Franz Kafka in der Ukraine
Ein poetischer Essay von Volodymyr Krizhanovskyj
„Alles, was möglich ist, geschieht; möglich ist nur, was geschieht.“ (Franz Kafka, Tagebucheintrag)
Das Goethe-Institut Ukraine und der Ukrainische Deutschlehrer- und Germanistenverband (UDGV) haben anlässlich des 100. Todestages von Franz Kafka Studierende (Mindestalter 17 Jahre) eingeladen, bis zum 28. September 2024 ihre Gedanken in Form eines kurzen Essays von etwa 5.000 Zeichen aufzuschreiben. Es beteiligten sich 48 Studierende. Hier der Ausschreibungstext:
2024 ist das Jahr, in dem sich der Geburtstag von Franz Kafka zum hundertsten Mal jährt. Dieses Jahrhundert macht es möglich, zu lernen, zu versuchen zu verstehen und einen neuen Horizont zu definieren – sowohl in der Wahrnehmung der Welt als auch in der Fähigkeit, für jeden Menschen seinen Platz darin zu finden. Die komplexe Biografie des talentierten Schriftstellers, die schwierigen Wendungen seines Schicksals, ein ganz außergewöhnlicher künstlerischer Blick auf den Zeitgenossen mit seinen Schmerzen, Ängsten, Verlusten, Gewinnen, seinen emotionalen Erfahrungen und seiner Suche nach Harmonie und Glück – im Laufe der Zeit sowie zahlreicher historischer, sozialer, kultureller und ideologischer Veränderungen zieht die Gestalt des Autors die Aufmerksamkeit von Lesern und Forschern aus verschiedenen Bereichen der Geisteswissenschaften auf sich.
Nach seinem Jurastudium an der Karls-Universität in Prag arbeitete Franz Kafka in der Justiz und bei der Arbeiterunfallversicherung, besuchte Unternehmen, beobachtete Menschen bei der Arbeit, studierte das wirkliche Leben und fand es ungeheuer absurd. Er hielt die Literatur für die einzige Beschäftigung, die ‚die Existenz rechtfertigt‘. Daher nutzte er alle Wochenenden und Gelegenheiten zum Schreiben literarischer Werke. In den letzten Schuljahren begann er seinen Weg in die Literatur, setzte sein Studium an der Universität fort und verfasste im Sommer 1907 in Triest kurze Prosatexte – insgesamt veröffentlichte Franz Kafka vier Sammlungen seiner Werke. Erst nach seinem Tod und gegen seinen Willen wurden die unvollendeten Hauptwerke des Schriftstellers veröffentlicht: die Romane Amerika, Der Prozess und Das Schloss.
Ein nicht sehr glückliches Kind, ein begabter und fleißiger, wenn auch unsicherer Lyzeumsschüler, ein erfolgreicher Gymnasiast und ein aufmerksamer Jura-Student – später wurde Franz Kafka zu einer der prominentesten und bedeutendsten Figuren in der Literatur – sowohl in Österreich als auch weltweit. In seinem Tagebuch schrieb Franz Kafka: ‚Alles, was möglich ist, geschieht; möglich ist nur, was geschieht‘. Die Prager Burg als Ort der leeren Macht oder Gregor, der eines Morgens zu Anderem wurde – eine ganze Welt erscheint im Panorama der Bilder, die Franz Kafka in seiner Prosa geschaffen hat. Die Welt der Wirklichkeit, real, möglich oder fast unmöglich. In dieser Welt ist der Mensch ein außerordentlicher Wert, und seine Seele sucht nach Zuflucht und Harmonie.
Den Wettbewerb gewann Volodymyr Krizhanovskyj, dessen ausgesprochen poetischen Text der Demokratische Salon veröffentlichen darf. Der Vorsitzenden des UDGV, Alla Paslawska, danken wir für die freundliche Genehmigung. Und hier der Text:
Der laue Morgen kroch langsam in den Raum, wie ein verschlafenes Tier, das seine gemütliche Ecke nicht verlassen will. Das Licht drang durch die schmalen Schlitze in den Fensterläden und verwischte die Grenzen zwischen Schatten und Wirklichkeit. In dieser Welt, in der jeder Tag wie ein ungeschriebenes Blatt war, lebte Franz in einem Zimmer, das mit dem Staub der Vergangenheit bedeckt war, als sei sein Schicksal für immer in dieser grauen, fast ätherischen Welt gefangen.
Franz war nicht das, was er auf den ersten Blick zu sein schien. Sein Spiegelbild war nur ein Gespenst seiner selbst, verschwommen wie Regentropfen auf Glas. Er war ein Schriftsteller gewesen, aber seine Feder war längst versiegt, und die Worte, die er einst geschaffen hatte, waren nun ein Haufen ungeschriebener Geschichten, gefangen in den endlosen Labyrinthen seines Geistes.
Und doch gab es noch einen Funken Hoffnung in seinem Herzen. Er war kaum wahrnehmbar, wie die schwache Flamme einer Kerze in einer stürmischen Nacht. In diesem Zwielicht spürte er, dass es irgendwo, jenseits seiner Vorstellungskraft, eine Welt gab, in der seine Worte noch einmal Kraft und Bedeutung haben würden. In seinen Träumen sah Franz riesige, gleichsam lebendige Städte, in denen Häuser zu Mauern von Labyrinthen wurden und Straßen zu Adern, durch die Gedanken und Ängste flossen. In dieser Welt, in diesem verrückten Tanz zwischen Licht und Schatten, fand er eine Antwort auf sein inneres Ich.
Doch sobald er versuchte, diesen Lichtschimmer zu erhaschen, begann die Welt zu zerbröckeln. Die Hoffnung, die ihn so lange gewärmt hatte, begann sich in etwas anderes zu verwandeln, als ob jeder Lichtstrahl ein Gift war, das langsam in seine Seele einsickerte. Seine Worte, von denen er vor nicht allzu langer Zeit noch geträumt hatte, verwandelten sich in abscheuliche Kreaturen, die über die Seiten krochen und eine Spur des Grauens und der Verzweiflung hinter sich ließen. Die Feder, mit der er zu schreiben pflegte, erwachte zum Leben und verwandelte sich in eine Schlange, die ihn jedes Mal in die Hand stach, wenn er versuchte, etwas Neues zu schreiben.
Eines Tages, in dieser anhaltenden Düsternis, erschien ein Fremder in seinem Zimmer. Er war so flüchtig wie alles auf dieser Welt, aber in seinen Augen flackerte ein Feuer, das Franz sofort auffiel. Der Fremde sagte, dass er aus einer fernen Welt käme, in der es noch Hoffnung gäbe, und dass Franz der Schlüssel zur Erlösung sei. Doch dazu müsse er seine Seele opfern und sie in ein Buch schreiben, das von seinen Nachkommen niedergeschrieben würde und so sein Andenken unsterblich machte.
Im ersten Moment fühlte sich Franz befreit. Sein Leiden konnte endlich einen Sinn haben. Er begann zu schreiben, ohne zu bemerken, dass seine Seele mit jeder Zeile langsam entschwebte. Die Worte wurden so schwer wie Bleitropfen, aber er schrieb weiter und spürte, wie der Schmerz allmählich zu etwas Größerem wurde, etwas, das er nie zuvor erlebt hatte. Es war wie eine Tragödie, die sich vor seinen Augen abspielte, in der er zugleich Schauspieler und Zuschauer war.
Jede Zeile wurde wie ein Hammer, der auf einen Amboss schlägt, und am Ende, als das Buch fertig war, erkannte Franz, dass seine Seele nicht mehr ihm gehörte. Sie war in diesen Seiten eingeschlossen, und mit jeder neuen Lektüre würde die Nachwelt ein Stück von ihr aufnehmen, seinen Geist beleben, ihm aber niemals Frieden geben. Sein Wesen wurde Teil dieser Welt, Teil des ständigen Prozesses von Schöpfung und Zerstörung.
Doch dieser endlose Kreislauf hatte auch etwas Tröstliches an sich. Franz erkannte, dass, obwohl er sich selbst verloren hatte, seine Nachkommen sein Werk fortsetzen und seinem Leiden einen Sinn geben würden. Seine Geschichte würde immer wieder neu geschrieben werden, jedes Mal mit einer neuen Hoffnung beginnen, die sich dann unweigerlich in eine Tragödie verwandeln würde, aber immer Raum für die Harmonie lassen würde, die schließlich alles verschlingen würde.
Die letzte Zeile seines Buches bleibt unvollendet, wie um zu betonen, dass diese Geschichte kein Ende hat. Sie würde ewig weitergehen, und es gab eine besondere, bisher unerforschte Harmonie darin. Franz existierte nicht mehr als Mensch, aber sein Geist war lebendig, und er war sicher, dass seine Nachkommen, wenn sie diese letzte Zeile fanden, darin nicht nur einen Abschluss, sondern einen neuen Anfang sehen würden, den sie wie ihr Vorfahr weitergeben und sein Andenken verewigen würden.
So fand Franz, gefangen in seinem Buch, seine Ruhe. Seine Seele litt nicht mehr, sie lebte in jedem Wort, in jedem Gedanken, in jedem Traum seiner Nachkommen. Es war seine persönliche Harmonie, seine fortwährende Existenz, sein ewiger Anfang, der andauern würde, solange die Welt existierte.
Es scheint wie Wahnsinn. Und es hat kein Ende. Das kann nicht sein. Aber…Alles, was möglich ist, geschieht.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2024. Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli.)