Die Zerrissenen

Ein Irrweg der deutschen Sozialdemokratie: die Berufsverbote

In der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie gab es immer wieder Phasen eines großen Unbehagens gegenüber Genoss*innen, die sich von der offiziellen Parteilinie abgrenzten. Dieses Unbehagen galt und gilt vor allem gegenüber denjenigen, die einen Kurs „links“ von der Parteilinie einfordern, und führte immer wieder dazu, dass sich die deutsche Sozialdemokratie von konservativ-illiberaler Seite treiben ließ und das Bild einer in sich uneinigen zerrissenen Partei abgab.

Eines der traurigen Kapitel dieser Geschichte ist das der Berufsverbote in den 1970er Jahren, das Politiker*innen von CDU, CSU und FDP mit Unterstützung einiger konservativer Sozialdemokraten unter dem Arbeitstitel „Radikalenerlass“ gemeinsam schrieben und das selbst einen eigentlich solcher Umtriebe unverdächtigen Bundeskanzler Willy Brandt beeinflusste.

Sozialdemokratische Traumata

Erst in den 2010er Jahren setzte sich in der SPD ein etwas entspannteres Verhältnis gegenüber der Linken durch. Die Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten in Thüringen wurde trotz gegebener Mehrheitsverhältnisse erst im zweiten Anlauf möglich, die Auseinandersetzungen um Vorschläge von Kevin Kühnert – Stichwort „Vergesellschaftung“ – verstummten erst, als im Dezember 2019 der Parteitag der SPD einen neuen Vorsitz wählte und Kevin Kühnert vom „Linksabweichler“ zum „Hoffnungsträger“ beförderte. In den 1970er Jahren hätte Kevin Kühnert ein Parteiausschlussverfahren befürchten müssen, wäre möglicherweise sogar ausgeschlossen worden. Die SPD in der Bundesrepublik Deutschland stritt seit den 1950er Jahren über die Frage, ob und wie weit sie in ihren Reihen einen eher linken Kurs tolerieren sollte.

Von ihrer Konkurrentin um den Spitzenplatz bei Wahlen, der CDU, ließ sich die SPD immer wieder in die Defensive drängen. 1953 gelang dies Konrad Adenauer mit der Parole „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“, 1976 Helmut Kohl und Franz-Josef Strauß mit „Freiheit oder Sozialismus“, und 1991 beeindruckte die von Peter Hintze erfundene „Rote-Socken-Kampagne“. Jede Debatte um „Vergesellschaftung“ oder gar „Verstaatlichung“ wurde nicht erst seit Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahr 1959 parteiintern und in den Medien verdächtigt, sie rücke die SPD in die Nähe der SED.

Der von Egon Bahr geprägte Begriff „Wandel durch Annäherung“ wurde von interessierten Konservativen diffamierend interpretiert, als wolle die SPD Zustände der DDR auch in der Bundesrepublik Deutschland einführen. Wer die Bundesrepublik mit „BRD“ abkürzte, wurde kommunistischer Sympathien verdächtigt. Das im Godesberger Programm vereinbarte Ziel des „demokratischen Sozialismus“ wurde zu Makulatur, „Sozialismus“ jeder Art zum Unwort.

Dieser Streit veranlasste die SPD-Führung zwei Mal, sich von ihrem Student*innenverband zu trennen, zunächst 1961 vom SDS, dessen Vorsitzender in den 1950er Jahren einmal Helmut Schmidt war. 1972 setzte die SPD gerichtlich durch, dass der bis dahin sich „sozialdemokratisch“ bezeichnende SHB sich nur noch „sozialistisch“ nennen durfte. Mit den Juso-Hochschulgruppen baute die SPD eine Konkurrenzorganisation zum SHB auf.

Traumatisch wurden schließlich die Gründung der Grünen und das bundesweite Auftreten der PDS, der heutigen Linken, die einige Erfolge dem Übertritt ihres ehemaligen Vorsitzenden Oskar Lafontaine verdankt. Der Linken gelang es immer wieder, die SPD in die Nähe des Neoliberalismus zu rücken. „Hartz IV“ wurde zum Kampfbegriff parteiinterner und -externer Auseinandersetzungen über einen authentisch sozialdemokratischen Kurs. So wie die sozialliberale Koalition der 1970er Jahre auch den Aufstieg der Grünen bewirkte, bewirkten die Regierungszeit des Bundeskanzlers Gerhard Schröder sowie die folgende Große Koalition der Jahre 2005 bis 2009 den Aufstieg der Linken zu einer bundesweit stabilen und relevanten politischen Kraft.

Von diesen Folgeerscheinungen sozialdemokratischer Regierungsarbeit hat sich die SPD nicht mehr erholt. Sie leidet nach wie vor darunter, dass es ihr nie gelang, sich gegen Verdächtigungen von konservativer und von linker Seite wirksam zu wehren. Während die einen ihr vorwarfen, einen per se undemokratischen Sozialismus zu vertreten, warfen die anderen ihr Anpassung an einen neoliberalen Kapitalismus vor. Die Partei blieb durchweg in der Defensive.

1972 – „Radikalenerlass“ und „Gesellschaftslehre“

Manche glaubten, eine möglichst klare Abgrenzung nach links sorge für nachhaltige Akzeptanz in der sogenannten „Mitte“ und nehme konservativen Kritiker*innen den Wind aus den Segeln. Und so ließ sich die SPD zu repressiven Maßnahmen verleiten, die eigentlich nicht zu ihrem Programm passten. Am 28. Januar 1972 beschlossen Bundeskanzler Willy Brandt und die elf Ministerpräsidenten der Länder (damals alles Männer) den sogenannten „Radikalenerlass“, der gelegentlich auch als „Extremistenbeschluss“ firmierte und von seinen Gegner*innen mit dem Begriff „Berufsverbote“ bekämpft wurde.

Die Umsetzung des Erlasses war Ländersache und es kam zu dem Gemeinsamen Runderlass der Ministerpräsidenten und aller Landesminister vom 18. Februar 1972. Der Titel: „Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“. Der Beschluss vom 28. Januar 1972 sprach nur von „Radikalen“. Die Nennung von „rechts“ und „links“ als Versuch einer Präzisierung des Begriffs „Radikale“ war dort noch nicht enthalten. Wirksam wurde der Erlass jedoch vor allem gegen „links“.

Etwa zeitgleich zur Umsetzung des „Radikalenerlasses“ gab es Unvereinbarkeitsbeschlüsse der Gewerkschaften für Mitgliedschaften in Organisationen, die mit dem „Radikalenerlass“ getroffen werden sollten, sowie Parteiausschlussverfahren in der SPD, die im Sinne der Partei erfolgreich durchgeführt werden konnten. Wer heute die Hilflosigkeit der SPD bei ihren Versuchen beobachtet, Thilo Sarrazin auszuschließen, darf sich wundern, wie schnell damals Ausschlüsse durchgesetzt werden konnten.

Der „Radikalenerlass“ verschärfte eine weitere Auseinandersetzung der 1970er Jahre. Den 1972 vorgelegten hessischen Rahmenrichtlinien zur „Gesellschaftslehre“ wurde von der CDU vorgeworfen, dass die Schüler`*innen indoktriniert, gegen den Staat und zu aktivem Eintreten für sozialistische bis kommunistische Auffassungen erzogen werden sollten. Diese Debatte führte zu dem „Beutelsbacher Konsens“ von 1976, dessen Kern das Gebot ist, das, was in der Gesellschaft strittig wäre, auch in der Schule strittig darzustellen. Weitere Kriterien des Konsenses sind das „Überwältigungsverbot“ und die „Schüler*innenorientierung“ (damals noch ohne Gender-Sternchen geschrieben). Der KMK-Kompromiss zur Gesamtschule von 1982 war eine weitere der Maßnahmen, all das, was Konservative und auch manche in der SPD für „systemüberwindend“ hielten, zu unterbinden.

Von konservativer Seite wurde somit in mehrfacher Hinsicht Druck ausgeübt: es ging um Lehrpläne und Gesamtschulen sowie um die Personen, die sie umsetzen sollten, die Lehrer*innen. Der „Radikalenerlass“ war letztlich das entschieden repressive Element einer aggressiven Strategie zur Durchsetzung politischer insbesondere bildungspolitischer Ziele. Die SPD muss sich dabei leider vorwerfen lassen, dass sie in ihrer Angst vor der Aggressivität konservativer Kritik ihren eigenen bildungspolitischen Zielen weitgehend abschwor und in Kauf nahm, dass die Existenz der vom „Radikalenerlass“ betroffenen Menschen, von denen viele ursprünglich ihr wohlgesonnen waren, zerstört werden konnte.

Gruppenverdacht und Umkehr der Beweislast

Bei der Umsetzung des „Radikalenerlasses“ ging es nicht darum, dass jemand etwas tat, was an seiner oder ihrer „Verfassungstreue“ zweifeln ließ. Es reichte aus, dass die Bewerber*innen Mitglied einer „Organisation“ waren, die von Bundesregierung und Landesregierungen als „verfassungsfeindlich“ identifiziert worden war. Die identische Formulierung der Erlasse vom 28.1. und vom 18.2.1972: „Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages.“

In die Prüfung der dienstlichen Eignung sollten nun die „Erkenntnisse“ des Verfassungsschutzes und der Geheimdienste einbezogen werden, die somit die Procura erhielten, die Personen zu benennen, denen grundsätzlich die Aufnahme in den Öffentlichen Dienst zu verwehren sei. Es galt eine Umkehr der Beweislast: nicht der Staat musste Überprüften etwas Ungesetzliches nachweisen, diese mussten nachweisen, dass sie nichts Ungesetzliches im Schilde führten. Da aber in der Zukunft vermutete Verhaltensweisen nicht beweiskräftig widerlegt werden können, war dies so gut wie unmöglich. Als Grundlage für die Ablehnungen der Aufnahme in den öffentlichen Dienst beziehungsweise für die Entlassung reichte ein Gruppenverdacht.

Betroffen waren nicht nur Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen. Betroffen waren alle Berufsgruppen im öffentlichen Dienst, auch Postbot*innen oder Lokführer*innen. Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen waren jedoch die entscheidende „Zielgruppe“: Christiane Bainski, eine der Betroffenen: Betroffene waren Personen, die sich z.B. gegen den Krieg in Vietnam engagierten, gegen Aufrüstung protestierten, Studienreisen in die DDR oder andere sozialistische Länder unternahmen. Sie setzten sich ein für eine konsequente Aufarbeitung des NS-Regimes, demonstrierten gegen die Notstandsgesetze und für den Erhalt demokratischer Rechte. Sie waren Mitglied in verschiedenen linken Gruppierungen und Parteien der damaligen Zeit, ein großer Teil in der DKP, dem SHB oder anderen linken Organisationen.“

Die Behörden arbeiteten gründlich: In der Folge wurden alle Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst einer ‚Regelanfrage‘ durch den Verfassungsschutz unterzogen. Seit den 1970er bis in die 1980er Jahre wurden etwa 3,5 Millionen Bewerber*innen – vor allem auch Lehrkräfte und Wissenschaftler*innen – auf ihre politische Gesinnung durchleuchtet. Die bittere Bilanz: 11.000 offizielle Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen.“ (beide Zitate: Christiane Bainski: „Vergessene Geschichte“ Berufsverbote, wie viele andere Dokumente leicht auf der Seite der GEW NRW über den Suchbegriff „Berufsverbote“ zu finden.)

40 Jahre Kampf um Rehabilitation und Entschädigung

Die Bundesregierung distanzierte sich unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt 1979 vom „Radikalenerlass“, die Länder eines nach dem anderen. Am längsten überlebte der Erlass in Baden-Württemberg und in Bayern. Dort gab es noch in den 1990er Jahren Fälle, die vor Gericht geklärt werden mussten. Die Länder verloren die Prozesse.

In Nordrhein-Westfalen wurde die Praxis 1982. Der Landtag beschloss, dass die noch anhängigen etwa 5.000 Verfahren eingestellt werden sollten. Wer vor 1977 durch die Regelanfrage beim Verfassungsschutz nicht eingestellt wurde, erhielt nachträglich die Möglichkeit, sich einstellen zu lassen. Viele wurden jedoch wegen der damals geltenden Altersgrenze nicht mehr verbeamtet. Dies wirkte sich bis in die Altersversorgung aus und ergab für jede*n Einzelne*n einen finanziellen Schaden in sechs- bis siebenstelliger Höhe. Entschädigungen gab es nicht.

2012 beschloss die GEW auf Bundesebene, dass die Landesverbände sich der Frage der Rehabilitierung der Betroffenen annehmen sollten. Dies geschah. Niedersachsen bestellte als erstes Land eine Niedersächsische Landesbeauftragte für die Aufarbeitung. Jutta Rübke nahm ihren Dienst am 1. Februar 2017 auf. Sie veröffentlichte 2018 eine ausführliche Dokumentation.

Vergleichbare Dokumentationen aus anderen Bundesländern gibt es zurzeit (noch) nicht. Immerhin gab es in einigen Ländern, in Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, eine Entschuldigung der Landesregierungen bei den Betroffenen. Finanzielle Entschädigungen gab es jedoch bisher in keinem Land!

In Niedersachsen entstand die Ausstellung „Vergessene Geschichte – Berufsverbote – Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland“. Initiatorin war die Niedersächsische Initiative gegen Berufsverbote. Sie wurde gefördert vom bildungswerk ver.di, vom DGB Bezirk Niedersachsen – Bremen -Sachsen-Anhalt, vom GEW Landesverband Niedersachsen, vom Bildungs- und Förderungswerk der GEW im DGB und von der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen. Die Ausstellung kann kostenlos beim Arbeitskreis Regionalgeschichte e.V. ausgeliehen werden, siehe dort unter Ausstellungen, Zugriff am 10.2.2020).

In Nordrhein-Westfalen wurde zum Jahresende 2018 ein Arbeitskreis der GEW eingerichtet, an dem mehrere Betroffene teilnahmen. Im Mai 2019 beschloss der Gewerkschaftstag, die Rehabilitation der Betroffenen einzufordern. Am 11. Februar 2020 gab es in Wuppertal eine Veranstaltung mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, in der auch die genannte Ausstellung präsentiert wurde. Die GEW nahm Gespräche mit den vier demokratischen Fraktionen im Landtag Nordrhein-Westfalens auf, in denen nach dem, was ich erfahren konnte, die Fraktionen einen gemeinsamen parlamentarischen Weg zusagten.

Ob es zu Entschädigungen kommen wird, ist offen. Interessant ist sicherlich in diesem Zusammenhang, dass Opfer der SED-Diktatur eine solche Entschädigung erhalten können, von Berufsverboten in Westdeutschland Betroffene jedoch nicht. Grundlage für die Entschädigung von DDR-Betroffenen ist das „Berufliche Rehabilitierungsgesetz“ vom 23.6.1994, das inzwischen zwei Mal, zuletzt im Jahr 2019 ergänzt wurde, sich aber immer noch nicht auf Opfer politischer Verfolgung in der Alt-BRD bezieht.

Der Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Im Jahr 1995 gab es den bisher einzigen Fall, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dann vom deutschen Bundesverfassungsgericht geklärt wurde. Weitere Fälle gab es nicht und wird es voraussichtlich auch nicht geben. Es wird allgemein angenommen, dass der Europäische Gerichtshof ein individuelles Urteil gefällt habe. Ein Grundsatzurteil wird nicht angenommen.

Klägerin war Dorothea Vogt, eine Lehrerin aus Jever in Niedersachsen, die sich maßgeblich mit der NS-Geschichte in ihrer Heimat befasste, sich während ihrer Studienzeit in Marburg der DKP angeschlossen hatte, für die sie in den Folgejahren kandidierte und Parteiämter ausübte. Sie wurde aus dem Schuldienst entlassen, allerdings 1991 im Zuge der Beendigung der Praxis der Berufsverbote in Niedersachsen wiedereingestellt.

Vor dem Europäischen Gerichtshof war sie erfolgreich, das Bundesverfassungsgericht sprach ihr eine sechsstellige Entschädigung zu. Der Europäische Gerichtshof urteilte nicht einstimmig. Die Mehrheit stellt das Recht eines Staates, bestimmten Personen aus Sicherheitsgründen eine bestimmte Berufstätigkeit zu verweigern, nicht in Frage, hielt aber fest, dass „Frau Vogt Deutsch- und Französischlehrerin in einem Gymnasium war und dementsprechend eine Stellung innehatte, mit der keine Sicherheitsrisiken verbunden waren.“

Die Entlassung war – so das Gericht – unverhältnismäßig: „Das Risiko lag in der Möglichkeit, dass sie – entgegen den besonderen Pflichten und Verantwortungen, die den Lehrern obliegen – ihre Position hätte ausnützen können, um ihre Schüler während der Unterrichtsstunden zu indoktrinieren oder anderweitig einen unangemessenen Einfluss auf sie auszuüben. Von dieser Warte aus gab es jedoch keine Kritik an ihrer Arbeit. Die Vorgesetzten der Beschwerdeführerin hielten ganz im Gegenteil ihre schulische Tätigkeit für vollständig zufriedenstellend und sie wurde von ihren Schülern und deren Eltern und auch von ihren Kollegen sehr geschätzt (siehe Ziff. 10); die Disziplinargerichte erkannten an, dass sie ihre Pflichten zu jeder Zeit in einwandfreier Weise ausgeübt habe (siehe Ziff. 20 und 22). Tatsächlich sind auch zwischen der Einleitung des Disziplinarverfahrens und der Suspendierung der Beschwerdeführerin durch die Behörden über vier Jahre vergangen (siehe Ziff. 11 und 16). Dies zeigt, dass nach Ansicht der Behörden kein sehr dringendes Erfordernis bestand, die Schüler aus ihrem Einflussbereich zu entfernen.“

Das Gericht kommt zu folgendem Schluss: „Auch wenn man einen gewissen Ermessensspielraum einräumt, muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass Frau Vogts Entlassung aus ihrer Stellung als Gymnasiallehrerin als Disziplinarstrafmaßnahme gegenüber dem damit verfolgten berechtigten Ziel unverhältnismäßig war.“ Herta Däubler-Gmelin formulierte in ihrem Vortrag vom 11. Februar 2020 folgendes Fazit: Ein Gruppenverdacht ist unzulässig, ohne individuelle Prüfung darf niemand ein Amt im Öffentlichen Dienst verwehrt werden (siehe auch Otto Köhler in der ZEIT vom 24. November 1989: „Pardon wird nicht gegeben.“).  Das Urteil zitiere ich in deutscher Übersetzung, Rechtschreibung von mir angepasst, es ist im Internt mit den Minderheitenvoten zugänglich.

Revival eines Kampfbegriffs: „Neutralität“

Der Anstoß zu einer öffentlichen Debatte über Praxis und Folgen der Berufsverbote der 1970er Jahre kam nie von der Seite der Regierungen. Ohne das zivilgesellschaftliche Engagement von Initiativen Betroffener und der diese unterstützenden Organisationen wäre die Geschichte der Berufsverbote eine „vergessene“ Geschichte geblieben.

Ich möchte jeden falschen Zungenschlag vermeiden. Daher ist hier der Hinweis angebracht, dass Vergleiche der Praxis der Berufsverbote in der Alt-BRD und der StaSi in der DDR nicht weiterführen. In der Alt-BRD formierte sich zivilgesellschaftlicher Protest, der letztlich erfolgreich war. In der DDR musste erst die SED-Diktatur abgeschafft werden, um die Schikanen der StaSi zu beenden und Rechtssicherheit zu schaffen.

Berührungsängste gegenüber sich „links“ von ihr positionierenden Parteien gibt es in der SPD immer noch, doch haben diese in den vergangenen Jahren, auch dank der Entwicklung der Linken zu einer demokratisch-sozialistischen Partei, deutlich abgenommen.

In der zweiten Hälfte der 2010er Jahre gab es allerdings immer wieder Auseinandersetzungen um die Frage der „Neutralität“ von Lehrer*innen in politischen Debatten. Die AfD versucht, einen Begriff von „Neutralität“ durchzusetzen, der letztlich jede politische Stellungnahme von Lehrer*innen verbietet, sprich: jede Kritik an der AfD. Vergleichbare Anliegen gibt es gelegentlich von ausländischer Seite, beispielsweise von Seiten der türkischen Generalkonsulate bei der Bewertung der türkischen Regierungspolitik seit dem Putschversuch von 2015.

Schüler*innen und Eltern sollten in von der AfD eigens eingerichteten Meldeportalen Lehrer*innen anzeigen, die gegen das „Neutralitätsgebot“ verstießen. Gleichzeitig versucht die AfD, ihre eigenen Auffassungen, beispielsweise zur Homosexualität oder zum Islam, als „Meinungsfreiheit“ zu deklarieren, die daher von Lehrer*innen nicht in Frage gestellt werden dürften.

Die KMK reagierte schnell und verurteilte in ihrem Beschluss zur Neufassung einer Empfehlung zur Demokratie in der Schule vom 8. Dezember 2018 die Einrichtung der Meldeportale. Die Empfehlungen enthalten eine ausführliche Bewertung des Beutelsbacher Konsenses: „Werden in der Schule kontroverse Thematiken behandelt, haben Lehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, den Unterrichtsgegenstand multiperspektivisch zu beleuchten, zu moderieren, bei Bedarf gegenzusteuern, sowie Grenzen aufzuzeigen, wenn diese überschritten werden. Voraussetzung für die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses ist somit eine Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte.“ Und an anderer Stelle: „Eine rechtsstaatlich verfasste Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie musste und muss immer wieder erlernt, erkämpft, gelebt und verteidigt werden.“ (www.kmk.org, dort unter Beschlüsse zu finden). Ein „Neutralitätsgebot“ gibt es nicht.

Die Debatte um Kampfbegriffe wie „Neutralität“ und „Meinungsfreiheit“ ist nicht ausgestanden. Es gibt Lehrer*innen und Schulleiter*innen, die sich von der AfD und selbsternannten „besorgten Eltern“ einschüchtern lassen. Eine nordrhein-westfälische Bezirksregierung maßregelte eine Schule, die an einer Demonstration gegen eine neonazistische Partei teilnahm. Die Teilnahme sei nur Einzelpersonen erlaubt, nicht jedoch der Schule als Schule. Vielleicht wäre eine Erinnerung an Willy Brandt hilfreich, der in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 formulierte: „Die Schule der Nation ist die Schule“ und sich dabei von seinem Vorgänger absetzte, der einmal die Bundeswehr als „Schule der Nation“ bezeichnet hatte. Und Willy Brandts Ankündigung „mehr Demokratie wagen“ galt eben auch für die Schule. Mit dem „Radikalenerlass“ unterlief er jedoch seine eigene Politik. Die Angst vor „links“ hatte gesiegt. Andererseits wird Willy Brandt auch der Satz zugeschrieben, dass der „Radikalenerlass“ einer seiner größten politischen Fehler gewesen sei.

Die Wiederbelebung der Debatten um die hessische „Gesellschaftslehre“ aus den 1970er Jahren in den 2010er Jahren erfolgt nicht nur durch die AfD. Es gibt auch andere Parteien, die Kritik an von ihnen vertretenen Positionen in der Schule unterbinden wollen. Dies betrifft beispielsweise Abläufe des Wirtschaftssystems. Verbände und Organisationen der Wirtschaftsunternehmen haben in mehreren Bundesländern ihre Vorstellungen von einem Fach „Wirtschaft“ durchgesetzt, teilweise als eigenes Fach, teilweise im Kontext anderer gesellschaftswissenschaftlicher Fächer, in jedem Fall aber zu Lasten historisch-politischer Bildung in den Schulen. Fächer wie Politik und Geschichte verlieren immer mehr an Rückhalt, obwohl die KMK auf der anderen Seite durchaus beachtenswerte Empfehlungen zur historisch-politischen Bildung beschlossen hat (www.kmk.org).

Ziel eines Fachs „Wirtschaft“ soll es – so das Interesse derjenigen, die dies fordern – u.a. sein, eine positive Sicht auf die Akteur*innen in der „Wirtschaft“ zu vermitteln. Niemand plädiert für ein negatives Bild von Akteur*innen in der „Wirtschaft“, wohl aber für ein kontroverses, denn die Dinge sind komplex. Doch das geht manchen schon zu weit. Wer aber nun schulische Bildung allein auf die scheinbare Anwendbarkeit im Wirtschaftsleben und das Verständnis der Praxis von Wirtschaftsunternehmen reduziert, muss sich nicht wundern, wenn Schüler*innen nicht lernen, wie sich unterschiedliche Auffassungen im Rahmen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats formulieren, und wenn wieder Disziplinierung von Lehrer*innen eingefordert wird.

Ein Spiel mit dem Feuer

Doch vielleicht sind Schüler*innen viel klüger als manche Politiker*innen. Fridays for Future macht Hoffnung – und so auch manch andere Aktivität von Schüler*innen und anderen jungen (und älteren) Menschen mit ihrem Engagement in diversen Programmen zur Stärkung unserer freiheitlichen Demokratie.

Gleichwohl ist allerhöchste Aufmerksamkeit geboten. Eine Partei, in der offen die Deportation von ihr missliebigen Politiker*innen mit internationaler Familiengeschichte und ein mit „wohltemperierter Grausamkeit“ durchzuführendes “Remigrationsprojekt“ gefordert wird, wird, wenn sie jemals in Regierungsverantwortung kommen sollte, nicht davor zurückschrecken, ihre Regierungsarbeit am „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 zu orientieren.

Raoul Löbbert beschrieb am 21. Januar 2019 in seinem Essay „Der Volksempfänger“ An- und Absichten des Thüringer AfD-Vorsitzenden: „In seinem Buch stellt Höcke auch fest, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind“ mitzumachen.“ Er denke an einen „Aderlass“. Diejenigen Deutschen, die seinen politischen Zielen nicht zustimmten, würden aus seinem Deutschland ausgeschlossen werden. Er trete für die Reinigung Deutschlands ein. Mit „starkem Besen“ sollten eine „feste Hand“ und ein „Zuchtmeister“ den „Saustall ausmisten“. Hajo Funke veröffentlichte einen weiteren Text am 24. Oktober 2019 mit dem Titel „Höcke will den Bürgerkrieg.“

Ein dem Ende der Weimarer Republik vergleichbares Ende befürchte ich zurzeit nicht. Ob das in zehn Jahren immer noch so sein wird, ist eine andere Frage. Und die hat etwas mit allgemeinen Stimmungen zu tun. So wie in den 1970er Jahren in Westdeutschland eine Mehrheit der Bevölkerung alles ablehnte, was auch nur einen Hauch von „Sozialismus“ oder „Kommunismus“ vermuten ließ, und daher auch damalige Maßnahmen wie eben den „Radikalenerlass“ befürwortete, unterstützen heute zu viele Bürger*innen in Deutschland repressives Vorgehen der Behörden gegen andere Gruppen. Die immer wieder aktuellen „Kopftuchdebatten“ sind die Spitze dieses Eisberges.

Manche würden es begrüßen, wenn die Politik eines Salvini oder eines Orbán Regierungspolitik würde, manche konservativen Politiker*innen, nicht nur aus der sogenannten „Werteunion“, und Anfang Februar 2020 zumindest ein prominenter Freidemokrat scheinen keine Vorbehalte gegen eine Regierungsbildung mit Stimmen oder möglicherweise Beteiligung der AfD zu haben.

Solcher Umtriebe ist die SPD unverdächtig, aber es wäre denkbar, dass sie mit eigenen Überlegungen nach der letzten dänischen Parlamentswahl einer solchen Entwicklung Vorschub leisten könnte. Auch prominente Sozialdemokrat*innen dachten laut nach, ob das Vorbild der dänischen Sozialdemokratie, ihre soziale Politik mit einem harten Kurs gegen Geflüchtete und andere Ein- und Zuwanderung zu verbinden, die SPD wieder mehrheitsfähig machen könnte.

Wer so denkt, spielt mit dem Feuer. Denn auch darüber müssen wir sprechen, wenn wir die Geschichte der Berufsverbote der 1970er Jahre in der alten Bundesrepublik aufarbeiten. Nely Kijak stellte in ihrer regelmäßigen „Deutschstunde“ eine ganz einfache Frage: „Wollt ihr Juden, Muslime, Sinti, Roma und Schwarze in diesem Land? Oder fühlt ihr euch mit den Faschisten wohler?“ Beides geht nicht. Das kann man auch ruhig mal den Arbeitskollegen fragen. Jetzt wäre die richtige Zeit dafür. Die Kanzlerin ist bald weg, ihr Schutz und ihre Wehrhaftigkeit auch. Deshalb bitte ehrlich sein. So ein Jahrzehnt ist ja schnell um.“ 

Ich würde die Frage von Frau Kijak gerne noch etwas zuspitzen: „Wollt ihr Demokrat*innen in diesem Land? Oder lieber Faschist*innen?“ Wir haben genug Mittel, uns gegen Faschist*innen zu wehren. Ein Gruppenverdacht ist dazu nicht erforderlich.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2020, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Für Beratung und viel konstruktive Kritik an meinem Artikel danke ich Christiane Bainski, die als eine der Betroffenen in dem im Artikel erwähnten nordrhein-westfälischen Arbeitskreis mitgewirkt hat.)