der aus Schlesien kam, nämlich Horace Kallen. Das ist nur ein kleiner Zufall. Dahinter steht, dass eine bestimmte Offenheit für ein pluralistisches Bild der Gesellschaft stark durch Thesen, Argumente jüdischer Intellektueller aus dem deutschsprachigen Europa geprägt wurde. Dazu gehören neben Kallen der Begründer der Kulturanthropologie Franz Boas und Intellektuelle, die in den USA die Rezeption von Georg Simmel oder Karl Mannheim gefördert haben, wie Lewis Coser und Kurt H. Wolff. Das heißt, dass angesichts der Einwanderungsgeschichte der USA, die nicht nur eine Geschichte der Einwanderung von Menschen ist, sondern auch von Ideen, bestimmte Denkfiguren von Pluralismus, die aus dem europäischen Kontext kommen, in den USA auf fruchtbaren Boden fielen. Es gibt eine starke Wechselbeziehung zwischen den europäischen und den amerikanischen Debatten.
Norbert Reichel: Ich denke jetzt an John F. Kennedy und sein Buch „A Nation of Immigrants“ (im Jahr 1964 von der Anti-Defamation League of B’nai B’rith herausgegeben). Bei diesem Buch fiel mir ein Aspekt auf: Große Wertschätzung für die eingewanderten Gruppen, aber eine Gruppe kommt gar nicht vor: Afroamerikaner. Und die lebten in den USA schon deutlich länger als Iren, Italiener, Polen, Deutsche. Einwanderung wird je nach Kontext unterschiedlich wahrgenommen und bewertet.
Till van Rahden: In den USA kreiste das Nachdenken über die Wurzeln des amerikanischen Gemeinwesens lange um die fixe Idee, dass man bestimmte Prinzipien aus den germanischen Wäldern jetzt in Nordamerika mit Leben füllen will. Das galt vor allem für die „White Anglo-Saxon Protestants“. Damit waren Privilegien verbunden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich eine andere Idee durch, nämlich dass ihre amerikanische Demokratie ihre Lebenskraft an der Grenze, der „Frontier“ zwischen Zivilisation und Wildnis gewonnen habe. Das war das Argument des Historikers Frederick Jackson Turner. Irgendwann in den 1920er und 1930er Jahren, als die fremdenfeindliche Stimmung besonders ausgeprägt war und es eine äußerst restriktive Gesetzgebung gegen Einwanderung gab, entstand eine Historiographie, die die Geschichte der Vereinigten Staaten immer als eine Geschichte der Einwanderung versteht. Das ist der Kontext, in den auch John F. Kennedy gehört, der irisch-katholischer Herkunft war.
Das wirkmächtigste Buch zum Thema schrieb Oscar Handlin: „The Uprooted – The Epic Story Of The Great Migration That Made American People“, ein Buch, das zuerst 1951 erschien und den Pulitzer-Preis gewann. Handlin kam als Kind russisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn zur Welt. Er machte in der amerikanischen Geschichtswissenschaft eine spektakuläre Karriere. Seit 1938 unterrichtete er über fünfzig Jahre an der Harvard University. Manches, was er schrieb, mag uns heute als bieder erscheinen. Doch immer noch beeindruckt, wie entschieden er betonte, die Geschichte Amerikas ist eine Geschichte von Einwanderern, die Lebendigkeit der amerikanischen Kultur verdankt sich vor allem der Rolle von Einwanderern. Etwas Vergleichbares gibt es in der europäischen Geschichtsschreibung nicht. Das ist jetzt kein Spezifikum der deutschen Geschichtsschreibung, sondern gilt auch in anderen europäischen Ländern.
Norbert Reichel: Ich möchte zwei Gedanken aufgreifen. Der erste bezieht sich auf Trump, der offenbar an die restriktive Einwanderungspolitik der frühen 1920er Jahre anknüpfen und diese sogar noch verschärfen möchte (Emergency Quota Act von 1921 und National Origins Act von 1924). Der zweite bezieht sich auf das erste Kabinett von George W. Bush, das in seiner Besetzung diverser war als vieles, das wir in Europa jemals erlebt hatten. In allen europäischen Ländern sind bis heute Kabinettmitglieder mit migrantischer Familiengeschichte die Ausnahme wie in Deutschland zurzeit Cem Özdemir. Das hat sich inzwischen vor allem in Frankreich und in Großbritannien geändert. In den USA war dies im Jahr 2000 bereits der Fall.
Till van Rahden: In diesem Kontext möchte ich gerne noch einmal auf die Wechselbeziehungen zwischen Einwanderung und Civil Rights Movement eingehen. Die Unterschiede liegen auf der Hand. Wer sich im 19. Jahrhundert entschloss, in ein fremdes Land einzuwandern, tat dies aus der Not heraus, aus verschiedenen Gründen, aber man machte sich freiwillig auf den Weg. Armut und der Wunsch nach einem besseren Leben trieben die Menschen. Das ist aber etwas anderes, als wenn jemand als Sklave oder Sklavin nach Amerika deportiert wurde und deren Nachfahren über Generationen als Sklaven auf Plantagen arbeiteten. Zur Geschichte der USA gehört der immer umkämpfte Versuch der Afroamerikaner, ein gleichberechtigtes Leben führen zu können.
Das sind zwei verschiedene Dinge, gerade weil man in den Debatten um die Civil Rights und die Emanzipation der Afroamerikaner darüber nachdenken muss, ob der Begriff der Minderheit hier sinnvoll ist. Wohlmeinende Weißen sprachen manchmal von den „Afro-Americans“ oder vorher den „Negroes“ als „Minority“. Schwarze Intellektuellen, W.E.B. Du Bois wie Martin Luther King, wiesen dies zurück. Sie wollten nicht als Minderheit beschrieben werden, weil sie diesen Begriff als abwertend empfanden. In diesem Begriff lag für sie keine Form der Anerkennung. Dies aber war ihr Ziel: die gleichberechtigte Anerkennung als Bürgerinnen und Bürger. Bei der Civil-Rights-Bewegung in den USA fällt auf, dass viele der Weißen, die sich solidarisierten, jüdisch waren, Rabbiner, Intellektuelle, Freedom Riders, die vom Norden in den Süden gingen. Es gibt eine interessante Überlagerung von Geschichten, aber auch neue Konflikte, beispielsweise zwischen W.E.B. Du Bois und Hannah Arendt, die zunächst ähnlich argumentiert hatten.
Ihre Frage nach der Sichtbarkeit von demographischer Vielfalt in Führungspositionen ist wichtig. Man sollte allerdings nicht in die Falle gehen, dann bei einem Anteil von sieben Prozent einer Gruppe an der Bevölkerung gleich auch sieben Prozent Anteil an Repräsentanz in entsprechenden Positionen zu erwarten. In manchen Kontexten fällt jedoch auf, dass das Führungspersonal in Deutschland in vielen Bereichen noch so aussieht wie in den 1980er Jahren. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einen Punkt möchte ich betonen: Es ist eben nicht gut für das demokratische Zusammenleben, wenn ein erheblicher Teil der Wohnbevölkerung keine Teilhaberechte hat. Für viele europäische Großstädte gilt, dass etwa ein Drittel der dort lebenden Menschen keine Partizipationsrechte haben, weder wählen noch gewählt werden dürfen. In den USA und in Kanada lässt sich eine größere Breite des Führungspersonals beobachten.
Norbert Reichel: Ein interessantes Phänomen ist die Tatsache, dass sich eingewanderte Menschen oft dort ansiedeln, wo schon Menschen aus ihrer Herkunftskultur leben. Das wird dann in der politischen Debatte oft als „mangelnde Integrationsbereitschaft“ oder gar als „Parallelgesellschaft“ markiert. Dänemark hat in Stadtteilen mit hohem Migrationsanteil eine Höchst-Quote von 30 Prozent festgelegt. Ich bezweifele, dass das funktioniert. Man müsste im Grunde in anderen Stadtteilen Vermieter verpflichten, an Ein- und Zuwanderer zu vermieten.
Till van Rahden: Mit der Sorge vor der „Parallelgesellschaft“ hat das wenig zu tun. Es hängt eher damit zusammen, dass neu Eingewanderte bei denen, die zehn oder fünfzehn Jahre vor ihnen kamen, Unterstützung und Rat finden. Das erleichtert die Integration in ein neues Land. Entscheidend sind nicht Fragen der Einwanderung, der kultureller oder ethnischer Verschiedenheit, sondern Fragen von Bildungsmobilität und Teilhabechancen, als Voraussetzung für das demokratische Zusammenleben in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen. Wenn sich – wie in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachten – soziale Zugehörigkeiten vererben und Menschen in eine „Unterschicht“ hineingeboren werden und kaum noch eine Chance haben, die „Unterschicht“ zu verlassen, führt das zu großen Problemen für das demokratische Zusammenleben.
Norbert Reichel: In der Armutsforschung gibt es Hinweise, dass der Aufstieg, das Verlassen einer sozial prekären Schicht etwa 70 bis 80 Jahre dauert.
Till van Rahden: In einer Demokratie kann es große soziale Unterschiede geben, aber wenn diese über Generationen vererbt werden, wirkt das Gleichheitsversprechen der Demokratie hohl. Die Fähigkeit eines demokratischen Gemeinwesens, mit einem gewissen Maß an sozialer Ungleichheit zu leben, setzt voraus, dass diejenigen, die von ihrer familiären Herkunft her weniger Ressourcen haben, dennoch eine faire Chance erhalten. Der Effekt, die politische Konsequenz müsste sein, dass die besten Schulen in die Stadtviertel gehören, in denen die meisten Menschen mit den schlechtesten Chancen leben. Das ist heute in allen westlichen Demokratien eine große Herausforderung.
Die zwei Säulen des Sozialstaats
Norbert Reichel: Mit Johannes Völz haben Sie den Band „Horizonte der Demokratie“ herausgegeben, der sich an Walt Whitman orientiert. Sie zitieren Walt Whitman unter anderem mit folgender Aussage: „Ich sage, dass die Demokratie nur in der gesamten Lebensführung, in den höchsten Formen der Beziehungen von Menschen wachsen, erblühen und Früchte tragen kann, im Glauben, in der Religion, der Literatur, den Colleges und Schulen – in allem öffentlichen und privaten Leben, auch in der Armee und in der Marine“. Die Quintessenz formulieren Sie und Johannes Völz im Vorwort: „Für Whitman ist Demokratie also nicht nur eine Regierungsform, sie ist auch eine Lebensform. Demokratie bezeichnet weit mehr als ein politisches System, (…)“.
Till van Rahden: Mich interessiert immer, ob es Stimmen gibt, die leiser geworden oder gar vergessen wurden, die aber angesichts der Fragen, die uns umtreiben, verdienen, wieder Gehör zu finden. Wenn Johannes Völz und ich die Demokratie als Lebensform begreifen, betonen wir: Hier gibt es eine intellektuelle Tradition, die auf die amerikanischen Transzendentalisten zurückgeht, wie Ralph Waldo Emerson, Emily Dickinson und Walt Whitman , aber auch verbunden ist mit Namen wie John Dewey oder Jane Addams. Dabei handelt es sich buchstäblich um einen Schatz an Bildern, Begriffen, Denkfiguren, den es sich lohnt zu heben, gerade angesichts der aktuellen Herausforderungen.
In diesem Zusammenhang ist Whitman ein ausgefallener Denker. Er war mir lange zu exzentrisch, aber er spielt für die amerikanische Demokratietheorie, die auch immer eine hemdsärmelige Demokratietheorie ist, eine zentrale Rolle. Mir ist diese Hemdsärmeligkeit sympathisch, denn mich interessiert zwar auch die wissenschaftliche Debatte über die pluralistische Demokratie, vor allem jedoch suche ich das Gespräch an der Volkshochschule Duisburg oder Leipzig, Bautzen oder Lorsch. Die Frage nach der Demokratie als Lebensform ist ein Problem von uns allen. Dabei ist Whitman eine interessante Figur, weil er in seinen Langgedichten ein buntes Panorama entwirft, was demokratisches Zusammenleben bedeuten kann. Manches daran ist problematisch, aber es lohnt sich, Whitman neu zu entdecken. Seine Art, über Demokratie nachzudenken, macht ihn vielleicht zu einem der interessantesten Autoren angesichts der Einsicht, dass sich die westlichen Demokratien inzwischen als viel fragiler erweisen, als wir das lange angenommen hatten. Ich will kein Schreckensszenario erstellen, aber man muss es durchspielen: Es ist überhaupt nicht ausgemacht, dass wir auf einem guten Wege sind. Ich glaube, dass wir die Auseinandersetzung mit Leuten wie Walt Whitman als Chance und als Geschenk betrachten können, wenn wir uns fragen, was es heißen kann, über demokratisches Zusammenleben, über die Ambivalenzen des Universalismus, zu sprechen.
Die Politik reagiert zurzeit vor allem mit politischer Bildung. Es gibt die Bundeszentrale für politische Bildung, die Landeszentralen, das Programm „Demokratie leben“. Eine andere Ebene sind die aktuellen Mittelkürzungen. Ich empfehle Philipp Manow zu lesen, etwa sein neues Buch „Unter Beobachtung – Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“ (edition suhrkamp 2024). Der Politikwissenschaftler fürchtet, dass der Begriff der liberalen Demokratie zu eng gefasst wird. Das führt dazu, dass immer mehr Positionen als anti-demokratisch bezeichnet werden. Manow argumentiert oft einseitig. Viele Einwände liegen auf der Hand. Doch ein Punkt ist meines Erachtens zentral: Manow sieht, dass die Lösung nicht allein lauten kann: Mehr politische Bildung. Sie lautet auch: Mehr Sozialstaat. Für mich heißt das mehr als Bürgergeld und soziale Absicherung. Es geht vor allem um die demokratische Infrastruktur, all jene staatliche und gesellschaftliche Institutionen, Orte und Räume, in denen Menschen erfahren, was die Demokratie auch als Lebensform bedeutet. Das hat etwa Karl Mannheim betont (unter anderem in „Freedom, Power and Democratic Planning“). Der Soziologe sagt, ein demokratischer Staat hat das Recht, alle staatlichen Einrichtungen, alle staatlichen Bereiche so auszurichten, dass eine „demokratische Gesinnung“ gefördert wird, in meiner Sprache: „demokratische Tugenden“.
Norbert Reichel: Das passt gut zu den Botschaften des aula-Projekts von Marina Weisband und des von Sandro Witt beim DGB mit Mitteln des Bundessozialministeriums geleiteten Projekts „Betriebliche Demokratiekompetenz“. Ziel ist es, Selbstwirksamkeit, Gestaltungsmacht erfahrbar zu machen. Auch als Gegenbild zu einer destruktiven Spielart von Selbstwirksamkeit, mit der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten die Regierungen vor sich hertreiben, nicht nur in der Migrationsdebatte. Es geht um Teilhabe, um die Erfahrung, dass man im direkten Lebensumfeld etwas verändern kann. Das ist eben nicht nur politische Bildung, sondern – wie Sie mit Karl Mannheim und Philipp Manow sagen – Förderung des Sozialstaats. Wir brauchen einen breiteren Begriff von „Sozialstaat“. Das ist eben nicht nur ein Konsumartikel.
Till van Rahden: Der Sozialstaat ruht auf zwei Säulen. An die eine Säule denken alle sofort, den Schutz aller Bürgerinnen und Bürger vor Armut, die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens. Die zweite Säule betrifft das, was Sie benennen, die Infrastruktur des demokratischen Zusammenlebens, die demokratische Allmende. Dazu gehören auch öffentliche Schulen und Bibliotheken und spezifisch demokratische Formen der Öffentlichkeit, ob analog oder digital.
Norbert Reichel: Auch Bibliotheksbusse, die in die Dörfer fahren, in denen es keinen Buchladen, keine Bibliothek gibt.
Till van Rahden: Genau. Zudem wundere ich mich, dass wir in diesem Zusammenhang nie über Universitäten reden. Und das in einer Gesellschaft, in der – anders als um 1900, als etwa drei Prozent die Universität besuchten – etwa die Hälfte dies tun.
Norbert Reichel. Ihr Buch „Demokratie – Eine gefährdete Lebensform“ habe ich auch als eine Art politisches Programm gelesen. Welchen politischen Auftrag hat Wissenschaft?
Till van Rahden: Ich zögere, von einem politischen Auftrag zu sprechen. Vielleicht von einer Aufgabe? Aber auch das ist mir schon zu groß gedacht. Wissenschaftliche Reflektion irritiert. Sie bietet in politischen Auseinandersetzungen, Deutungskämpfen und Entscheidungssituationen eine Chance, noch einmal anders über Dinge nachzudenken. Gerade die pluralistische Demokratie, die liberale Demokratie ist alles andere als selbstverständlich. Die Vorstellung, man könnte mit einer bestimmten Verfassungsordnung, einem bestimmten Wahlsystem und bestimmten Formen der Gewaltenteilung ein Perpetuum Mobile der liberalen Demokratie schaffen, halte ich für eine ebenso fragwürdige wie bequeme Annahme. Zwar wirkt sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten 80 Jahre zunächst plausibel: Wir leben in Westeuropa, in Westdeutschland, in den USA, in Kanada in stabilen Verhältnissen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, des realexistierenden Sozialismus, hat die Selbstzufriedenheit der westlichen Demokratien noch verstärkt. Doch auf Hochmut folgte der Fall: Auch in Westeuropa und Nordamerika geht seit etwa zwanzig Jahren die Sorge um, die liberale Demokratie könnte sich im Niedergang befinden.
Eine Zauberformel, wie man auf diese Herausforderung reagieren sollte, habe ich nicht zu bieten. Doch versuche ich, ein Gespür für die Gefährdung der liberalen Demokratie zurückzugewinnen und dabei zu vermitteln, wie viel Sorgfalt notwendig ist, um das vermeintliche Perpetuum Mobile am Leben zu halten. Da kommt das Historische ins Spiel. In allen großen politischen Strömungen, die wir heute beobachten können, war ein Gespür für die Fragilität der Demokratie gegeben, aber es ist inzwischen weitgehend verloren gegangen.
Eine wichtige Quelle war in der Geschichte der Christdemokratie die christlich-soziale Gesellschaftstheorie, vor allem die des Personalismus. Das war zunächst religiös geprägt. Es hat sich säkularisiert, aber es ist eine enorme Ressource. Für die Sozialdemokratie war der Schlüsselbegriff der Begriff der sozialen Demokratie, des sozialen Rechtsstaats, wie ihn Hermann Heller geprägt hat. Nehmen wir den Liberalismus hinzu. An der Tradition des Sozialliberalismus, ob man ihn von Friedrich Naumann, Theodor Heuss oder Ralf Dahrendorf herleitet, kann man sehen, dass liberale Demokratie mehr ist als der Glaube an die segensreiche Wirkung des Marktes. Auch für die Frage, welche Antwort auf die globale ökologische Krise sinnvoll ist, gilt, dass dies nicht allein von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament abhängt, sondern vor allem die demokratische Haltung einer großen Mehrheit der mündigen Bürgerinnen und Bürger voraussetzt. Gemeinsam ist all diesen Ideen, dass der Begriff der Demokratie nicht in der Luft hängt, sondern ganz unterschiedliche kulturelle und soziale Voraussetzungen hat. Dann ist es sinnvoll, bei jeder Gelegenheit die je unterschiedlichen Milieus – wenn man will politischen Lager – an ihre eigene Geschichte zu erinnern.
Das Ergebnis kann sein, dass es ein weites Feld unterschiedlicher Interpretationen dessen gibt, was demokratisches Zusammenleben ist. Aber innerhalb dieses Spektrums gibt es gleichzeitig eine Schnittmenge. Diese besteht darin, dass Demokratie als Herrschafts- wie als Lebensform der Pflege bedarf. Das liegt mir am Herzen. Wie weit das mit historischen Argumenten zu tun hat, ist eine andere Frage. Aber wenn man die Geschichte der Demokratie und ihrer Gefährdungen überblickt, erkennt man, wie wichtig die sozialen und kulturellen Voraussetzungen sind.
Die Demokratie ist einerseits ein Herrschaftssystem, das wie alle Regierungs- und Herrschaftssysteme bestrebt ist, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen. Daran ist nichts problematisch. Wie man das Mehrheitsprinzip der Demokratie als Herrschaftssystem organisiert, beispielsweise als Verhältnis- oder als Mehrheitswahlrecht, ist eine andere Frage. Daneben gibt es die große Frage, wie entsteht eine grundsätzliche Legitimität des Mehrheitsprinzips, vor allem im Hinblick auf diejenigen, die der Mehrheitsentscheidung nicht zustimmen, ihr möglicherweise sogar vehement widersprochen haben. Die Frage nach der Quelle der Legitimität der Demokratie als Herrschaftsform lässt sich nur mit der Frage nach der Demokratie als Lebensform beantworten. Dies ist dann facettenreich. Im Kern geht es darum, dass alle Bürgerinnen und Bürger die Chance haben müssen, die beiden Grundprinzipien der Demokratie, Freiheit und Gleichheit, im Alltag zu erfahren. Sie müssen am Arbeitsplatz das Gefühl haben, dass es ungeachtet der Hierarchien in einem Unternehmen die Chance gibt, Freiheit und Gleichheit zu erfahren. Das kann man für alle Lebensbereich durchspielen, öffentliche Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Schwimmbäder Parks und öffentliche Räume überhaupt. Das könnte für alle unterschiedlichen Parteien und Milieus ein attraktives Angebot sein, um Demokratie zu gestalten.
Es ist relativ einfach: Kein Kind auf dieser Welt kommt als tugendhafter Demokrat oder als tugendhafte Demokratin auf die Welt. Der Weg vom neugeborenen Baby zu einem mündigen Bürger, einer mündigen Bürgerin ist weit. Das ist anspruchsvoll und vor allem eine Zumutung. Aber das Wagnis der Demokratie beruht darauf, dass wir uns dieser Zumutung stellen. Das ist demokratische Bildung. Und das endet nicht mit der Volljährigkeit, das fordert uns ein Leben lang heraus. Es gibt eben keinen Führerschein für die Demokratie, den wir mit 18 oder 19 Jahren erwerben, und dann läuft alles wie von selbst.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2024, Internetzugriffe zuletzt am 9. Oktober 2024.)