„Everything is Alive“
Taylor und unser Verein
„Unsere Rache ist es, glücklich zu sein“ (HUSTEN: „Weiße Tiger“)
Was sagt der Pop in einer Zeit, die erschüttert wird von Kriegen, Pogromen, gesellschaftlicher Spaltung und drohenden Katastrophen. Kann er überhaupt noch helfen, verbinden, heilen oder ist er nur noch Eskapismus oder eine Warnung im Wind?
Zuerst muss man feststellen, dass der Pop wieder da ist. Nach dem Rückzug bedingt durch die Pandemie war das Jahr 2023 übervoll mit Alben. Jeder Künstler, jede Künstlerin, die schienen nur gewartet zu haben, um ein Album zu veröffentlichen. Dauerbrenner wie Lana del Rey und Mitski waren dabei und The National veröffentlichen sogar zwei Alben. Aber vor allem auch lang Absente wie Element of Crime, PJ Harvey und Sufjan Stevens veröffentlichten wunderbare Alben. Spitze des Ganzen sind wohl The Beatles welche eine verschollene Single mit Hilfe von AI wieder hörbar gemacht haben.
„Alles ist nur Übergang“ (Albumtitel und Song von All diese Gewalt)
Der inhaltliche Trend bei den ganzen Veröffentlichungen ist eine ausgeprägte Darstellung der eigenen Psyche. Psychohygiene und Mental Health Awareness Trends lassen grüßen. Pop hat das schon immer gemacht, aber so unmittelbar wie in den letzten Jahren war es wahrscheinlich nie. Das eigene Scheitern und der selbstbewusste Umgang damit und die daraus resultierende Selbstermächtigung sind oft Themen unterschiedlicher Künstler:innen. Damit repräsentieren viele dieser Künstler:innen auch unsere Gesellschaft. Diese scheint gespalten wie lange nicht mehr und man rätselt, wohin sich die westliche Demokratie bewegt, mit all diesen Krisen und der mit ihr einhergehenden Polarisierung im Angesicht eines vermeintlichen Versagens der Politik. In dieser Gemengelage schienen verschiedene Lager ihr Selbstbewusstsein zu gewinnen oder in Frage zu stellen: im Pop wie in der Gesellschaft.
Die Spaltung der Gesellschaft wird dabei in jedem Internetpost deutlich. Woke verteidigen empfindlich jede ansatzweise von Marginalisierung betroffene Person, die sie im Internet finden (egal ob sie will oder nicht), während sich Rechte über vermeintliche Ideologien beschweren und als Kulturwächter des „Man-wird-doch-noch“ hinaufschwingen und eben jede marginalisierte Person im Internet heimsuchen, die der Algorithmus auch nur in die Nähe ihrer Timeline treibt. Die Lage scheint aussichtslos und die Gräben marianengrabentief. Aber ist dem wirklich so?
Jüngst erschien mit „Triggerpunkte“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (Berlin, Suhrkamp, 2023) aber eine soziologische Studie, welche Anderes bestätigt. Weder ist der Kern der (deutschen) Gesellschaft gespalten noch steht (zum Bedauern einiger) ein Klassenkampf oder Bürgerkrieg kurz bevor. Die Probleme der Zeit werden von unterschiedlichen Gruppen ähnlich gesehen, wie zum Beispiel die ungleiche Verteilung von Reichtum und Besitz. Lediglich der Umgang mit den Problemen unterscheidet sich. Das ist und war für viele Besorgte eine gute Nachricht. Das Buch soll hier nicht zusammengefasst oder besprochen, aber empfohlen werden. Anstatt dessen liefert dieser Text zum Stand des Pop 2023 nur noch einen letzten fehlenden Beweis und ihr Name ist Taylor Swift.
Die „Quelle des Lichts“ (Time Magazine)
Die These, dass Taylor Swift 2024 erdrutschartig zur Präsidentin gewählt würde, würde sie antreten, ist nicht mal gewagt. Denn dieser Larger-than-Pop-Erscheinung haftete dieses Jahr eine Aura der Übermenschlichkeit an. Alles was sie anfasste wurde zu Gold. Ihre Tour machte sie zur Milliardärin. Alle vergangenen und zukünftigen Termine waren und sind ausverkauft. (auch der Autor dieses Artikels versuchte im Kanadaurlaub nachts um zwei vergeblich Tickets zu ergattern). Sie performte drei Stunden im Regen verschiedener ausverkaufter Stadien. Ihr Film zur Tour erfand den Konzertfilm neu und wurde zur Messe für Swifties, die tanzend vor den Leinwänden standen. Erfolgreich erkämpft sie sich die Rechte an ihren Alben zurück, in dem sie diese einfach erneut aufnimmt. Sie konnte auf Grund ihres Erfolges einen Auftritt im nächsten Super Bowl ohne Probleme ablehnen. Andere Künstler:innen würden dafür ihr letztes Hemd verkaufen. Deshalb auch außer Konkurrenz in meiner Playlist: Taylor Swift – 1989 (Taylor´s Version).
Apropos Football: die Wahl ihres aktuellen Freundes fiel auf Travis Kelce. Dieser ist American Football Spieler eines Teams im mittleren Westen des USA (Kansas City Chiefs). Diese Tatsache machte sie, für die von konservativen alten weißen Männern verantwortete Liga, zu einem Aushängeschild ihres Unternehmens, indem sie jedes Mal jubelnd gezeigt wurde, wenn Travis, während einem ihrer Besuche im Arrowhead-Stadion, auch nur in die Nähe des Footballs kam. Das Paradigma der Spielerfrau wurde aber an dieser Stelle umgedreht, denn obwohl er als Superstar der Liga gilt, ist er ihr Plus-One und nicht umgekehrt wie sonst so oft in der Welt des Sports. So konnte selbst die konservative und größte Liga der Welt Taylors Wirkung nicht widerstehen. Natürlich gab es auch einzelne, denen Swift zu oft gezeigt wurde und denen es lieber wäre, alle würden sich mal wieder aufs Football spielen konzentrieren (in ähnlichen Tönen wurde die WM in Qatar bejubelt). Aber auch diese wurden von einer breiten Masse abgewatscht und Taylor Swift wurde verteidigt. Denn auch wenn sie nicht die Ränder der Gesellschaft erreicht. Die Mitte wusste sie hinter sich. Dies brachte auch das Time Magazine auf den Punkt, welches sie als erste Künstlerin zur Person of the Year krönte und vermerkte: „In einer geteilten Welt, in der zu viele Institutionen scheitern, hat Taylor Swift einen Weg gefunden, Grenzen zu überschreiten und eine Quelle des Lichts zu sein“.
Taylor Swift kann dabei natürlich durch das Wort Pop ersetzt werden. Zu dieser oder diesen Quellen des Lichts fühlen sich aktuell viele hingezogen oder sie werden aktiv gesucht und es geht natürlich auch ohne ausverkaufte Stadien und eigene Kinofilme. Wer einen letzten Beweis braucht, wage dafür vielleicht einfach ein Experiment. So besuche man am Ende des Jahres, um ein verbindendes Erlebnis zu haben, im Gloria zu Köln ein Konzert von Fortuna Ehrenfeld. Im Idealfall fragt man dann noch bei einem gemeinsamen Bier die Person neben sich nach aktuellen schwierigen politischen Themen, um auch wirklich festzustellen, wie unterschiedlich man trotz gemeinsamem Musikgeschmack ist, um anschließend einem Mann mittleren Alters im Schlafanzug und mit Federboa gemeinsam zuzuhören und trotz der gemeinsamen Unterschiedlichkeit mitzusingen: „Die Welt ist eine Kugel und wir sind ihr Verein“.
Das Beste vom Pop 2023 Songs und Alben (komplette Playlist auf spotify)
Wusstet ihr, dass eure Leben wie ein Käsesortiment sind. Ich bis zu diesem Song wusste ich es auch nicht. Team Scheiße verbinden eigenes Scheitern, Klassenkampf und die leckerste Sache der Welt.
Hervorragender Indie-Pop. Sanfter Einstieg und ein explodierender Refrain, um die eigene Unsicherheit zu verarbeiten. Fantastisch!
Ein Song gegen toxische Männlichkeit und den Willen zu Gewalt und Wut. Die Antithese zu Herbert Grönemeyers „Männer“.
Das politischste Lied auf dieser Liste. Drastisch singen Pascow von Nazis mit Krawatten, verschwindenden Flussdelfinen und Mangrovenwäldern. Alle Krise unseres Planeten in einem Song. Nichts davon ist neu und so wird uns als letzte Konsequenz all dieser Krisen der Spiegel vorgehalten. „Wir haben von alledem gewusst.“
11.Slowdive – kisses (auf spotify und youtube)
Shoegaze von den Shoegazegroßmeistern aus Reading. Eingängiger und tanzbarer können Melodien im Shoegaze kaum sein.
Ein betörendes Liebeslied wie es nur Sven Regener schreiben kann. Bezaubernde Gitarren, Geigen und Sven Regeners Trompete verweben sich mit dem schönsten Stück Liebeslyrik dieses Jahres. Immer kurz vor dem Kitsch, aber immer ernst zu nehmen. Ein wunderbarerer Balanceakt.
Seltsamer und unglaublich willensstarker Synthie-Pop in der Tradition von Kate Bush. In den 1980ern wäre dies ein Hit geworden.
„All I am is shreds of doubt“ singt Matt Berninger auf Laugh Track zusammen mit Phoebe Bridgers. Zum einen kann hier das Ende einer Langzeitbeziehung herausinterpretiert werden oder aber der eigene Zusammenbruch und die einzige verzweifelte Flucht, die sich dem lyrischen Ich bietet. „Turn on the Laugh Track“.
In „Arbeit und Struktur“ verarbeitet Wolfgang Herrndorf sein Sterben und die kraftspendende Wirkung der titelgebenden Konzepte. Hotel Rimini greifen das auf und beschreiben die erlösende Wirkung von eben dieser für eine neue Generation. Kammerpop (heimlicher Star ist der Kontrabass) gepaart mit einem Feuerwerk dichter Lyrik welche beschreibt wie sich das lyrische Ich sich wünscht: „Ich wär so gerne fremdbestimmt, ein Kind was man zum Zähneputzen zwingt“.
Selbstzweifel sind tückisch. Das wissen auch die drei Songwriterinnen von boygenius. Die männlichen Götter der Fremdbewertung, werden hier vertrieben wie alte Geister. Aus der männlichen Zuschreibung „Always an angel, never a god“ wird am Ende ein selbstbewusster Schrei, wie ihn schon andere marginalisierte Gruppen gefunden haben. Kraftvoller weiblicher Songwriterpop für die Gen-Z, bei dem man neidisch wird nicht zu dieser zu gehören.
Letztes Jahr habe ich noch den spanischen Popstar mit Björk verglichen. Dieses Jahr liefern die beiden ein himmlisches und eingängiges Duett. Es bleibt dabei von Rosalia wird man Kreativ noch einiges erwarten können und Björk bleibt wahrscheinlich immer moderne Avantgarde. Wunderbar zu wissen, dass die beiden kreativen Größen unterschiedlicher Generationen sich so wunderbar verbunden haben. Äußerst kraftvolle Musik.
Der Sommertrack des Jahres. So karibisch und selbstbewusst kann man mit keinem anderen Track feiern. Trompetenchöre und ein simpler Synthiebeat machen das Lied zu einem Ohrwurm der das Leben feiert. Lasst die Korken knallen, denn „I like all my kisses french“.
Letztens schrieb mir ein alter Freund und fragte, was aus meiner Popallergie geworden ist, die ich mit 20 hatte. Meine Antwort war die Empfehlung von (unter anderem) Olivia Rodrigo. Ein perfekter Popsong, der zeigt wie weit der massentauglicher Pop mittlerweise gekommen ist, um aus einer Pianoballade einen treibenden Dancetrack zu formen, der jeden von den Füßen holt und enthusiastisch werden lässt. So werden selbst Teenageangst-Texte für spätere Generationen mitsingbar („Famefucker“) und man möchte fast die eigenen Kinder als Ausrede benutzen, um zu einem ihrer Konzerte nächstes Jahr zu gehen.
AI und musikalisches Genie geben zahllosen Musikjournalisten, die nach den Beatles geboren wurden, nochmal die Möglichkeit über wunderbare Geigen, Harmonien und einen Song zu schreiben, der mit jedem Klavierton vom Abschied erzählt und zu der ein oder anderen nostalgischen Träne rührt. So simpel und berührend wird Songwriting wohl nie mehr werden.
Diese Reinkarnation von Disco holt jeden auf den Selbstermächtigungsdancefloor. Jessie Ware bringt nicht nur Disco zurück, als wäre er nie weg gewesen, sondern er liefert auch eine Anleitung zur Selbstermächtigung. Die Aufforderung „Free yourself“ wird auch von sexueller Selbstbestimmung unterstützt („Please yourself“) und weiter vertieft, wenn sie den am Boden liegenden zuraunt: „You are a name, not a number, don´t you hide undercover, baby“. Kraftvoll und energisch bewegt dieser Song auch jedes ungeborene Kind. Diese Hymne lässt keine Wünsche offen.
Christopher Reichel, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 21. Februar 2024. „Everything is Alive“ ist der Titel des neuen Albums der Gruppe „Slowdive“. Alle Bilder: Christopher Reichel.)