„Es ist Mai und wir sitzen im Garten“
Ein Gespräch mit Miriam Bistrovic über Erinnern und Aufbewahren
„‚Erinnere dich!‘ Ist im Judentum mehr als nur eine bloße historische Mahnung oder liturgische Pflicht. Die Aufforderung durchdringt den Alltag, sie verbindet Vergangenheit und Gegenwart.“ (Miriam Bistrovic und David Brown im Vorwort zu dem von ihnen herausgegebenen Buch „Stolpertexte – Literatur gegen das Vergessen“, Leipzig, Hentrich & Hentrich 2024.)
„Erinnere dich!“ – „Zachor!“ – das ist das Programm der Geschichten, die Geschichte und vor allem die vielen Menschen lebendig werden lassen, denen in Deutschland und in Österreich die Heimat geraubt wurde. Dies ist das Anliegen, der Auftrag der im von jüdischen Emigrierten im Jahr 1955 gegründeten Leo-Baeck-Institut tätigen Menschen. Das Institut hat drei Standorte: In Jerusalem, in London und in New York City. Letzteres agiert zusätzlich als transatlantische Brücke mit einer Archivdependance und Repräsentanz in Berlin.
Die ausgebildete Historikerin und Kunsthistorikerin Miriam Bistrovic arbeitet seit 2013 im Berliner Standort des New Yorker Instituts, den sie selbst mit aufgebaut hat. Sie hat im Jahr 2024 gemeinsam mit David Brown und Matthias Pfeffer beim Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich den Band „Stolpertexte“ veröffentlicht, in dem 22 Autorinnen und Autoren die Geschichte von Menschen erzählen, die in der NS-Zeit Deutschland verließen oder ermordet wurden. Grundlage waren in New York gesammelte Dokumente. Einige Texte wurden an einem Abend der Leipziger Buchmesse 2024 im Capa-Haus, in den Räumen des Verlags, vorgestellt, der Band erschien dann im Herbst und wurde – seinen Zielen und seiner Bedeutung angemessen – in einem Zelt auf dem Berliner Bebel-Platz, dem Ort der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933, vorgestellt.
Die „Stolpertexte“ sind beispielhaft für die Arbeit des Leo-Baeck-Instituts New York | Berlin. Dies gilt für den in deutscher und englischer Sprache gehaltenen Band „In Echtzeit“ beziehungsweise „Posts from the Past“ aus dem Jahr 2020, der jeden Tag des Jahres 1938 aus jüdischer Perspektive dokumentiert. Diesen Band hat Miriam Bistrovic gemeinsam mit Frank Mecklenburg, William H. Weitzer und Magdalena Wrobel herausgegeben. David Brown und Barbara Ann Schmutzler haben sich um die Übersetzungen gekümmert. Er erschien ebenfalls bei Hentrich & Hentrich. Ein drittes Produkt ist die am 7. Dezember 2023 gestartete Podcast-Reihe „Exil“ beziehungsweise „Exile“, ebenfalls in deutscher und in englischer Sprache verfügbar. Die deutsche Fassung wird von Iris Berben gesprochen, im Englischen leiht Mandy Patinkin den Episoden seine Stimme. Der Podcast präsentiert zwölf Geschichten bekannter und weitestgehend unbekannter jüdischer Persönlichkeiten, basierend auf persönlichen Briefen, Tagebüchern und Interviews und wird im Deutschen als Koproduktion mit der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben.
Ein langer Weg (nicht nur) nach Berlin
Norbert Reichel: Es war nicht einfach, nach 1945 ein Institut in Deutschland anzusiedeln, das sich dem Judentum verpflichtet sah. Da gab es viele Vorbehalte, gerade auch auf Seiten der jüdischen Community. Deutschland – das war das Land der Täter, der Mörder. Manche wollten lange Jahre nicht einmal mehr deutsch sprechen. Andererseits war die deutsche Sprache für viele Muttersprache.
Miriam Bistrovic: Das war in der Tat eine schwierige Debatte. Es gab das Leo-Baeck-Institut in New York, in London und in Jerusalem, den drei Zentren jüdischer Emigration, die alle zeitgleich im Jahr 1955 gegründet worden sind. Es entstanden sehr schnell unterschiedliche Schwerpunkte. In New York war sehr schnell klar, dass man versuchen sollte, das zu bewahren, was vom deutschsprachigen Judentum erhalten und nicht zerstört worden war.
Es gab aber immer wieder die Überlegung, wie man den Kontakt nach Deutschland halten konnte, sollte oder vielleicht auch wollte und gleichzeitig sicherstellte, dass man kein Institut in Deutschland gründete. Eine der Lösungen war 1989 die Gründung der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts (WAG), in dem sich deutschsprachige Forscherinnen und Forscher zusammenfanden. Eine weitere Lösung war schon in den 1950er Jahren ein Förderverein, der ursprünglich in Frankfurt am Main saß und jetzt seit 2020 in unserem Büro in Berlin sitzt. Seit etwa zwei Jahrzehnten heißt es Leo-Baeck-Institut New York / Berlin. Wie kam es dazu? Der Hauptgrund liegt in der Tatsache, dass das Leo-Baeck-Institut New York immer das Archiv des Instituts war.
Sehr früh meldeten sich die ersten Emigrierten und sagten, sie hätten ihre Familiennachlässe, ihre Bibliotheken, Bestände gerettet, die sie unbedingt bewahren wollten. Einige hatten unterschiedliche Bestände in ihren Koffern mitgebracht, ganz private Aufzeichnungen, Dokumentationen. Andere hatten ihre Memoiren aufgeschrieben sobald sie in den USA angekommen waren, Manuskripte mit Titeln wie „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“. Viele Materialien sind auf sehr komplexen Wegen, teilweise über verschiedene Orte des Exils, in die USA gekommen. Aber eben in die USA. Wer diese Materialien einsehen wollte, Forschende ebenso wie Menschen, die ein privates Interesse hatten, mussten in die USA reisen, ein oft sehr beschwerlicher und auch sehr kostspieliger Weg. Es gab noch kein Internet, man fuhr mit dem Schiff, Flüge waren extrem teuer. Israelische Forschende berichteten beispielsweise oft mit großem Gram, wie schwierig es doch sei, in die USA zu kommen, um dort zu forschen.
Das änderte sich, als Michael Blumenthal sich in Berlin für ein Jüdisches Museum einsetzte. Als US-Amerikaner, der er inzwischen war, fand er es überlegenswert, mit dem Leo-Baeck-Institut in New York zusammenzuarbeiten. Anlässlich der Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin im Jahr 2001 kamen erstmals Bestände als Mikrofilme und Mikrofiches aus New York nach Berlin. Es handelte sich um etwa 90 Prozent des damaligen Bestandes, der in New York beherbergt wurde und so kam auch Berlin in den Namen des Leo-Baeck-Instituts New York | Berlin hinein.
Norbert Reichel: Für wen sind die Quellen verfügbar?
Miriam Bistrovic: Im Prinzip für alle Interessierten. Man kann sich an uns wenden, man kann sich anmelden. In New York seit 1955. Im Jüdischen Museum seit 2001. Jetzt nähern wir uns langsam der Gründung der Berliner Repräsentanz des Leo-Baeck-Instituts New York: Seit 2012 gab es durch unser Projekt DigiBaeck eine unglaubliche Welle der Digitalisierung. Es wurde möglich, etwa 95 Prozent unserer Bestände online zu recherchieren. Nicht nur der Katalog, der in mühevoller Handarbeit zusammengestellt wurde, ist sichtbar. Man sieht die Fotos, man sieht die Texte, die handschriftlichen Notizen und man kann alles am heimischen PC durchsuchen. 2013 war es dann so weit, dass das Berliner Büro Gestalt annahm.
Norbert Reichel: Und wie kamen Sie selbst ins Leo-Baeck-Institut?
Miriam Bistrovic: Ich bin ausgebildete Historikerin und Kunsthistorikerin. Aufgrund voriger Tätigkeiten wurde ich 2013 gefragt, ob ich in Berlin ein Büro aufbauen wollte. Ich wusste von den beeindruckenden Sammlungen im Leo-Baeck-Institut in New York, die es Forschenden weltweit ermöglichen, sich mit deutschsprachiger jüdischer Geschichte zu befassen. Genau das wollte ich machen und unterstützen. In meinem Leben habe ich viele Überlebende und Ausgewanderte kennengelernt. Man hätte mich somit nicht zwei Mal fragen brauchen. Ich bin sehr froh, dass das Institut und unser Büro inzwischen seit mehreren Jahren ein fester Bestandteil auch der deutschen Erinnerungslandschaft ist und dass es uns gelingt, den Spagat weiterhin zu bewahren, als transatlantische Brücke zu agieren, die Nachfahren als Zielgruppe zu erreichen, aber auch die inzwischen sehr heterogene deutschsprachige Gesellschaft hier in Europa, in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz anzusprechen.
Norbert Reichel: Berlin ist dann natürlich genau der richtige Ort.
Miriam Bistrovic: Das ist wahr. Man kommt von Berlin auch gut überall hin. Man kann überregional mit anderen Ländern interagieren, dort, wo es früher jüdische Gemeinden gab. Man landet schnell in Prag, in Krakau, in Warschau, in Wien.
Bei unseren „Stolpertexten“ und auch in anderen Publikationen sieht man, dass wir zugleich einen sehr starken österreichischen Fokus haben. Fast 30 Prozent unserer Bestände kommen aus Österreich.
Norbert Reichel: Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen deutschen und österreichischen Quellen?
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Franz und Grete Hillinger mit Edith und Klaus in Trabzon (Türkei). Franz-und-Grete-Hillinger-Sammlung. © Leo Baeck Institute New York | Berlin.
Miriam Bistrovic: Die Frage wird mir immer wieder gestellt. Der Unterschied besteht ein wenig darin, dass viele, die aus Österreich geflohen sind, schon sehr früh geflohen sind, weil sie sahen, was sich in Deutschland entwickelte. Mit dem „Anschluss“ ist diese Entwicklung mit all ihren Repressalien und Entrechtungen innerhalb weniger Tage in Österreich umgesetzt worden. Es gab zwar schon davor den Austrofaschismus, das – zwar verbotene, aber dennoch aktive – Unwesen der österreichischen Nazis, aber die Vehemenz, wie sich der nationalsozialistische Terror nach dem Anschluss realisierte, wirkte binnen weniger Stunden. Man sah, wie Flaggen gehisst wurden, Nachbarn zusammengeschlagen, Fenster eingeschlagen, Wohnungen ausgeraubt wurden. Es fanden wilde Arisierungen statt. Es war, als hätte man der Hölle Tür und Tor geöffnet. Wir haben viele Berichte, die genau diesen Zeitraum wiedergeben, diese ein oder zwei Tage. Wer noch auswandern wollte, wer noch seine Bestände retten wollte, musste sehr schnell handeln. Das war 1938 schon schwieriger als 1933 oder 1934. Man musste jung genug sein, möglichst schon Geld im Ausland haben, Familie im Ausland oder gute Freunde, die bereit waren, für einen zu bürgen. Man brauchte idealerweise die Fremdsprachenkenntnisse. Und nur die wenigsten hatten das Glück, dass sie sofort in die USA kamen. 1938 standen etwa zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung auf Wartelisten der US-Konsulate.
Norbert Reichel: 1938 war auch das Jahr der Evian-Konferenz, an der unter anderen Golda Meir teilnahm und völlig desillusioniert zurückkehrte. Nur die Dominikanische Republik war bereit, einige Jüdinnen und Juden aus Deutschland aufzunehmen.
Miriam Bistrovic: Mit der Evian-Konferenz waren unglaubliche Hoffnungen verbunden, aber es war rückblickend ein furchtbares Scheitern. Hier sieht man sehr genau den Unterschied zwischen der zeitlichen Wahrnehmung damals und der Rückschau. Wir könnten jetzt auch über die Kindertransporte sprechen und die Frage, wie die Amerikaner und andere damals reagierten. Die Kinder, die gerettet wurden, wurden sobald sie 18 Jahre alt waren, in Großbritannien auf der Isle of Man und anderen Camps als enemy aliens interniert. Sie waren ja Deutsche und die Deutschen waren die Feinde, auch die deutschen Juden.
Die Erinnerungen zugänglich machen
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Bertha und Martin Grigoleit in Brieselang mit Klaus Hillinger. Franz-und-Grete-Hillinger-Sammlung. © Leo Baeck Institute New York | Berlin.
Norbert Reichel: Die Recherche in einem Archiv ist nicht immer leicht. Ich denke, dass viele Interessierte, die sich an Sie wenden, nur wenig Erfahrung in der Arbeit mit und in Archiven haben.
Miriam Bistrovic: Man braucht natürlich ein paar Vorkenntnisse, wie Archive aufgebaut sind, aber im Prinzip können alle Interessierten recherchieren, ohne Paywall, ohne weitere Restriktionen, weil es uns sehr sehr wichtig ist, die Dinge zugänglich zu machen. Es gibt immer wieder Familienangehörige, die recherchieren wollen. Es ist oft schwierig, in manchen Ländern Informationen zu bekommen, wenn man nicht den direkten Zugriff hat. Wir wollen sicherstellen, dass wir etwas gegen Falschinformationen, gegen die Fälschung von Geschichte anbieten können. Das, was man bei uns findet, sind die authentischen Materialien, die authentische Geschichte, der Nachweis, dass diese Menschen tatsächlich gelebt haben und das, was ihnen passiert ist, tatsächlich passiert ist, dass das, was sie berichten, ihnen auch wirklich am Herzen lag. Die Vermittlung der Originaldokumente ist ein prioritäres Anliegen unseres Berliner Büros. Wir möchten gerne sicherstellen, dass die Bestände des Leo-Baeck-Instituts nicht nur bewahrt werden, sondern der Öffentlichkeit bekannt sind, und dass sie helfen, Geschichte und Geschichten zu vermitteln.
Von der Entwicklungsgeschichte war das Leo-Baeck-Institut immer eine Anlaufstelle für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Zunächst haben sich Akademikerinnen und Akademiker mit den Dokumenten befasst. Zu finden sind auch Korrespondenzen, die helfen, das Leben und das Werk von Berühmtheiten zu erforschen. Viele schauen darauf, wie sahen die Netzwerke aus, wie die Verbindungen untereinander? Dies lässt sich dort sehr gut nachvollziehen. Man hat Briefe, die privaten Sammlungen, Fotografien. Es eröffnet sich ein breites Geflecht, wenn man sich immer tiefer in das Archiv hineingräbt.
Natürlich ist es für Historikerinnen und Historiker eher zugänglich als für jemanden, der noch nie in einem Archiv war und daher Unterstützung benötigt. Das ist der Moment, in dem unsere Projekte greifen. Wir versuchen, die Materialien auch für Personen zugänglich zu machen, die nicht so genau wissen, wie sie einen Nachlass finden, damit sie ihre Scheu verlieren und die Lust erfahren, sich immer weiter zu vertiefen.
„Leuchtend roter Mohn“
Norbert Reichel: Dazu tragen Sie auch mit Büchern wie „Stolpertexte“ oder „In Echtzeit“ bei.
Miriam Bistrovic: Bei „In Echtzeit“ war es so, dass wir uns als Institut das Ziel gesetzt hatten, im Jahr 2018 jeden Tag des Jahres einen Beitrag zu veröffentlichen, der den jeweiligen Tag des Jahres 1938 dokumentiert. Wir haben uns entschlossen, es nicht nur aus unseren Archivalien zu realisieren, sondern haben auch bei anderen Institutionen angefragt. Viele haben Beiträge mitgeliefert, allerdings stellten wir fest, dass wir oft viel genauer wussten, auf welchen Tag sich die Materialien bezogen. Das ist aber auch nur möglich, weil wir Archivarinnen und Archivare haben, die seit Jahren an diesem Material arbeiten. Selbst wenn wir nicht nur etwas zu dem Datum, sondern auch zu einer bestimmten Perspektive haben wollten, konnten wir gezielt recherchieren, beispielsweise zur Sichtweise einer emanzipierten Frau. In diesem Moment griffen die persönliche Beziehung zu den Sammlungen, die eigene Institutserfahrung und die genaue Kenntnis des Materials ineinander.
Es war ein ziemlich großer Kraftakt, aber wir haben es geschafft, mit vielen helfenden Händen, die 365 Tage zusammenzubekommen. Die Beiträge sind oft sehr persönlich. Jedes Dokument, jede Postkarte, jedes noch so unauffällige kleine Ding berichtet viel über die jeweilige Person. Man muss sich nur darauf einlassen. Uns war es bei dem 1938er Projekt wichtig, eben nicht aus unserer Zeit zu blicken, sondern die Unmittelbarkeit herzustellen, bei den Postings nicht in die Zukunft zu schauen. Wer zum Beispiel wissen möchte, ob sich das Gesuch eines jungen Mannes nach einem Affidavit oder der Wunsch auszuwandern realisierte, muss sich an die Sammlung heransetzen und genau gucken, wo in unserem Katalog die bibliographischen Angaben zu finden sind.
Norbert Reichel: Bei den „Stolpertexten“ ist es ähnlich. Es sind oft Momentaufnahmen. Sehr beeindruckend fand ich die Geschichte „Leuchtend roter Mohn“, der Stolpertext von Juli Zeh für Edith Hillinger. Ich darf einige wenige Sätze zitieren: „Als Edith ihr neues Leben in Istanbul begann, waren die Hügel entlang des Bosporus kaum bebaut. Dort wuchs wilder Mohn in riesigen Feldern. / Da waren sie wieder, die knallroten Blumen mit den weichen Blütenblättern, die Edith und ihre Großmutter in der alten Heimat so geliebt hatten. Alles in der neuen Welt war unvertraut, die Sprache, die Gewohnheiten – aber die Pflanzen waren die gleichen wie zu Hause und vermittelten dem kleinen Mädchen ein Gefühl von Geborgenheit. Der rote Mohn wurde zu einer Brücke, die das alte und das neue Leben miteinander verband.“
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Postkarte von Edith Hillinger an ihre Großmutter Bertha Grigoleit. Franz-und-Grete-Hillinger-Sammlung. © Leo Baeck Institute New York | Berlin.
Miriam Bistrovic: An diese Geschichte erinnere ich mich besonders, weil in der Zeit, in der Juli Zeh noch recherchierte, meine New Yorker Kollegen eine Kiste fanden, die noch nicht erschlossen worden war. Als sie einen Brief in der Kiste öffneten, rieselten ihnen die Mohnblüten entgegen. Deshalb griffen wir diese Geschichte auch im Vorwort auf. Als David mir davon erzählte, war das so ein Moment, in dem man merkt, dass das Historische so unglaublich nahbar sein kann. Diese Mohnblüten waren nie bewegt worden und rieselten aus dem Umschlagheraus, als dazu geforscht wurde. Ein Brief wurde erst entdeckt, als die Stolpertexte geschrieben wurden. In diesem Brief waren die Mohnblüten. Juli Zeh hatte zuvor schon herausgefunden, dass die junge Künstlerin immer wieder in ihrem Leben diese Mohnblüten aufgegriffen hatte, aber es war noch nicht bekannt, dass es diesen Brief gab.
„So geht die Geschichte“
Norbert Reichel: Auffällig ist in den Texten auch immer die sehr beeindruckende Wortwahl. Hilde Schlesinger-Schiff aus Eisenstadt im Burgenland, über die Konstantin Schmidtbauer geschrieben hat, schrieb beispielsweise: „die Wurzeln aus der Erde ziehen“, „keine schmerzlose Angelegenheit, wie man uns die Heimatliebe ausgebläut hat“. Sie verwendet den Begriff „Leichenraub“.
Mich hat auch der Stolpertext „So geht die Geschichte“ von Lena Gorelik über Friederike („Friedl“) Roth sehr berührt. Ich verehre Joseph Roth sehr, aber er war ja auch kein einfacher Mensch. Das Schicksal seiner Frau ist sehr tragisch. Sie wurde mit 692 anderen Patient:innen in der NS-Euthanasie-Anstalt im Schloss Hartheim ermordet. Joseph Roth hatte ihr Leben sogar in einem seiner Romane verarbeitet, aber ihre Eltern gebeten, ihr nichts davon zu erzählen. Dieser Text endet mit folgenden Sätzen: „Er (Joseph Roth, NR) hat, so geht die Geschichte, vielen Jüdinnen und Juden zu helfen versucht. Auf einem Bild trägt Friederike Reichler, die Geehelichte, ein gestreiftes Kleid. Auf einem anderen einen am Kragen mit Pelz besetzten Mantel, ihre Haare kurz. Sie stemmt auf den meisten Bildern die Hände in die Hüften, ich denke ir, sie tat das gerne, trotzig und frech. Ich denke mir Friederike, ich hoffe, dass die Stimmen aufgehört haben zu kreischen. Eine rauchen mit dir, du im Sommer, in jenem gestreiften Kleid.“
22 Stolpertexte, aber das ist nicht alles.
Miriam Bistrovic: Es sind 22 Texte im Buch, aber wir haben über 30 Texte, die schon geschrieben und zum Teil auch in Tageszeitungen veröffentlicht wurden. Die ursprüngliche Absicht war, diese Texte in regionalen Tageszeitungen zu veröffentlichen. Später kam dann die Idee, sie in einem Buch zusammenzufassen. Wir haben aber viel mehr Material, an digitalisierten Dokumenten über fünf Millionen Seiten. Wir bewahren etwa 2.500 unveröffentlichte Memoiren und Manuskripte, die erstmals in den 1950er Jahren auftauchten, von denen vielleicht das ein oder andere inzwischen im Buchhandel erschienen ist, aber bei Weitem nicht alles.
Sie haben ja schon erwähnt, dass die Wortwahl, die Direktheit in der Sprache bei der Lektüre mitreißt. Das merkt man gerade bei sehr frühen Manuskripten, die in einer großen Direktheit sprechen, dann lange Zeit nicht mehr, inzwischen wieder. Es ist schon von Interesse, wie die Überlebenden mit ihrer eigenen Situation umgehen, wie sich das auch innerhalb der einzelnen Communities abbildet. Viele Manuskripte fangen mit der Aussage an, dass man sich im eigenen Umfeld ausgetauscht hatte und zu hören bekam, wozu man das denn noch brauche, denn daran wolle sich doch niemand erinnern. Aber es ist das Gegenteil davon: Die meisten wollen, dass man sich nicht nur ihrer eigenen Geschichten erinnert, sondern auch, dass wir uns an die erinnern, die nicht mehr selbst für sich sprechen können. Versuche, die Erinnerung wachzuhalten, versuchen das zu tun, was andere nicht mehr machen können.
Norbert Reichel: Deshalb haben manche bei ihrer Flucht, bei ihrer Deportation, Fotographien mitgenommen. Manche konnten diese bis zu ihrer Befreiung bewahren oder haben sie an andere übergeben, die sie bewahren konnten.
Miriam Bistrovic: Das verdeutlicht nur umso mehr, wie wichtig es ist, gegen diesen Vernichtungswillen aufzubegehren. Einer der Aspekte, der in den „Stolpertexten“ anklingt, der ebenso in unserem 1938er-Projekt und in unserem Podcast immer mitschwingt, ist die Tatsache, dass es nicht immer der große Widerstand war, wie er heute oft im Vordergrund steht, sondern dass es viele kleine Momente des Widerstandes gab, die oft vergessen wurde, aber deutlich zeigten, dass jeder in seinem kleinen Rahmen aufbegehren konnte. Und das Wichtigste war dann zu bewahren. Damit es am Ende den Nazis nicht gelang, alles an Erinnerung auszulöschen. In vielen Fällen ist es gelungen, Erinnerungsstücke zu bewahren. An diesen kleinen bruchstückhaften Elementen und Momenten lässt sich wieder ein ganzes Leben entdecken und die Namen aus dem Vergessen zu reißen.
Norbert Reichel: Dazu gehört zum Beispiel auch der Brief von Ernst an Erna Feder. Er ist in Marseille, sie ist noch in Deutschland. Besser kann man Hoffnung bei aller Bedrohung nicht darstellen. Olga Grjasnowa schrieb den Stolpertext für Ernst Feder: „Ich brauche dich, Erna“. Ein doppeltes „Stolpern“? Olga Grjasnowa, die an Ernst Feder erinnert, aber über den Briefe schreibenden Ernst auch an Erna: „Fast jeder seiner Briefe fing mit der Ansprache ‚Meine geliebte Erna‘ an oder auch ‚Meine Inniggeliebte‘. Doch auch Erna war klar, dass sie nur zwei Menschen von sehr vielen waren und dass es kaum jemanden kümmerte, ob sie überleben würden oder nicht. Ihre Leben zählten nicht. Seine Aufgabe war es, sie von dieser Tatsache abzulenken, Zuversicht zu bieten. Er war es nicht gewohnt, von Erna getrennt zu sein, auf Reisen war es manchmal, als er durch die USA gereist war, oder die Niederlande, aber das war so lange her – in einem anderen Leben.“
Miriam Bistrovic: In all diesen „Stolpertexten“ merkt man, was diese kleinen Momente der persönlichen Stärke, des persönlichen Aufbegehrens bedeuten, die sich so unglaublich schwer aus der Vergangenheit retten lassen aber gleichzeitig – wenn man sich damit auseinandersetzt – durch ihre Emotionalität sowie durch ihre zeitübergreifende Wirkung bis heute Menschen ansprechen und dann auch in Erinnerung bleiben.
„Erinnern ist ein Prozess der Gegenwart“
Norbert Reichel: Gibt es Texte, die Sie besonders berührt haben?
Miriam Bistrovic: Es gibt immer wieder Geschichten, die besonders in Erinnerung bleiben, aber es würde mir schwerfallen, einen Liebling herauszufinden. Es ist eher immer ein kurzes Aufblitzen, ein ungewöhnlicher Moment oder ein leicht zu übersehendes Detail, das in Erinnerung geblieben ist. Dazu gehört die Geschichte von Edith Hillinger und den Mohnblüten. Ähnlich war es mit dem Stolpertext „Flieder“ von Tara Meister für Helen Bilber: „Es ist Mai und wir sitzen im Garten, die ganze Familie beisammen. Mein Vater zeigt uns seine Blumen, Pfingstrosen und Begonien, das Tränende Herz, Akeleien, Rhododendron, Klematis, Lichtnelken, Schwertlilien und Flieder. Ich erzähle meiner Großmutter, die neben mir am Tisch sitzt, von dem Projekt, bei dem ich mitmachen werde, von den Stolpertexten.“
Das ist einer der Texte, die mehrere Generationen überbrücken und zeigen, wie sich Geschichte an den kleinsten Dingen festhalten lässt und wie sehr sie einen auch mitnehmen kann, sodass man selbst in den unbedarftesten Momenten davon überrascht werden kann, wie gegenwärtig etwas noch ist, wie man in einer scheinbar vertrauten Umgebung plötzlich Risse entdeckt, Dinge wiederentdeckt, die man vielleicht in einem archivarischen Text gelesen hat. In diesem Fall ging es auch noch darum, dass sie mit ihrer eigenen Großmutter sprach, die selbst Journalistin war und Frauen interviewt hat, um deren Geschichten aufzunehmen, damit dieses gesprochene Erinnern im Wortlaut nicht verloren geht.
Norbert Reichel. Sehr beeindruckt hat mich auch das Bild von Bertha Pappenheim, das wohl gerettet werden konnte. Sie zeigen dieses Bild, ein Jugendbild, vor dem Stolpertext „Vielleicht Quittengelee“ für Helene Krämer von Mascha Jacobs: „Bertha Pappenheim hat auch Helene Krämers Leben stark beeinflusst. Helene Krämer wurde 1881 geboren und wuchs in einem Kinderheim des Jüdischen Frauenbundes auf. Ihr Vater, ein Lehrer, verstarb kurz vor ihrer Geburt und die Mutter konnte die acht Kinder nicht versorgen.“ Einige Absätze weiter lesen wir: „Vielleicht mochte Helene Quittengelee. Vielleicht las sie viel und hatte eine Vorliebe für einander ins Wort fallende Sätze. Für Tanzabende. Ich vermute, sie mochte Bilder und Karikaturen, vielleicht hing in ihrem Arbeitszimmer eine Lithographie von Honoré Daumier.“ 1938 wurde der Jüdische Frauenbund verboten. Der Stolpertext endet mit den Deportationen und der Ermordung der Frauen, die in diesem Heim lebten.
Miriam Bistrovic: Das Bild Bertha Pappenheims ist auf den ersten Blick unscheinbar, aber es war für viele unglaublich es zu sehen, weil kaum jemand wusste, dass es überhaupt existierte. Wenn man genau wissen will, wie Bertha Pappenheims letzten Tage und Stunden waren, kann man das in unseren Sammlungen finden. Diejenigen, die ihren Weg begleitet haben, haben davon berichtet. Sie war so krank, dass ihr die Ärzte geraten hatten, das Haus nicht mehr zu verlassen. Sie tat es trotzdem und hat versucht, im Polizeigefängnis einen ihrer Schützlinge, eine junge Frau, herauszuboxen. Wenige Wochen später ist sie gestorben.
Norbert Reichel: In „Flieder“ finden wir einen grundlegenden Satz zu dem gesamten Projekt des Aufbewahrens und Erinnerns, am Schluss: „Erinnern ist ein Prozess der Gegenwart. Es ist Spätsommer, als ich den Text fertig schreibe, und die Blätter färben sich bereits an den Rändern. Ich denke, nächstes Jahr blüht der Flieder wieder.“
Miriam Bistrovic: Die Texte zeigen immer wieder, wie unterschiedlich man mit dem Material umgehen kann. Wir haben den Autorinnen und Autoren keine Vorgaben gemacht. Wir wollten ihnen Gelegenheit geben, sich mit den Biographien auseinanderzusetzen und ihren eigenen Zugang zu finden. Das Ergebnis ist beeindruckend, weil man immer neue Wege findet, wie man Geschichten freilegen kann, wie bruchstückhaft ein Leben dargelegt werden kann, aber dass diese Brüche nicht in sich etwas Negatives sein müssen, sondern dass diese Leerstellen gerade zeigen, wie sich die Dinge abrupt verändern können.
Die Autorinnen und Autoren haben versucht, nicht nur eigenen biographischen Hintergrund hineinzubringen. Gleichzeitig schwingt er in der Wortwahl mit. Wir haben unterschiedliche Generationen, unterschiedliche Persönlichkeiten, mit unterschiedlichen Interessen, unterschiedlichen und mehrschichtigen Biographien. Damit haben wir auch einen gewissen Bruch zum vorherrschenden „gesamtdeutschen“ Erinnerungsnarrativ, das sich sehr lange durchgesetzt hat. Das zu hinterfragen, auch aufzubrechen, war ein langer Prozess.
Wer bewahrt unsere Geschichte?
Norbert Reichel: Das ist – wenn ich das sagen darf – auch gelungen. Einen biographischen Hintergrund, der mich sehr berührt hat, fand ich in dem Stolpertext mit dem scheinbar so didaktisch klingenden Titel „Erinnerung lernen“ für Hans Landshut von Ulrike Draesner. Sie schreibt, als Fünfzehnjährige habe sie gemerkt, dass ihre Eltern sich ohne Hitler nie kennengelernt hätten. So war das auch bei mir: Mein Vater kam aus Schlesien, meine Mutter aus Köln. Wäre mein Vater nicht über den „Umweg“ über Russland und Kriegsgefangenschaft in Belgien nach Köln gekommen, hätten meine Mutter und er sich nie kennen und lieben gelernt. Wenn man dies begreift, stockt einem schon der Atem.
Das ist der Punkt: Wie kann ich ehrlich und aufrichtig Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbinden? So sind die letzten Sätze von „Flieder“ vielleicht so etwas wie das Programm des Leo-Baeck-Instituts, so wie ich es verstanden habe: „Es ist Spätsommer, als ich den Text fertigschreibe, und die Blätter färben sich bereits an den Rändern. Ich denke: Nächstes Jahr blüht der Flieder wieder.“ Die erinnernde Autorin – so möchte ich es sagen – rahmt die Erinnerungen von und an Helen Bilber und schafft über den „Flieder“ einen Zusammenhalt, eine neue Gemeinsamkeit, eine Gemeinschaft über die Generationen, über die verschiedenen Welten hinaus, etwas dass es vorher so nicht gab und das erst durch den „Stolpertext“ entsteht.
Miriam Bistrovic: In gewisser Weise ist das unser Programm. Es ist ein ziemlicher Spagat, denn jeder Standort des Leo Baeck Instituts hat seine eigenen Schwerpunkte und Zielgruppen – sei es in London, Jerusalem oder bei uns in New York und Berlin. Zum einen ist das Leo Baeck Institut ein Forschungsinstitut. Zum anderen ein Archiv, das inzwischen wohl größte für deutsch-jüdische Geschichte und Diaspora weltweit und zugleich, wie manche sagen, das wohl bestgehütete Geheimnis von New York. Es ist aber auch ein sicherer Ort für Nachfragen und Nachfahren der dritten und vierten Generation, die die Geschichte des Leo-Baeck-Instituts noch von ihren Groß- oder Urgroßeltern kennen.
Es war die Exil-Zeitung der Aufbau, es war – egal wie man zu Deutschland stand – der Kaffee, der am Sonntag, wenn man es noch retten konnte, zusammen mit dem guten Porzellan auf der Tischdecke stand. Es war nicht nur das, es war auch die Frage: „Wer bewahrt unsere Geschichte, wenn wir nicht mehr sind?“ Da war das Leo-Baeck-Institut immer ein sicherer Hafen, an den man sich wenden konnte. Solange sie es körperlich noch schaffen, kommen Angehörige der ersten und zweiten Generation ins Institut. Sie entschlüsseln Texte, sehen sich Fotos an, sagen: „Das ist die Straße, die Person kenne ich noch…“. Einfach um sicherzustellen, das, was in unseren Beständen vorhanden ist, auch in der Form aufbewahrt werden kann, dass man Namen, Orte, Geschichte identifizieren und miteinander verbinden kann.
Manche kommen erst, nachdem sie aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Sie sagen, ich möchte etwas Sinnstiftendes machen, nicht nur für meine Familie, für die gesamte Community.
Norbert Reichel: Es fällt manchen Menschen gar nicht so leicht zu erzählen. Es sind nicht nur die Täter, die nichts über ihre Taten erzählen wollen, es sind auch die Opfer, die nicht erzählen wollen, was sie erlitten haben. Es gibt Forschungen über das Schweigen, über Überlebende der Shoah, die ihren Kindern nichts erzählten oder nur Andeutungen machten.
Miriam Bistrovic: Das ist sehr oft der Fall. Es gibt viele Menschen in der zweiten Generation, die nichts über ihre Familienangehörigen wissen, die vielleicht nur subkutan erahnen, dass es da etwas geben muss, über das sie von den Eltern aber keine Auskunft erhielten. Es ist dann anders mit den Enkelkindern, die schon sehr früh mit den Geschichten konfrontiert werden, weil die Großeltern langsam anfangen, sie aufzuarbeiten.
Norbert Reichel: Mir ist aufgefallen, dass mehrere der Autorinnen und Autoren der „Stolpertexte“ an einem Schreibseminar von Ulrike Draesner teilgenommen hatten.
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Fotos und Briefe aus der Franz und Grete Hilllinger-Sammlung. © Leo Baeck Institute New York | Berlin.
Miriam Bistrovic: Die jungen Studierenden bei Ulrike Draesner waren nicht nur sehr engagiert, sondern haben sich auch selbst organisiert. Einige sind nach New York gereist, um sich vor Ort mit den Originalen auseinanderzusetzen, um mit David Brown in Austausch zu treten. Das machte auch etwas mit den Texten, dieses persönliche Interesse an den Personen spiegelte sich in ihnen. Der Austausch endete auch nicht mit den Texten.
Bei einigen wissen wir, dass sie zum Beispiel mit dem MDR zusammen an einem Podcast arbeiten, um dort einige der biographischen Aspekte unterzubringen, die sie in den Texten nicht unterbringen konnten. Sie konnten auch mit einigen Familienangehörigen der Personen sprechen, deren Dokumente sie sich angeschaut hatten. Gerade wenn man sich den Stolpertext „Hoffentlich ist es dann nicht zu spät“ von Victor Sattler über Robert Bachrach und Theo Hochner anschaut. Diesen Text haben wir nur in Auszügen im Buch publiziert, den kompletten Text haben wir auf unserer Website veröffentlicht.
Es wurden viele familiäre Bezüge konsultiert, Personen in Austausch gebracht, die selbst über Jahrzehnte keinen Kontakt zueinander hatten. Es entstanden neue Verbindungen, die ohne das Projekt nicht entstanden wären. Das haben wir auch bei dem 1938er Projekt festgestellt: Je mehr man versucht, über eine Person herauszufinden, desto intensiver beschäftigt man sich mit Familienbiographien und versucht, die verschiedenen Familienzweige zu konsultieren. Daraus ergeben sich plötzlich Kontakte mit Personen, die gar nichts davon wussten, dass sie eine Verbindung hatten. Beispielsweise über einen Brief, über den beide Seiten miteinander in Verbindung kamen und man anhand dieser einen Begebenheit herausfinden konnte, wie eng verzweigt Geschichte sein kann.
Norbert Reichel: Ich kann das gut nachvollziehen. Erst nach dem Tod meines Vaters erfuhr ich über seinen Nachlass, den er in seinem Nachtschränkchen und anderswo aufbewahrte, dass ich Verwandte in Polen habe. Die Schwestern meines Großvaters hatten alle Polen geheiratet. Eine Tochter, eine Großkusine von mir, hatte einen kompletten Stammbaum erstellt, den manche in der Familie schon kannten, von dem ich aber noch nie etwas erfahren hatte.
Miriam Bistrovic: Manchmal sind das ganz kleine Dinge. Geschenkte Bücher mit einer kleinen Eintragung, Widmungen. Oder Schulfotos, wo man erfährt, da ist meine Großtante drauf, oder die war eine Freundin meiner Großmutter.
Norbert Reichel: Gibt es einen zweiten Band? Und welche weiteren Pläne haben Sie?
Miriam Bistrovic: Ich will mich noch nicht auf ein Datum festlegen. Ich denke jedoch, dass wir den nächsten Band 2026 oder 2027 veröffentlichen können. Material gibt es sicherlich genug.
„Exil“ – manchmal auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Norbert Reichel: Ein weiteres Projekt ist der Podcast „Exil“, im Grunde auch eine Spielart von „Stolpertext“.
Miriam Bistrovic: Aktuell sind wir dabei, die zweite Staffel des englischsprachigen Podcasts abzuschließen und die deutsche Staffel herauszubringen. Für erfolgreiche Geschichtsvermittlung braucht es ziemlich viel Energie, um auch Personen zu erreichen, die nicht direkt das nächste Buch in die Hand nehmen. Wir versuchen daher zurzeit, etwas aktueller zu werden und verschiedene Wege und Formate der Vermittlung aufzugreifen. Ein Podcast ist eine gute Lösung, auch wenn in der Vorbereitung und Umsetzung das ein oder andere ineinandergreift.
Der Podcast trägt den Titel „Exile“ beziehungsweise „Exil“. Im Englischen wird er von Mandy Patinkin gesprochen, im Deutschen von Iris Berben. Wir haben auch hier den biographischen Ansatz gewählt. Jede Folge befasst sich mit einer Protagonistin, einem Protagonisten, die etwa in dem Zeitraum 1910 bis 1950 lebten und zeigen, was es heißt, ins Exil zu gehen, was das mit jemandem macht, wie das Leben davor und danach aussieht. Eine Episode widmet sich Stefan Zweig und Joseph Roth, eine andere Albert Einstein und seinem Sommerhaus in Caputh, eine weitere Ruth Westheimer. Wir haben aber nicht nur Berühmtheiten ausgewählt, die fast alle kennen. Viele Personen kennen die Zuhörenden wahrscheinlich nicht, aber ihre Geschichten sind auf jeden Fall hörenswert.
Die erste Episode handelt von Florence Mendheim. Sie war eine junge Frau aus New York, die als Bibliothekarin arbeitete, aber dann angeworben wurde, in nazinahen Communities zu spionieren und deren Umtriebe zu melden. Sie hat sich ein Pseudonym zugelegt und ist am Abend in diese pronazistischen Versammlungen gegangen, war sehr erschüttert von dem, was sie dort erlebte, aber in der Lage, dann sehr detaillierte Berichte zu verfassen, was sie gesehen und gehört hatte und wer dabei war. Man muss sich vor Augen halten, dass im Madison Square Garden eine große Naziversammlung stattfand, andererseits aber vor dem Madison Square Garde Protestaktionen stattfanden, deren Akteure sehr deutlich machten, dass sie nicht passiv zusehen würden, wie sich die USA in einen profaschistischen Staat verwandeln. Dass wir so viele Details darüber wissen, basiert zu großen Teilen auf Berichten von Personen wie Florence Mendheim. Ohne sie und andere, die ebenfalls ihre Beobachtungen festhielten, wären diese Nazi-Expats und mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Gruppen sowie deren Umtriebe als Teil des Spektrums freier Meinungsäußerung oder als eine beliebige Art von Heimatverbundenheit abgetan worden.
Norbert Reichel: Die Nazis hatten in den USA durchaus ihre Sympathisanten. Ich nenne nur Henry Ford und Charles Lindbergh. Die waren durchaus populär, eindeutig antisemitisch und pronazistisch.
Miriam Bistrovic: Das waren die großen Namen der Szene. Wir wollten zeigen, was eine einzelne Person wie Florence Mendheim bewegen konnte. Es war ein sehr mutiger und auch gefährlicher Protest. Es war klar, warum sie das machte. Sie stand mit ihrer Tante in Berlin in Briefkontakt, die schrieb, dass sie zu alt sei, um auszuwandern. Wir wissen, dass sie kurze Zeit später ermordet wurde, obwohl Florence ihr immer zuredete, sie solle doch in die USA kommen, sie würden das schon gemeinsam schaffen.
Eine weitere Frau, die ich gerne nenne, ist, ist Lene Schneider-Kainer. Sie war eine in Berlin sehr aktive Künstlerin, die auch in der Galerie Gurlitt ausstellte und noch vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft mit Bernhard Kellermann auf den Spuren von Marco Polo die alte Seidenstraße entlang reiste. Die beiden berichteten in verschiedenen Berliner Tageszeitungen darüber. Sie hat aber auch Tagebuch geführt und unzählige Aquarelle gemalt, in denen sie das, was sie gesehen hatte, festhielt. Sie war in vielem ihrer Zeit voraus, weil sie sich nicht auf die üblichen Rollen von Frauen und Männern festlegen ließ. Sie packte sich die ohnehin kurzen Haare zur Seite, band sich die Brust ab, ging ins Bordell oder in die Opiumhöhle, um zu sehen, was dort passiert. So recherchiert man halt. Aus heutiger Sicht gar nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist aber, dass dies in den 1920er Jahren geschah. Sie hat auch einen Film aufgenommen, der jetzt wiederentdeckt worden ist und den wir einigen aktuellen Regisseuren gezeigt haben, die sahen, wie sehr sich die Räume verändert hatten, wie damals bestimmte gesellschaftliche Interaktionen stattfanden. Vieles von dem Gezeigten wäre heute kaum noch vorstellbar.
Wir haben versucht, nicht nur sogenannte Opfergeschichten zu präsentieren. Wir wollten das Selbstbestimmte zeigen, das Engagement. Eva Kollisch, die ihr ganzes Leben als Radikale verbrachte, die sich als junge Geflüchtete in den USA zunächst für kommunistische Ideen begeisterte, dann aber feststellte, dass auch die sehr misogynen Strukturen im Kommunismus ihr überhaupt nicht entsprachen. Sie machte sich dann als Feministin einen Namen. Es gibt viele Stationen, die sich in einer Biographie zeigen lassen. Jede einzelne Biographie offenbart, dass es ganze Bewegungen nicht gegeben hätte, wenn sich diese Menschen nicht so klar und mutig geäußert und engagiert hätten. Sie hatten in der Regel wenig Unterstützung, aber ihre Geschichten zeigen, wie viel sich bewegen lässt, wenn man den Mut dazu aufbringt und zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2025, Internetzugriffe zuletzt am 6. Februar 2025. Titelbild: Alma Landshut 1932. Klaus-G.-Loewald-Familiensammlung. © Leo Baeck Institute New York | Berlin.)