Faire Wahlen? Nein, doch die Opposition gewinnt!
Ein Erfahrungsbericht aus dem polnischen Wahlkampf 2023
„Tribalism is attractive to politicians, because in many ways it is easier than democracy.” (Fintan O’Toole, Defying Tribalism, in: New York Review of Books, 2. November 2023)
In unserem Nachbarland Polen fanden am 15. Oktober 2023 entscheidende Parlamentswahlen statt, die nicht nur Polens Zukunft bestimmen werden, sondern auch die ganz Europas. Die Wahlen waren nicht fair. Die Regierung verlor dennoch. Der Wahlkampf, der in Polen geführt wurde, wird von Experten, wie dem Chemnitzer Historiker und Politologen Stefan Garsztecki, als einer der „schmutzigsten Wahlkämpfe seit 1989“ beschrieben. Das Deutsche Polen-Institut hat in der 318. Ausgabe seiner Polen-Analysen, in der auch die zitierte Analyse von Stefan Garsztecki zu finden ist, eine ausführliche Statistik veröffentlicht, mit den Gewinnen und Verlusten der Parteien, auch differenziert nach Regionen, sozialen und weiteren Kriterien.
Der „schmutzige“ Stil des Wahlkampfes war nicht zuletzt in den Medien und öffentlichen Debatten spürbar, sondern auch an der gezielt genutzten Rhetorik der Kontrahenten, sowie anhand einer Vielzahl von Demonstrationen, Märschen und Partei-Picknicks, die im Vorfeld abgehalten wurden. Es wurde mobilisiert, was das Zeug hält, mit allen Methoden, die zur Verfügung standen. Die vom Deutschen Polen-Institut veröffentlichte Einschätzung Stefan Garstzeckis enthält auch Analysen und Zahlen zur Wahl, zur Wahlbeteiligung und Parteipräferenzen, auf die im Folgenden verwiesen werden kann. Dieser Erfahrungsbericht konzentriert sich auf die Art und Weise, wie der Wahlkampf geführt wurde.
Die TV-Debatte
Auch das uns in Deutschland wohl bekannte Format der TV-Debatte vor den Wahlen fand statt und zeigte wie verhärtet und konträr sich vor allem die beiden großen Parteien Prawo i Sprawiedliwość (PiS) und Platforma Obywatelska (PO) bzw. Koalicja Obywatelska (KO) gegenüberstanden. Auf dem Sender TVP Info und anderen öffentlich-rechtlichen Kanälen wurde am 9. Oktober 2023 diese hitzige Debatte ausgestrahlt, an der alle zur Wahl stehenden Vertreter der zu den Parlamentswahlen antretenden Parteien teilnahmen
Erwähnenswert ist, dass es die einzige Gesprächsrunde des Wahlkampfes 2023 war, bei der der amtierende Premierminister Mateusz Morawiecki und der Oppositionsführer der Koalicjia Obywatelska (KO) Donald Tusk sich gegenüberstanden. Der Schlagabtausch zwischen den Hauptkandidaten der beiden größten polnischen Parteien fand auf einem sehr niedrigen Niveau statt. Mateusz Morawiecki bezeichnete gleich bei der ersten Frage alle Mitdiskutierenden als „Bande des Rothaarigen“. Er zitierte damit Jarosław Kaczyński, der Donald Tusk bereits im Wahlkampf als „ryży“ beschimpft, eine pejorative Formulierung für jemanden Rothaarigen.
Beide, Morawiecki wie Tusk, konzentrierten sich nicht auf der Darstellung ihrer jeweiligen politischen Vorstellungen für die Zukunft Polens oder darauf dem Zuschauer das eigene Wahlprogramm näher zu bringen, sondern darauf sich gegenseitig zu beschimpfen und den Gegner in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. Wie bereits der gesamte vorherige Wahlkampf war auch diese Debatte sehr schmutzig geführt worden und hat keiner der beiden großen Parteien geholfen Wähler zu generieren. Eher das Gegenteil ist der Fall!
Alle anderen Teilnehmer haben im Schatten der persönlichen Querelen Morawieckis und Tusks geglänzt. Szymon Hołownia (Trzecia Droga), Krzysztof Bosak (Konfederacja), und Joanna Scheuring-Wielgus (Lewica) und Krzysztof Mai (Samorządowcy) haben so die Möglichkeit gehabt, ihre Ansichten auf eine vernünftige und professionelle Art und Weise kund zu tun und haben so den Wähler eher überzeugen können. Es war klar, dass Mateusz Morawiecki diese Debatte dazu nutzen würde, um Donald Tusk vorzuführen, da ein Großteil seines vorhergegangenen Wahlkampfes bereits auf einer Anti-Tusk-Kampagne basierte.
Es überraschte jedoch einen erfahrenen Politiker mit Format, wie man Donald Tusk eigentlich aus Zeiten als EU-Ratspräsident kennt, zu sehen, wie er sich provozieren ließ und sich auf die Sticheleien des PiS-Kandidaten einließ. Es war Tusks einzige Chance auch dem Zuschauer der öffentlich-rechtlichen Sender der TVP-Gruppe seine Ansichten darzustellen. Diese Chance hat er zweifelsfrei verpasst und hat sein negatives Bild, welches die PiS-Wähler bereits von ihm hatten nur noch bestärkt. Tusk schien aufgeregt und hat des Öfteren gestottert, was angesichts der andauernden Hetzkampagnien des TVP gegen seine Person jedoch nicht verwundert.
Die politische Spaltung Polens
Anhand dieser Debatte kann man hervorragend sehen, wie stark die politische Landschaft Polens gespalten ist und wie kontrovers der Wahlkampf geführt wurde. Es wurde vor keinem Mittel zurückgeschreckt, den politischen Gegner schlecht dastehen zu lassen, von allen beteiligten Seiten. Dies mag daran liegen, dass es sich in der Wahrnehmung vieler Polen, ob aus dem demokratisch-liberalen oder konservativem Spektrum, um eine Schicksalswahl handelte. Es zeichnete sich bereits früh ab, dass die Zukunft Polens inklusive der Rolle in der EU von diesen Wahlen maßgeblich abhängt. Themen wie die Abtreibungsdebatte, die Justizreformen oder die Sicherheitspolitik Polens, um nur einige wenige zu nennen, sind momentan richtungsweisend für die Zukunft aller Polen. Es war klar, würde die PiS wieder die absolute Mehrheit erreichen, könnte sie erneut allein regieren und würde die bereits in Rollen gebrachten Vorhaben wie die Entfremdung von der EU, die Hetze gegen die LSGBTQ*-Community und die anti-deutsche Rhetorik ausweiten.
Im Gegensatz zu den vorhergehenden Parlamentswahlen aus den Jahren 2015 und 2019, war aber recht früh deutlich absehbar, dass die PiS diesmal jedoch keine absolute Mehrheit im Parlament erreichen würde, die sie dazu befähigen könnte, allein zu regieren. Ehemals potenzielle Koalitionspartner, wie die ultra-konservative Konfederacja haben sich schon früh von der Regierungspartei abgewendet und klargestellt, dass sie in keinem Fall mit der PiS eine Koalition eingehen werden. Anders verliefen jedoch die Gespräche in der demokratisch-liberalen Opposition. Die drei demokratischen Oppositions-Wahlbündnisse der KO, Trzecia Droga und Lewica haben sich hingegen bereits während des Wahlkampfes klar dafür ausgesprochen zusammenzuarbeiten und falls es zu einer Mehrheit kommt auch eine Koalition zu bilden.
Genau dieser Fall ist nun eingetreten. Diese Einigkeit und der Wunsch, die PiS zu entmachten, hat zu einem Stimmenzuwachs dieser Oppositionsparteien geführt. Ein polnisches Spezifikum der Wählerlandschaft ist, dass bereits seit Jahren eine deutliche Teilung zwischen Süd-Ost und Nord-West Polen sowie ein starkes Stadt-Landgefälle zu verzeichnen sind. Vor allem in den Dörfern und kleinen Städten liegt die PiS in der Wählergunst vorne, sowie im konservativeren Süd-Osten des Landes. Die liberale Opposition erringt die Mehrheit traditionell in Metropolen und Großstädten wie Warschau, Breslau oder Danzig und ist vor allem im Nord-Westen Polens gewählt worden. Die Statistiken des Deutschen Polen-Instituts belegen dies.
Die Stimmung in der polnischen Bevölkerung kurz vor Wahlbeginn war überaus hoffnungsvoll und gleichzeitig angespannt, auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Das hat man vor allem an großen Wahlveranstaltungen gesehen, wie dem durch die Oppositionsparteien organisierten „Marsz Milion Serc“ (Marsch der Millionen Herzen) oder die durch die PiS organisierten Familien-Picknicks und der parteiinternen Gegenveranstaltung zum Oppositionsmarsch, die in Kattowitz stattfand. Diese Veranstaltungen waren maßgeblich an der Stimmungsbildung im Land beteiligt und wurden in den Medien stark diskutiert und emotionalisiert. Den Wahlkampf dominierten immer wiederkehrende Themen.
Rhetorik unter der Gürtellinie
Schon lange vor dem Beginn des Wahlkampfes ließ die Debattenkultur vieler polnischer Politiker zu wünschen übrig. Jarosław Kaczyński sagte am 18. Juli 2017 in tiefer Rage: „Wischt eure verräterischen Fressen nicht mit dem Namen meines in heiliger Erinnerung verbleibenden Bruders ab. Ihr habt ihn zerstört, ihr habt ihn ermordet. Ihr seid Mistkerle.“ (Polnisches Original: „Nie wycierajcie swoich mord zdradzieckich nazwiskiem mojego świętej pamięci brata. Niszczyliście go, zamordowaliście. Jestescie kanaliami.”). Die PiS-Abgeordnete Joanna Lichowska zeigte während einer Sejm Sitzung öffentlich den Mittelfinger und behauptete dann, ihr Auge hätte gejuckt und sie sich lediglich kratzen wollen. Es kam immer wieder zu derartigen Entgleisungen. Auch von Seiten der Opposition wurde der Ton nicht nur während des Wahlkampes härter. Die berühmten acht Sternchen (***** ***) stehen für „Jebać PiS” („Fuck PiS”) und sind ein treffendes Beispiel dafür, dass von allen Seiten eine sehr fragwürdige Rhetorik genutzt wurde.
Während der Wahlen hat diese negative Rhetorik einen neuen Höhepunkt erreicht. Es wurde persönlich beleidigt. So wurde Donald Tusk von Jarosław Kaczyński im Juni 2023 öffentlich bei einer Familien-Wahlveranstaltung beleidigt: „Denken Sie an diesen Rothaarigen. Er ist heute die größte Bedrohung für Polen.“ (polnisch: „Pamętajcie o tym ryżym. On jest dzisiaj największe zagrożenie dla Polski.“). Es zeugt von einem massiven Fehlen sachlicher Argumente, wenn man zu solchen rhetorischen Mitteln greifen muss. Aber die angespannte Atmosphäre während des Wahlkampfes führte immer öfter zu rhetorischen Eskapaden bis hin zu persönlichen Beleidigungen sogar der Wählerschaft. Spitzenreiter hierbei war wieder einmal die PiS. Jarosław Kaczyński beleidigte beispielsweise während eines Wahlkampf-Picknicks seiner Partei die Wählerschaft der KO und der anderen Oppositionsparteien als „bandydckie jamy“ („Banditen-Mäuler“).
Ein immer wieder auftretendes rhetorisches Mittel war die Streuung von Angst, sei es die Angst vor russischer Aggression, vor deutscher Dominanz in der EU, vor Flüchtenden oder vor dem Verlust der Souveränität, wenn die Opposition an die Macht käme. Diese Floskeln wurden gebetsmühlenartig wiederholt. Diese Rhetorik sollte dem Wähler verdeutlichen, dass nur die regierende Partei in der Lage wäre, Polen vor der allseitigen Bedrohung zu beschützen. Dieses Bedrohungszenario hat lange Tradition in der PiS-Partei, jedoch auch hier ist ein massiver Anstieg der Nutzung in den Reden der Politiker während des Wahlkampfes zu verzeichnen.
Diese gar inflationäre Nutzung und Wiederholung bestimmter Feindbilder und Themen zeugt davon, wie viel Furcht die PiS hatte, die Position als Regierungspartei zu verlieren und wie sehr sie glaubte, deswegen alle Geschütze auffahren zu müssen, um nicht zu verlieren. Nicht nur Politiker mussten sich derartigen Beschimpfungen gefallen lassen. Auch die bekannte Regisseurin Agnieszka Holland hat diese Worte zu spüren bekommen. Zu ihrem Flüchtlingsdrama, dass kurz vor den Wahlen in polnischen Kinos erschien und die Problematik der Flüchtenden an der belarussisch-polnischen Grenze zeigt, die „Grüne Grenze“, äußerte sich Präsident Andrzej Duda mit einem Spruch aus der NS-Zeit: „Nur Schweine sitzen im Kino“ („Tylko świnie siedzą w kinie.“). Ein anderer Politiker sagte, dass man in Deutschland nun keine Leni Riefenstahl mehr bräuchte, man hätte dafür ja jetzt Agnieszka Holland. Somit wurde regelrecht Hass von Seiten der Regierenden versprüht, was aber vermutlich auch zu dem Wahldebakel beitrug. Die Situation eskalierte so sehr, dass der PO-Politiker Borys Budka von PiS-Anhängern in Kattowitz überfallen und geschlagen wurde.
Auch die Opposition hat Worte genutzt, die den politischen Gegner beleidigten, jedoch nicht in so einem dramatischen Ausmaß. So nannte Donald Tusk Mateusz Morawiecki „Pinocchio“, was jedoch bereits seit Jahren in der Bevölkerung gang und gebe ist, da er für seine Lügen bekannt sei. Die Floskel der „Fetten Katzen“ („Tłuste Koty“) wurde als Symbol für die Korruption in den derzeitigen Regierungskreisen genutzt, zu Beispiel von Szymon Hołownia, dem Parteivorsitzenden der Partei Polska 2050/Trzecia Droga.
Feindbild Deutschland – Feindbild Tusk
Die Person des bereits 2007 bis 2014 regierenden Premierministers und anschließenden EU-Ratspräsidenten Donald Tusk ist seit Beginn der Regierung der PiS 2015 das Feindbild Nummer 1. Einer der wichtigsten Bestandteile der Wahlkampagne gegen die Opposition beziehungsweise Donald Tusk persönlich war auch die Unterstellung er würde deutsche Interessen vertreten und der durch Deutschland dominierten EU zuarbeiten. Das implizierte, dass er nicht für ein souveränes Polen einstehen würde, sondern Polen dem Höchstbietenden oder militärisch Stärkeren überlassen würde. Dieses Narrativ wurde ununterbrochen in den öffentlich-rechtlichen Medien wiederholt. Ein Ausschnitt von Donald Tusk taucht immer wieder in den polnischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern auf, wie er während einer Laudatio zum CDU-Jubiläum in der Position des Präsidenten der Fraktion der Europäischen Volksparteien auf Deutsch sagt: „Für Deutschland“. Diese Aussage wurde jedoch vollständig aus dem Kontext gerissen. Auch die Aussage Ursula von der Leyens, dass sie hoffe: „Wenn wir uns wiedersehen, werde ich Sie, wie Sie gesagt haben, als Premierminister sehen.“, hat dieses Narrativ massiv befeuert. Diese Rhetorik sollte bekräftigen, dass Tusk Polen 2014 verraten, einen gutbezahlten Posten in der EU angenommen hätte und eine Marionette der Deutschen unter dem Deckmantel der EU wäre. Auch das Schlagwort „Souveränes Polen“ ist hier zu nennen, da während des Wahlkampfs immer wieder die Angst geschürt wurde, dass sobald die PiS die Macht verliert, dies dann auch die polnische Souveränität kosten würde, da sich Polen einem deutschen Diktat unterwerfen würde.
Aufgrund der derzeitigen Konfliktlage auf der Welt war die Sicherheitspolitik ein großes Thema. Es wurde während des Wahlkampfs Donald Tusk unterstellt, er hätte während seiner Amtszeit als Premierminister einen sicherheitspolitischen Plan entworfen, welcher besage, dass Polen im Falle eines Angriffs aus dem Osten an der Weichsel geteilt werden würde und dort die Frontline verlaufen würde. Dadurch wurde Tusk und der gesamten damaligen Regierung aus PO und PSL unterstellt, sie hätten im Kriegsfalle die Hälfte Polens und was noch schlimmer, die dort lebenden Menschen, kampflos dem Feind überlassen. Diese Vorwürfe kann man durchaus auch als Spiel mit der Erinnerung an die Abtrennung Ostpolens durch den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 deuten. Um diese Nachricht zu verbreiten hat man auch Social Media für sich entdeckt. Es wurde ein kurzer Clip auf dem Twitterkonto der PiS veröffentlicht, in der der aktuelle Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak davor warnte, dass mit einer Regierung unter der Leitung von Tusk eine ähnliche Sicherheitspolitik zu erwarten wäre und die PiS der einzige Garant wäre, dass solche Pläne nie wieder geschmiedet werden könnten. Auffällig ist auch, dass die sonst so gerne benutzte Geschichtspolitik im diesjährigen Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt hat. Lediglich die historische Angst und die Traumata der Vergangenheit sind spürbar und werden weiterhin genutzt, um Wähler zu beeinflussen, wie man an dem Beispiel der Verteidigungslinie an der Weichsel sehr gut sehen kann. Vor allem Nachbarstaaten wie Deutschland, Russland oder auch die Ukraine werden immer wieder historisch gelesen, da viele Wunden der Vergangenheit noch nicht geheilt sind.
Eine viel diskutiertes Kurzvideo der gleichen Art zeigt den Vorsitzenden Kaczyński, wie er gerade einen fiktiven Anruf vom deutschen Konsulat erhält und ihn der dortige Anrufer zu Kanzler Olaf Scholz durchstellen möchte, der das Rentenalter in Polen erhöhen wolle. Jarosław Kaczyński lehnt selbstbewusst ab, mit den Worten: „Tusk ist nicht mehr hier und diese Angewohnheiten sind vorbei.“ Dieser Clip wurde auch in der Tagesschau thematisiert. Beide Propaganda Clips aus dem Netz zielten klar auf die junge Wählerschaft ab, der schon früh vermittelt werden soll, dass man von Feinden umgeben ist, vor allem Deutschland und Russland, und nur die PiS wäre in der Lage, Polen vor diesen äußeren Feinden beschützen und verteidigen.
Als man dann – metaphorisch gesprochen – den Boden unter den Füßen brennen sah und immer mehr den Eindruck gewann, dass die Hetze gegen Tusk nicht den gewünschten Erfolg brachte, hat man zu einem härteren Mittel gegriffen. Es wurde ein umstrittene Gesetzesvorhaben im Sejm besprochen und verabschiedet, dass unter dem Namen „Lex Tusk“ (offiziell: „Gesetz über die Kommission zur Erforschung des russischen Einflusses auf die innere Sicherheit der Polnischen Republik in den Jahren 2007 bis 2022“) bekannt wurde, ein Indiz dafür, wie viel Angst die PiS vor der Rückkehr Donald Tusks in die polnische Politik und vor einem Sieg der Opposition hatte.
Im „Lex Tusk“ geht es darum, Agenten der russischen Föderation zu überführen, womit die Regierung jedoch Donald Tusk gerne politisch ausgeschaltet hätte. Oft wurde von Seiten der PiS Tusk vorgeworfen, dass er sich mit Vladimir Putin getroffen hätte und eine politische Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation anstrebte. Auch gibt es bis heute Gerüchte in konservativen Kreisen, dass er zusammen mit Putin für den Absturz der Präsidentenmaschine in Smolensk mitverantwortlich wäre. Das ursprüngliche Gesetz sah vor, Betroffenen das Recht abzuerkennen, für ganze zehn Jahre öffentliche Ämter zu bekleiden. Nachdem Andrzej Duda das Gesetz bereits unterschrieben hatte, musste es novelliert werden, da es zu starker Kritik aus der EU und den USA kam. Nach diesen Prosteten wurde der umstrittene Paragraf gestrichen.
Wir kennen jetzt das Wahlergebnis und dürfen feststellen, dass nach acht Jahren der PiS-Regierung das Argument, dass alles die Schuld der Vorgängerregierung und insbesondere Donald Tusks Schuld sei, nicht gewirkt hat. Rückwirkend betrachtet war das Schreckgespenst Donald Tusk für viele Wähler wohl nicht mehr so beängstigend wie es das für seinen persönlichen Widersacher Jarosław Kaczyński war. Diese Rhetorik des Hasses hat der PiS im Wahlkampf also nicht genützt und wahrscheinlich sogar Stimmen gekostet.
Rolle der Medien im Wahlkampf
Das wichtigste Medium, über das Wahlkampf betrieben wurde, war nach wie vor Funk und Fernsehen. Die politische Medienlandschaft ist in kaum einem europäischen Land so gespalten und konträr wie in Polen. Es stehen sich zwei Narrationen feindlich gegenüber, einmal die des öffentlich-rechtlichen TVP, andererseits die der freien Medien wie TVN oder die Gazeta Wyborcza. Diese Teilung besteht bereits seit Mitte der 2010er Jahre, als die PiS an Macht gewann und mit der Übernahme der Regierung auch ihre Vertrauten an die Spitze der öffentlich-rechtlichen Sender setzte, wie Jacek Kurski. Auch während des diesjährigen Wahlkampfs haben diese Institutionen massiv Einfluss auf die Stimmungsbildung in der Bevölkerung genommen und somit versucht, auch das Wahlergebnis mitzugestalten.
Es wurde sehr schnell deutlich, welche Partei der jeweilige Sender unterstützt, wenn man ihn länger als fünf Minuten eingeschaltet hatte. Wenn man den Nachrichtensender TVP Info oder die Hauptnachrichtensendung im TVP 1 „Wiadomości“ schaute, verging kein Tag an dem nicht über Deutschland, die Europäische Union und Donald Tusk hergezogen wurde. Es wurden ständig aus dem Kontext gerissene Ausschnitte wiederholt, die zeigen sollten, dass Donald Tusk eine Marionette wäre, die wie bereits erwähnt, mit Hilfe der EU durch den Hegemon Deutschland gesteuert würde. Es wurde auch nach der Wahl noch versucht, dem Zuschauer einzureden, dass die PiS gewonnen habe und die Opposition sich ihren Sieg einbilde.
Der private Fernsehsender TVN und der dazugehörige Nachrichtensender TVN 24, die den Regierenden schon länger ein Dorn im Auge sind, waren hingegen überaus kritisch gegenüber der PiS. Hier hat man den Unterschied zwischen Propaganda und freiem Journalismus sehen können. Es wurde auch Kritik geäußert, jedoch wurde nicht jeden Abend das gleiche Bild gezeigt und gebetsmühlenartig versucht, den Zuschauern ein bestimmtes Weltbild zu vermitteln.
Nach der Wahl hat die demokratische Opposition, die sich derzeit auf die Übernahme der Regierung vorbereitet, klar gesagt, dass es ein festgelegtes Ziel ihrer Regierung ist, die Medienlandschaft in Polen wieder zu pluralisieren und den politischen Einfluss hier zu minimieren beziehungsweise ganz zu entfernen. Man sieht regelrecht, welche Angst die Mitarbeiter der TVP-Gruppe vor der Machtübernahme der Opposition haben, da Gerüchte kursieren, man würde nach den Wahlen die Sender liquidieren oder zumindest massiv umgestalten wollen. Es wird in diesem Zusammenhang in bewährter Täter-Opfer-Umkehr davor gewarnt, dass ein Anschlag der zukünftige Regierung auf die in den Augen der PiS-Anhänger „freien Medien“ und die Pressefreiheit, welche selbsterklärend nur TVP garantiere, bevorstehe. Allerdings hat es wohl wenig mit objektiven und freien Medien zu tun, wenn man sieht, was die TVP-Gruppe alltäglich publiziert und dass vor Beleidigung, Manipulation und Unterstellungen nicht zurückgeschreckt wird.
Nach der Wahl wird nun nicht mehr allein vor Donald Tusk als Person gewarnt, sondern es wird ein Bild des absoluten Chaos vermittelt und das in Bezug auf die gesamte Opposition, aber laut TVP sich uneins und unfähig ist. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Oppositionsparteien in ihren politischen Vorstellungen viel zu weit voneinander entfernt seien. Dies soll in erster Linie den enttäuschten PiS-Wählern Hoffnung geben, dass ihre Partei es vielleicht doch noch schafft, auf wundersame Weise die Regierung zu stellen.
Mobilisierung bestimmter Wählergruppen
Die Wahlbeteiligung ist am 15. Oktober 2023 auf einen Rekordwert gestiegen. 74,38 Prozent der Polen konnten mobilisiert werden und haben in der Parlamentswahl ihre Stimme abgegeben Diese Rekordfrequenz gab es in der Dritten Polnischen Republik so noch nicht und ist auch im europäischen Vergleich ein Spitzenwert. Im Jahr 2019, bei der vorherigen Wahl, lag die Wahlbeteiligung über zehn Prozent unter der diesjährigen, nämlich bei 61,74 Prozent. Dies zeigt deutlich, dass eine bestimmte Wählergruppe den entscheidenden Unterschied gemacht hat: die Nichtwähler. In den Kampagnen, Debatten und auf Social Medien wurde ein besonders lauer Wahlkampf geführt, um die verschiedenen Wählergruppen, die traditionell bisher eher dem Nichtwähler-Spektrum angehörten, zu mobilisieren.
Besonders viele junge Menschen, etwa Erstwähler, sind zur Urne gegangen und haben erstmalig abgestimmt, vor allem in den größeren Städten. Als Inbegriff für diese hohe Wahlbeteiligung und die Stimmen der jungen Polen steht das Wohnviertel „Jagodno“ in Wrocław, wo mehrheitlich junge Menschen bis in die Nachtstunden anstanden, um ihre Stimme abzugeben. Traditionell hat die Bürgerplattform mehr Anhänger bei jungen, gebildeten und urbanen Wählergruppen aus dem Nord-Westen, während die PiS in den ländlichen Regionen mit älterer und niedriger gebildeter Bevölkerung im Süd-Osten Polens eine Stimmenmehrheit sicher hat. Auch diesmal hat man dieses Ost-West-Trennlinie ganz deutlich beobachten können, wie die Analysen des Deutschen Polen-Instituts zeigen.
Zum Wahlsieg der demokratischen Opposition haben dieses Jahr aber insbesondere auch die Frauen beigetragen, die besonders stark angesprochen wurden, wählen zu gehen, da es sich auch um ihre Belange und um die Zukunft Ihrer Töchter und Enkelinnen handele, ob es die Abtreibungsgesetzgebung der PiS war, die kontrovers diskutiert wurde und bereits Menschenleben gekostet hat, oder der Kampf gegen die offen frauenfeindliche Konfederacja. Mitglieder dieser Rechtsaußen-Partei sehen Frauen als „Besitz des Mannes“ an und forderten allen Ernstes das Frauenwahlrecht abzuschaffen. Dagegen haben sich die polnischen Wählerinnen klar ausgesprochen und sind verstärkt zur Wahlurne gegangen. Sie haben das Ergebnis der Wahl nachhaltig beeinflusst. Aufrufe berühmter Persönlichkeiten und Politiker haben mitgeholfen zu mobilisieren. Diese erinnerten und wiederholten, man sollte sich seine Mutter, Schwester, Tante, Freundin, Oma schnappen und wählen gehen, für sich selbst sowie für die künftige Generation polnischer Frauen.
Das Referendum
Neben den Parlamentswahlen, die natürlich die meiste Aufmerksamkeit in der Bevölkerung hervorgerufen haben, wurden am Wahltag gleichzeitig auch Senatswahlen und ein Referendum abgehalten. Vor allem das Referendum wurde sehr kontrovers diskutiert, da die Fragen sehr PiS-freundlich gewählt und ausgesprochen suggestiv formuliert waren. Die Fragen lauteten:
- Frage 1: Unterstützen Sie den Verkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, der dazu führt, dass polnische Frauen und Männer die Kontrolle über strategische Bereiche der Wirtschaft verlieren?
- Frage 2: Unterstützen Sie die Anhebung des Rentenalters, einschließlich der Wiedereinführung der Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre für Männer und Frauen?
- Frage 3: Unterstützen Sie die Abtragung des Grenzzauns zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?
- Frage 4: Unterstützen Sie die Aufnahme von Tausenden illegalen Einwanderern aus dem Nahen Osten und Afrika gemäß dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?
Bereits an den Formulierungen sieht man, dass es nur eine richtige Antwort für die Fragensteller gibt und die Frage bereits den Wähler in eine ganz bestimmte Richtung leiten möchte. Viele Wähler fanden es aufgrund der manipulativen Formulierungen der Fragen falsch an der Abstimmung teilzunehmen und haben von vornherein klar gesagt, dass Sie den Referendums-Bogen gar nicht erst annehmen werden. Da man 50 Prozent Wahlbeteiligung benötigte, damit das Ergebnis bindend ist, wollten viele mit der Verweigerung der Annahme des Referendums-Bogens bewirken, dass die Regierenden nicht durch klar befangen gestellte Fragen an Macht gewinnen.
Auch wurde immer wieder Kritik an den Themen der gestellten Fragen geäußert. Keine der Oppositionsparteien hatte eine Anhebung des Renteneintrittsalters oder die Abtragung des Grenzzauns zu Belarus in ihren Wahlprogrammen gefordert. Trotzdem wurden die Themen instrumentalisiert, um der Opposition diese angeblichen Pläne vorzuwerfen. Es war reine Stimmungsmache und klar für den Wahlkampf inszeniert worden, um dem Gegner gar nicht vorgesehene Vorhaben in den Mund zu legen. Die Befürworter des Referendums hingegen beteuerten, dass die Abstimmung der Themen richtig und wichtig sei, um sicherzustellen, dass für den Fall, dass es zu einem Regierungswechsel kommen sollte, man in diesen Bereichen eine klare Vorgabe hätte, wie man mit den Themen umzugehen habe.
Das Referendum scheiterte. Alle vier Fragen wurden zwar mit einer überwältigen Mehrheit von deutlich über 90% mit „Nein“ beantwortet, jedoch ist das Ergebnis nicht bindend, da die Wahlbeteiligung lediglich etwas über 40% liegt. Anzunehmen ist, dass das Ergebnis stark damit zusammenhängt, dass viele Wähler die Annahme der Bögen abgelehnt haben und vor allem PiS-Sympathisanten an der Abstimmung teilgenommen haben. Es war eine Aktion, die absolut tendenziös war und die Absicht hatte, die Grundwerte und Normen der PiS auch nach einer verlorenen Wahl weiterzutragen.
Fazit und Ausblick
Abschließend können wir sagen, dass sich der Wahlkampf, so schmutzig er war, vor allem zu Gunsten der Opposition ausgewirkt hat. Die rekordträchtige Wahlbeteiligung von über 74 Prozent zeigt, dass vor allem die liberale Opposition an Stimmen dazu gewonnen hat. Man hat es geschafft, Frauen und junge Menschen mit dem Versprechen zu mobilisieren, einen von vielen lang ersehnten Wandel in der Politik herbeizuführen. Je höher die Wahlbeteiligung, desto lebendiger die Demokratie.
Derzeit befindet sich Polen in einer sehr schwierigen Situation, da der prozentuale Sieger der Wahlen (PiS 35,3 Prozent) nicht regierungsfähig ist, da keine andere Partei mit ihr koalieren möchte. Jedoch ist die zweitplatzierte Partei (KO 30,7 Prozent) fähig und willens, mit zwei weiteren Parteien (Trzecia Droga 14,4 Prozent / Lewica 8,6 Prozent) eine stabile Koalition zu bilden. Den Willen und die Einigkeit eine Regierung zu bilden, haben die Parteivorsitzenden bereits öffentlich kundgetan. Trotz dieser komplizierten und doch so eindeutigen Situation hat Andrzej Duda den bisherigen Premierminister Mateusz Morawiecki beauftragt eine Regierung zu bilden. Dies wird den ganzen Prozess der Regierungsfindung jedoch nur unnötig verzögern. Dies war jedoch zu erwarten, da Duda für seine PiS-nähe bekannt ist. Die Partei Kaczyńskis hat zwar prozentual die Wahl gewonnen, jedoch deutlich an Stimmen verloren, das ist Fakt, ebenso wie die Tatsache, dass es keinen Koalitionspartner gibt, der nach acht Jahren Regierung mit der PiS zusammenarbeiten möchte. Das spricht für sich.
Welche Spielräume die neue Regierung haben wird und wie sie diese angesichts des bis 2025 noch amtierenden Präsidenten Duda gestalten kann, ist allerdings auch eine offene Frage. Duda hatte den Spitznamen „Kaszyńskis Kugelschreiber“, er hat aber auch die Möglichkeit, Parlamentsbeschlüsse zurückzuweisen. Dieses Veto kann dann nur mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit aufgehoben werden, die die potenzielle Regierung jedoch nicht hat.
Ines Skibinski, Bonn
Die Autorin ist Polin und hat in den Wochen vor der Wahl vom 15. Oktober 2023 den Wahlkampf in Polen beobachtet. Sie promoviert in der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn über Geschichtsbild und Geschichtspolitik der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) und den damit zusammenhängenden Emotionen, die die Beziehungen zu Polens Nachbarstaaten prägen. Hierbei befasst Sie sich intensiv mit der Rhetorik und den Metaphern politischer Kommunikation. Sie hat in Bonn und in Warschau studiert und hält sich für ihre Feldforschung regelmäßig in Polen auf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Geschichte Polens seit 1918, die Geschichtspolitik der PiS, Emotionsgeschichte, Erinnerungskultur in Osteuropa, sowie historische Beziehungen und Konflikte Polens zu Deutschland Russland und der Ukraine.
Die polnischen Parteien im Sejm:
- Prawo i Sprawiedliwość (PiS) ist die bisherige Regierungspartei. Der Vorsitzende der PiS ist Jarosław Kaczyński, der aus der zweiten Reihe die Politik mitbestimmt. Das von der PiS geführte Wahlbündnis der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) umfasst auch mehrere konservative Kleinstparteien, wie Suwerena Polska, die Partei des umstrittenen Justizministers Zbigniew Ziobro, und die Republikanische Partei.
- Koalicja Obywatelska (KO) ist ein Wahlbündnis mit der Platforma Obywatelska (PO) als größte Partei. Die Führungsrolle übernimmt klar Donald Tusk, aber auch der Warschauer Stadtpräsident Rafał Trzaskowski prägt die Partei. Ihr gehören neben der PO auch kleinere Parteien an, die ohne diesen Zusammenschluss nicht ins Parlament eingezogen wären, wie Nowoczesna, Zieloni, Agrounia, Inicjatywa Polska. Dieser Zusammenschluss von ideologisch sehr weit entfernten Parteien hat es schwer, einen Konsens zu finden.
- Trzecia Droga ist ein Wahlbündnis der Parteien PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe) mit Władysław Kosiniak-Kamysz an der Spitze, und der neugeründeten Polska 2050, des Journalisten und Moderators Szymon Hołownia. Dieses Wahlbündnis ist der Überraschungsgewinner dieser Wahl, da sie aus dem Stand über 14% geholt haben.
- Lewica ist ein Wahlbündnis der Partei Razem und der Nowa Lewica, in der die Nachfolgepartei der „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“(SLD) (Sojusz Lewicy Demokratyczne)
- Konfederacja ist die Rechtsaußen-Partei, die vor allem mit sehr provokanten Aussagen in Erscheinung tritt. So hat Mitbegründer der Partei Janusz Korwin-Mikke sich oft frauenfeindlich und rassistisch geäußert. Derzeit wurde ein Generationswechsel in der Partei vollzogen und Krzysztof Bosak und Sławomir Menzen sind die Gesichter der Ultrarechten.
- Die deutsche Minderheit ist nicht mehr im Sejm vertreten.
Eine detaillierte Aufstellung des Wahlergebnisses findet sich in der Ausgabe Das Wahlergebnis mit Gewinnen und Verlusten:
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 8. November 2023, das Titelbild zeigt den Marktplatz von Katowice, gefunden bei Pixabay, alle Bilder im Text Wikimedia Commons.)