Die Politik der Science-Fiction
Ein Gespräch mit der Politologin Isabella Hermann
„It is the unknown that defines our existence.” (Benjamin Sisko im Pilotfilm der Serie „Deep Space Nine”)
„Deep Space Nine” ist die dritte Serie im Star-Trek-Universum. Benjamin Sisko möchte die Raumstation eigentlich wieder verlassen, doch endet er nach seiner ersten Begegnung mit den Propheten Bajors im Himmlischen Tempel, dem Wurmloch zwischen Alpha- und Gammaquadranten. Gegenstand seines Gesprächs mit den Propheten ist die Zeit. Ist sie linear? Für Menschen ist sie es. Er erklärt dies den Propheten anhand eines Baseball-Spiels. Jeder Wurf, jeder Schlag enthält in sich Hunderte von Möglichkeiten der Weiterentwicklung des Spiels. Und so ist es wohl auch im richtigen Leben, auf das sich Benjamin Sisko mit seiner Crew in der Raumstation einlassen wird. Baseball begleitet seine Zeit, immer wieder greift er nach dem Ball auf seinem Tisch und dieser Ball liegt auch im Finale der siebten Staffel noch dort, obwohl Sisko vorerst wieder im Himmlischen Tempel entschwunden ist, aber seine Kolleg:innen und wir als Zuschauer:innen wissen, wir erleben nicht das Ende einer Entwicklung, das Unbekannte lockt nach wie vor – oder in der Sprache der Einleitungen der Originalserie und von „The Next Generation“: „the final frontier“, doch selbst diese Grenze ist überschreitbar, nichts ist endlich, es gibt immer wieder neue Grenzen zu entdecken, nicht nur im Weltraum.
Science-Fiction – das ist der Traum der Entdeckung des Unbekannten, der Zukunft, wie sie sein könnte oder wie wir sie gerne hätten. Die Politologin Isabella Hermann hat sich die Analyse der Science-Fiction zur Aufgabe gemacht. Sie verdient ihren Lebensunterhalt mit politischer Bildung und mit Science-Fiction. Sie hat ihre Leidenschaft zu ihrem Beruf gemacht. Was kann Besseres geschehen? Im Jahr 2023 erschien ihre Einführung in die Science-Fiction, die wir im Demokratischen Salon vorgestellt haben. Das Motto ihrer Internetseite: „Science-Fiction zwischen Zukunft und Metapher“. Über die Internetseite findet wer möchte Vorträge, Podcasts und Auftritte im Rundfunkt, in denen Isabella Hermann die Bezüge zwischen Science-Fiction und der Politik erklärt.
Zukünftige Welten und die Gegenwart
Norbert Reichel: Du bist Politologin und verdienst dein Geld mit Science-Fiction. Eine ungewöhnliche Kombination?
Isabella Hermann: Ich glaube schon, wenn man es so hört. Das gibt es nicht als Jobprofil. Kaum jemand wird Politikwissenschaften studieren, um dann als Science-Fiction-Analyst:in zu arbeiten. Auf den ersten Blick ist die Verbindung vielleicht ungewöhnlich, aber wenn man es genauer nachverfolgt, wird ein roter Faden ersichtlich. Ich war schon als Kind von Science-Fiction fasziniert. Mich haben allerdings an der Science-Fiction in erster Linie das Soziale und das Politische interessiert, nicht so sehr die Technik. Die Technik ermöglicht neue Welten, aber ich interessierte mich für die vielen neuen sozialen und politischen Konstellationen, zum Beispiel in Star Trek. In diesem Universum ist es vielleicht sogar am offensichtlichsten. Wir haben die Replikatoren, das Beamen, den Warp-Antrieb, den Universalübersetzer – all diese technischen Gimmicks ermöglichen die neue Welt in der Zukunft und vor allem auch Erreichbarkeit und Kommunikation. Fasziniert hat mich schließlich dieses postkapitalistische System der Föderation, der Umgang mit den Alien-Zivilisationen, die Frage, wie sich die Menschheit nach dem Dritten Weltkrieg, der von 2026 bis 2053 stattfand, doch zusammengerauft hat.
Mein Interesse betraf aber nicht nur die Science-Fiction, ich hatte allgemein politisches Interesse. Daher kam es zum Studium der Politikwissenschaften mit einem Schwerpunkt auf Internationale Beziehungen. Während des Studiums stellte sich heraus, dass es noch mehr Leute gibt, die so denken wie ich. Mittlerweile gibt es in den Politikwissenschaften eine Subdisziplin mit der Bezeichnung „Popular Culture in Global Politics“. Auf den wichtigen Fachkonferenzen sind Populärkultur und hier vor allem die Science-Fiction selbstverständlicher Teil geworden – und es gibt sogar eigene Konferenzen dazu. So konnte ich meine Interessen ineinanderfließen lassen. Nach dem Studium und nach der Promotion ließ mich das nicht mehr los. Nach und nach hat es dann geklappt, dass ich mich hauptberuflich mit Science-Fiction beschäftigen kann.
Norbert Reichel: Dein Promotionsthema klingt noch etwas anders oder täusche ich mich?
Isabella Hermann: Da ging es um die Beziehungen zwischen den USA und Venezuela, damals sehr aktuell im Kontext der Präsidentschaften von George W. Bush und Hugo Chávez. Ich war ein halbes Jahr in Venezuela zur Recherche. Thematisch also eher eine klassische Arbeit im Kontext der internationalen Beziehungen. Doch ein bisschen kritischer betrachtet könnte man sagen, dass das gesamte Feld der internationalen Beziehungen schon selbst eine Art Science-Fiction ist. Es gibt große Theoriegebäude, wie beispielsweise Realismus oder Liberalismus, auf die dann die tatsächlichen Realitäten bezogen werden.
Norbert Reichel: Zum Beispiel die Feministische Außenpolitik?
Isabella Hermann: Das wäre vielleicht utopische Science-Fiction. Aber auch realistische und neo-realistische Kontexte sind solche Modelle, die beschreiben, wie Staaten sich zueinander verhalten und miteinander verhandeln. Meine Analyseperspektive in meiner Doktorarbeit waren Identitätskonstruktionen. Wie kann es sein, dass das Verhältnis zwischen den USA und Venezuela so schlecht ist? Was geschieht da in den Diskursen? Ich habe mir angeschaut, wie Hugo Chávez in seinen Reden, in Dokumenten die Identität der USA konstruiert und umgekehrt. Es geht darum, wie der Konflikt legitimiert werden kann, Venezuela als ein Land auf dem Weg zum Sozialismus und als Anti-Modell zu den USA, die USA mit der Erzählung, es handele sich um ein Land, das zuvor ein großer Verbündeter der USA war, aber jetzt in eine sozialistische Diktatur wegdriftet. Mit diesen beiden Erzählungen verschlechterte sich das Verhältnis zunehmend. Und es ist auch bis heute nicht besser geworden.
Norbert Reichel: Man könnte meinen, wir erlebten eine Art Retraumatisierung auf beiden Seiten in der Rückerinnerung an den Verlauf und an die Akteure der sogenannten Kuba-Krise. Schließlich wurden die Beziehungen Venezuelas zu Kuba nach der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten immer enger.
Isabella Hermann: Durchaus. Mit dieser Methodik gehe ich auch an die Science-Fiction. Wie wird in der Science-Fiction die Welt konstruiert und wie werden diese Konstrukte legitimiert? Damit ließe sich ein wenig um die Ecke denken, um neue Sichtweisen einzunehmen. Ein Beispiel wäre „The Handmaid’s Tale“ von Margaret Atwood aus dem Jahre 1985. Wir haben in diesem Roman die Umweltkatastrophen mit der Folge der weitgehenden Unfruchtbarkeit der Frauen. Wir haben den amerikanischen Gottesstaat, in dem die Frauen entrechtet, in dem die noch fruchtbaren Frauen, die Mägde, als Gebärmaschinen instrumentalisiert werden. In den USA demonstrieren Frauen inzwischen in den Kostümen der Mägde für ihre Rechte, beispielsweise zum Recht auf Abtreibung. Es gibt solche Bilder aus dem Frühjahr 2023 im Kontext des Urteils des Supreme Courts, der die Entscheidung von Roe vs. Wade aufhob und die Zuständigkeit von der Bundesebene auf die Einzelstaaten verschob. Dabei liefert das Buch keine reale Zukunftsvision, es zeigt aber Trends auf, denn die Debatte in den USA ist stark religiös geprägt. Es kommt nicht von ungefähr, dass es inzwischen eine populäre Fernsehserie gibt, die auf dem Roman aufbaut.
„The Handmaid’s Tale“ zeigt darüber hinaus – gerade auch als Fiktion –, was mit Gesellschaften in Extremsituationen geschehen kann. Auch während der Corona-Pandemie hatten wir eine Extremsituation. Ältere Menschen werden stark geschützt, junge Menschen stark benachteiligt. Studien belegten schon zu Beginn der Pandemie, dass und wie die Care-Arbeit wieder viel mehr auf Frauen verschoben wird, auch, dass weibliche Wissenschaftlerinnen in dieser Zeit nicht mehr so viel publizieren konnten wie vorher. Es gibt so etwas wie ein konservatives Roll-Back. „The Handmaid’s Tale“ zeigt, dass und wie Extremsituationen dazu führen, dass bestimme Personengruppen weniger Rechte oder Möglichkeiten haben.
Kein Genre, sondern eine Denkweise
Norbert Reichel: Zu Beginn der Pandemie stiegen in Deutschland die Verkaufszahlen für Juli Zehs „Corpus Delicti“ aus dem Jahr 2009. Es hieß, sie habe in diesem Roman eine Gesundheitsdiktatur beschrieben. Als man sie danach fragte, sagte sie, dass sie dies nicht so geplant hätte. Das heißt nicht, dass es in dem Buch keine Science-Fiction-Elemente gäbe. Wie viel Science-Fiction habe ich in Büchern wie „The Handmaid’s Tale“ oder „Corpus Delicti“? Was ist Science-Fiction, was Utopie, was Dystopie? Ich möchte das noch etwas ausweiten: auch nicht alle Utopien bieten schöne Aussichten. Platos Atlantis und Thomas Morus‘ Utopia sind abgeschottete Orte, die die Außenwelt nicht hineinlassen, einmal ist es eine Insel, einmal ein Ort mit einer großen Mauer drumherum.
Isabella Hermann: Das sind zwei Fragen. Die erste allgemein zur Science-Fiction, die zweite zu Utopie und Dystopie. Juli Zeh und Margaret Atwood behaupten beide, dass sie keine Science-Fiction schreiben. Juli Zeh lehnte 2020 den Kurd-Laßwitz-Preis ab. Auch Margaret Atwood lehnte lange den Begriff Science-Fiction ab und bezeichnet ihr Werk als „Speculative Fiction“, weil dies näher an der Realität läge, als die üblichen Science-Fiction-Geschichten im Weltraum, all diese Space Operas mit Raumschiffen. Dies war auch Gegenstand einer Auseinandersetzung vom August 2009 zwischen Margaret Atwood und Ursula K. LeGuin, bei der Ursula K. LeGuin die Meinung vertrat, dass Margaret Atwoods Bücher an Qualität verlören, wenn sie nicht (auch) als Science-Fiction gedeutet würden.
Die Frage lautet: wie definiere ich dieses Feld? Ich gehe mittlerweile weg von einer Genre-Definition mehr hin zur Definition einer Denkweise. In dem Sinne, dass wir von jetzt gesehen in eine Welt kommen, die in der Zukunft liegt, die plausibel begründet ist, und in der Dinge geschehen, die mit unserer heutigen Welt kompatibel sind. Science-Fiction ist ein Modus, in dem man Geschichten in einer fortschrittsorientierten Welt erzählen kann, in der es – das impliziert der Begriff Fortschritt – auch immer um die Erweiterung technischer Möglichkeiten geht und um Wissenschaft. Dann ist Science-Fiction vielleicht sogar der Erzählmodus unserer Zeit. Zum Glück beschränkt sich Science-Fiction inzwischen nicht mehr auf Technik und Naturwissenschaften. Der Begriff der „Science“ ist heute viel weiter gefasst, er erfasst auch die Geistes- und Sozialwissenschaften.
Norbert Reichel: Das trifft meines Erachtens auch den Kern diverser Klassiker der Science-Fiction wie „Brave New World“ (1931) oder „1984“ (1949). Bei beiden Romanen dominiert das Thema der völligen repressiven Überwachung der Menschen in einem autoritären System. Bei Aldous Huxley geht es noch einen Schritt weiter, indem die Gentechnologie, die genetische Reproduktion von Menschen für unterschiedliche Klassen, denen sie angehören und angesichts ihrer gentechnischen Verfassung nicht entkommen können, hinzukommt. Das System lebt von der biologistischen Legitimation einer kapitalistischen Sklavenhaltergesellschaft. Vielleicht noch ein Blick auf die Originalserie von Star Trek. Kirk, Spock und McCoy begegnen immer wieder autoritären Herrschern auf diversen Planeten, von denen manche dem Modell des Mad Scientist entsprechen. Sie konstruieren Menschen nach ihrem Willen, oft als Androiden, die als willige Sklav:innen agieren. Mir erscheinen diese autoritären Herrscher oft genug als Psychopathen im Weltraum. Und sie haben immer die Möglichkeit der totalen Überwachung. Sie haben Kameras oder Kameraroboter, die ihnen zeigen, was Kirk, Spock und McCoy planen, um sich dem repressiven System zu entziehen.
Isabella Hermann: Damit sind wir auch wieder bei Aldous Huxley und George Orwell. Beide Bücher werden inzwischen als Dystopien gelesen, aber nur aus der Sicht der Gegner der Dystopien, einer Außensicht. Die Mehrheit der Personen in den Büchern empfindet die Situation als wunderbar. Bei George Orwell ist im Grunde nur eine Person – die auch noch Winston heißt – Gegner. Alle anderen unterstützen das System.
Wir leben im Grunde ja in dystopischen Zeiten, die Corona-Pandemie, der Krieg um die Ukraine, das Damoklesschwert des Klimawandels. Dies spiegelt sich in dystopischen Erzählungen, die Geschichten sind düster, so dass vielerorts größere, stärkere positive utopische Erzählungen gefordert werden. In der Science-Fiction-Community wird diskutiert, wie man Utopien schafft, in denen eben niemand ausgeschlossen wird, der dann nicht mehr Teil der Utopie ist. Utopie soll schon etwas sein, das Verhandlung zulässt. Demokratie wäre somit schon eine schöne Utopie, gerade weil sie Meinungspluralismus zulässt. Grenzen schafft die wehrhafte Demokratie gegen diejenigen, die die Demokratie abschaffen wollen. Aber es gibt keine Personen, keine Gruppen, die komplett ausgeschlossen werden müssen oder sich zwangsanpassen müssen, denn wir haben in der Demokratie die Möglichkeit, kontrovers zu diskutieren, verschiedene Parteien zu wählen, eine Opposition in die Regierung hineinzuwählen und umgekehrt. Ich finde es wichtig und interessant, dieses demokratische System so zu vermitteln, dass es als positiv wahrgenommen wird. Und ich finde es beängstigend, dass zurzeit die AfD in den Umfragen bei etwa 20 Prozent liegt. Offenbar haben sie die stärkere Erzählung, wenn sie definitiv auf Ausgrenzung setzen. Und sind damit durchaus dystopisch aufgestellt, auch in ihrem Versprechen einer Erlösung, die natürlich nur von ihnen kommen kann.
Bildung via Science-Fiction?
Norbert Reichel: Ich nenne als Beleg eine schleichende Entwicklung: vor etwa zwanzig Jahren gab es viele Vorbehalte gegen die Überwachung des öffentlichen Raums mit Kameras. Heute wehrt sich kaum noch jemand dagegen. Viele Menschen denken, ich habe mir ja nichts vorzuwerfen, da muss ich mich vor der Überwachung auch nicht fürchten. Wenn wir dies weiterdenken, sind wir schnell bei dem chinesischen System mit der Verteilung von Sozialpunkten oder beim iranischen System, wo unter anderem mit Hilfe deutscher Technologien Bekleidungsvorschriften überwacht werden, um die Frauen, die sich nicht an diese halten, identifizieren und bestrafen zu können. Ich wage die These, wenn die Nazis die heutigen technologischen Möglichkeiten der Überwachung in In- und Ausland gehabt hätten, wäre damals kaum noch jemand entkommen.
Darin enthalten ist auch immer der Traum vom Neuen Menschen, einer Menschheit, in der alle eins sind, alle gleich, alle gleichgeschaltet sind und damit zufrieden sind. Vereinfacht gesprochen ist es das Ziel der AfD und vergleichbarer Parteien, dass die Männer dominieren, die Frauen zu Hause Kinder gebären und alle als fremd gelesenen Menschen wieder verschwunden sind, wohin auch immer.
Isabella Hermann: Es ist ein Fantasiegebilde, das in keiner Form der Wirklichkeit entspricht, weder real noch normativ. Die Frage lautet, wie kann ich Erzählungen schaffen, um dies zu entlarven. Da kann Science-Fiction eine Rolle spielen. Deshalb finde ich es gut, dass Huxley und Orwell Teil des Schulkanons sind. Wenn man Jugendlichen den Konflikt zwischen Utopie und Dystopie nahebringt, lässt sich da Gutes erreichen. Man müsste meines Erachtens aber noch viel mehr tun. Science-Fiction könnte in der Gesamtheit der politischen Bildung viel stärker eingesetzt werden, bei jüngeren Schüler:innen genauso wie bei älteren, bei Studierenden. Ich denke, dass damit demokratisches Denken trainiert würde. Wenn man die Texte kritisch liest!
Norbert Reichel: Diesen Vorschlag hast du in deiner Einführung in die Science-Fiction am Schluss ausgeführt, allein dieses Kapitel ist schon ein Grund, das Buch zu kaufen und zu lesen. Es gehört eigentlich in jede Handbibliothek zur politischen Bildung, dazu gehören nicht nur Politiklehrer:innen, auch alle anderen. Aber wie schafft man es, den Realitätsbezug der Science-Fiction zu vermitteln? Viele lesen oder sehen Science-Fiction ja dann doch als realitätsferne Unterhaltung.
Isabella Hermann: Ich bin da eigentlich ganz zuversichtlich. Das ist auch meine Erfahrung aus diversen Vorträgen. Da geht es weniger um Schüler:innen, sondern dann eher um junge Erwachsene, ich bin zwar keine Pädagogin, aber das ist eine gute Zielgruppe, zum Beispiel Stipendiat:innen von politischen Stiftungen, die verpflichtet sind, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Das mache ich seit etwa zehn Jahren. Mit dem Thema einer politischen Betrachtung der Science-Fiction können viele zunächst gar nichts anfangen. Sie haben die Bilder im Kopf, die wohl auch Margaret Atwood im Kopf hatte, als sie ablehnte, ihre Bücher der Science-Fiction zuzuordnen. Science-Fiction, das ist für sie dann so ein Weltraum-Quatsch.
Norbert Reichel: Die meisten dürften an Star Wars denken.
Isabella Hermann: Oder Star Trek. Star Wars ist aus meiner Sicht auch eher Fantasy, mit all den lustigen Laser-Schwertern. In meinen Veranstaltungen habe ich in der Regel längere Slots von etwa zwei bis drei Stunden, auch mit Filmbeispielen. Man braucht schon gute Beispiele. Gut funktioniert es mit Filmen und Serien, weil das audiovisuell ist. Ein Beispiel ist der Film „District 9“ von Neill Blomkamp. Ein UFO kommt über Johannesburg in Südafrika zum Stehen, es wird geentert, die Außerirdischen müssen in einen District, eine Art Flüchtlingslager. Sie werden parallel zur Apartheid in einem besonderen Maße ausgegrenzt, eine Apartheid in der Apartheid. Es ist eigentlich schon sehr klar, dass die Aliens eine Metapher für Ausgrenzung sind. Aber stilistisch ist es eindeutig Science-Fiction, mit den Motiven der Außerirdischen, der Raumschiffe, des Weltalls. Am Schluss haben wir einen durchaus Hollywood üblichen spektakulären Showdown. Das macht es etwas schwierig, dass die Filme am Schluss immer diese Action brauchen. Aber das Beispiel lässt sich gut verwenden: vor allem die jungen Frauen kommen dann zu mir und sind überrascht, dass der Film ein Ausgangspunkt sein kann, politische Themen zu diskutieren.
Norbert Reichel: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Rezeption?
Isabella Hermann: Ich weiß nicht so recht. Männer sind vielleicht zum Genre der Science-Fiction etwas affiner, mit all der Technik. Aber das vermischt sich inzwischen sehr. Die jungen Frauen waren zu Beginn eher skeptisch, aber man kann die Leute gut gewinnen. Sie sind auch in den Diskussionen dabei.
Nur Krieg und böse Buben?
Norbert Reichel: Gehen wir noch einmal über zu Star Trek. Es gab den Dritten Weltkrieg, ein Nuklearkrieg mit über 600 Millionen Toten, etwa zehn Mal so viele wie im Zweiten Weltkrieg, es gab die Eugenischen Kriege und wir erleben jetzt eine zumindest im Ansatz friedliebende Föderation, in der nur Planeten Mitglied sein können, die nicht in interne Kriege verwickelt sind. In der letzten Staffel der Serie „Enterprise“ wird im Finale der Gründungsakt der Föderation gezeigt. Dieses Finale spielt sechs Jahre später als der Rest der Serie und wird auch noch dadurch hervorgehoben, dass es als Holodeck-Reproduktion inszeniert wird, die sich William Riker und Deanna Troi in ihrer Zeit auf der Enterprise von „The Next Generation“ anschauen. In „Enterprise“ erleben wir das gesamte Dilemma. Man ist als Forschungsschiff gestartet, findet aber sehr schnell, schon in der ersten Staffel, überall nur Krieg, Gewalt und böse Buben.
Isabella Hermann: Nur Krieg und böse Buben! Das Raumschiff „Enterprise“ ist in der Tat ein Forschungsschiff, aber von vorne bis hinten militärisch durchorganisiert, mit den besten Waffen, mit klaren Hierarchien. Wehrhaft eben. Der Wertekanon bezieht sich sehr stark auf die individuelle Entwicklung einzelner Personen. Man arbeitet nicht für Geld, sondern für die Ideale der Sternenflotte. In der Organisation entscheidet jedoch der Captain. Das ist in der Tat schon ein Gegensatz. Aber die Mitglieder der Föderation teilen einen Wertekanon und haben es geschafft, friedlich zusammenzuleben. Es gibt auch keinen Rassismus mehr.
Norbert Reichel: In der Vorgeschichte, die die Serie „Enterprise“ zeigt, gibt es diesen Rassismus noch. Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Xindi in der dritten Staffel wird auf der Erde der denobulanische Schiffsarzt Doctor Phlox rassistisch angegriffen und muss von seinen Crew-Kollegen verteidigt werden. Er zieht die Konsequenz, dass er seine freie Zeit nicht mehr auf der Erde verbringen will.
Isabella Hermann: Das ist die Vorgeschichte. In der Originalserie aus den 1960er Jahren erleben wir die multinationale und multiethnische Crew auf dem Schiff, zu einer Zeit als Afroamerikaner:innen noch nicht die gleichen Rechte hatten, haben wir eine Woman of Color als Chief Communications Officer, es gibt den vulkanischen Ersten Offizier, einen asiatischen Steuermann, ab der zweiten Staffel einen Russen auf der Brücke. Gene Roddenberry hat im Grunde die Konflikte der 1960er Jahre auf der Brücke der Enterprise befriedet.
Norbert Reichel: Ich erlaube mir den Hinweis, dass in „Strange New Worlds“, das mit Captain Christopher Pike wenige Jahre vor der „Enterprise“ des Captain Kirk spielt, die Crew noch erheblich diverser ist. Sie ist multiplanetarer, es gibt eben nicht nur den Halb-Vulkanier Spock, sie ist auch weiblicher. Die Erste Offizierin, Number One, Una Chin-Riley, ist – wie in dem Pilotfilm der Originalserie, der wegen der politischen Vorbehalte gegen eine Frau als führende Figur auf der Brücke zurückgezogen werden musste – eben eine Frau und sie ist darüber hinaus noch eine Illyrierin, die genetische Vorteile hat, die sie angesichts des Verdikts der Föderation gegen genetisch veränderte Personen vor Gericht bringt, wo sie jedoch von einer Schwarzen Anwältin und dank der Solidarität der Crew herausgehauen wird (übrigens ein Aspekt, der in dem zurückgezogenen Film der Originalserie noch nicht benannt war). Die Darstellung der modernen Una Chin-Riley ist feministisch und anti-rassistisch zugleich.
Isabella Hermann: Mit der Zeit wurden die Personen immer differenzierter und immer diverser. Der Rassismus wurde schon in der Originalserie auf außerirdische Planeten verlagert, beispielsweise in der 15. Folge der dritten Staffel „Let This Be Your Last Battlefield“. Der Krieg des besuchten Planeten ist ein Krieg zwischen Humanoiden, die auf der rechten Seite schwarz und auf der linken weiß sind, mit ihnen identischen Humanoiden, bei denen allerdings die linke Seite schwarz und die rechte weiß ist. Das Problem erweist sich als unlösbar. Aber durchgehend sind die Klingonen die Spezies, die am ehesten an die aktuellen politischen Konflikte der Entstehungszeit der Originalserie erinnern. Sehr archaisch und aggressiv, ein ausschließlich an Gewalt orientierter Wertekodex, ein grobes Bild aus amerikanischer Sicht für die Sowjetunion im Kalten Krieg.
Norbert Reichel: Nur wenig beachtet ist meines Erachtens, dass die Klingonen eine schwarze Hautfarbe haben. In „The Next Generation“ wird der Brückenoffizier Worf von einem Schwarzen Schauspieler gespielt, Michael Dorn. Der Schauspieler von General Martok in „Deep Space Nine“; der zum Schluss Kanzler wird, John Noah Hertzler, ist allerdings weiß. Die gute Schwarze ist von Anfang an natürlich Nyota Uhura, die Kommunikationsoffizierin der Originalserie, die aber dann in „Strange New Worlds“ eine erheblich aktivere Rolle erhält, die sie im Original noch nicht hatte.
Isabella Hermann: Der Konflikt dreht sich immer darum, dass die Föderation und ihre außerirdischen Gegner, die Klingonen oder die Romulaner, als der Gegensatz schlechthin inszeniert werden, durchaus passend zur Zeit des Kalten Krieges.
Norbert Reichel: Eine meines Erachtens unterschätzte Serie ist „Enterprise“. Die dritte Staffel repliziert mit dem Kampf gegen die Xindi das Thema von 9/11. Die Föderation gibt es noch nicht. Die Vulkanier sind noch eine sehr autoritäre Kultur. T’Pau, die in der Originalserie als Staatschefin eingeführt wurde, war noch Widerstandskämpferin, der es mit Hilfe von Captain Archer und der vulkanischen Ersten Offizierin T’Pol gelingt, das autoritäre System zu besiegen. Aber auch Captain Archer ist kein Engel. Er foltert Außerirdische, um Informationen über die Xindi zu erhalten, nicht mit Waterboarding, aber durch Entzug der Atemluft. Die Crew ist entsetzt, er selbst relativiert sich später. Oder nehmen wir den Andorianer Shran, gespielt von meinem Lieblingsschauspieler Jeffrey Combs, ein Militär reinsten Wassers aus einer völlig militärischen Zivilisation, der nach der Zerstörung seines Raumschiffs degradiert wird. Die außerirdischen Zivilisationen kommen nicht gut weg. Die Erde ist mehr oder weniger der zivilisierte Planet schlechthin, der die anderen auf einen guten Weg bringt.
Isabella Hermann: Die einzelnen Serien spiegeln die jeweilige aktuelle US-Außenpolitik. Das ist eigentlich der Kern. In Selbstbild und im Fremdbild. Das finde ich gerade so spannend, weil Science-Fiction damit als Kommentar der Gegenwart erscheint. Es lohnt sich, Science-Fiction auf die aktuelle Zeit zu beziehen. Das gelingt in Star Trek mit einem Setting im 23. und 24. Jahrhundert. Die Verlagerung der Episoden der Discovery ins 31. Jahrhundert ist da eine Ausnahme. Je nachdem, wann die Serien gedreht wurden, prägt unser Zeitgeist, unsere Art, wie wir die Welt wahrnehmen, die Gestaltung der Serien. Das meinte ich auch mit dem Gedanken der Subdisziplin der „Popular Cultures in Global Politics“. Es gibt eine sehr ergiebige wissenschaftliche Auseinandersetzung über Star Trek als Spiegel der US-Außenpolitik.
Norbert Reichel: Der binäre Code funktioniert selbst noch im 31. Jahrhundert, nur sind das in „Discovery“ keine Konflikte zwischen Ideologien. Die vierte Staffel von „Discovery“ zeigt zwar eine tödliche Bedrohung der gesamten Erde. Diese stellt sich jedoch als Irrtum heraus, der sich mit Kommunikation, mit Diplomatie aufklären lässt. In „Enterprise“ hingegen haben wir im vom Zeitreisenden Crewman Daniels immer wieder vorgeführten 31. Jahrhundert Krieg und Zerstörung. Daniels ist beauftragt, die Zeitlinie im „Temporal Cold War“ zu erhalten. Genau diese wollen die „Builders“ mit Hilfe der Xindi und dem Ziel der Erweiterung ihrer eigenen Macht zerstören, indem sie die Erde als Ursache einer angeblichen späteren Zerstörung der Xindi-Zivilisation hinstellen.
Isabella Hermann: Ein anderes Beispiel ist die Neuauflage von „Battlestar Galactica“ Ende der Nullerjahre. Es geht um die USA im Zeitalter nach 9/11. Viele Konflikte, die es damals gab, kamen messerscharf zur Geltung, zum Beispiel der Trade-Off zwischen Sicherheit und Freiheit, die Frage nach dem Primat der Politik über das Militär, Ethische Dilemma um Foltern und Geheimnisverrat, ohne Zeigefingerpädagogik. Aber auch Star Trek ist ja keine pädagogische Veranstaltung. Es geht um Unterhaltung, um Emotionen, man will mitgenommen werden, so funktioniert die politische Botschaft allerdings auch viel besser. Das macht Science-Fiction aus, sonst könnte ich mir auch einen beliebigen Scenario-Text anschauen.
Discovery und Strange New Worlds, die Spiegeluniversen
Norbert Reichel: Wie beurteilst du die beiden neuen Franchises des Star-Trek-Universums, „Discovery“, inzwischen wurde die fünfte Staffel angekündigt, und „Strange New Worlds“, dessen zweite Staffel mit einem gigantischen Cliffhanger und dem Hinweis „To Be Continued“ endete. Die Dreharbeiten verschieben sich leider wegen des Streiks der Drehbuchautor:innen in Hollywood. Wir werden wohl noch etwas warten müssen. Sowohl in „Discovery“ als auch in „Strange New Worlds“ finden wir viele Elemente der Genderdebatten.
Isabella Hermann: „Discovery“ bietet meines Erachtens eine Millennial-Perspektive. Es geht um individuelle Befindlichkeiten, man spricht ja auch von der „Snowflake“-Komponente. Ich sage das jetzt etwas polemisch: es gibt kaum eine „Discovery“-Folge, in der niemand heult, entweder Michael Burnham oder jemand anders. Es ist ein ständiger Befindlichkeitsdiskurs. Das spricht wohl eine bestimmte Zuschauerschaft an und ist wohl auch eine Grundlage des Erfolgs. In „The Next Generation“ unter Jean-Luc Picard wäre es undenkbar, dass solche Diskurse geführt werden. Bei „Strange New Worlds“ kam der Humor zurück. Bei „Discovery“ gibt es eigentlich keinen Humor und auch keine richtige Sexualität, trotz der homosexuellen Beziehung zwischen Schiffsarzt und Chefingenieur. Bei „Strange New Worlds“ gab es immer wieder ein Augenzwinkern.
Norbert Reichel: Bei „Strange New Worlds“ gefallen mir die Beziehungen zwischen Spock und Christine Chapel, die im Unterschied zur Originalserie hier eine tragende Rolle hat, beziehungsweise zwischen Spock und T’Pring. Die Vulkanierin und ihre Familie sind vielleicht so etwas wie ein Reflex auf humorlose Zeiten, aber auch in der Originalserie hat Spock durchaus seine humorvollen Seiten, obwohl McCoy das nicht immer merkt.
Isabella Hermann: Ich fand es sehr gelungen. Es ist auch gut, dass wir wieder in sich geschlossene Einzelepisoden haben. „Strange New Worlds“ ist wieder eine Anthologie-Serie, man muss nicht den gesamten Handlungsbogen verfolgen und kann sich die ein oder andere Folge auch anschauen, ohne alle anderen gesehen zu haben.
Norbert Reichel: Das gelingt vor allem in der zweiten Staffel, in der jede Folge mehr oder weniger einer einzigen Person gewidmet ist. Eine Art Zusammenfassung der Entwicklungen der einzelnen Persönlichkeiten bildet dann die vorletzte Folge „Subspace Rhapsody“, die als Musical gedreht wurde, in der die Personen, wenn sie singen, ihre Gefühle äußern, die sie sonst nicht äußern. Die letzte Folge „Hegemony“ kehrt dann erst wieder zu einem Großkonflikt zurück, dem Konflikt mit den Gorn, die schon ziemlich schrecklich, fast in der Art der „Alien“-Filme dargestellt werden und nicht mehr als niedliche Krokodilmenschen wie in der ersten Staffel der Originalserie in „Arena“.
Isabella Hermann: In „Discovery“ wurden mehrere Charaktere nicht weiter ausgeführt, teilweise auch ohne plausible Erzählung aus der Serie herausgeschrieben. Ein Highlight war natürlich Michelle Yeoh als Captain Philippa Giorgiou beziehungsweise als Imperatorin aus dem Paralleluniversum. Die Paralleluniversen sind im Grunde der „Black Mirror“, den wir in fast allen Serien erleben. Vielleicht ist es aber auch so, wie die Föderation von den Außerirdischen gesehen wird. Vielleicht ist die Föderation für die anderen wirklich das Terran Empire.
Norbert Reichel: Das passt gut auf Kira Nerys in „Deep Space Nine“, die ehemalige Freiheitskämpferin und Terroristin als Verbindungsoffizierin zwischen Föderation und Bajor, die im Paralleluniversum als intrigante und völlig skrupellose Intendantin dargestellt wird. Vielleicht ist auch Kira Nerys für manche genau das.
Isabella Hermann: Es funktioniert auf vielen Ebenen. Es ist einmal eine erweiterte Perspektive innerhalb der Serie, aber auch eine Kritik an dem utopischen Setting an sich, auch ein Augenzwinkern.
Norbert Reichel: Wir sollten hier im „Westen“ vielleicht auch darüber nachdenken, wie uns andere Länder und Kontinente sehen. Wir sind nicht nur die Guten.
Isabella Hermann: Genau das ist ein wichtiger Aspekt der Bildungsarbeit mit Science-Fiction. Star Trek anschauen, das Spiegeluniversum analysieren und daraus Gedanken über den Blick der anderen entwickeln. Das wäre eine softere Hinleitung als jeder Einstieg mit den üblichen Anklagen, was im und vom „Westen“ alles an schlimmen Dingen in die Welt gebracht wurde, an Rassismus, Kolonialismus, Imperialismus.
Norbert Reichel: Das passt auch zu dem Thema der Bedrohungsszenarien. Das „Dominion“ agiert so wie es agiert, weil es sich bedroht fühlt. Etwa 25 Jahre vor Putin. Ob es wirklich bedroht wird, ist eine ganz andere Frage. In „Picard“ erleben wir in der dritten Staffel wieder etwas anderes: die Borg und die Formwandler des Dominion verbünden sich und hier haben wir eine Bedrohung, die sich nicht mehr mit Diplomatie auflösen lässt wie es Kathryn Janeway gelang, allerdings auch immer wieder mit Hinterlist, die nicht nur erst im Finale zur Zerstörung der Borg führte. Aber die Borg kamen immer wieder. In „Strange New World“ scheinen aber die Gron die Borg als Hauptbösewichte abzulösen. Der Kontakt zu den Borg bestand zu dieser Zeit aber auch noch nicht.
Isabella Hermann: Was eine wirkliche Bedrohung ist, ist die andere Frage und es gilt meines Erachtens für viele aktuelle Konflikte.
Künstliche Intelligenzen und Mad Scientists
Norbert Reichel: Ein tragendes Thema der zweiten Staffel von „Discovery“ war die zerstörerische Kraft Künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence). In der Originalserie erleben wir diese zerstörerische Kraft ebenso wie später in „Voyager“. B’Elanna Torres muss zwei Mal Massenvernichtungswaffen aus dem Verkehr ziehen, von denen sie eine sogar als Maquis-Mitglied gegen die Cardassianer programmiert hatte, Waffen, die selbstständig denken und versuchen, diejenigen, die sie entschärfen wollen, auszutricksen. Die Figur des Data in „The Next Generation“ war eine Ausnahme dieser bösen Varianten Künstlicher Intelligenz. Das wird nicht zuletzt durch den bösen Bruder „Lore“ deutlich, der mehrfach aus dem Verkehr gezogen werden muss, weil er so etwas wie eine autoritäre Herrschaft einrichten wollte, in „Descent“ mit Hilfe von aus dem Kollektiv gelösten Borg-Dronen. Data hingehen wurde mit der Zeit immer menschlicher und auch in Konflikten siegt immer seine gute Seite. Letztlich wird Künstliche Intelligenz immer wieder mit dem Thema Massenvernichtung verknüpft.
Isabella Hermann: Absolut. Nicht nur in Star Trek. Es gibt jede Menge Filme, Bücher, Serien mit diesem Thema. Wir haben nicht nur Roboter und Androiden, sondern auch die mächtigen Computersysteme und Assistenzsysteme. Isaac Asimovs Kurzgeschichten „I Robot“ begannen in den 1940er Jahren und wurden in den 1950er Jahren publiziert. Das Thema des technologischen Fortschritts wird immer wieder mit dem Traun der Herstellung eines künstlichen Menschen verbunden. In der Antike gab es das ja auch schon, mit der Pygmalion-Erzählung, in der eine weibliche Statue zum Leben erweckt wird, es gab die Golem-Erzählung in der jüdischen Mystik, dann später Mary Shelley, bei der Frankenstein seine Kreatur aus verschiedenen menschlichen Teilen zusammensetzt. In der industrialisierten technologischen Zeit haben wir es geschafft, verschiedene Gestalten zu schaffen, die „smart“ sind, intelligent, dem Menschen Vieles abnehmen.
Norbert Reichel: Ich erlaube mir gerne den bösen Satz, dass die kleinen Geräte, die manche im Ohr tragen, um ihr I-Phone besser zu hören, der erste Schritt zur Assimilation der Menschheit durch die Borg sind. Vielleicht gehört auch Barbie in diese Kategorie, zumindest in dem Film von Greta Gerwig, in dem sie wie die Statue des Pygmalion zum Leben erweckt wird.
Isabella Hermann: Das Thema KI ist allgegenwärtig. Bei „Discovery“ fand ich spannend, dass das Thema mit maschinellem Lernen verbunden wurde. In der zweiten Staffel hat das Risk Assessment Tool einfach überlernt. Es wurde immer mit konfliktbehafteten Daten gefüttert und was macht es? Es sieht überall Konflikte, die mit Gewalt gelöst werden müssen. Auch das ist durchaus zeitgeistangemessen.
Norbert Reichel: Eine gängige Figur ist in diesem Kontext der verrückte Wissenschaftler. Im Star Trek Universum paradigmatisch in der Person des Dr. Arik Soong verkörpert, der später als Dr. Noonien Soong auftritt, dann in „Picard“ als Adam Soong, obwohl niemand so richtig weiß, ob alle Clone des ersten Dr. Soong sind oder ob dieser vielleicht menschliche Nachkommen hatte. Immerhin bleibt es in der Familie. Genialer verrückter Vater, genialer verrückter Sohn und so fort. Die Community spekuliert. Gespielt werden alle Soongs von Brent Spiner, der auch Data und Lore spielt. Eine legendäre Figur ist natürlich Khan, der – gespielt vom Filmbösewicht Ricardo Montalban,– schon in der Originalserie in „Space Seed“ auftauchte und auf die Eugenischen Kriege rückverweist. Ohnehin eine sehr dankbare Rolle, wie später ein fantastischer Benedict Cumberbatch in „Into Darkness“ beweist.
Isabella Hermann: Auch die Figur des verrückten Wissenschaftlers ist ein Abbild unserer fortschrittlich westlichen Welt, in der wir so gerne einzelne geniale Helden haben. Wissenschaftler:innen arbeiten eigentlich im Team, aber wir erzählen die Geschichte immer so, als handele es sich um eine einzige geniale Person.
Es ist eben immer die eine Person, auf die es ankommt, die die Welt rettet oder zerstört. Und wenn es mehrere gemeinsam schaffen, ist es eben eine Gruppe genialer Personen. Über die verschiedenen Serien hinweg ist dabei die Wissenschaft immer von zentraler Bedeutung, auch die Verhandlung von Wissenschaft. So ist das Raumschiff als Forschungsschiff unterwegs, verfolgt aber eine politische Mission. Im Wertekanon von Star Trek gehören Freiheit, Wissenschaft und Fortschritt eng zusammen, auch in der Bewertung anderer Zivilisationen. So tauchen immer wieder Fragen auf, die in der Serie gelöst werden müssen, oder die wir als Zuschauer:innen analysieren können: Hängen wissenschaftlicher und sozialer Fortschritt zusammen? Steht der Schutz der Allgemeinheit über dem der Wissenschaftsfreiheit? Darf man Ausnahmen guter wissenschaftlicher Praxis zulassen, wenn es um die eigenen Interessen geht? Oder Probleme auf später verschieben, in der Hoffnung der wissenschaftliche Fortschritt wird sie dann schon lösen? Star Trek ist die popkulturelle Fassung eines wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens, der politisch und mitunter militärisch durchgesetzt wird. Es geht nicht nur um Wissenschaft, sondern auch ganz konkret um Wissenschaftspolitik.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung Ende September 2023, Internetzugriffe zuletzt am 3. September 2023, das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus der Startseite des Internetauftritts von Isabella Hermann.)