Empathische Distanz

In Memoriam Joan Didion (5.12.1934 – 23.12.2021)

„I was not going to Honolulu because I wanted to see life reduced to a short story. I was going to Honolulu because I wanted to see life expanded to a novel, and I still do.” (Joan Didion, In the Islands, in: The White Album)

In der amerikanischen Literatur gibt es Kunstformen, die in ihrer Dichte durch Struktur und Wortschatz der englischen Sprache begünstigt werden. Dies gilt für die Short Story und den Essay, aber auch für die vielen kurzen Texte, die renommierte Autor*innen in diversen Zeitschriften veröffentlichten, die nicht als Fachzeitschriften gelten. Für solche Texte gibt es in der deutschen Sprache kein passendes Wort, abgesehen davon, dass kaum jemand auf die Idee käme, einen intellektuell anspruchsvollen Text in populären Magazinen und Illustrierten zu veröffentlichen.

Ich denke an Texte, die ebenso wie manche Short Story im Nirgendwo beginnen und im Nirgendwo enden. Dazwischen geschieht etwas oder es wird über Geschehenes oder Ungeschehenes oder auch über etwas, das geschehen sein könnte, nachgedacht und gesprochen. Diese Texte erscheinen als Skizzen, Zeichnungen, eher als Capriccio denn als Gemälde, als äußerst präzises Portrait, das bei den Leser*innen Assoziationen auslöst, es jedoch ihnen überlässt, Schlüsse zu ziehen oder vielleicht auch die Geschichte weiterzuerzählen – oder auch nicht.

Die Kunst des Portraits

Joan Didion war eine Künstlerin kurzer Texte, mit denen es ihr gelang, das Leben so einzufangen, dass aus wenigen Informationen die Ahnung ganzer Welten entstehen konnte. Manchmal wurden aus diesen Skizzen Romane oder Theaterstücke. Stil und ihre Arbeitsweise Joan Didions erkennen wir jedoch vielleicht am besten in ihren kurzen Texten, wie sie sie in so unterschiedlichen Magazinen wie der Vogue oder der New York Review of Books veröffentlichte.

Zur Einstimmung empfehle ich den Nachruf im Rolling Stone sowie den von ihrem Neffen Griffin Dunne erstellten Dokumentarfilm aus dem Jahr 2017 über und mit Joan Didion, Titel: „The Center Will Not Hold“. Der Film ist auf Netflix verfügbar. Zum näheren Kennenlernen, oder zum Wiederentdecken empfehle ich „The White Album“, das erstmals 1979 erschien und nicht zufällig an das gleichnamige Album der Beatles erinnert. Wenn es so etwas wie einen „Zeitgeist“ gibt, dann finden wir ihn in diesen beiden weißen Alben, irgendwo zwischen verwirrenden Schicksalen in einer von divers-diffusen Revolutionen träumenden Zeit.

Ich habe mich für dieses Buch entschieden, weil es meines Erachtens exemplarisch zeigt, wie Joan Didion arbeitete. Gleichzeitig bietet es Einblicke in die kalifornischen 1960er Jahre, die das, was wir vielleicht gelesen oder angeschaut haben, auf den Punkt bringen, im Grunde ein „Once Upon a Time in California“. Ich las es einmal wieder, als Quentin Tarantinos „Once Upon a Time in Hollywood“ in die Kinos brachte, und fing an etwas mehr zu verstehen, was geschah.

Joan Didion ist Chronistin, aber nicht im Sinne einer historischen Monographie. Sie ist Chronistin von Zeiten, über die wir viel weniger wissen als wir zu wissen glauben. Sie portraitierte die Zeit der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Zeit der politischen Morde – ich nenne nur einige wenige Namen: James Earl Chaney, Michael Schwerner, Andrew Goodman, an die der Film „Mississippi Burning“ aus dem Jahr 1988 erinnert, Malcolm X. Martin Luther King, John F. Kennedy, Robert F. Kennedy. Es war die Zeit der Rebellionen junger Menschen im Umfeld der Hochschulen in vielen Ländern, oft verbunden mit Protesten gegen den Vietnamkrieg, gegen Kolonialismus und Imperialismus. Und es war die Zeit eines Lebensexperiments, der Lebensform der Hippies, eine Zeit der Popularisierung einer sich als Jugendkultur gebenden Musik und von Drogen.

Weiße Rebellion

Die neue Lebensform der späten 1960er Jahre war eine Fantasie weißer Menschen. Sie unterschied sich grundlegend von jeder Schwarzen Fantasie dieser Zeit. Die weiße Fantasie wirkte zumindest auf den ersten Blick unpolitisch, auch wenn sich manche politisch motivierte Bewegung ihrer Ausdrucksweisen bediente. Sie verknüpfte Elemente der existenzialistischen Philosophie, der Lyrik Baudelaires und Rimbauds sowie tribalistische Projektionen eines angeblich natürlichen Lebens, wie es anthroposophische und religiöse Sekten propagierten. Populär wurden asiatische Religionen beziehungsweise das, was manche für asiatische Religionen hielten. Sie waren synkretistisch und eklektisch. Ein Traumland war Indien, nicht das reale Indien, sondern ein erträumtes Indien, so etwas wie ein erträumtes Xanadu.

Ein Kapitel von „The White Album“ hat die Überschrift: „Notes toward a Dreampolitik“. Das Kapitel enthält vier in den Jahren 1968 bis 1970 entstandene Texte. Im ersten Text geht es um Elder Robert J. Theobold, der überzeugt war, dass er seine Gemeinde vor einem Erdbeben retten müsse, indem er sie an einen anderen Ort führe. Joan Didion sprach mit ihm. Er erklärt ihr den Willen Gottes, der zu ihm gesprochen habe, und bietet ihr in einem Atemzug eine Dr.Pepper-Cola an. Joan Didion muss ihn nicht verstehen, sie beschreibt einfach was sie feststellt: „We might have been talking in different languages, Brother Theobold and I; it was as if I knew all the words but lacked the grammar, and so kept questioning him on points that seemed to him ineluctably clear.”

Im zweiten Text schreibt Joan Didion über Biker-Filme. Sie hatte sich Roger Corman’s „The Wild Angels” aus dem Jahr 1966 mit Peter Fonda in der Hauptrolle und anschließend mehrere weitere Filme dieser Art angeschaut. Sie bezeichnet diese Filme als „a kind of underground folk literature for adolescents“, in denen es immer nur um ein einziges Ziel gehe: „There is always that instant in which the outlaw leader stands revealed as existential hero.“ Filme für junge mehr oder weniger pubertierende Männer? Der Faschismus hat viele Gesichter. Das zeigt schon ein Schriftzug in der Eingangssequenz.

Im dritten Text portraitiert sie junge Frauen, deren Traum es ist, „movie star“ zu werden. Joan Didions Gesprächspartnerin Dallas sagt: „But being known. It’s important to me to be known.” Diesen Mädchen geht es um „good vibrations”, nicht um Politik. Nach diesem Gespräch denkt Joan Didion darüber nach, ob es in Hollywood so etwas wie eine zweite, eine unsichtbare Stadt gebe. „In the invisible city girls were still disappointed at not being chosen cheerleader. In the invisible city girls still got discovered at Schwab’s and later met their true loves at the Mocambo or the Troc, still dreamed of big houses by the ocean and carloads of presents by the Christmas tree, still prayed to be known.” Diese Mädchen denken ebenso wenig wie die Anhänger der Biker-Helden über existenzialistische Philosophie nach. Sie leben sie irgendwie und wer die Texte Joan Didions liest wird erkennen, wie sich Realität und Fiktion vermischen.

Der vierte Text zur „Dreampolitik“ lässt erahnen, was es für die Bewohner*innen der „invisible city“ bedeutet, ihre Träume nicht zu leben.

Stadt der Träume – Stadt des Horrors

Eine reale Person, die ihre Träume ständig veränderte und somit auch ihr Leben, war James Albert Pike (1913-1969). Er war ein Mann, der in seinem Leben seine Religionsgemeinschaft mehrfach wechselte, immerhin auch episkopaler Bischof wurde. Joan Didion vergleicht ihn mit fiktiven Charakteren, mit Gatsby, Dick Diver, Barry Lindon: „It is an American Adventure of Barry Lindon, this Westerner going East to seize his future, equipped with a mother’s love and with what passed in the makeshift moorage from which he came as a passion for knowledge.” Von Pikes dritter Frau Diane erfährt Joan Didion, dass er schon als Fünfjähriger das Wörterbuch und das Telefonbuch und als Zehnjähriger die ganze Encyclopaedia Britannica von vorne bis hinten gelesen habe. Das, was er las, war für ihn „the ‚entire history oft he human race …. in summary form.‘“ Mich erinnert er ein wenig an die Figur des „Zelig“, die Woody Allen im Jahr 1983 präsentierte. Der Text, in dem Joan Didion über James Pike schreibt, trägt die Überschrift „James Pike, American“. Seine Geschichte war eine Erfolgsgeschichte: „James Albert Pike was everywhere at the right time.“ Vielleicht ist das Leben von James Pike so etwas wie der wahre „American Dream“? Vielleicht.

Ein Traumreich war die Spahn Movie Ranch, in der Charles Manson und seine Anhänger*innen ihr Reich aufbauen wollten. Quentin Tarantino hat in „Once Upon a Time in Hollywood” dieser Ranch ein Denkmal gesetzt. Der Stuntman Cliff Booth (gespielt von Brad Pitt) hatte dort in Westernfilmen Rick Dalton (gespielt von Leonardo di Caprio) gedoublet. Jetzt führt ihn ein Hippie-Mädchen, Kampfname „Pussycat“ (gespielt von Margaret Qualley), fast schon wie eine der griechischen Mythologie entsprungene Seelenführerin auf die Ranch. Cliff trifft auf eine extremistische, gewalttätige Gruppe, viele junge Frauen, einige wenige Männer, auf als Liebe verkleideten Hass. Es ist eine „invisible city“, die die „visible city“ zerstören will.

Joan Didion hat Linda Kasabian (im Film gespielt von Maya Hawke), Kronzeugin gegen Charles Manson und die Mitglieder seiner Hippie-Kommune, die zu Mörder*innen geworden waren, im Prozess begleitet. Sie kaufte ihr das Kleid, das sie im Prozess trug. Linda Kasabian war die Fahrerin des Autos zum Cielo Drive. Der Film endet kontrafaktisch. Linda Kasabian flüchtet mit dem Auto, bevor ihre drei Komplicen nicht das Haus von Roman Polanski, sondern das Nachbarhaus, in dem Rick Dalton lebt, überfallen und dort ihren Tod finden. Wer war Linda Kasabian, was wollte sie, was war ihr Traum? „Everything was to teach us something“. Aber was? „I believe this to be an authentically senseless chain of correspondences, but in the jingle-jangle morning of that summer it made as much sense as anything else did.” Was bleibt, „another story without a narrative”.

Hatte Joan Didion Empathie für die Opfer? Griffin Dunnes Film enthält eine Szene, in der sie berichtet, wie sie in einer Hippie-Gruppe ein fünfjähriges Mädchen auf LSD antraf. Griffin Dunne fragt, was diese Begegnung für sie bedeutete. Ihre Antwort: „Gold“. Wer ihr jedoch vorschnell Empathie abspricht, sollte sich die Szene genau anschauen. Joan Didion spricht viel mit ihren Händen, ihren Armen. Sie bewegt ihre Arme, als wolle sie etwas Unangenehmes in der Luft vertreiben, als wolle sie sich vor einem Angriff von etwas Unsichtbaren schützen. Sie scheint zu zögern, schluckt, dann sagt sie: „Gold“. Sie ist Reporterin, sie lebt im Grunde die Rolle von Kriegsfotograph*innen, die in dem, was sie sehen, nicht nur physisch, sondern auch emotional überleben müssen. Ich kenne keine Szene aus irgendeinem Bericht oder irgendeinem Film, in der das Elend der sogenannten „Blumenkinder“, der „Flower Power“ deutlicher wurde. Die „invisible city“ ist eine Stadt des Horrors. Was Joan Didion auszeichnet ist die Vermittlung von empathischer Distanz. Sie ist nie Partei, sie beobachtet und dokumentiert.

Ein Martyrer

Joan Didion portraitiert in „The White Album” mehrere Menschen, die vor Gericht angeklagt wurden. Ihr Portrait konzentriert sich weniger auf den Gegenstand des Prozesses als auf dessen Umstände. Angeklagt ist Huey Percy Newton (1942-1989), einer der Gründer der Black Panther Party. In der Schwarzen Bürgerbewegung wird er zu einer Art Martyrer. Joan Didion zitiert Stokely Carmichael (1941-1998) mit einer entsprechenden Aussage. Huey Newton selbst profitiert davon nicht und Joan Didion erklärt in einem Satz sein Dilemma: „But of Course Huey Newton had not yet laid down his life at all, was just here in the Alameda county Jail waiting to be tried, and I wondered if the direction these rallies were taking ever made him unmore useful to the revolution behind bars than on the street.” Sie fragt sich, ob Huey Newton überhaupt verstand, worum es in seinem Prozess wirklich ging: „In the politics of revolution everyone was expendable, but I doubted that Huey Newton’s political sophistication extended to seeing himself that way: the value of a Scottsboro case is easier to see if you are not yourself the Scottsboro boy.”

Huey Newton ist einer der wenigen Schwarzen Menschen in den Berichten Joan Didions. Mit einer Anekdote beschreibt sie den alltäglichen Rassismus in den USA der 1960er Jahre. Huey Newton wird bei dem Schusswechsel, der ihn vor Gericht brachte, verletzt, er blutet und bittet eine Krankenschwester des Kaiser Foundation Hospital, ihm zu helfen. Die Krankenschwester verwickelt ihn in ein Gespräch über seine Versicherung, da das Krankenhaus nur Menschen behandele, die eine Kaiser-Versicherungskarte haben. „For a long time I kept a copy of this testimony pinned to my office wall, on the theory that it illustrated a collision of cultures, a classic instance of an historical outsider confronting the established order at its most petty and impenetrable level. This theory was shattered when I learned that Huey Newton was in fact an enrolled member of the Kaiser Foundation Health Plan, i.e., in Nurse Leonard’s words, ‘a Kaiser’.” Allein die Tatsache, dass Joan Didion die Kopie dieser Zeugenaussage lange aufbewahrte, sagt alles über ihre Empathiefähigkeit, ihre Sprache wiederum schafft Distanz und nennt den entscheidenden Begriff: „a collision of cultures“. Aus einer Szene erkennen wir Welten.

Paralleluniversen

Was ist Hollywood? „Here in the grand casino no one needs capital. One needs only this truly beautiful story.” Hollywood ist eine der Kulturen, in denen „gambling is the central activity, a lowered sexual energy, an inability to devote more than token attention to the preoccupations of the society outside.” Es geht um Geld, das einen quasi-religiösen Wert erhält, „the totem of the action“, während der eigentliche Film nur so etwas wie ein Nebenprodukt der „action“ ist. Dies hört Joan Didion aus dem Munde eines Produzenten. Im Film und in der Wirklichkeit geht es eben um Parallelwelten. Auch die Autorin lebt als Schreibende in diesen Parallelwelten, nicht nur in einer: „I imagined that my own life was simple and sweet, and sometimes it was, but there were odd things going around town. There were rumours. There were stories.” Das ist es: es geht um „stories“, nicht um „history“, in deutscher Sprache um den Plural, nicht um den Singular von „Geschichte“. Aus diesen „stories“ entstehen Welten. Der erste Satz von „The White Album” ist Programm: „We tell ourselves stories in order to live.”

In Joan Didions Portraits wird jeder Mensch, so real er auch ist, „a great literary character, a literary character in the sense that Howard Hughes and Whittaker Chambers were literary characters”. Wie literarische Figuren erscheinen in Joan Didions Texten beispielsweise auch Jim Morrison oder Janis Joplin. Literarische Projektionen sind nicht nur Menschen, auch Orte, Hotels, Landschaften. Sie alle haben gemeinsam, dass sie betrachtet, gesehen werden und sich als Gesehene verändern. Wir leben in einer Welt, in der jeder Mensch schaut, betrachtet. Joan Didion beschreibt sich selbst in einer Begegnung mit Nancy Reagan in dieser unendlichen Spiegelung: „Since I was also there to watch her doing precisely what she would ordinarily be doing on a Tuesday morning at home, we seemed to be on the verge of exploring certain media frontiers: the television newsman and the two cameramen could step back and do a cinéma vérité study of the rest of us watching and being watched by one another.”

Realität und Fiction miteinander verbunden – das ist vielleicht die angemessene Form eines Versuchs, die Welt, wie sie ist, wie sie sein könnte, wie sie werden könnte oder sollte, zu verstehen und damit vor allem sich selbst als eine der Figuren dieser Welt, die gleichermaßen reale und literarische Person ist, je nachdem, aus welcher Perspektive jemand schaut und – im Sinne von Andrej Tarkowski – vielleicht auch sieht. Im Film von Griffin Dunne hören wir am Schluss Joan Didion sagen: „Remember what it is to be me. That is always the point.”

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 11. Januar 2022)