Displaced Forever?

Einige Grundlagen und Ergebnisse der Displaced Persons-Forschung

„He also told how some of them ‘had wandered home from the D.P. camps,’ only to come back to another camp, for ‘home’ was, for instance, a small Polish town where of six thousand former Jewish inhabitants fifteen had survived, and where four of these survivors had been murdered upon their return by the Poles.” (Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem – A Report on the Banality of Evil, zitiert nach der erweiterten Ausgabe von 1963)

Subjekt der zitierten Sätze ist Aharon Yoter-Hishai, ein israelischer Anwalt, zuvor Kämpfer in Gruppen palästinensischer Juden, die sich später der Achten Britischen Armee anschlossen. Er war schließlich zuständig für die Koordination der Suche nach überlebenden Juden*Jüdinnen in Europa und der Organisation der damals noch illegalen Immigration nach Palästina. Er war Zeuge im Eichmann-Prozess. Viele Juden*Jüdinnen konnten nach der Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht mehr in ihre Heimat zurück. Viele lebten vorübergehend als „Displaced Persons“ in an Lager erinnernden Anlagen. Viele fanden einen neuen Wohnort, manche in Israel, manche an anderen Orten. So einzigartig die Shoah war, so prägen Diskriminierung, Ausgrenzung, Bedrohung, Pogrome, Verfolgung und Vertreibung, das Leben in einer Diaspora, das Leben als „Displaced Person“ die jüdische Geschichte. „Displacement“ darf jedoch mehr oder weniger als Grunderfahrung im langen 20. Jahrhundert bezeichnet werden. Opfer sind nicht nur Jüdinnen und Juden.

Das lange Jahrhundert der Zwangsmigration

Vertreibungen und Umsiedlungen gab es schon nach dem Ersten Weltkrieg, beispielsweise in Folge des Vertrags von Lausanne im Jahr 1923 mit dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der etwa zwei Millionen Menschen betraf, nach 1945 in Folge der Westverschiebung der Grenzen gemäß der Konferenzen von Jalta und Potsdam für Menschen aus Ostpolen, von denen viele in die ehemaligen deutschen Ostgebiete umsiedelten, während die dort lebenden Deutschen sich westlich von Oder und Lausitzer Neiße eine neue Heimat suchen mussten. Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler – das waren die deutschen Versionen der Begriffe, mit denen sie in den Aufnahmeländern bezeichnet wurden. Willkommen waren sie nicht.

Niemand flüchtet freiwillig, niemand verlässt seine Heimat freiwillig, manche verlassen sie ohne jede Perspektive, manche machen sich Illusionen über vielleicht doch erreichbare zumindest scheinbar gelobte Länder. Beispielhaft nenne ich zwei Berichte über den langen Weg aus dem subsaharischen Afrika nach Europa. Einen Bericht über die Routen von Westafrika nach Europa bietet Fabrizio Gatti. Die deutsche Ausgabe seines Buches „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ erschien im Jahr 2008 im Münchner Verlag Antje Kunstmann. Die italienische Originalausgabe trägt den Titel „Bilal – Viaggiare, Morire, Lavorare da Clandestini“ und benennt in den drei Verben des Untertitels (deutsch: „Reisen, Sterben, Arbeiten“) die drei Möglichkeiten von Menschen, die in Räume aufbrechen, in denen sie als Rechtlose gelten und auch so behandelt werden. Fabrizio Gatti berichtet über die Stationen des Weges bis nach Lampedusa und auf italienische Tomatenplantagen, die er zum Teil im Selbstversuch als Kurde Bilal überwunden hat. Auf dem Weg nach Norden bleiben überladene LKW’s in der Wüste liegen, es gibt Push-Backs, Versklavungen und Zwangsarbeit, Folter durch staatliche und halbstaatliche Milizen, Bedrohungen durch Terrorgruppen, Entführungen, Geschäftemacher. Ein Knotenpunkt ist Agadir im Niger. In Libyen herrschte damals noch Muammar al-Gaddafi, den der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi wegen seiner Bereitschaft, Flüchtende zurückzuhalten und zurückzuschicken, einen „polo della libertà“, einen „Pfeiler der Freiheit“, nannte.

Ebenso lesenswert ist der Bericht „Mein Weg vom Kongo nach Europa – Zwischen Widerstand, Flucht und Exil“ von Emmanuel Mbolela (mandelbaum verlag 2014) über seinen eigenen Weg nach Europa. Er kam in den Niederlanden an, der Preis, den er zahlen musste, war Einsamkeit und Isolation, ihm half sein politisches Engagement, aber viele andere blieben im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. Wer nach Lektüre dieser Bücher noch verächtlich von „Wirtschaftsflüchtlingen“ spricht, hat nichts aber auch gar nichts verstanden. Im Grunde ist jede Flucht erzwungene Migration, mehr oder weniger organisierte Vertreibung, unabhängig von den jeweiligen Fluchtgründen oder der Art und Weise, in der die Vertreibung geschieht, mitunter bedingt durch Schikanen im Alltag, mitunter durch physische Gewalt, mitunter durch die bloße Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.

Manche Historiker*innen sprechen vom langen 19. Jahrhundert, das mit dem Ersten Weltkrieg endete und dem kurzen 20. Jahrhundert, das mit den Jahren 1989 bis 1991 geendet haben soll, in denen die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion und ihren westlichen Satellitenstaaten zusammenbrach. Betrachtet man jedoch die folgenden Kriege, die sich verschärfende Klimakrise, die trotz der in den Vereinten Nationen beschlossenen „Sustainable Development Goals“ (SDG) nach wie vor bestehenden und durch den Krieg um die Ukraine wieder verschärfenden Hungerkrisen, ließe sich von einem langen 20 Jahrhundert der unfreiwilligen Migration sprechen, das nach wie vor andauert. Menschen flüchten vor militärischer Gewalt, ausgeübt durch reguläre Truppen, Milizen, Terrororganisationen. Einen Unterschied zwischen kämpfenden Truppen und Zivilbevölkerung gibt es trotz Genfer Konvention und anderen internationalen Abkommen nur noch in Ausnahmefällen. Terror gegen die Zivilbevölkerung, Verschleppung, Erschießungen, Vergewaltigungen, Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen, Feldern – all das ist Teil der Kriegsstrategie der Aggressoren, nicht nur in der Ukraine. Opfer von Militär und Milizen sind nicht nur Menschen in benachbarten Ländern, sondern oft auch Menschen im eigenen Land, beispielsweise in Äthiopien, in Myanmar, in Syrien.

Die Zahl derjenigen, die ihre Heimat verlassen mussten, stieg auch in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts. Der im Juni 2022 veröffentlichte Weltflüchtlingsbericht der Vereinten Nationen mit dem Titel „Forced Displacement in 2021“ zählte über 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Die ZEIT veröffentlichte am 23. Juni 2022 eine Infographik, die die Fluchten aus und in der Ukraine einbezieht, die der Weltflüchtlingsbericht 2021 noch nicht berücksichtigen konnte. 7,2 Millionen Menschen flohen aus der Ukraine, 6,8 Millionen aus Syrien, 4,6 Millionen aus Venezuela. Es folgen Afghanistan und der Südsudan. Mehr als die Hälfte aller Flüchtenden gelten als Binnenvertriebene, bleiben also in ihrem eigenen Land. 8,2 Millionen Binnenvertriebene leben in Kolumbien, 7,1 Millionen in der Ukraine, 6,7 Millionen in Syrien, es folgen die Demokratische Republik Kongo und Jemen. Hauptaufnahmeländer sind die Türkei mit 3,8 Millionen Menschen, Kolumbien mit 1,8 Millionen, Uganda und Pakistan mit jeweils 1,5 Millionen. Nach Deutschland kamen bisher 1,3 Millionen.

83 Prozent der Flüchtenden bleiben vorerst in Ländern mit niedrigem Durchschnittseinkommen, 72 Prozent der Flüchtenden leben in den jeweiligen Nachbarländern, 42 Prozent sind unter 18 Jahre alt. 40 Prozent der Flüchtenden leben in Ländern mit Nahrungskrisen, etwa jede*r vierte*r, 23,7 Millionen, flohen vor Umweltkatastrophen und Folgen der Klimakrise. 69 Prozent der Geflüchteten flüchteten im Jahr 2021 aus fünf Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan, Myanmar.

Interessant ist das Verhältnis der Zahl von Geflüchteten zur Zahl der Einwohner*innen eines Landes. Die Aruba-Insel in den Kleinen Antillen, Teil des Königsreichs der Niederlande, hat ein Verhältnis von 1:6, der Libanon von 1:8, Curaçao von 1:10 und Jordanien von 1:14. Es gibt auch Pendelbewegungen, beispielsweise zurück in für sicher erachtete Zonen des Herkunftslandes, so in der Ukraine nach Schätzungen bisher im Umfang von 2,3 Millionen Menschen, aber auch zurück in andere Länder, mitunter durch Abschiebungen aus Aufnahmeländern oder auch aus Enttäuschung über die Behandlung durch Aufnahmebehörden. Hinzu kommen sogenannte „Push-Backs“ und Lager, in denen Flüchtende festhängen. Das bekannteste Lager in Europa ist vielleicht das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, durch die Presse gingen die menschenunwürdigen Zustände in diesem Lager ebenso wie die kleinkarierten Streitereien diverser EU-Mitgliedstaaten um kleinste Aufnahmezahlen.

Ein Szenario für das Ende des 21. Jahrhunderts

Die Zahl von 100 Millionen wird steigen. Parag Khanna hat in seinem Buch „Move“ (die deutsche Übersetzung erschien 2021 in Berlin bei Rowohlt) ein Szenario für zukünftige Migrationsbewegungen für den nicht unwahrscheinlichen Fall einer durchschnittlichen Erwärmung der Erdtemperatur um 4 Grad Celsius vorgelegt. Eine doppelseitige Karte in der Mitte des Buches enthält die wesentlichen Informationen: „Die meisten Gletscher der Himalaya-Region sind geschmolzen, mit Folgen für die vielen großen Ströme. Bangladesch ist weitgehend verlassen, auch der Süden Indiens, Pakistan und Afghanistan, Isolierte Gemeinschaften halten sich in Nischen.“ Ähnliches geschieht in Afrika, in Südchina, in Südeuropa, im Südwesten der USA, in der Amazonas-Region. Dichte Hochhausstädte in Skandinavien, Großbritannien, Nordrussland, Grönland, Neuseeland und der westlichen Antarktis haben Menschen aufgenommen, die ihre unbewohnbar gewordenen Länder verlassen mussten. Polynesien liegt unter dem Meeresspiegel. Kanada und Sibirien werden zu fruchtbaren Agrarregionen, rund um das Mittelmeer und im Norden der Karibik entstehen riesige Solarparks zur Energieerzeugung.“ Auch in der sogenannten westlichen Welt gibt es Gewinner und Verlierer: „Kanada wird sich zu einem der Hauptgewinner des Klimawandels entwickeln (soweit man hier überhaupt von ‚Gewinnern‘ sprechen kann), während Australien einer der Verlierer sein wird.“

Parag Khanna verfolgt seine Szenarien in 15 Kapiteln. Er beginnt mit der These „Mobilität ist Schicksal“ und endet mit der durchaus optimistisch wirkenden Vision einer „Zivilisation 3.0“. „Die Städte werden physisch und politisch modernisiert werden müssen, um den Bedürfnissen der Jugend gerecht zu werden: erschwinglicher Wohnraum, günstiger Nahverkehr, begrünte Bereiche und ein liberaler Lebensstil.“ Die Zukunft, das wären „Mehrfamiliengemeinschaften“, eine Welt „des digitalen Kommunitarismus“. Es könnte durchaus gelingen, die Menschen, die ihre Länder wegen der unerträglich gewordenen klimatischen Bedingungen verlassen müssen, zu ernähren und ihnen Wohnraum zu geben. Entscheiden werden die Aufnahmestaaten, von denen viele jedoch zumindest zunächst nicht die Chance erkennen werden, wie sie von Migrant*innen profitieren könnten. Um von Migration zu profitieren, müssen die Staaten ihre „massiven demographischen Ungleichgewichte in den Griff (…) bekommen“.

China ist ein Land, das dringend „mehr Menschen“ braucht, „und zwar schnell“. Dies hängt mit der Überalterung in Folge der lange geltenden Ein-Kind-Politik zusammen, Altenpflege wird bereits jetzt ein zentraler Sektor. China regelt diesen Bedarf mit einem „massiven Import von Frauen“ aus Nachbarstaaten, auch als Bräute. „Ob sie nun eigene Kinder haben werden oder nicht, ihre Hauptaufgabe wird es sein, sich um die Eltern des Gatten zu kümmern.“ China hat darüber hinaus einen enormen Trinkwassermangel und daher kein Interesse, das im Himalaya vorrätige Wasser zu teilen. Konflikte sind die Folge. Parag Khanna denkt solche und andere Szenarien für fast jedes Land des Planeten bis zum bitteren Ende. Sicherlich gibt es eine Fülle von technologischen Lösungen, aber letztlich steht und fällt alles mit der Frage nach der Akzeptanz von Migration. Geht beispielsweise ein Land – wie Nigeria – gegen Schlepperbanden vor, verlieren diese ihre Existenzgrundlage und machen sich selbst auch auf die Reise nach Norden. Die Akzeptanz im Norden dürfte weiter sinken. Der angesprochene Optimismus des Kapitels „Zivilisation 3.0“ wird durch solche Prognosen geradezu konterkariert.

Wahrscheinlich sind Unruhen, die einen wirksamen Umgang mit dem Klimawandel be- oder sogar verhindern werden, vor allem dort, wo viele junge Menschen leben. „Wohl keine zwei Faktoren kündigen eindeutiger zivile Unruhen an als eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine hohe Ungleichheit; beide zusammen – und dazu etliche Waffen – ergeben ein Pulverfass. Junge arabische Dschihadisten, europäische Neonazi-Milizen, russische Söldner, brasilianische Straßenbanden in den Favelas, mexikanische Drogendealer, afrikanische Rebellengruppen – sie alle setzen sich aus Männern und Jungs der Millennials und der Generation Z zusammen, die nichts Besseres zu tun haben.“

Es wird nicht weniger Migration geben, sondern mehr, weitere Staaten werden zerfallen, manche Regionen werden unbewohnbar. Dem ließe sich – so Parag Khanna – durchaus entgegenwirken. Erforderlich wären beispielsweise „3D-gedruckte Wohnanlagen“, „mobile Krankenstationen“, „Arbeitsplätze im Ausbau der Infrastruktur, in urbaner Landwirtschaft oder zur Installation von Solarpanelen“: „In den kommenden zehn Jahren werden wir entweder erleben, dass solche Innovationen erheblich ausgeweitet werden, oder es wird zu massenhaften Revolten gegen Marginalisierung und Unterdrückung kommen. Es gibt noch ein drittes Szenario: der Massenexodus, wenn Millionen von Menschen in Städte fliehen, die näher an Rohstoffvorkommen und in höheren Lagen liegen. Welches Szenario wird eintreten? Alle drei.“

Politiker*innen werden national und international Antworten geben müssen, möglichst abgestimmt, so schwer das ist. Letztlich geht es um die Frage, wann und wie – im Sinne des Essays von Hannah Arendt „We Refugees“ aus dem Jahr 1943 – Flüchtende, Geflüchtete zu integrierten Einwanderern werden könnten: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ‚Neuankömmlinge‘ oder ‚Einwanderer‘. Unsere Nachrichtenblätter sind Zeitungen für ‚Amerikaner deutscher Sprache‘; und soweit ich weiß, gibt es bis heute keinen Club, dessen Name darauf hinweist, dass seine Mitglieder von Hitler verfolgt wurden, also Flüchtlinge sind.“ (zitiert nach der Übersetzung von Elke Geisel, u.a. verfügbar in der 2016 bei Reclam in der Reihe „Was bedeutet das alles?“ erschienenen Ausgabe.)

Nur am Rande: es ließe sich durchaus über die unterschiedlichen Konnotationen des deutschen und des englischen Begriffs nachdenken. Während „Refugees“ eher das Ziel der Reise zu benennen scheint, in dem Zuflucht gesucht wird, verweist „Flüchtlinge“ eher auf die Herkunft. Beide Begriffe bezeichnen jedoch einen vorübergehenden Zustand oder wenn man möchte einen Prozess, von dem die Betroffenen noch nicht wissen, ob er tatsächlich ein Ende finden wird. Und um diese Frage geht es: gibt es irgendwann und irgendwo einen Zustand, in dem Menschen, die ein Land verlassen haben, davon sprechen können, sie seien angekommen?

Forschungsergebnisse aus Deutschland und Österreich

Warum verhalten sich Zugewanderte so wie sie sich verhalten? Warum gibt es unter ihnen Frustrierte, Kriminelle, Prostituierte, vereinsamte und verunsicherte Menschen? Warum sind Aufnahmegesellschaften so wenig aufnahmebereit? Was geschieht in der Psyche eines Menschen, der seine Heimat verloren hat, der vertrieben wurde und große Schwierigkeiten hat, eine Perspektive für die Zukunft zu finden? All diese Fragen beschäftigen die DP-Forschung, die ich als einen Zweig der Migrationsforschung sehe, der gleichzeitig ein Zweig von Friedens-, Gewalt- und Konfliktforschung sein müsste.

Nikolaus Hagen, Markus Nesselrodt, Philipp Strobl und Marcus Velke-Schmidt sind die Herausgeber des Buches „Displaced Persons-Forschung in Deutschland und Österreich – Eine Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, das 2022 im Berliner Verlag Frank & Timme erschien. 17 Autor*innen befassen sich in 15 Beiträgen, die in zwei Tagungen entstanden sind, die im Jahr 2018 in Frankfurt an der Oder und in Innsbruck stattfanden. Thema war die Frage, „in welche Richtung sich die DP-Forschung zukünftig entwickeln könnte und sollte“. Das Buch ist mehr als ein Beitrag zur DP-Forschung, es geht letztlich um Migrationsforschung im weitesten Sinne, auch um mehr oder weniger bewusste Hierarchien in Migrationsbewegungen und Migrationsforschung. Im Vorwort schreiben die Herausgeber, dass der Band „die räumlichen Grenzen der DP-Lager und die Fixierung der bisherigen Forschung auf die unmittelbare Nachkriegszeit sprengt und stattdessen vermehrt transnationale, integrierte und auf Langzeitauswirkungen ausgerichtete Fragestellungen verfolgt.“

Das Buch enthält theoretische Beiträge mit einem Überblick über die bisherige Forschung in Deutschland und in Österreich sowie mehrere Fallstudien zu estnischen Diaspora-Gruppen in Argentinien, jüdischen Waisen in Kanada, Pol*innen in Afrika, Ukrainer*innen und Tschech*innen in der Nachkriegszeit, zu Nicht-Regierungsorganisationen wie der Friends Ambulance Unit (FAU) in Ägypten, Italien und Österreich, der Rolle der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) bis zu deren Auflösung sowie zu diversen Lagern wie dem Kloster St. Ottilien und dem „Regierungslager für heimatlose Ausländer Grafenaschau“, deren Selbstorganisation, der Suche Simon Wiesenthals nach NS-Verbrecher*innen über jüdische DP’s. Es geht nicht nur um temporäre Lager, sondern auch um langfristige Perspektiven und Folgen. Das Buch enthält deutschsprachige und englischsprachige Texte. Jeder Text enthält ein kurzes Fazit sowie ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis. Leider zu kurz kommen feministische Sichtweisen, Kinder werden als Waisen beziehungsweise unbegleitete Vertriebene in mehreren Texten gewürdigt.

Martin Nesselrodt und Marcus Velke-Schmidt beschreiben in ihrem Beitrag zur deutschen Forschung, wie in der politischen Praxis aus „Displaced Persons“ relativ schnell „heimatlose Ausländer“ wurden, durchaus ein Zeichen des Unwillens der aufnehmenden Bevölkerung. „Doch integrierte Geschichten, die die Beziehungen der verschiedenen in Deutschland und Österreich lebend einheimischen und zugewanderten Bevölkerungsgruppen untersuchen, bilden bislang noch die Ausnahme.“ Es geht auch um mehr als einen „transitorischen Aufenthalt“, es geht um Grenzüberschreitung, um „Transnationalität“, die durch den Aufenthalt in einer DP-Einrichtung entsteht. Die beiden Autoren verstehen in diesem Zusammenhang Hannah Arendts „We Refugees“ als einen Text, der „das Flüchtlingsschicksal (sic!), sei es 1943, 1946 oder 2015“ bestimme. Hannah Arendts Worte „zeigen damit nicht zuletzt, dass die Geschichte der Displaced Persons keine exotische Nachkriegsgeschichte ist, sondern sich in die globale Geschichte der Migration im 20. Jahrhundert einschreibt“.

Nikolaus Hagen und Philipp Strobl sind die Autoren des zweiten theoretischen Beitrags, dieser mit Bezug auf Österreich, aber durchaus auch auf die deutsche Situation wie auch auf andere Kontexte übertragbar. Sie fordern „einen Perspektivwechsel“: „Der Zugang, den wir in diesem Beitrag skizzieren, soll dazu beitragen, DP’s und Flüchtlinge als gestaltende Akteurinnen und Akteure im Formierungsprozess der österreichischen Nachkriegsgesellschaft zu erkennen sowie die österreichische Zeitgeschichte vermehrt als transnationales und transkulturelles Phänomen zu verstehen.“ Die beiden Autoren weisen darauf hin, dass  Österreich im Jahr 1945 eines der Länder mit der höchsten Zahl von DP’s war und sich nach einem Bericht des Innenministeriums von 1964 damals 1,65 Millionen DP’s in Österreich aufhielten, bei etwa 6 Millionen Einwohner*innen. Das waren „27,5 Prozent der Gesamtbevölkerung“, ein Verhältnis von etwa 1:4. Die Forschungslage sei gleichwohl sehr bescheiden, die am besten erforschte Gruppe seien die jüdischen DP’s, Österreich gelte weitgehend als „Transitland“, welche Unterschiede es zwischen verschiedenen DP-Gruppen gebe, sei weitgehend unerforscht. „Der Blick auf migrantische Biografien kann uns aber dabei helfen, jene Transformationen zu beleuchten, die stattfanden, nachdem Wissensbestände nationalstaatliche Grenzen zu beleuchten, die stattfanden, nachdem Wissensbestände nationalstaatliche Grenzen passierten und von einem Kontext in einen anderen übertragen wurden.“

Psychologische und psychiatrische Aufarbeitung

In diesem Kontext wird die Frage bedeutsam, ob Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, jemals ankommen können, und welche Langzeitwirkungen die Zeit des Verlassens, der Flucht, des Displacements hat. Ein methodisches Vorbild wäre vielleicht die Studie von Marie Jahoda, Paul F.Lazarsfeld und Hans Zeisel „Die Arbeitslosen von Marienthal – Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit“ aus dem Jahr 1933 (in Leipzig bei Hirzel erschienen, es gibt mehrere Neuauflagen, u.a. 1975 bei Suhrkamp).

Zu Überlebenden der Shoah gibt es zahlreiche Studien, die auch die Auswirkungen in der zweiten oder dritten Generation untersuchen. Wegweisend waren beispielsweise die Fallstudien, die Gabriele Rosenthal in dem von ihr herausgegebenen Band „Der Holocaust im Leben von drei Generationen – Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern“ (Psychosozial-Verlag 1997) veröffentlicht hat. Diese Fallstudien belegen die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Aufarbeitung und Aufarbeitbarkeit des Shoah für jeden einzelnen betroffenen Menschen. Eine zentrale Bedeutung hat das intergenerationell wirkende Schuldgefühl von Überlebenden: „Die Ermordung der Eltern ist bis heute ein zentraler Bestandteil der Familiendynamik. Im Raum steht unausgesprochen die mit Selbstvorwürfen verknüpfte Frage, weshalb man die Eltern nicht retten konnte.“ Ebenso gehört zum Selbstbild der Generationen der Kinder und Enkel*innen „der Familienmythos vom heldenhaften Kampf gegen die Nazis“, der mitunter durch eine andere Erfahrung gebrochen werden kann. So „sind die männlichen Israelis im Unterschied zu den Nachgeborenen in Deutschland mit ihrer eigenen Rolle als Soldat konfrontiert. Insbesondere der Krieg im Libanon und die israelische Politik in den besetzten Gebieten führten bei den Söhnen und viel stärker noch bei den Enkeln von Überlebenden zu der leidvollen Frage, inwiefern sie selbst zu ‚Tätern‘ werden könnten oder werden mussten.“ Ein gefährlicher Selbst-Vergleich, der nicht gleichsetzt, aber eine große Verunsicherung belegt und zeigt, wie sehr die Shoah auch in der zweiten und dritten Generation durchweg der entscheidende Bezugspunkt des eigenen Selbstbildes ist und ein im Grunde ständiges Gefühl generiert, immer am falschen Ort zu sein.

Stella Maria Freis Beitrag zu „Displaced Persons-Forschung in Deutschland und Österreich“ thematisiert die Pionierfunktion der britischen Militärpsychiatrie. Ihr Thema ist der „Psychosocial Rehabilitation Approach“ der UNRRA. Ausgangspunkt war die Intention der Nazis, jede soziale Beziehung zu zerstören, um alle Menschen auf eine einzige Person einzuschwören: „Nazi strategy was identified as forcing the demise of families and the destruction of the private sphere and the individual in order to enable attachment to the Führer.” Stella Maria Frei beruft sich auf einen Text von Erika Mann aus dem Jahr 1938 („School vor Barbarians – Education under the Nazis“, London 1939). Entsprechend mussten Familienstrukturen wieder hergestellt werden. Eine möglichst familiäre Atmosphäre in den DP-Lagern gehörte zur von den Sozialarbeiter*innen der UNRRA angewandten Therapie. Allerdings war dieser Ansatz nicht unumstritten, denn aus den USA gab es auch Kritik an der UNRRA. Wolfgang Piereth benennt in seiner Fallstudie zum UNRRA Training Center für DPs in Bad Wiessee (Oberbayern) die Angst vor kommunistischen Umtrieben in den DP-Camps. Ähnliche Vorbehalte erlebte die „kleine, unabhängige und religiös geprägte Hilfsorganisation“ der Friends Ambulance Unit (FAU) aus Großbritannien, deren Arbeit Philipp Lehar beschreibt.

Hierarchien in der Diaspora

Mehrere Texte des Sammelbandes zur „Displaced-Persons-Forschung“ befassen sich mit längerfristigen Wirkungen. Alvar Jürgensen untersucht die Entwicklungen bei Menschen, die aus Estland nach Argentinien ausgewandert sind und dort eine Art „estnische Diaspora“ bildeten. Die erste Gruppe kam in den 1920er Jahren aus wirtschaftlichen Gründen. Ein Grund der Auswahl des Ziellandes Argentinien waren Einreisebeschränkungen in den USA, Argentinien war sozusagen zweite Wahl. Eine zweite Gruppe kam nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre. „I will show here how the attitude or the imaginary attitude to the native country Estonia has developed boundaries inside this diaspora community, causing groupings into old and new Estonians.”

Die erste Gruppe hatte schon begonnen sich in Argentinien wohlzufühlen. Viele heirateten, sie sprachen spanisch. Die in den 1920er Jahren eingewanderten Est*innen verhielten sich weniger als Est*innen denn als Argentinier*innen, die die Neuankömmlinge der später Zugewanderten kritisch beäugten. „The difference in the motives of migration sometimes caused tensions between the two groups of Estonians. (…) The refugees’ values were no doubt molded by the personal dramatic post-war experiences, but (…) they were also influenced by the essential homeland discourse developed in DP camps and exile journalism.” Es spielte keine Rolle, dass beide Gruppen aus demselben Land kamen. Die jeweilige Migrationsgeschichte prägte mit ihren Unterschieden das Verhältnis beider Gruppen zueinander und somit auch den Grad der Integration im Aufnahmeland.

Auswanderung aus wirtschaftlichen Gründen, Flucht vor Armut ist etwas anderes als Flucht vor Gewalt, Verfolgung und Krieg. Jochen Lingelbach schreibt über in Afrika gestrandete Pol*innen. Er betont: „Und während Europa heute ein Ziel Flüchtender ist, so war der Kontinent einst der Ort, aus dem Tausende flüchteten. Im afrikanischen Kontext wird deutlich, dass die Herkunft und soziale Kategorisierung von DPs – sowie von Geflüchteten und anderen von Zwangsmigration Betroffenen – einen entscheidenden Einfluss auf ihr Schicksal hat.“ Die Pol*innen in Afrika kamen vorwiegend aus dem nach dem 17. September 1939 sowjetisch besetzten Teil Polens. Sie waren auch Teil der polnischen Armee, die zunächst nach Übereinkünften zwischen Großbritannien, Sowjetunion und polnischer Exilregierung in den Iran verlegt wurden. Allerdings gehörten auch Zivilpersonen dazu. Die Briten sorgten schließlich dafür, dass sie nach Afrika kamen: „Viele der Polinnen und Polen in den iranischen Lagern hatten Angst vor einer Verlegung nach Afrika, konnten aber nichts dagegen tun. (…) Ab 1942 wurden sie sukzessive an die ostafrikanische Küste verschifft und anschließend mit Zügen oder Lastwagen auf die ihnen zugewiesenen Lager verteilt.“

Dies führte zu diversen Konflikten, „die Aufnahme jüdischer Geflüchteter aus Nazi-Deutschland traf in vielen Ländern auf antisemitisch motivierten Widerstand. Die katholischen Polinnen und Polen hatten in den britischen Kolonien als Europäerinnen und Europäer sowie als Angehörige einer strategisch wichtigen Armee eine privilegierte Position.“ Andererseits: „Viele Kolonialbeamte hatten ebenfalls Sorge, dass die Polinnen und Polen ein sorgsam konstruiertes Bild weißer Überlegenheit gefährdeten. Ebenso wie frühere ‚arme Weiße‘ wurden sie als eine problematische Gruppe betrachtet, die potentiell die gesellschaftliche Trennung und Hierarchisierung von weiß und Schwarz gefährdete.“ Sehr aufschlussreich ist eine Äußerung des damaligen südrhodesischen Innenministers, die Jochen Lingelbach zitiert: „It is absolutely essential from a social point of view that the social difference between black and white should be maintained and that there should be no cohabitation between the two races.” 1951 wurden die afrikanischen Lager geschlossen.

Im Grunde waren die Pol*innen in Afrika Opfer einer Kette von Zwangsmigrationen, die Flucht aus dem vom Deutschen Reich und von der Sowjetunion besetzten Polen, die Rekrutierung als Bündnispartner durch die britischen Behörden, damit einhergehend die Verschickung über zwei Kontinente außerhalb Europas, sowie die schließlich folgende Organisation einer Rückkehr, die viele gar nicht mehr wünschten. Es war den Pol*innen in Afrika weitgehend gelungen, so etwas wie eine eigene Verwaltung aufzubauen und sogar Spenden für Pol*innen in europäischen Lagern zu sammeln, aber letztlich hatten sie keine Chance zu bleiben: „Sie wurden ungefragt über den Globus verschoben, von der britischen Siedlergemeinschaft argwöhnisch betrachtet und profitierten doch auch von der kolonialen Gesellschaftsordnung.“ Die britische Kolonialverwaltung beruhte auf einer Hierarchie, an deren Ende die örtliche Schwarze Bevölkerung stand. Vom Standpunkt der rassistischen Ideologie der Kolonialverwaltung standen die Pol*innen über der Schwarzen Bevölkerung, vom Standpunkt der sozialen Verhältnisse war dies nicht ganz so eindeutig.

Nation Building im DP-Lager

Es ist nach wie vor gängige Praxis, Menschen aus unterschiedlichen Ländern, verschiedener Ethnien, Religionen und Kulturen, in den Ländern, die landläufig mehr oder weniger motiviert als Aufnahmeländer firmieren, in einer gemeinsamen Einrichtung unterzubringen und dort über eine längere Zeit festzuhalten. Ob diese Menschen sich – selbst wenn sie aus demselben Land kommen – miteinander vertragen, welche Konflikte sie in ihrem Herkunftsland erlebten, spielt dabei sicherlich eine Rolle. Konflikte entstehen gleichwohl aus der Situation des erzwungenen Miteinanders in einem begrenzten Raum auf unbestimmte Dauer. Diese Ausgangssituation bestimmte auch das Leben in den DP-Lagern.

Kateryna Kobchenko schreibt über ukrainische Displaced Persons. Die wechselvolle Geschichte der Regionen, die mal zu einem eigenständigen Staat mit dem Namen Ukraine gehörten, mal zu Polen, mal zur Sowjetunion, wirkt sich aus, es ist eine „Besonderheit der ukrainischen DP-Gemeinde, in der Angehörige der West- sowie der Ostgebiete der Ukraine zusammenkamen, die jahrhundertelang zu verschiedenen Staaten und Konfessionen (Griechisch-Katholische bzw. Orthodoxe Kirche) gehört hatten, und die unterschiedlichen politischen Erfahrungen mitbrachten. Die DP-Lager in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs wurden also zu einem ‚Schmelztiegel‘, in dem sich eine transnationale ukrainische Gemeinschaft zu formieren und ihre regionalen Unterschiede zu überwinden bemühte.“ Um jedoch „Frustration“, „Unsicherheit“ und „Heimweh“ entgegenzuwirken, widmeten sich „ukrainische DP’s (…) dem realen wie auch dem symbolischen Wiederaufbau einer ‚kleinen Ukraine‘ in den einzelnen Lagern.“ Dazu gehörte beispielsweise, dass die Bezeichnungen für die jeweiligen Regionen, so für Hessen und Bayern, ukrainisiert wurden.

Man verstand sich – Kateryna Kobchenko zitiert eine 1979 in Winnipeg (Kanada) erschienene Untersuchung von Ulas Samčuk – als „ein Volk auf Wanderung“, allerdings mit unterschiedlichen Vorstellungen, wer dieses „Volk“ sei. Dies zeigte sich beispielsweise in der Sprache: „Auch die regionalen Unterschiede der ukrainischen Sprache waren oft so groß, dass es klang, als ob ‚einer fast Russisch, der andere fast Polnisch oder Slowakisch spricht‘. Nicht immer wurden solche Unterschiede leicht und schnell überwunden, sondern führten zu gegenseitigem Misstrauen und Missverständnissen, vor allem im politischen Bereich, was Samčuk sogar zu der Schlussfolgerung brachte, dass ‚der ukrainische Osten und der ukrainische Westen immer noch Orient contra Okzident sind‘.“ Das Anliegen einer „Vereinigung des Volkes“ war zunächst mehr oder weniger das Projekt einer Elite, war aber durchaus erfolgreich. Eine wichtige Rolle spielten auch die ukrainischen Schulen in den Lagern. Kateryna Kobchenko berichtet, dass vor allem „Kriegskinder“ pathetische Worte für die Zeit in den Lagern finden.

Eine andere Community beschreibt Eva Wiecki. Sie beginnt ihre Fallstudie über das jüdische DP-Lager im Kloster St. Ottilien in der Nähe von München mit einem Zitat von Dan Diner: „Es mag anmuten, wie eine maßlose Übertreibung – aber so gesehen bahnte sich die unmittelbare Gründung des Staates Israel in Süddeutschland an.“ (Dan Diner, Elemente der Subjektwerdung – Jüdische DPs im historischen Kontext, in: Fritz Bauer Institut, Hg., Überlebt und unterwegs – Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main 1997). Eva Wiecki nennt die Instrumente: „Mythenbildung, symbolisch aufgeladenes Handeln, politische Initiativen sowie der Rekurs auf kulturelle und religiöse Traditionen des Judentums“.

Eine Schlüsselfigur und wichtige Quelle war Dr. Zalman Grinberg, der die Leitung des Krankenhauses in St. Ottilien übernahm und bereits am 31. Mai 1945 vor dem Jüdischen Weltkongress in Genf berichtete: „Die Belegung des Krankenhauses teilte sich in Grinbergs Augen in zwei ‚nationale‘ Abteilungen, die für die jüdischen Überlebenden und jene für die deutschen Soldaten. Zweitens sprach er seiner Tätigkeit und der Versorgung der Displaced Persons eine politische Dimension zu, indem er ihren Status als politisch (und nicht rassisch) verfolgt bezeichnete. Aus den Erfahrungen in verschiedenen Konzentrationslagern wusste man, dass politische Häftlinge – als Menschen, die für ihr Handeln und politischen Widerstand bestraft wurden – ein höheres Ansehen genossen.“ Am 25. Juli 1945 fand in St. Ottilien eine Konferenz jüdischer DPs statt, an der DPs auch aus anderen Besatzungszonen teilnahmen. „Ihr Stellenwert zeigte sich auch daran, dass an diesem Treffen auch Vertreter der Jüdischen Brigade teilnahmen.“ Die Nutzung des Geländes war konfliktreich. Eva Wiecki berichtet, dass sich die jüdischen DPs behaupteten und gegenüber den katholischen Ordensbrüdern durchsetzten. „Es ist in der Forschung bereits darauf hingewiesen worden, dass der Grad an Selbstorganisation in baltischen und in jüdischen DP-Lagern besonders hoch war.“

Transition

Roland Lory beschreibt in seiner Fallstudie zum „Regierungslager für heimatlose Ausländer Grafenaschau“ in der Nähe von Murnau (Oberbayern) eine ausgesprochen konfliktreiche Lage. Dort lebten im Jahr 1951 550 Personen aus 16 Ländern, vor allem Pol*innen, Ukrainer*innen und Russ*innen, etwa 10 % waren Staatenlose. Nicht alle waren Verfolgte, zu den Kollaborateuren der Nazis gehörte der lettische General Oskars Dankers. Es gab eine Fülle von Konflikten, Petitionen, Protesten. Gegenstand waren die Ernährungssituation, die Versorgung mit Kleidung, die Beschulung (im Lager oder in Murnau), der marode Zustand der Baracken. Eine weitere Folge war DP-Kriminalität, wie sie auch „in der Forschung so häufig beschrieben wird.“

Martin Nekola dokumentiert in seiner Fallstudie über „Tschechinnen und Tschechen in den Flüchtlingslagern in Österreich nach dem Jahr 1948“ beispielsweise, was geschieht, wenn Menschen, die ihre Heimat verloren haben, nicht arbeiten dürfen, Kinder nicht die Schule besuchen dürfen. Er konstatiert eine „demoralisierende Untätigkeit“. Das österreichische Innenministerium sicherte zwar noch Ende 1949 Zuschüsse für „die Betreuung Geflüchteter“, erließ aber Anfang 1950 ein „Verbot, Flüchtlinge zu beschäftigen“. Die unsichere Situation der aus der Tschechoslowakei Geflüchteten kam hinzu. Eine Rückkehr erwies sich angesichts der Stabilisierung der kommunistischen Herrschaft als ausgeschlossen.

Dies betraf nicht nur einzelne Länder, sondern war – wie Martin Nekola schreibt – gängige Erfahrung, auch in südamerikanischen Ländern, in Australien, in Neuseeland, in Großbritannien, in den USA. Besonders restriktiv waren die USA: „Die Wartezeiten für Visa betrugen nicht selten bis zu acht Jahre.“ Erforderlich war ein Affidavit, eine Erklärung über die Kostenübernahme durch eine*n amerikanische*n Bürger*in. Und wer ankam hatte weitere Wartezeiten zu ertragen: „Der Administrationsprozess konnte sich über Monate und Jahre hinziehen und jedes Land stellte eigene Bedingungen. DPs mussten vor allem strenge Gesundheitsuntersuchungen durchlaufen. Einige Länder nahmen nur junge und ledige Menschen auf, andere Staaten bevorzugten Familien, anderswo wurden nur Menschen unter 50 Jahren akzeptiert oder es war nötig, eine langjährige Verpflichtung im Bauwesen, Bergbau, Forst- oder Landwirtschaft einzugehen, was mit einem schmerzvollen Abschied von der Familie, Mindestlohn, dem Risiko von Verletzungen und tropischen Krankheiten Hand in Hand gehen konnte.“

Konflikte betreffen jedoch nicht nur die Lage in den Lagern, sondern auch die Frage der Erinnerung. Jana Kasíková befasst sich mit Tschechoslowakischen DPs in der „medialen Kommunikation“. Gegenstand ihres Beitrags sind die Rolle des Radios und der Ministerien. Sie stellt fest, „dass in den Nachkriegsmedien hauptsächlich die Schicksale von KZ-Häftlingen präsentiert werden“. Dies ist ein Aspekt der Auswahl, aber es werden – wie auch in anderen Staaten des ehemaligen sogenannten „Ostblocks“ – „vor allem politische Häftlinge hervorgehoben“. „Praktisch negiert wurde die Rückkehr von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern“, offenkundig Menschen, denen man nicht traute und die oft genug der Kollaboration bezichtigt wurden. Eine weitere Gruppe, die nicht immer statistisch erfasst wurde, sind Jüdinnen*Juden, allerdings gab es für diese Gruppe im Unterschied zu tschechoslowakischen Deutschen Genehmigungen für „die Ausreise aus der Tschechoslowakei (…), die nach dem Krieg sonst nur begrenzt möglich war.“

René Bienert referiert „Simon Wiesenthals frühe Suche nach NS-Verbrecherinnen und NS-Verbrechern als Überlebendeninitiative“. „Es galt, wie Wiesenthal formulierte, ‚hier im österreichischen Wartesaal die Zeit auszunützen‘, und die Überlebenden in den DP-Camps als Zeuginnen und Zeugen zu gewinnen, bevor sie Österreich verlassen und in alle Welt auswandern würden.“ Tom Segev hat diese Phase im Leben Simon Wiesenthals in seiner Biographie (München 2010) beschrieben. Simon Wiesenthal war durchaus erfolgreich: „Es waren jüdische DPs, die hier gleichermaßen in einer Übergangszeit und in einem Provisorium agierten und dabei individuell wie kollektiv durch das Sammeln von Beweisen das Gewinnen und Vermitteln von Zeuginnen und Zeugen und ihrer Aussagen einen Beitrag zur Ahndung von NS-Verbrechen leisteten.“ René Bienert spricht von einem Beitrag zu dem, was wir „heute unter Transitional Justice“ verstehen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: alle Zugriffe im Internet zuletzt am 1. Juli 2022.)