Die Unsichtbaren

Debatten in Zeiten der Corona-Krise – Teil II

„Es scheint so, als brauchten alle Gesellschaften eine Krankheit, die sie mit dem Bösen identifizieren und ihren ‚Opfern‘ als Schande anlasten können; doch hält es schwer, mehr als eine dieser Krankheiten zu haben.“ (Susan Sontag, Aids und seine Metaphern, 1988 / 1989)

Viel Kritik erntete die Leopoldina, die in ihren ersten Stellungnahmen gerade einmal drei, dann zwei Frauen beteiligte und dies erst für ihre vierte Stellungnahme kurz vor der Sommerpause korrigierte. Nun waren 16 der 30 Expert*innen Frauen. Etwas polemisch, aber nicht unzutreffend, konstatieren Eva von Contzen und Julika Griem in ihrem Beitrag zu „Jenseits von Corona“ (Bielefeld, transcript, 2020) „die Selbstvermarktung im Wesentlichen männlicher Groß-Intellektueller“. Sie monieren, dass die Leopoldina Frauen und jüngere Menschen ausschloss. Die meisten Männer waren über 60 Jahre alt, Diversität war der Leopoldina wohl ein unbekanntes Fremdwort.

Männer führen Kriege

Die malisa-Stiftung veröffentlichte im Mai 2020 Ergebnisse der von ihr geförderten Studie „Wer wird gefragt? Geschlechterverteilung in der Corona-Berichterstattung“. Auftragnehmerinnen waren Elizabeth Prommer und Julia Stüwe vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock. Die Autorinnen haben 174 TV-Informationssendungen in der Zeit vom 16. und 30. April 2020 ab 18 Uhr in ARD, ZDF, RTL und Sat 1 analysiert. Der Daten-Forscher und Urheber des Gender Equality Tracker, Max Berggren, hat für denselben Zeitraum insgesamt 79.807 Artikel mit Corona-Bezug in den Online-Ausgaben von 13 Printmedien analysiert. In den TV-Formaten war nur eine von fünf Expert*innen weiblich (22%). Die Ergebnisse: In der Online-Berichterstattung wurden Frauen nur zu rund 7 Prozent als Expertinnen erwähnt. Als Mediziner*innen kamen vor allem Männer zu Wort, obwohl die Hälfte aller Ärzt*innen in Deutschland weiblich ist. Selbst von den im TV befragten Ärzt*innen ohne Leitungsfunktion war nur eine von fünf weiblich (Quelle: Malisa Stiftung).

Männer lieben Metaphern der Kriegsführung. So auch in der Corona-Pandemie: Boris Johnson, Emmanuel Macron, Donald Trump – sie alle sprechen von Krieg. Lediglich Angela Merkel verwendete Metaphern der Fürsorge. Möglicherweise liegt hier ein Grund, warum sich die Pandemie in Deutschland im Unterschied zu anderen Staaten zumindest bis Anfang September 2020 weitgehend in Grenzen hielt. Die Fürsorge-Metapher könnte für Akzeptanz in der Bevölkerung gesorgt haben, die die Kriegs-Metapher nicht erreichen kann. Andere vergleichbare „Kriege“, der „War on Terror“ und der „War on Drugs“ haben auch nicht dazu geführt, dass es weniger Terror und weniger Drogenkriminalität gibt. Aber dies ist ebenso spekulativ wie die Frage, ob möglicherweise die zurückhaltende Strategie in Schweden erfolgreicher gewesen sein könnte als die der Staaten, die von Anfang an mit rigorosen Ausgangssperren regierten.

Die Analogie von Krieg und Pandemie schadet der Demokratie. Ingolfur Blühdorn in „Die Corona-Gesellschaft“ (Bielefeld, transcript, 2020): „Vielmehr schuf die Pandemie, wie jeder Notstand, die Bedingungen für eine starke Exekutive.“ Die Auseinandersetzungen um die Berechtigung der verhängten Maßnahmen führt zu einer „Verhärtung der diskursiven Fronten“. Diejenigen, die sich auf den sogenannten Corona-Demonstrationen einander gegenüberstehen, verhalten sich in der Tat wie in einem Krieg, sodass auch dem*der Analytiker*in nur Begriffe aus diesem Bereich einfallen. Die Gefahr wächst, „dass sich im Zuge der Emanzipation zweiter Ordnung eine neue, illiberale, mehrheitsautoritäre Demokratie herausbildet, die zum wesentlichen Instrument der Nicht-Nachhaltigkeit werden könnte.“ Auf der einen Seite führt der Rückgang von Luft- und Autoverkehr zu einer ungeplanten Erfüllbarkeit der Ziele des Klimaschutzes, auf der anderen Seite dürfte die zumindest teilweise Erfüllung der Forderung von Luft- und Autoindustrie dies nachhaltig konterkarieren. Cornelia Springer spricht von der „Dichotomie von Solidarität und Egoismus“, die auch in solchen Debatten deutlich wird.

Eleonora Rohland benennt dies im Titel ihres Essays: „Corona, Klima und weiße Suprematie – Multiple Krisen oder eine?“. Sie schreibt: „Sowohl die Klimakrise wie auch die weiter oben beschriebene Verflechtung zwischen Umweltzerstörung, d.h. der Zerstörung von Tierhabitaten, und der dadurch erleichterten Entwicklung von Pandemien sind in diesen Punkten angesprochen. Auch die durch die Prozesse ausgelöste und mit ihnen verbundene soziale Ungleichheit und racial injustice können in diesem Kontext unschwer verstanden und unter ihn subsumiert werden. Wie soll nun jedoch Rassismus und die ihn bedingende weiße Suprematie (white supremacy) grundsätzlich, vielleicht sogar als ein konstituierendes Element, mit dem Anthropozän zusammenhängen?“

Anders gesagt: Ausbeutung der Natur und Ausbeutung des Menschen gehen Hand in Hand, und wer sie bekämpfen will, muss sich auch mit „einem bestimmten, weißen, Macht- und Männlichkeitsverständnis“ auseinandersetzen, eine Aufgabe intersektionaler Analyse. Die deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, wies in einem Gespräch bei der Stiftung Mercator am 24. September 2020 auf die aktuelle Gleichzeitigkeit von drei Krisen in den USA hin: die größte Pandemie seit 1918/1920, die größte Wirtschaftskrise seit 1929, die größten Demonstrationen für Bürgerrechte seit den 1960er Jahren. Drei Kriege? Wie diese verschiedenen Krisen einander gegenseitig verstärken, ist in der Tat eine spannende und nicht leicht zu beantwortende Frage.

Frauen sorgen

Männliche Dominanz ist eine der offensichtlichen Schieflagen der Debatten während der Corona-Krise. Jana Hensel prophezeite schon zu Beginn der Pandemie am 13. April 2020 im der ZEIT, dass Frauen in den Hintergrund gedrängt würden, Männer hingegen im Namen eines antiquierten Rollenbildes für sie entschieden.

Vielleicht wäre zur Bewertung der Krise und der zu ihrer Bewältigung verhängten Maßnahmen auch die Frage von Interesse, warum die Frauen und Fürsorge betreffenden Essays mit wenigen Ausnahmen von Frauen geschrieben werden (müssen). Dieser Gedanke führt zu der Frage, wie es kommt, dass der gesamte Bereich der Fürsorge in Senior*innenheimen, in Krankenhäusern, in Kindertageseinrichtungen und Schulen zwar im Ansehen aufgewertet, aber materiell bisher in keiner Weise gestärkt wurde.

Sarah Speck, Soziologin mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung analysiert in ihrem Beitrag zu „Die Corona-Gesellschaft“ die Nebenwirkungen des sogenannten „Home-Office“, eine „Tendenz der Vereinzelung“, das Verschwinden der „räumlichen Distanzierung von der Erwerbsarbeit“, „privat erworbenes Eigentum“ wird „Produktionsmittel für ihre Arbeit.“ „Wer ein oder mehrere Kleinkinder Zuhause betreuen muss, erlebt, dass die Erwartung, den regulären Job im Homeoffice weiter zu erledigen – vielleicht einfach abends? – grotesk ist.“ Der Arbeitsanfall wächst: „Wenn alle immer Zuhause sind, muss viel mehr eingekauft, Essen zubereitet und aufgeräumt werden, die vielfach zu kleine Wohnung wird stärker genutzt, ständig muss aufgeräumt und sauber gemacht werden.“ Sarah Speck spricht von einer „Re-Traditionalisierung in vielen Haushalten“.

Jutta Allmendinger (die leider nicht zu den Autor*innen der beiden Bände des transcript-Verlages gehört) hat im Mai 2020 bereits mehrfach von „Retraditionalisierung“ gesprochen. Sie wies darauf hin, dass Frauen ihre Arbeitszeit reduzierten, viele auch bereits aufgegeben haben, damit sie die häuslichen Arbeiten, die Betreuung und Beschulung ihrer Kinder und mitunter auch auf ältere Menschen bezogene Care-Arbeit überhaupt leisten konnten: „Retraditionalisierung ist daher ein fast noch verharmlosendes Wort. Es ist zu schmusig, zu nett. Es geht um den Verlust der Würde von Frauen, von Respekt, von Rechten.“

Eine wissenschaftliche Grundlage der Thesen Jutta Allmendingers ist die Mannheimer Corona-Studie, über die Annelies G. Blom in der Ausgabe zur „Corona-Krise“ von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ berichtet, allerdings auch mit dem Hinweis, dass im Verlauf der Krise die „Geschlechterdifferenz (…) bei entsprechendem Willen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, in Teilen überwunden werden konnte.“ Welche Tendenzen sich verstetigen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Sicherheit des Arbeitsplatzes, wird sich zeigen. Henrike Roßmann widerspricht im Juli 2020 der Analyse von Jutta Allmendinger unter anderem mit dem Argument, dass diese die Stellung von Frauen in der Gesellschaft vor der Pandemie zu positiv gesehen hätte. Positiv wirkt sich die Pandemie auf das Geschlechterverhältnis allerdings mit Sicherheit nicht aus. So viel Einigkeit scheint zu bestehen. Die Ergebnisse der Forschungen des Nationalen Bildungspanels scheinen die skeptische Einschätzung Jutta Allmendingers zu bestätigen.

Das Thema Geschlechtergerechtigkeit bleibt auf der Tagesordnung und verlangt eine (nicht nur) feministische Antwort. Elke Krasny versteht in ihrem Beitrag in „Die Corona-Gesellschaft „Krieg und Sorge als entscheidende pandemische Begriffe“, die die jeweilige politische Reaktion auf die Pandemie bestimmen. Sie fordert, dass sich der Begriff der Sorge nicht auf die körperliche Gesundheit beschränken dürfe. „In-Sorge-Bleiben bedeutet, sich Sorgen zu machen um den Zustand des infizierten Planeten, der an rassistischem Patriarchat und kolonialem Kapitalismus leidet. (…) In-Sorge-Bleiben bedeutet, dass die Krisenreaktion, die Antwort auf die Krise, immer nur so gut ist wie die schlechteste Antwort für die, die die allerschwächsten sind, für die, die am allerwenigsten in die Lage versetzt sind antworten zu können, an transformativer Veränderung durch das politische Projekt des Care-Feminismus zu arbeiten.“ Dieses Verständnis von „Care“ geht weit über das hinaus, was in der Regel unter „Care“ verstanden wird. „Care“ wird ein politischer Begriff, der die WHO-Definition von Gesundheit ernst nimmt: physische, psychische und seelische, soziale Gesundheit, und dies in weltweitem Vergleich und Ausgleich.

Ohne soziale Gerechtigkeit, ohne sozialen Ausgleich ist auch physische Gesundheit auf Dauer nicht möglich. Es gibt zu viele Orte in dieser Welt, an denen „die pandemischen Hygieneregeln nicht eingehalten werden. Wenn es keine ökonomische Einnahmequelle gibt außer der informellen Ökonomie im öffentlichen Raum, kann der Abstand nicht eingehalten werden. Wenn die Gesundheitsinfrastruktur nicht vorhanden ist, kann auf Notfälle nicht reagiert werden.“ Die Todeszahlen steigen vor allem in den Ländern mit schlecht ausgebauten Gesundheitssystemen sowie in den Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten in neoliberalem Glauben ihre Gesundheitssysteme abgebaut haben. Elke Krasny schließt daraus, dass Feminismus in dieser Pandemie – sie nennt ihn „Covid-Feminismus“ – zu „Care-Feminismus“ im weitesten Sinne werden muss. Das ist ein allgemeinpolitischer Ansatz, nicht nur bezogen auf Gesundheit. Und es gilt auch hier Intersektionalität: „Rassismus, Klassismus und Genderdiskriminierung verschärfen die höchst ungleiche Verteilung der Krisenauswirkungen.“

Geschlechtergerechtigkeit im Home-Office

Bleibt schön zu Hause. Das könnte die Botschaft einer neuen Textsorte sein, von der Eva von Contzen und Julika Griem berichten, das „Corona-Tagebuch, das dem Blick aus dem Fenster die ausführliche Introspektion mitsamt einer Feier achtsamer Kreativität auf engstem Raum und die Beschwörung einer Chance auf kollektive Entschleunigung folgen lässt.“ Exklusion wird zur Inklusion umdefiniert. Nur wer ein schönes großes Haus mit vielen Zimmern und großem Garten besitzt, sodass man*frau*kinder einander auch mal aus dem Weg gehen können, mag solche Idyllisierungen der Pandemie genießen. Wer sich in der engen Wohnung nicht gegenseitig aus dem Weg gehen kann, riskiert das, was in Enge schnell geschieht: Überforderung, Stress, Streit, Gewalt. Frauen und Kinder, die unter häuslicher Gewalt leiden, verlieren ihre Fluchtmöglichkeiten, Jugendämter und Frauenhäuser verlieren den Zugang, Schulen und Kindertageseinrichtungen fallen als aufmerksame Melder*innen gefährdeten Kindeswohls aus.

Sarah Speck in „Die Corona-Gesellschaft“ „Aus marxistisch-feministischer Perspektive war das Zuhause immer ein Ort, um neue Formen der Ausbeutung zu erproben und zu erfinden.Frau*man müssen meines Erachtens für diese Erkenntnis keine Marxist*innen sein, zumal der Marxismus in seiner Geschichte Frauenrechte in der Regel in das Reich der Nebenwidersprüche verwies. Frau*man könnten aber auch ohne Bezug auf den Marxismus darüber nachdenken, wie sich Zuhause und Außenwelt gegenseitig spiegeln. Die Machtverhältnisse des Zuhause dürften deutlich zeigen, mit welchen Einstellungen Männer*Frauen ihre Berufe ausüben (können).

Hinzu kommt, dass durch die Pandemie erheblich mehr Frauenarbeitsplätze bedroht sind als Männerarbeitsplätze. Bernd Fitzenberger beruft sich in seinem Beitrag für „Jenseits von Corona“ auf aktuelle Arbeitsmarktstudien, die belegen, dass in den Branchen, in denen Insolvenzen und sinkende Beschäftigung zu erwarten sind, „der Anteil weiblicher Beschäftigter und der Anteil von Minijobs“ hoch sind. „Stark betroffen sind z.B. das Hotel- und Gaststättengewerbe, der stationäre Einzelhandel, die Reisebranche oder die Organisation und Durchführung von Veranstaltungen.“ Die Folge: „Die Beschäftigung in Minijobs ging deutlich zurück, und der Anstieg der Arbeitslosigkeit fällt für Frauen in dieser Rezession im Gegensatz zur Wirtschaftskrise 2008/2009 stärker als für Männer aus (…).“

Die Heroisierung der Frauen, die in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, in der Notbetreuung der Kindertageseinrichtungen oder an den Kassen der Supermärkte arbeiteten, prägte die ersten Wochen des sogenannten „Lock-Downs“ im Frühjahr 2020. Menschen standen auf den Balkonen und klatschten, Zeitungen und Fernsehsender wiesen auf die geringe Bezahlung dieser Frauen hin. Dieter Thomä stellt diese Heroisierung in Frage. In seinem Beitrag zu „Jenseits von Corona“ spricht er von „Heldeninflation“, die die erforderlichen Maßnahmen geradezu verhindere. Es reicht nicht aus, „wenn man die Betroffenen (…) mit Lob abspeist, um dann von ihnen zu erwarten, dass sie sich klaglos aufreiben. Es reicht auch nicht, ganze Berufsgruppen pauschal, in einer seltsamen Mischung aus Gleichgültigkeit und Großzügigkeit, auf den Sockel zu heben. Glaubwürdig ist die Heroisierung nur, wenn sie mit einer nachhaltigen Veränderung der Wertschätzung derer einhergeht, die in unserer Gesellschaft lebensnotwendige Aufgaben erfüllen.“ Und das heißt: bessere, sprich: gute, der Arbeit angemessene Vergütung.

In diesem Zusammenhang wirkt es zynisch, wenn im September und Oktober 2020 bei den Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst darüber diskutiert wurde, ob Erzieher*innen und städtische Mitarbeiter*innen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen – in der Mehrheit Frauen – angesichts der erlebten Belastung der Familien durch Schulschließungen für eine bessere Bezahlung streiken dürften. Aus meiner Sicht ist das eine subtile Form von Klassismus gepaart mit Genderdiskriminierung. Ein solcher Gedanke würde gegenüber den Beschäftigten in der Autoindustrie oder im Flugverkehr nicht einmal im Ansatz formuliert, möglicherweise noch nicht einmal gedacht werden.

Es hilft nicht viel, sich darauf zu verlassen, dass „Systemrelevanz (…) immer auch ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen“ ist (Magnus Striet in „Jenseits von Corona). Hier stellt sich die Machtfrage: Wer hat die Macht und die Unterstützung, seine*ihre Interessen öffentlich zu vertreten und durchzusetzen? Erst dann lässt sich darüber befinden, welche Berufsgruppen sich letztlich wirklich als „systemrelevant“ erweisen, viele gängige Berufe von Frauen dürften nicht dazu gehören.

Kinderrechte? Fehlanzeige

Frauen, Kinder und ältere Menschen, vor allem diejenigen, die in ihren Wohnungen oder in Heimen eingeschlossen wurden, kamen bisher so gut wie nicht zu Wort. Sie mussten und müssen sich darauf verlassen, dass einzelne Journalist*innen ihre Anliegen wahrnehmen. Einen dieser Berichte verfasste Saskia Weneit für die ZEIT mit dem Titel „Die Fortschritte eines halben Jahres sind verloren“. Sie berichtet, dass Kinder, die an einer Deutschfördermaßnahme teilnahmen, mit der Schließung der Schulen fast vier Monate kein Deutsch mehr sprechen konnten, die von den Lehrkräften zugeschickten Arbeitsblätter nicht von selbst verstehen und in der Regel auch keine Geräte und keinerlei Anleitung haben, wie sie mit Geräten umgehen sollten. Es gibt Erstklässler*innen, die in der Schulpause trotz des Mantras der Schulminister*innen, es gäbe Digitalunterricht, keinen einzigen der erlernten Buchstaben mehr beherrschen .

Inzwischen gibt es mehr oder weniger regelmäßige Berichte über die Benachteiligungen von Kindern aus Familien, die nicht über die Ressourcen verfügen, das sogenannte „Home-Schooling“ zu praktizieren, in denen die erforderlichen Geräte nicht bereitstehen, über junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz mehr finden, aber auch nicht über die Finanzmittel verfügen, um sich ein Zimmer an einem anderen Ort, beispielsweise in einer deutschen Großstadt leisten zu können. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit dokumentierte am 8.10.2020 in ihrem Monitor Jugendarmut 2020 solche Entwicklungen.

Kai von Klitzing schreibt in „Jenseits von Corona“ über „Kindheit in Zeiten von Corona“. Er beginnt mit zwei Szenen aus unterschiedlichen Milieus. Die erste Szene endet mit dem Satz: „Trotz allen (sic!) Luxus hat Anna die Abgeschiedenheit im von den Eltern bereitgestellten Familienluxus als Gefängnis erlebt.“ Die zweite Szene: „Seine Sprache hat sich verschlechtert, und er ist schwer zu verstehen. Von den in der ersten Schulklasse erworbenen lexikalischen Fähigkeiten ist nichts mehr übriggeblieben.“ Ein vergleichbares Erlebnis beschreibt Boris Hermann: ein Kind kannte zum Schuljahresbeginn 2020/2021 keinen einzigen Buchstaben mehr, auch nicht mehr den Namen seiner Lehrerin, aber es kennt die Namen aller „Fortnite“-Figuren.

Kai von Klitzing fragt mit Recht nach der Umsetzung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen vom November 1989, die verlangt, dass „das Wohl des Kindes (…) vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Sein Fazit: „Insbesondere junge Kinder trugen und tragen die höchste Last im Rahmen der gesellschaftlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. (…) Die Einsamkeit, der viele Menschen unterworfen sind, stellt ein wesentliches Risiko für frühe Eltern-Kind-Beziehungen dar. (…) Die Situation von Kindern in westlichen industrialisierten Ländern mag noch erträglich sein im Vergleich zur Situation von Kleinkindern und Eltern aus Regionen der Welt, in welchen Armut, Hunger, Krieg und Migration vorherrschen.“

Studien der Universitäten Hildesheim, Frankfurt am Main und Bielefeld, die im Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ entstanden, stellten fest, „dass neben Senior*innen vor allem junge Menschen und Familien besonders beeinträchtigt und ihre Spielräume enorm eingeschränkt sind. Hinzu kommt der Eindruck, dass bei Entscheidungen über Maßnahmen und Strategien in den letzten Wochen und Monaten und bei der Abwägung vielfältiger Interessen die Perspektive von Kindern, Jugendlichen und Eltern nicht eingenommen wird.“ An der JuCo-Studie nahmen im April und im Mai 2020 6.000 junge Menschen teil, an der KiCo-Studie 25.000 Kinder und ihre Eltern.

Eine weitere Schwachstelle hat die Fachstelle für internationale Jugendarbeit (IJAB) mit einer Befragung unter Einrichtungen der Internationalen Jugendarbeit dokumentiert. Jugendreisen, Freiwilligendienste und auf einzelne Menschen bezogene sogenannte Individualmaßnahmen sind durch die Corona-Krise hochgradig bedroht. In diesen Arbeitsbereichen gab es die meisten Absagen. Dies kann auf mittlere oder längere Sicht dazu führen, dass Kinder und Jugendliche keine Möglichkeiten mehr haben, Altersgefährt*innen aus anderen Ländern, Orte des Gedenkens oder des Engagements kennenzulernen oder sich selbst zu engagieren. Diejenigen, die eine besondere individuelle Unterstützung brauchen, sind zurzeit und möglicherweise auch in Zukunft auf sich allein gestellt, auch weil das Personal, das für diese Maßnahmen zuständig ist, entlassen werden musste. Absehbar ist dann eine schleichende Nationalisierung und Regionalisierung des Blicks junger Menschen auf die zukünftige Entwicklung Europas und der Welt. Die konkrete Begegnung von Mensch zu Mensch lässt sich eben nicht digitalisieren.

Ob der Deutsche Bundestag Kinderrechte in angemessener und nicht nur in der aktuell vorliegenden weichgespülten Form in das Grundgesetz aufnehmen wird, darf bezweifelt werden, aber die Pandemie – so Kai von Klitzing – verlangt, „dass wir die Generationengerechtigkeit in unserer Gesellschaft gründlich überdenken (…) und dass wir dabei Kinder, so gut es geht, und in ihrer Vertretung die Eltern in den Diskussionsprozess einbeziehen.“ Selbsthilfeorganisationen wie „Familien in der Krise“ belegen, dass dies in der Regel nicht geschieht.

Menschen im Container

Physische Distanz bringt psychische Distanz mit sich. „Segregation der Städte“ (Frank Eckardt in „Die Corona-Gesellschaft“) und „Kasernierung alter Menschen“ (Frank Schulz-Nieswandt ebenfalls in „Die Corona-Gesellschaft“) sind zwei der Nebenwirkungen, die für die Betroffenen aber durchaus zur Hauptwirkung werden können. Frank Schulz-Nieswandt zitiert eine weitere eigene Publikation, der er den bezeichnenden Titel „Der alte Mensch als Verschlusssache“ gab. Hubert Knoblauch und Martina Löw analysieren in „Die Corona-Gesellschaft“ die „Refiguration von Räumen“: „Wohnräume und Länder werden zu Containern, die das Virus enthalten oder sich dagegen abschließen.“ „Netzwerkräume“ werden digital, sodass sich die Frage stellt, wie sich in Zukunft „einander entgegenstehende, räumliche Logiken nicht nur als Widersacher und als unterkomplexe Platzhalter für Sicherheit (Territorium) versus Freiheit (Netzwerk) oder für Isolation (Territorium) versus ungebremste, globale Zirkulation (Netzwerk)“ zueinander verhalten.

Sascha Dickel schreibt in „Die Corona-Gesellschaft“, dass bereits Briefe und Telefon dafür sorgten, dass physische Anwesenheit schon seit längerer Zeit an Bedeutung verlor. Anwesenheit ist eben nicht nur „Kopräsenz von Körpern an einem physischen Ort“. Kommunikation ist auch ohne körperliche „Kopräsenz“ möglich. Es ist denkbar, dass der unmittelbare Kontakt sich in manchen Bereichen mittelfristig völlig erübrigt. Aber auch dies ist eine Frage sozialer und finanzieller Ressourcen. Katharina Manderscheid stellt in ihrem Beitrag zu „Die Corona-Gesellschaft“ „unerwünschte Mobilität von Viren und unterbrochene Mobilitäten von Gütern und Menschen“ einander gegenüber. Sie vergleicht die Entwicklung der Corona-Pandemie mit dem „Flügelschlag des Schmetterlings in der Chaostheorie, der den Tornado am anderen Ende der Welt auslöst. Ursachen und Effekte sind in dieser Situation nicht symmetrisch oder linear, sondern dynamisch und vor allem unberechenbar.“

Unbeantwortet und möglicherweise sogar unbeantwortbar ist die Frage, ob es Gesellschaft geben kann, ohne dass Menschen sich (regelmäßig) treffen. Katharina Manderscheid beschreibt, „wie sehr der mobile Alltag der Erwerbstätigen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung und immobile ortsgebundene Tätigkeiten voraussetzt. Für Erwerbstätige mit Kindern kollabierten mit der Schließung von Kitas, Schulen und weiteren Betreuungsangeboten die raum-zeitlichen Arrangements.“ Etwa ein Viertel der Erwerbstätigen konnte sich in das Home-Office zurückziehen, in der Regel Personen mit höheren Bildungsabschlüssen und höheren Einkommen, etwas mehr als die Hälfte ging ihren Tätigkeiten außerhalb der Wohnung nach. Dazu gehörten insbesondere „die systemrelevanten Tätigkeiten (…), also alles, was das physische Überleben sicherstellt“. So weit so gut, so weit so schlecht. „Eine dritte Gruppe der Erwerbstätigen wurde (…) zu einer Reduktion oder Verlust ihres Einkommens und ihrer Tätigkeiten verdammt. Der Anteil dieser Gruppe liegt laut Mannheimer Corona-Studie derzeit bei ca. 20 % und betrifft überdurchschnittlich Personen mit geringen Einkommen und geringer Bildung (…) Vermutlich steigt dieser Anteil mit der Dauer der Einschränkungen noch.“

Im internationalen Vergleich verschärft sich diese Entwicklung um ein Vielfaches. „Berichte aus Ländern des globalen Südens, aus Südamerika oder Afrika verdeutlichen, dass das Virus dort primär von den ökonomischen Eliten beispielsweise aus ihrem Skiurlaub in Österreich oder Italien mitgebracht wurde. Die Eliten können sich jetzt in ihre abgeschirmten Wohngebiete zurückziehen und dort das Infektionsrisiko individuell minimieren. (…) Fast ungeschätzt sind jedoch die Bewohner*innen von Armutsvierteln, Favelas, Slums und Flüchtlingslagern dem Virus ausgesetzt (…), sie werden zudem weitgehend sich selbst überlassen und sind in der Öffentlichkeit unsichtbar, weil sich viele Hilfsorganisationen, NGO’s und Reporter*innen von dort zurückgezogen haben – aus Angst vor einer Infektion.“

Es entsteht ein Paradox: Mobilität und Globalisierung führen zur Ausbreitung der Pandemie, aber wer die Ressourcen zur Mobilität besitzt, hat auch eine größere Chance, sich der Gefahr einer Infektion zu entziehen. Und wer über einen großzügig ausgestatteten „Container“, sprich eine großzügige Wohnung, vielleicht sogar ein Haus mit Garten, verfügt, hat es eben leichter. Wer diese Ressourcen nicht besitzt und vor allem wer auf informelle Erwerbstätigkeiten angewiesen ist, hat nur die Wahl, entweder sich einzuschließen, um eine Infektion auszuschließen, und zu verhungern oder seiner*ihrer Arbeit nachzugehen und sich dabei möglicherweise zu infizieren. Das ist nicht nur ein Problem von Entwicklungsländern, das betrifft auch große Bereiche in westlichen Demokratien. Armut ist vielleicht das größte Infektionsrisiko. In der öffentlichen Debatte spielt es keine Rolle.

Frank Eckardt referiert (in „Die Corona-Gesellschaft“) die Folgen der Misserfolge bisheriger „Anti-Segregationspolitik, sofern es diese überhaupt gab. Die begrenzte Wirkung von Sozialprogrammen in sogenannten „Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf“ (langjähriges Programm in Nordrhein-Westfalen) oder der „Zones d’éducation prioritaires“ (in Frankreich) ist wissenschaftlich belegt. Frank Eckardt verweist darauf, dass „nach wie vor jeder achte EU-Bürger in zu kleinen Wohnungen“ lebt. Kinder, die nicht mehr draußen spielen können, verlieren Möglichkeiten, sich zu bewegen oder sich im Kontakt mit anderen Kindern zu erfahren. Ebenso belegt ist, „dass die soziale Segregation in Deutschland kontinuierlich zugenommen hat.“ Und dies wird sich verschärfen: „Je mehr und je rigoroser Menschen an einem Ort fixiert werden, desto dramatischer sind die sozialen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.“

Die Menschenwürde ist unantastbar

Als Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, in seiner bekannt flapsigen Art darauf verwies, dass Menschen geschützt würden, die ohnehin wenige Monate später gestorben wären, gab es – angesichts seiner Formulierungen auch mit Recht – einen gewaltigen „Shitstorm“. Als Wolfgang Schäuble etwa zur selben Zeit darüber sprach, dass das Leben nicht der höchste Wert wäre, ging es ihm nicht besser. Kaum jemand sprach in dieser Debatte darüber, dass Boris Palmer in Tübingen dafür sorgte, dass Menschen über 60 zum Preis einer Busfahrkarte mit dem Taxi fahren durften, damit sie vor einer Ansteckung in einem öffentlichen Verkehrsmittel geschützt würden, Mitarbeiter*innen der Altenpflege regelmäßig testen ließ und das Gesundheitsamt aus anderen Behörden systematisch verstärkte, erfuhren außerhalb Tübingens nur diejenigen, die seinen am 12. August 2020 in der ZEIT erschienen Artikel lasen . Die Ansteckungszahlen im Kreis Tübingen lagen lange Zeit deutlich unter dem Durchschnitt in Deutschland (Stand 9.10.2020).

Wer Boris Palmer und Wolfgang Schäuble in gelassener Stimmung zugehört hätte, wäre zu einem anderen Ergebnis gekommen als die lautstarken Kritiker*innen. Beide Politiker setzten zwei Werte miteinander in Beziehung. Der Blick in das Grundgesetz lohnt sich immer: in Artikel 1, Absatz 1 lesen wir: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Artikel 2 Absatz 2 lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Es geht eben nicht nur um das physische Überleben, sondern auch um ein Leben in Würde. Eine Hierarchie der Grundrechte gibt es nicht.

Die Menschenwürde wird verletzt, wenn alte Menschen in ihren Zimmern eingeschlossen werden, ihre Angehörigen sie nur durch Plexiglaswände sehen dürfen, Geistliche Gottesdienste abhalten, aber nicht in Pflegeheimen Sterbenden Beistand leisten dürfen. Solidarität und Empathie beschränken sich eben nicht auf Infektionsschutz. Frank Schulz-Nieswandt sieht diese „paradoxe Struktur sozialer Praktiken zwischen Solidarität einerseits und Ausgrenzung andererseits. Ambivalenz kennzeichnet die Situation.“ Sein Fazit könnte sprachlich auch in einer religiösen Predigt vorgetragen werden, aber vielleicht ist dieser zukunfts-zuversichtliche Stil angemessener als die ständigen Ermahnungen, die klingen, als wäre ein Ende der Pandemie nur möglich, wenn man*frau den Menschen mit mehr oder weniger drastischen Strafen droht. „Der fundamentale Zielkonflikt zwischen dem Schutz und der Würde der vulnerablen Gruppe der Hochaltrigen ist also kein tragisches Dilemma, aus dem es keinen Ausweg ohne massive Schuld gibt. (…) Der sozialen Wirklichkeit der Pflegelandschaft im Alter ist ein anderer Geist einzuhauchen, damit ihre kranke Seele gesundet.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)