Die Qualen der Medea
Weibliche Fluchten in der Literatur einer Diktatur
„Ich bin mit Jason gegangen, weil ich in diesem verlorenen, verdorbenen Kolchis nicht bleiben konnte. Es war eine Flucht. Nun habe ich den gleichen Zug von Anmaßung und Furcht, den unser Vater Aietes zuletzt zeigte, im Gesicht des Königs Kreon von Korinth gesehen.“ (Christa Wolf, Medea – Stimmen)
Christa Wolfs „Medea – Stimmen“ erschien 1996 bei Luchterhand. Medea flieht aus einem Land der Unfreiheit in ein anderes Land und findet dort Unfreiheit. Sie ist nicht sie selbst, sondern die, die die Menschen um sie herum wollen, dass sie ist. Leukon, der Zweite Astronom des Königs Kreon, berichtet von ihrer Verhaftung und Vertreibung. „Maßlos ist sie am Ende gewesen, so, wie die Korinther sie brauchten, eine Furie. Wie sie, die bleichen verängstigten Knaben an der Hand, in den Tempel der Hera eindrang, die Priesterin beiseite schob, die ihr in den Weg trat; wie sie die Kinder zum Altar führte und zur Göttin aufschrie, was einer Drohung mehr ähnelte als einem Gebet: Sie solle diese Kinder schützen, da sie, die Mutter, es nicht mehr könne. Wie sie die Priesterinnen verpflichtete, sich der Kinder anzunehmen, was die aus Furcht und Mitleid versprachen. Wie sie dann mit den Kindern redete, versuchte, ihnen die Angst zu nehmen, sie umarmte und, ohne sich noch einmal umzusehen, den Tempel verließ, um sich sofort den wartenden Wachen auszuliefern. Wie sie die ganze Zeit, als man sie als Sündenbock durch die Stadt führte, einen schrecklichen Gesang ausstieß, der die Menschen am Straßenrand aufstachelte, ihn zu ersticken. Sie muss es darauf angelegt haben, getötet zu werden, aber die Wachen hatten den Befehl, sie lebend aus der Stadt zu bringen.“
Frau nach seinem Bilde
Christa Wolfs Medea tötet nicht, aber sie weiß, dass die Menschen in Korinth ihr alles Böse zutrauen. Sie ist die Fremde, die nicht zur Einheimischen werden darf. Aber sie ergibt sich, sie nimmt ihre Vertreibung an. Gabriele Stötzer schreibt über eine andere Medea (Medea, in: Ich bin die Frau von gestern, erschienen in „Die Verschwiegene Bibliothek“, Frankfurt am Main, Wien und Zürich, Büchergilde Gutenberg, 2005): „Medea ist wie ein Mann, so gut, so hart, so verlässlich, so egoistisch, so brutal wie ein Mann.“ Doch das darf sie nicht sein, denn Jason will eine „Frau nach seinem Bilde“. Die handelnde, ihr Recht als gleichberechtigte Partnerin wahrnehmende Frau ist für Jason Bedrohung, und ihre Tragik erweist sich gerade darin, dass sie ihre Eigenständigkeit nur im Mord beweisen kann. „Eine fraulose Medea ist uninteressant für Jason, weil er sich nicht an ihr vollzieht, sie ist ihm nicht mehr Spiegel seiner Potenz, seiner Fortpflanzung seines Lebens. Der Mann schafft sich die Frau nach seinem Bilde, dann verlässt er sie.“
Die Literatur- und Kunstgeschichte kennt viele Frauen, die hinter ihren erfolgreichen Männern verschwanden, obwohl sie verdient hätten, dass ihre Werke von zeitgenössischer Welt und Nachwelt gewürdigt worden wären und würden. Doch das verstanden ihre Männer mehr oder weniger bewusst zu verhindern. Veza Canetti und Camille Claudel – ich nenne beispielhaft diese beiden – haben immer mal wieder eine kurzzeitige Renaissance in der öffentlichen Aufmerksamkeit, doch erreichten sie nie den Bekanntheitsgrad und die Popularität von Auguste Rodin und Elias Canetti. Bekannter wurden Frauen, die sich als Muse inszenieren konnten, in ihren Salons andere Künstler empfingen und sich mitunter mit diesen auf das ein oder andere intime Verhältnis einließen. Auch hier zwei Beispiele: Alma Mahler-Werfel oder Lou Andreas-Salomé. Aber auch sie vermochten es nicht, ihre hohe Begabung, ihre eigenen Werke in der Öffentlichkeit so zu platzieren, dass sie den sie umgebenden Männern hätten Konkurrenz machen können. Es ließe sich auch darüber nachdenken, ob Bob Dylan ohne Joan Baez jemals derjenige geworden wäre, der er ist.
Eine weitere Autorin, der Männer ein dienendes Schicksal zuwiesen, war Inge Müller, die nicht unter ihrem Mädchennamen, auch nicht unter dem Namen ihres ersten und zweiten Ehemannes, sondern fast ausschließlich unter dem Namen ihres dritten Mannes bekannt wurde. Ines Geipel ist Autorin der ersten Biographie von Inge Müller. Der Titel „Dann fiel auf einmal der Himmel um“ (Berlin, Henschel Verlag, 2002 sowie Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004) ist Vers eines Gedichtes über die Tage, in denen Inge Müller gegen Kriegsende verschüttet war. Es ist der erste Vers des zweiten von drei Gedichten, die in der Ausgabe von Sonja Hilzinger unter dem Titel „Unterm Schutt“ zusammengefasst wurden. Trümmer, Schutt, Zerstörung, aber auch Wiederaufbau spielen in Inge Müllers Gedichten eine wichtige Rolle.
Der Aufbau-Verlag veröffentlichte 2002 „Gesammelte Texte“ von Inge Müller unter dem Titel „Daß ich nicht ersticke am Leisesein“. Der Titel ist der letzte Vers des folgenden Gedichtes: „Ich schrieb und schrieb / Das Grün ins Gras / Mein Weinen machte die Erde nicht naß / Mein Lachen / Hat keinen Toten geweckt / In jeder Haut habe ich gesteckt. / Jetzt werd ich nicht mehr schrein – / Daß ich nicht ersticke am Leisesein.“ Der letzte Vers ließe sich in zwei Varianten verstehen: Handelt es sich um eine flehende Bitte, eine ersehnte Folge des Schreibens? Oder ist diese Folge bereits eingetreten? Befreit das Schreiben? Wird die Welt annehmbarer, weil das Schreiben Freiheit schafft? Oder ist auch dies vergeblich, weil es den Tod nicht zu besiegen vermag?
Herausgeberin dieser Textsammlung war Sonja Hilzinger. Auch Sonja Hilzinger hat eine Biographie über Inge Müller veröffentlicht. Der Titel: „Das Leben fängt heute an – Inge Müller“ (Berlin, Aufbau Verlag, 2005). Die Bezeichnung „Gesammelte Texte“ der Textsammlung führt jedoch in die Irre. Viele Texte, die Inge Müller geschrieben hatte, sind nicht in dieser Ausgabe zu finden, sondern in den Werkausgaben von Heiner Müller, der erfolgreich vermied, den Namen seiner Ko-Autorin zu nennen. Sonja Hilzinger: „Die Geschichte des Nachlasses ist die Geschichte von der Verschüttung ihrer Autorschaft unter dem Schutt von Nachlässigkeit, Verfälschung, Enteignung. Was übrigblieb, ist zufällig.“ Ines Geipel bestätigte dies, als ich sie auf das Verhältnis zwischen Heiner und Inge Müller ansprach: „Ich spreche hier vom Verschweißen des doppelten Müller-Textes. Ein gutes Gefühl hat man bei dem Inge Müller-Nachlass nie. Es bleibt rutschig.“
Der Name Inge Müllers verschwindet nach ihrem Suizid aus den Werken Heiner Müllers. Ines Geipel dokumentiert, wie mit der Zeit nur noch der Name von Heiner Müller in Literaturgeschichten und Ausgaben der gemeinsam geschriebenen Dramen erscheint. „Die Interpretationsgeschichte über die Zeit der gemeinsamen Arbeit fürs Theater wird Inge Müller einzig den Stoff der WEIBERBRIGADE überlassen.“ Doch welche Ironie: „Dabei ist es genau das Textkonvolut, das die umfangreichsten Zuarbeiten von Heiner Müller dokumentiert. Nicht als Hörspiel, wohl aber als Stück.“
Ines Geipel bezeichnet die Zusammenarbeit des Paars Heiner und Inge Müller, das ein beispielgebendes Paar gemeinsamer Kreativität hätte sein können, als „ein existenzielles Bündnis, zu Lasten von Inge Müller.“ In den 1950er Jahren, als Heiner Müller noch keinen Namen hatte, der ihm Einkünfte bescherte, versorgte Inge Müller die Familie mit ihren Kinderbüchern. Schlimmer noch: „Das ostdeutsche Theater, zu jener Zeit im Grunde alleinige Bastion von Autorenpatriarchen mit gut ausgeformtem Geniekult, kann – im Sinne jenes rüden Alleinanspruchjargons – die Frau gern als Sekretärin, auch als Redakteurin, bestenfalls als Ideengeberin und Materialbeschafferin gebrauchen; zu ihrer geistigen Eigenständigkeit für den Hoheraum Theater reicht es selbstredend nicht. ‚Die schönen Weiber werden heutzutage mit unter die Talente ihrer Männer gerechnet‘, vermerkt Inge Müller lapidar.“
Ines Geipel zitiert aus Tagebuchnotizen von Inge Müller: „Manche Männer sagen: Gleichberechtigung und meinen: Für sie würde sich nichts ändern. Um die Frau in ihrer Selbstentwicklung zu fördern, braucht man Gesetze und Haushaltsmaschinen! Frauen wurden erzogen zur Furcht vor Gott, Furcht vor dem Vater, Furcht vor dem Mann, Furcht vor dem Tod. Wir wundern uns, wenn sich diese Frauen vor ihren Rechten fürchten. Ist Liebe eine Vorstufe der Gleichberechtigung?“ „Gleichberechtigung“ war jedoch nicht das Ziel der SED-Diktatur. Und welcher Begriff der „Liebe“ gepflegt wurde, lässt sich vielleicht aus dem berüchtigten Liebesbekenntnis des alten Erich Mielke vor der Volkskammer ableiten.
Nach diesem Muster funktionierte auch der Demokratische Frauenbund Deutschlands, der am 8. März 1947 entstand und dem Inge Müller als Gründungsmitglied angehörte. Diese Organisation sorgte dafür, dass auf der einen Seite so etwas wie weibliches Selbstbewusstsein gepflegt oder zumindest simuliert werden konnte, auf der anderen Seite es aber möglich wurde, dass „dieses emanzipatorische Potenzial von Seiten der Marxisten immerzu reglementiert werden“ konnte. Wer zu viel „Demokratie“ forderte, schreibt Ines Geipel, war „unwägbare Gefahr. Im Rückblick gelingt Ulbricht die Bindung der ostdeutschen Frauen an sein System, eine diktatorische Energieleistung mit oft drakonischen Mitteln und höchst ambivalenter Erfolgsbilanz.“
Die Helferin
Ines Geipel bilanziert mit diesen Worten die Entwicklungen in den Jahren rund um die Staatsgründung der DDR. Da war – um das der Biographie den Titel gebende Gedicht zu zitieren, der Himmel längst umgefallen. Inge Müller hatte überlebt, sie überlebte verschüttet, sie überlebte eine Zeit, in der sie in den letzten Tagen des nationalsozialistischen Staates Teil der „Verfügungsmasse“ der Nazis war. Personalmangel führte dazu, dass Frauen, die Hitler und seine Genoss*innen eigentlich nicht in der Armee sehen wollten, schon gar nicht mit Schusswaffe, dann doch im Herbst 1944 eingezogen wurden. Sie wurden als „Helferinnen“ gebraucht, für niedere Arbeiten, Arbeiten ohne Waffe. Der Völkische Beobachter schrieb am 31. Januar 1945: „Jede Wehrmachtshelferin macht einen Soldaten für die Front frei!“ Im April 1945 versuchte Inge Müller zu desertieren. Ines Geipel spricht von einem folgenden „Identitätswechsel“, zu dem dann ab Ende Mai 1945 auch ein eigenes Zimmer gehört. Aus den Ruinen der elterlichen Wohnung „nimmt sie nichts von sich selbst in ihr neues Leben mit. Als würde nicht mehr zu ihr gehören, was das bisherige ausgemacht hatte.“ Vergangen war die Zeit, in der Ingeborg Meyer die Lieder der „Arbeitsmaiden“ sang und 1942 auf einem steirischen Bauernhof arbeitete. Auch vergessen?
Ines Geipel hat ihre Biographie Inge Müllers chronologisch aufgebaut. Sie beginnt mit einem Zoo-Besuch in Berlin im Sommer 1928 und endet mit ihrem Selbstmord, den die Staatssicherheit als „Protest (…) gegen die Kulturpolitik der Partei“ interpretiert: „Möglicherweise habe sie wieder eine Arbeit fertiggehabt, die erneut abgelehnt wurde.“ Ines Geipel hatte die in der DDR erschienenen Gedichte von Inge Müller 1989 in ihrem Gepäck, als sie über Ungarn „der DDR den Rücken kehrte“. In ihrem Nachwort, das sich wie ein Nachruf liest, bezeichnet sie Inge Müller im inoffiziellen DDR-Gedächtnis „als literarischen Geheimtipp und als Lebensmythos, als verehrte und zugleich dunkle Legende Ostdeutschlands, der man offiziell mit Abwehr und anonym mit denkbar größter Faszination begegnete.“ Sie war „die andere Seite einer Ikone, die Frau im Schatten von Heiner Müller. Die, die sofort nach dem Essen das Geschirr abwusch und sich danach an den Schreibtisch setzte, um die Nächte hindurch seine Texte zu redigieren.“
Doch eindeutig ist nichts. Jeder Versuch, aus den verschiedenen Phasen im Leben von Inge Müller, die als Ingeborg Meyer geboren wurde, drei Mal heiratete und die Namen ihrer Ehemänner trug, Loose, Schwenkner, Müller, die sich auch in ihrem Verhältnis zur offiziellen Politik der die DDR beherrschenden Partei unterschieden, als lineare in sich kohärente Entwicklung zu beschreiben, dürfte scheitern. Ines Geipel gelingt es jedoch, diese Brüche im Leben von Inge Müller nicht als biographische Besonderheit, sondern als Zeichen einer Zeit zu beschreiben: „Offenbar geht es bei der Lektüre dieser Zeit nicht zuerst um Schicksale, Orte oder Personen. Das ganze Unternehmen sieht nach poetischer Alchemie aus, nach einer Verschmelzung von Struktur und Bewegung, von Stoff und Gestalt, Harmonie und Kohärenz. Der Rhythmus kommt aus dem Leben, hatte sie Heiner Müller gesagt, und die Grammatik der Welt wird mit dem verschmolzen, was sie erfahren hat.“ Und Heiner Müller schmückt sich mit Inge: „Erst die Blicke eines schönen Mädchens geben ihm sein Gesicht zurück, und so wird das weibliche Gegenüber sein Spiegel, bei dem er bleiben muss.“
Insofern ist das Leben von Inge Müller in der frühen DDR durchaus typisch für das Leben auch anderer Frauen: „Die frühe DDR mit dem öffentlichen Unkörper der kompakten, hartleibigen Bäuerin, die strahlend die Siegerstraße erstürmte, und den realen Frauen, die mit ihren von der Gesellschaft totgeschwiegenen, unerfüllten Sehnsüchten und Ansprüchen zurechtkommen mussten, dürfte an Inkohärenzen nicht zu überbieten gewesen sein. Uneinholbare Differenzen und Brüche sah der ruhmreiche Aufbau nicht vor.“
Dieses Bild der Menschen im sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern lässt sich heute noch auf einem großen Fresko am Bundesfinanzministerium in Berlin besichtigen, ein Gebäude das die Zeiten beider deutscher Diktaturen überdauerte. Das Gebäude war Sitz des Reichsluftfahrtministeriums, der Deutschen Wirtschaftskommission, provisorischer Sitz der Volkskammer, „Haus der Ministerien“ der DDR und Sitz der Treuhandanstalt. Das Fresko erinnert an den Albtraum Sabinas in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera. Nicht die Darstellung der fröhlichen Menschen erschreckt Sabina, es ist die Vorstellung, dass die Welt tatsächlich so sein könnte, wie es die Bilder des sogenannten „Sozialistischen Realismus“ zeigen. Schlimm wäre es für Sabina, wenn der offizielle und offiziöse „Kitsch“ die einzige Wirklichkeit wäre. Als Ingeborg Schwenkner trägt die spätere Inge Müller noch selbst zu diesem Bild bei. Ines Geipel erwähnt ihren Beitrag zu den Pioniernachmittagen der Schulklasse ihres Sohnes und die in dieser Zeit entstehenden Kinderbücher: „Als gäbe es ein inhärentes Plansoll zu erfüllen, geraten die Entwürfe didaktisch und ungelenk. Die Geschichte ist schon gewusst, die Textkinder bei aller sozialistisch geheiligten Fürsorge schon vor Augen, noch bevor sie ihre Konflikte überhaupt erst entdecken können.“
Die Isolierte
„Männer plätschern im Seichten. Sie versuchen das Unlösbare mit hundert Ideen auszuflicken. Oder sie ziehen das Schwert. Es fehlt ihnen die Verwachsenheit mit den Ursachen. Ihre Ohren sind nicht demütig genug, um das Gras zitternd aufsprießen zu hören. Sie schweben losgelöst und darum haltlos, und all ihr plätscherndes Vielwissen, mit dem sie sich blähen, rauscht an den wahren Wahrheiten vorbei, die immer ganz schlicht und nie ohne Wärme sind.“ Dies ist ein Text von Jutta Petzold (*1933). Ines Geipel zitiert ihn in „Zensiert, verschwiegen, vergessen“ (Düsseldorf, Artemis & Winkler, 2009). Im letzten Satz ihres Portraits der Autorin notiert Ines Geipel das Schicksal der Autorin: „Jutta Petzold lebt heute in einem Seniorenheim in Berlin Buch, läuft viel über die Flure und skandiert Hölderlin-Verse.“ Ob sie heute noch lebt, haben wir leider nicht ermitteln können.
Jutta Petzold zieht sich in eine hermetische Sprache zurück: „Die ausbleibende Resonanz, die die Frau als Schreibende zunehmend in die Isolation treibt, sanktioniert letzten Endes auch ihr Weggesperrtwerden. Ihre Sprache fällt im Verlauf des Textes mehr und mehr aus dem Gebrauchsraum heraus, der Zugriff ist total.“ Es läge nahe, die späten Texte von Jutta Petzold mit Texten von Lewis Carroll aus „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ zu vergleichen oder auch mit Texten aus James Joyce‘s „Finnegans Wake“: „Gepelltes Laub Kirchgenick. Solmitur versuch’s nur. Glaudiärwoitek Rückfall. Sormatik mesodratik, Muskolosamt verfremdeter Effekt. Stanislaus merowingsting Lapiszula todremtokwi halun. Ich kenne deine stille hoffnungslos verlorene Welt.“ (zitiert nach Ines Geipel, Zensiert, verschwiegen, vergessen).
Wolfgang Hildesheimer schrieb zu seiner Übersetzung des Kapitels „Anna Livia Plurabelle“ aus „Finnegans Wake“: „Auch dort, wo ein Rest von Rätsel bleibt, wo aus der Vielzahl der Stimmen sich eine Stimme unserer Kontrolle entziehen mag, entsteht ein Sprachfluß, der Kosmisches wiedergibt und damit ein rezeptives Erlebnis vermittelt, das in seiner Gestalt selbst und nicht in den agierenden Gestalten liegt. Es handelt von nichts als von sich selbst und ist darin eine Wiedergabe der Welt.“ (in: Interpretationen James Joyce, Georg Büchner, Zwei Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1969).
Gibt es einen Ausweg aus dem „Rätsel“, das die Sprache Jutta Petzolds uns vorzulegen scheint? Welche „Welt“ wird hier vermittelt? Oder ist diese Sprache nur Zeichen eines Rückzugs in ein inneres Selbst, das sich jedem Verständnis verschließt. Ludwig Wittgenstein hat sich in „Philosophische Untersuchungen“ (englische Originalausgabe 1953 erschienen) die Frage gestellt, ob es eine „Privatsprache“ geben könne, eine Sprache, die nur einem einzigen Menschen verständlich wäre. Er ist skeptisch: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“ Eine „Privatsprache“ ist keine „Geheimsprache“, denn sie sucht niemanden, mit dem vereinbart werden könnte, dass jedes Wort der allgemeinen Sprache durch ein anderes ersetzt werde. Sie bleibt in sich „gefangen“, in dem Bild, das sie von sich selbst schafft, zeichnet, malt.
Der Widerstand, den Jutta Petzold gegen die offiziell-offiziöse Sprache der DDR-Literaturpolitik leistete, führte in die (Selbst-)Isolation. Ines Geipel dokumentiert diese zunehmende (Selbst-)Isolation der Autorin, die 1953 mit ihrem Mann Eberhard Hilscher noch im Arbeitszimmer von Arnold Zweig saß und diesem Gedichte vorlas, „worauf der Altmeister sie anerkennend ‚Poetessa‘ adressieren durfte“. Jutta Petzold experimentierte mit Sprachspielen, ihre Technik war eklektisch und aufrührerisch zugleich: „Wurde die Sprache um sie herum ideologischer und blutleerer, weitete Jutta Petzold sie aus, vervielfachte und sprengte sie. Verlangte die DDR-Literaturpolitik positive Figuren aus der Arbeitswelt, verteidigte sie ihre umso engere Bindung an die verfemte Moderne. Hieß es gusseiserner Realismus, schrieb die Dichterin Parodien oder Grotesken und trumpfte ordentlich auf: mit Traum, Spiel, Wut, Versatzstücken aus anderen Sprachen, Yin und Yang, Sequenzen aus diversen Notensystemen, Bezügen aus der Antike oder ausgewählten Einstein-Sätzen.“
Es entstehen „Versuche der Desorganisation des eigenen poetischen Systems“. Hätte Jutta Petzold in den 1920er Jahren in Paris gelebt, wäre sie vielleicht zu einer Ikone der Szene des Surrealismus oder des Dada, vielleicht eine Kollegin von Gertrude Stein geworden, in der DDR hatte sie weder Publikum noch Mitstreiter*innen noch Verständnis zu erwarten: „Sieh her Publikum: Ich seufze! Ich zerfetze mein Herz mit Seufzern! Ich winde mich mit meinem buntgescheckten Narrenkostüm und klingele gefällig mit den Glöckchen, den Schellen!“ (zitiert nach Ines Geipel, Zensiert, verschwiegen, vergessen). Jutta Petzold war nicht die einzige Autorin, die sich in der DDR isolierte. Über Eveline Kuffel (1935-1978), die in den späten 1960er Jahren sichtbar verwahrloste, sich mit Lehrern und Polizisten anlegte, ihr Zimmer vermüllen ließ, schreibt Ines Geipel: „War es das? Sich zur Schau stellen, als Protestierende, Närrin, Verwiesene, Groteske, als Vexierbild von Repression, als Allegorie des Todes? Widerstand wird Selbstzerstörung: „Sich verweigern, das hieß auch gegenüber sich selbst: also meutern, schreiend und sabbernd auslaufen, Wodka, Erbrechen, unendlich viel Ekel, Hunger in Büchsen, manchmal Fraktur reden. (…) Was als Maske gedacht war, wurde zum bitterbösen Spiel.“
Monochrome Welt
Silvia Kabus durfte ihren Roman „Weißer als Schnee“ in der DDR nicht veröffentlichen. Dies gelang erst mit der „Verschwiegenen Bibliothek“ im Jahr 2008. Ironie und Sarkasmus liegen nah beieinander, und so wird im Roman von Silvia Kabus der Sozialismus zu seiner eigenen Karikatur: „Der Sozialismus ist eine unzerreißbare Kette von Festspielen.“ Zu einer solchen Serie von Festspielen dürfte die Farbe „Grau“ eher nicht passen. Inge Müller analysiert die Gräue unter dem roten Anstrich: „Auch bei uns ist der Himmel grau / Bei Regen und es gibt Städte / Die schwer atmen unterm giftigen Rauch / Der Chemiefabriken. Grau sind die Steine / Der letzten Mietskasernen, Preußisch grau unter den / Roten Fahnen der ruinenfressenden Bauplätze“. Industrie („Chemiefabriken“) und Alltag („Mietskasernen“) gliedern das Leben, gleichviel, wohin man*frau blickt, es bleibt „grau“, durch Ideologie („Fahnen“) verdeckt, aber alles andere als frei, denn niemand bekommt so richtig Luft, und wer nicht frei atmen kann, leidet.
Einer der gängigen Topoi des Sprechens über die DDR im „Westen“ war die Unfarbe „Grau“. Wer aus dem „Westen“ über die DDR sprechen wollte, erging sich in Begriffen des Verfalls. Es war eben alles „grau“, während der „Westen“ immer „bunt“ gewesen sein muss, als hätte es den grauen und oft genug giftig-gelben Himmel im Ruhrgebiet nie gegeben oder als wären die Plattenbauten von Hamburg-Wilhelmsburg, München-Hasenbergl oder Köln-Chorweiler bunte Siedlungen von Einfamilienhäusern. Möglicherweise lässt sich einer „grauen“ Welt nur mit Ironie begegnen. Silvia Kabus spielt in ihrem Roman, der die Farbe „weiß“ als Gegenfarbe zu „grau“, vielleicht auch als Farbe des eigentlichen, ursprünglichen Zustandes einer ergrauten Welt, im Titel noch steigert, mit diversen Attributen, sodass „Graues“ nicht unbedingt als Zeichen des Verfalls, des Verwitterns, sondern auch als Zeichen einer Hoffnung, eines möglichen Durchbruchs im Nebel, gefühlt werden könnte. „Ein verspieltes Grau, Sonnendunst. Sie klettern über die Sperre. Jasmin fotografiert den sandfarbenen sowjetischen Pavillon, die eckigen Quader. Die spitz zulaufende Nadel. Den roten Stern in der Luft.“
Metapher einer solchen Hoffnung ist der „Schnee“, der offenbar als ideale Weißheit verstanden werden könnte, aber die Realitäten verhindern seine besänftigende, reinigende Wirkung: „Die Mockauer Straße. Das Ende der Möglichkeit, mit Grautönen zu leben. Zwischen Bahnhof und Wohntürmen im Norden gelegen. Nicht im mutwilligsten, volltrunkenen Streunen, Taumeln auszuhalten. Sie biegt den Blick nach unten, den Körper. Jeden, der auf ihr geht. Kahl, ein Abgrund des Stillhaltens. Die Länge, die Fassaden. Jahrzehnte der Leere. Kein Schnee bekommt diese Straße hell.“ Die Passagen, in denen Silvia Kabus mit der Opposition Grau gegen Weiß spielt, haben einen geradezu lyrischen Ton. Der zweite Satz der eben zitierten Passage, der auch als erster Vers eines Gedichts mit dem Titel „Die Mockauer Straße“ gelesen werden könnte, ist in sich schon mehrdeutig. Sind die „Grautöne“ real oder sind sie Metapher? Wahrscheinlich beides. Es gibt keinen Weg, keine eindeutige Richtung zwischen dem Ort des Wohnens („Wohntürme“) und dem Ort der Reise in ein vielleicht gar nicht so weit entferntes Irgendwo („Bahnhof“), nichts bewegt sich, selbst dann, wenn man*frau sich fortbewegt. Niemand kommt von der Stelle, alles bleibt immer gleich.
Die Welt bleibt wie sie ist, Kontakt zum gegenüberliegenden Fenster, zu gegenüberwohnenden Menschen wird verhindert, durch zugezogene Vorhänge, durch das Wetter: „Der hellgraue Schneefall vor dem Fenster bleibt stehen. Rica glaubt es nicht, sieht lange auf die unbewegliche Schraffur.“ Aber es könnte denkbar sein sich zu arrangieren und aus dem Arrangement könnte Zuversicht entstehen: „Sie geht an den Häusern entlang. Alle gehen, als wäre Verfall nichts Beunruhigendes, sondern ein Lebenspartner. Die Fassaden bringen ein eigenes Licht hervor, nachdem die Farben geschwunden sind. Rottöne, trockene Kreidefarben, Grünschleier wie im Frühling. Sie sieht das Leuchten, das nur vormittags da sein kann, früh. Ganz langsam neigen sich die Häuser, bilden am Boden schattige Gruben. Wieso leuchten sie jetzt?“
Es gibt Licht, aber keine Farben. Die Farbe „grau“, die ebenso wie die Farbe „weiß“ eigentlich keine Farbe ist, wird in dieser Passage nicht explizit genannt, bleibt aber präsent. Sie hat unterschiedliche Stufen der Helligkeit, sie mag dunkel erscheinen oder hell, sogar leuchten, als stünde der Durchbruch einer leuchtenden Sonne kurz bevor. Ob dieser Durchbruch jedoch kommt, bleibt offen und solange dies offenbleibt, bleibt nur die Fantasie. Ein monochromes japanisches Bild wird zur Hoffnung, dass die Welt eine andere sein könnte: „Er nimmt eine Hand vom Fensterbrett. Zieht die Brauen hoch. / ‚Es hängt schon ewig da. Ein Japaner.‘ / Eine einzige Linie. Nur Weiß. Weißer als Schnee. Trotzdem ist ein Berg da, bis an den Himmel‘ / Der Berg verschwindet, wenn der Blickwinkel sich nur wenig verändert. / ‚Siebzig Jahre Übung. Dann können sie das so, dort‘, sagt er. / ‚Sehnsucht und Disziplin.‘ / Er dreht sich um. Mit der Ausdruckslosigkeit, die bei ihm Konzentration ist. Betrachtet sie.“
Paula Trousseau, Hauptperson des nach ihr benannten Romans von Christoph Hein (Erstauflage 2007), experimentiert mit monochromer Malerei. Die versammelte Kunst- und Parteiszene ist entsetzt. Paula verliert jede Unterstützung, isoliert sich, tötet sich. Sie scheitert an der Paradoxie, dass die leuchtenden Farben der Parteikunst und die Gräue des Alltags nicht miteinander vereinbar sind. Das eine darf sein, das andere hat in der Kunst nichts zu suchen, und die Veränderung des monochromen Grau in ein monochromes Weiß ist Aufruhr. Vielleicht ist die Monochromie aber auch der Versuch, die Welt, zerfallen wie sie ist, wieder neu zusammenzusetzen, „die unbewegliche Schraffur“ die Ahnung von etwas Neuem.
Die monochromen Bilder in „Frau Paula Trousseau“ und „Weißer als Schnee“ verweisen auf eine mögliche Befreiung durch Kunst. Es muss nicht unbedingt die Malerei sein, Literatur hilft auch. Rica „liest, bis es grau wird auf der Straße, springt auf. Der unausgesprochene Schmerz des Ausgereisten, die Emigration, ist aus den Geschichten in sie gekommen. / Suche, Flucht, leiser Rausch. Ein Reigen. Bunin, Odessa. Petrow, Schklowski, Soschtschenko. Katajew. Dann Achmatowa. Sie reiht sie aneinander, mit Max. / Sie holt sich ein dünnes Buch. Sie braucht den ‚kleinen Kataitsch‘, er ist der Ort Am-Ende-nicht-Verzweifelt-sein. Den schüchternen Schüler, der Bunin liebte, durch die Odessaer Hitze zu ihm trabte, gehemmt seine Gedichte vortrug.“
Wer etwas malt, etwas schreibt, das der offiziellen Linie nicht entspricht, muss sich rechtfertigen. Die Vorwürfe sind grundsätzlich und vernichten. Es geht um ein Bild mit dem Titel „Luft schwenkendes Land“: „Was genau ich beabsichtigt hätte, was für Luft gemeint war. Was da geschwenkt wird. Dass der wissenschaftliche Kommunismus demnach Luft, also falsch sei. Ob ich das Bild allein gemacht habe. Ob ich aufrufen wollte, unsere Industrieanlagen zu zerstören. Ich sollte mich entschuldigen. Für die Beleidigung. Schriftlich.“ Die von Industrieanlagen verursachte Luftverschmutzung spielte in der Endzeit der DDR in der Tat eine Rolle. Friedensbewegung, Umweltbewegung waren zwei der prominenten Akteure der Opposition. Und der Staat und seine Organe reagierten wie sie immer schon reagiert hatten, ungehalten, aufgebracht, aggressiv, unfähig, sich mit etwas zu befassen, das ihrem festen Bild der Welt, den immerwährenden sozialistischen „Festspielen“ nicht entsprach.
„Weißer als Schnee“ endet fast schon versöhnlich. Der „Schnee“ wird vielleicht nicht mehr gebraucht, um sich eine andere, eine helle, eine leuchtende, eine bunte Zukunft vorzustellen. Vielleicht endet der Winter. „Rica sieht einen Tag im Frühling vor sich. Manche Dächer haben wieder ihre Holunderfarbe. Häuser verwandeln sich in chromgelbe, weißgelbe Lichtmassen. Lösen sich auf. / Sie wartet auf Regen. Ein schräges Fallen, das stärker wird, den Schnee wegspült.“
Illusionen? Ines Geipel zitiert in ihrer Biographie Inge Müllers Anne Sexton (1928-1974): „Auch wenn man kleine weiße Gartenzäune aufstellt, kann man nicht verhindern, dass Albträume kommen (…)“. Heidemarie Härtl lässt in „Puppe im Sommer“ die vieldeutige, zumindest zweideutige Perspektive möglicher Kunstwerke, zumindest in der Fantasie entstehen. Eine weiße Wand ist noch kein Kunstwerk, aber sie könnte eines sein, auch ohne jedes Zutun eines Menschen. Die weiße Wand verändert sich durch bloßes Betrachten, je nach Blickwinkel. „Am Abend saß er in seinem Sessel und dachte: Ich sehe zwei Gesichter. Ich lese eine Monographie von Max Ernst, der das Studium der Wolken und der Flecken auf den weißen Wänden empfiehlt. Er selbst entdeckte dabei Gesichter und Szenen von Schlachten. Ich habe eine weiße Wand. Wenn ich in meinem Sessel sitze, kann ich die Flecken des Regenwassers, das aus der kaputten Dachrinne die Wand stockig gemacht hat, studieren. Ich sehe zwei Gesichter.“
Dies ist die Fantasie des Christian Gerber. Heidemarie Härtl lässt die Reduzierung eines Menschen auf die Rolle eines selbst inaktiven, stets nur reagierenden, helfenden, funktionierenden Mitglieds der Diktatur-Gesellschaft zu einer allgemeinen Beschreibung der Conditio Humana eines Menschen in der Diktatur werden, unabhängig von Geschlecht, sozialem Status, Bildung. Die Causa Inge Müller belegt jedoch, dass die Spielräume einer Autorin, einer Künstlerin sich von der eines Autors und Künstlers unterscheiden, wenn dieser Mann sich die Frau nach seinem Bilde schafft, nach dem gleichen Modell wie sich die Diktatur ihre Bürger*innen nach ihrem Bilde zu schaffen pflegte.
Ein Ausweg wäre so etwas wie eine Fehlfunktion im System der Diktatur. Sonja Schumann, die andere Hauptperson von „Puppe im Sommer“ glaubt an den Zufall, der Wahrheiten und Wirklichkeiten neu sortieren könnte. „Die Augen sind die Rufer der Wörter, dachte sie. Der Baum vorm Fenster hatte seine Blätter. Sie hatten sich in ihr Gegenteil verkehrt, in minutenlange Leere. Die Wörter sind in mich eingeschlossen wie die Ziffern in einem Spielautomaten, und die Augen rufen sie in meine Gedanken wie eine Münze. Jedes Wort, das sie bisher aufgenommen hatte, jede Seite beschriebenen Papiers sah sie jetzt als das, was sie zu diesem Automaten gemacht hatte.“
Bilder, die gefangen nehmen, gefangen halten, eine Zukunft ohne Entwicklung, eine Welt nach dem Bilde der Partei, automatisiertes Dahinvegetieren, vergeblicher Selbstzerstörung bewirkender Aufruhr, das ist die eine Seite, aber vielleicht gibt es dann doch eine Chance auf ein Überleben in Allegorien und Metaphern, in Andeutungen, vielleicht Hoffnung auf eine verkehrte Welt, in der Medea Freiheit findet? Verse Inge Müllers:
„Liebe lässt uns keine Wahl
Auserwählt zur Liebe und sich nicht verschließen
Morgens stürzt der Himmel ein
Abends kann es Morgen sein“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2021.)