Frauen* – Leben – Freiheit

Ein Gespräch über den Kampf für Demokratie im Iran

„Für das Tanzen auf der Straße“ (erster Vers des Lieds „Baraye“ von Shervin Hajipour)

„Baraye“ ist mehr als ein Lied – es ist eines der Lieder, die die Welt verändern können, in der sie entstanden sind, und nicht nur diese. „Baraye“ lässt sich mit „für“ ebenso übersetzten wie mit „wegen“. Das Ziel und der Grund, warum dieses Ziel so wichtig ist, sind miteinander identisch. Ein Vers lautet: „Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben“, das Lied endet mit dem dreimal hintereinander wiederholten Vers „Für die Freiheit / Für die Freiheit / Für die Freiheit“.

Für die Freiheit, für die Befreiung vom theokratischen Terror der Islamischen Republik Iran kämpfen viele Menschen im Iran. Sie werden von Menschen überall in der Welt unterstützt. Ihr Motto lautet: „Frauen* – Leben – Freiheit“. Die Kölner Professorin Katajun Amirpur sagte im Gespräch mit Norbert Reichel: „Schon vor vielen Jahrzehnten hat ein berühmter Reformer, Mohsen Kadivar, gesagt, man könne die Menschen nicht in Ketten ins Paradies schleppen. Doch genau das drückt aus, was die iranische Führung versucht durchzusetzen.“ (Demokratischer Salon, März 2023). Ein Symbol dieser Ketten ist das Kopftuch. In der Mai-Ausgabe 2023 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ schreibt Katajun Amirpur, „es geht bei den iranischen Protesten nicht ums Kopftuch, sondern darum, wofür das Kopftuch steht. Nämlich dafür, dass der iranischen Bevölkerung von Staats wegen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird. Und zwar in allen Bereichen.“ Kopftücher werden abgelegt, verbrannt, viele Frauen, Schauspielerinnen und Musikerinnen, Studentinnen und Schülerinnen, Bürgerinnen, zeigen sich ohne Kopftuch, in der Öffentlichkeit. Vielen Menschen im demokratischen Westen ist kaum bewusst, welchen Mut diese Frauen zeigen.

Die Aktivitäten der Bonner Initiative „Frauen* – Leben – Freiheit“ organisieren Homayoun, der als Zwölfjähriger mit seinen Eltern aus der Islamischen Republik nach Deutschland kam, und Tala Hariri, die in Deutschland geboren wurde. Das hier dokumentierte Gespräch über ihr Anliegen und ihre Einschätzung der Kontexte und der Folgen der feministischen Revolution im Iran fand am 18. April 2023 statt.

Aufklärung und Bildungsarbeit

Norbert Reichel: Ihr beide engagiert euch in der Bonner Gruppe einer bundesweiten und internationalen Bewegung für einen liberalen und demokratischen Rechtsstaat im Iran.

Homayoun: Wir sind eine Gruppe, die sich im September 2022 gefunden hat, um die Situation der Menschen im Iran sichtbar zu machen und gleichzeitig in der Gesellschaft aufzuklären, damit die Menschen erfahren, was im Iran geschieht. Wir wollen sie gewinnen, mit uns zusammen dafür zu kämpfen, unsere politischen Forderungen durchzusetzen. Es geht darum, dass die deutsche Regierung und natürlich auch andere Regierungen in der Europäischen Union, die Islamische Republik Iran fallen lassen.

Tala Hariri: Wir definieren uns als eine Art „Team Ausland“. Wir wollen die Menschen, die im Iran für die feministische Revolution kämpfen, unterstützen, und wir wollen Solidarität in der deutschen Bevölkerung herbeiführen. Das große Ziel ist die Befreiung des Iran von der Theokratie. Wir hoffen, dass wir in diesem Prozess ein wenig mitwirken können, damit aus dem jetzigen Iran eine säkulare, liberale und demokratische Republik werden kann.

Homayoun: Begonnen haben wir mit Zwei-Personen-Aktionen, Aktionen, die im Internet durch eine Kunstaktion verbreitet wurden. Mit der Zeit haben wir Demonstrationen organisiert, die immer größer wurden, mit über 1.000 Teilnehmenden in Bonn. Wir haben viele Termine mit verschiedenen Gruppen aus der Zivilgesellschaft und der Politik. Das ist Aufklärungsarbeit.

Norbert Reichel: Mit dieser Aufklärungsarbeit leistet ihr im Grunde historisch-politische Bildung. Ich nehme an, dass viele Menschen vor dem September 2022 gar nicht so genau wussten oder vielleicht auch nicht wissen wollten, was im Iran schon seit Jahrzehnten geschah.

Tala Hariri: Wir haben politische Parteien und Nicht-Regierungs-Organisationen angesprochen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Wir haben Vorträge organisiert, zur Situation im Iran, zur Lage der Menschenrechte, zur Geschichte. Wer die Geschichte nicht kennt, ist bekanntermaßen gezwungen, sie zu wiederholen. Mit dieser Bildungsarbeit wollen wir den Menschen vermitteln, wie man verhindern kann, dass das, was im Iran geschieht, so weitergeht und dass, wenn es endet, sich nicht wiederholt.

Die Leute reagieren ganz unterschiedlich. Zu uns kommen auch Menschen, die schon viel über die Situation und die Geschichte des Iran wussten. Denen haben unsere Vorträge Erinnerungsstützen gegeben. Bei anderen Teilnehmenden war es völlig neu. Sie wussten überhaupt nicht, dass es in der iranischen Zivilgesellschaft ganz andere Strukturen gibt als in Syrien oder in Saudi-Arabien. Wir hatten in den Veranstaltungen die ganze Breite: Menschen mit Vorkenntnissen und viel Interesse, aber auch welche ohne Kenntnisse und auch solche, die eigentlich erst einmal gar kein Interesse hatten. Vielleicht kann man das grob in Fifty-Fifty aufteilen. Wir setzen nichts voraus, wir fangen in der Regel bei Null an. Aber das Interesse ist da.

Homayoun: Ich hatte letztes Jahr im Mai – also noch vor dem Beginn der Proteste im September 2022 – eine Begegnung mit einer sehr progressiven Politikerin aus dem Deutschen Bundestag, die mir bei der ersten Bewegung sagte, dass es im Iran doch schon lange Tradition wäre, dass im Iran Kopftuch tragen und sich verschleiern. Sie hielt das für völlig normal. Ich musste ihr erst einmal erklären, dass das nicht normal ist, wie es ist. Sie machte einen überraschten Eindruck. Sie ist allerdings auch eine jüngere Politikerin, hat daher die Zeit der Islamischen Republik auch gar nicht in dem Maße wahrgenommen. Ich habe ihr damals schon gesagt, dass wir ihre Unterstützung für eine völlig neue Deutschland-Strategie mit der Islamischen Republik Iran bräuchten.

Ich nenne auch Videos vor der vorletzten Bundestagswahl im Jahr 2017. Damals bekamen Robert Habeck und Annalena Baerbock in einer Veranstaltung die Frage, wie sie sich zum Iran verhielten. Man sah deutlich, dass sie sich noch nicht damit beschäftigt hatten. Aus dem Publikum meldete sich ein junger Mann, der sehr hip aussah, und sagte, was für ein tolles Land der Iran sei. Wir haben nachher erfahren, dass er ein Lobbyist des Iran war, ein Kind von einem Offiziellen. Ich weiß, dass Politiker*innen nicht alles wissen müssen, aber sie haben unzählige Mitarbeiter*innen, die ihnen die Dinge erklären, die recherchieren können. Wenn Annalena Baerbock ihre „Feministische Außenpolitik“ ernst nimmt, dann muss sie sich entsprechend äußern und konsequent die nächsten Schritte einleiten. Zum Beispiel durch den Austausch der langjährigen relevanten Berater*innen, Verantwortlichen im Auswärtigen Amt durch nachhaltig denkendes und agierendes Personal für ein freies und demokratisches Iran. 

Norbert Reichel: Ihr seid national und international vernetzt.

Homayoun: Zu Beginn waren wir viele kleine Gruppen, die sich gefunden haben. Wir fanden uns dann auch regional zusammen, Köln, Bonn, Düsseldorf. Vereinzelt trafen wir uns mit Aktivist*innen aus Berlin oder aus Mitteldeutschland. Dann kam Danial Ilkahanipour aus Hamburg, dort Mitglied der Bürgerschaft. Er hat eine Vernetzungsgruppe aufgestellt mit allen in Deutschland aktiven Gruppen. Das war etwa im Januar / Februar 2023. Seit Mitte April 2023 gibt es eine weitere Vernetzung über Alireza Akhondi, einen schwedischen Parlamentarier. Er versucht, ein europaweites Netzwerk aufzubauen.   

Deutsche Verantwortung

Norbert Reichel: Wir haben schon öfter darüber gesprochen, dass die deutsche Politik von Anfang an – man kann sagen seit Gründung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979 – die Augen vor dem Terror in diesem Land lange verschlossen hat. Dies ist in dem von Stephan Grigat herausgegebenen Buch „Israel – Iran – Deutschland“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2017) ausführlich belegt. Das Buch war die Grundlage meines im November 2022 veröffentlichten Essays „Eine feministische Revolution“. Euer Ziel ist es, dass Deutschland den Iran – so formuliertest du es, Homayoun – „fallen lässt“, sich vom Iran und seinem theokratischen Regime distanziert.

Homayoun: Deutschland muss die Politik der letzten 40 Jahre reflektieren und einen anderen Umgang mit der Islamischen Republik Iran finden. Das heißt für uns, dass Deutschland die diplomatischen Beziehungen mit diesem Terrorstaat beendet und auch keinen Handel mehr mit ihm betreibt.

Norbert Reichel: Die bisherigen Sanktionen gegen den Iran reichen nicht aus?

Homayoun: Die gibt es schon lange, seit über 40 Jahren. Im letzten Jahrzehnt war der Iran immer auf Platz 1 der mit Sanktionen belegten Staaten. Aber nichts ist besser geworden. Wir sagen daher ganz klar: lieber jetzt ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Norbert Reichel: Eine wichtige Forderung ist die Erklärung der Revolutionsgarden, der Pasdaran zu einer Terrorgruppe.

Tala Hariri: Das Problem sind die bürokratischen Hürden, aber auch der politische Wille. Die Beweislage ist jedoch klar. Wir haben Rückschläge erleben müssen, aber an dem Ziel halten wir fest: die Revolutionsgarden der Islamischen Republik sind eine Terrorgruppe und wir fordern, dass die Europäische Union dies anerkennt und diese Garden so behandelt, so wie sie das auch mit anderen Terrorgruppen tut, dem sogenannten „Islamischen Staat“ (Daesh), Boko Haram, den Taliban.

Homayoun: Ich nenne einige der Beweise, die in der Literatur und im Internet dokumentiert sind. 1992 gab es die Anschläge in Berlin, das sogenannte „Mykonos-Attentat“. In Bonn wurde einer der berühmtesten und wichtigsten iranischen Dichter, Fereydoun Farrokhsad, bestialisch ermordet. Als er aufgefunden wurde, steckte ein Messer in seinem Rachen.

Dies geschah im Kontext der sogenannten „Kettenmorde“, in denen viele iranische Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle im Iran und im Ausland ermordet wurden. Er ist auf dem Bonner Nordfriedhof begraben. Die Morde wurden aufgrund staatlicher Verstrickungen nicht weiterverfolgt. Das sind die Revolutionsgarden, die ihre Eliteeinheit haben, ihre Geheimdienstleute in Europa. Einer der Verantwortlichen für die „Kettenmorde“ und die Hinrichtungen Ende der 1990er Jahre ist jetzt Chef der iranischen Justiz.

Es kommt noch etwas hinzu: Deutschland hat den Militärapparat im Iran Anfang ab Mitte / Ende der 1980er- und in den 1990er Jahren mitaufgebaut. Deutschland hat eine sehr hohe Verantwortung, dies wiedergutzumachen.

Es gibt keine einfachen Antworten. Mich schockiert jedoch, dass Deutschland mit seiner Nazi-Vergangenheit von Anfang an, auch nach der Revolution von 1979, enge diplomatische Beziehungen mit der Islamischen Republik Iran pflegte und bis in die 1980er Jahre auch das einzige Land des „Westens“ war, das dies tat. Das erschüttert mich, weil die Islamische Republik Iran von Anfang an dazu aufgerufen hat, Israel zu vernichten. Man kann natürlich sagen, man habe den kritischen Dialog gesucht, aber man hat ja gesehen, die Islamische Republik Iran hat ihre Position in keiner Weise verändert. Wir verlangen, dass die Bundesregierung dies reflektiert und bereiten hierzu eine Petition zu.

Norbert Reichel: Erschreckend ist meines Erachtens auch das Agieren verschiedener sozialdemokratischer Minister, ich nenne namentlich Sigmar Gabriel, Frank Walter Steinmeier in ihrer Zeit als Außenminister, Sigmar Gabriel auch als Wirtschaftsminister.

Tala Hariri: Nicht nur Deutschland hat sich schuldig gemacht. Auf der Guadeloupe-Konferenz im Januar 1979 – wenige Tage später kam Ajatollah Khomeini aus dem französischen Exil im Iran an – haben die damaligen Staatschefs der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands – Bundeskanzler war Helmut Schmidt – die Köpfe zusammengesteckt und entschieden, dass sie nicht mehr den Schah, sondern Khomeini unterstützen wollten. Khomeini war schon damals als Extremist bekannt. In den USA wurde Khomeinis Buch „Der islamische Staat“ mit dem Untertitel „Khomeinis ‚Mein Kampf‘“ veröffentlicht. Die Öffentlichkeit hatte Zugang, das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt. Die demokratischen Staaten des Westens hätten sehr deutlich sagen können, dass sie mit einem solchen Mann nicht zusammenarbeiten wollten, aber die wirtschaftlichen Interessen waren größer, auch in der Tradition der immer schon guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran.

Auch zu Zeiten des Dritten Reiches: Reza Schah, der Vater des 1979 aus dem Iran geflüchteten Schah, hatte ein Bild in seinem Büro, handsigniert: „mit besten Grüßen Adolf Hitler“. Deutschland hatte eine unheilige Kontinuität in den Beziehungen zum Iran. Ein sozialdemokratischer Bundeskanzler hat dies 1979 fortgeführt, auch wenn der Schah natürlich nicht mit Hitler zu vergleichen ist. Wenn es aber den Willen gegeben hätte, die Islamische Republik Iran zu verhindern, die Monarchie weiterlaufen zu lassen, oder sie später mit anderen Akteuren zu stürzen, wäre dies möglich gewesen. Der beste Nachfolger in den Augen des „Westens“ war damals Khomeini, der aber auch sehr geschickt den Eindruck erweckte, er wolle demokratische Elemente in den zukünftigen Iran einbauen.

Der Terror begann schon 1979

Norbert Reichel: So etwa wie Walter Ulbricht, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs über die anstehende Gründung der DDR sagte, es soll demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. So ähnlich ging ja Khomeini wohl vor.

Tala Hariri: Der Zwang, überall ein Kopftuch zu tragen, wurde auch nicht direkt eingeführt. Es begann mit dem Öffentlichen Dienst. Alle Angestellten mussten jetzt regelmäßig beten. Die älteren Angestellten, die dies nicht wollten, wurden vorzeitig in den Ruhestand geschickt, die jüngeren entlassen. Dann kam der Kopftuchzwang für die weiblichen Angestellten im Öffentlichen Dienst. Schließlich wurde dieses Gebot auf den Privatsektor ausgeweitet, sodass Frauen auf dem gesamten Arbeitsmarkt keine Chance mehr hatten, wenn sie kein Kopftuch tragen wollten. Nach und nach wurden die Schlägertrupps institutionalisiert, die die Einhaltung der Bekleidungsvorschriften überwachten. Den Frauen wurde nachgestellt: trägt sie Lippenstift, ist die Jacke zu kurz, die Hose zu eng, sind die Haare nicht genug bedeckt, sieht man zu viel Ausschnitt, wie sieht es um die Taille aus? Es war ein schleichender Prozess. Zu Beginn haben auch viele Frauen Khomeini unterstützt, weil sie glaubten, Khomeini brächte ihnen Demokratie und Frieden, denn mehr Unterdrückung als unter dem Schah könne es nicht geben. Sie hätten sich nur einige Nachbarländer anschauen müssen, die hätten gezeigt, es geht schlimmer. Der Iran hat darüber hinaus eine Welle ausgelöst, von terroristischen Vereinigungen, die darauf beruhten, dass das, was mit dem schiitischen Islam möglich sei, auch mit dem sunnitischem Islam möglich sein müsse.

Norbert Reichel: Ihr würdet die These formulieren, dass der Iran eine Art Rollenmodell für die umliegenden islamischen Staaten sei?

Tala Hariri: Ich glaube, alle, die nach der Islamischen Revolution groß geworden sind, haben sich am Iran orientiert, wie man Frauen zwangsverschleiert, den Öffentlichen Dienst islamisiert, Legitimationsmechanismen schafft, wie man seine Herrschaft mit Gewalt sichert, wie man Religion als wirksames Mittel der Unterdrückung und des Machterhalts nutzt. Der Iran hat das über 40 Jahre geschafft. In Afghanistan geschieht es immer wieder, 2022 fiel Afghanistan in wenigen Tagen den Taliban in die Hände. Freiheit hat es auch dort eigentlich nie gegeben.

Jetzt lesen wir, dass verschiedene Nationen wieder darüber nachdenken, die Beziehungen zu Afghanistan zu normalisieren, ihre Botschaften wieder zu eröffnen, um mit Afghanistan Handel zu treiben. Und manche sagen, wäre es doch nicht eher im Interesse der Menschen in Afghanistan oder im Iran, dass es weiterhin gute Beziehungen gibt?

Homayoun: In Afghanistan gibt es riesige Lithium-Vorkommen. Und weitere wichtige Metalle. Das sind die ersten Anzeichen, denn das wird der Westen nicht China und Russland in die Hände fallen lassen wollen. Immer wieder heißt es: Wandel durch Handel. Dass das mit Extremisten und Hardlinern nicht funktioniert, haben wir doch gesehen! Genau das wollen die Menschen im Iran nicht. Sie wollen, dass man aus den Fehlern der vergangenen 40 Jahre lernt. Wir müssen unsere Strategie komplett überdenken. Sie hat über 40 Jahre nicht funktioniert.

Tala Hariri: Menschen werden im Iran verhaftet, Kinder getötet, Frauen zwangsverheiratet, Todesurteile vollstreckt, Menschenrechte missachtet, Frauenrechte gänzlich abgesprochen. Es wäre im Interesse vieler Menschen im Iran, dass der Westen den Iran einmal richtig mit allen Konsequenzen sanktioniert. Ohne Wenn und Aber.

Es wackelt gewaltig!

Norbert Reichel: In Deutschland wird der Charakter des Regimes immer wieder auf die Religion, auf den Islam reduziert. Es gibt jedoch viele andere Aspekte, es gibt große ethnische Minderheiten, eine Vielfalt von Religionen, den Zorastrismus, die Baha‘i. Die Parole „Frauen* – Leben – Freiheit“ – „Jin, Jiyan, Azadî“ – entstand in der kurdischen Community.

Tala Hariri: Der Iran ist ganz bunt. Das, was früher Persien war, war immer schon ein Vielvölkerstaat. So auch das Gebiet, das heute als Islamische Republik Iran bekannt ist. Etwa 40 Prozent der Menschen im Iran haben eine andere Muttersprache als Persisch. Es gibt im Iran auch eine jüdische und eine christliche Minderheit. Die jüdische Minderheit ist nicht aus dem Iran weggezogen, obwohl sie nach Israel hätten auswandern können. Es sind zurzeit etwa 15.000 Menschen.

Homayoun: Es gibt im Iran etwa 50 Ethnien. Das Regime hat es in den letzten vier Jahrzehnten durch massive Unterdrückung und Diskriminierung geschafft, dass keine Einheit der Minderheiten entsteht. Das hat sich jetzt geändert. Das ist es, das uns jetzt die meiste Hoffnung gibt, das Bündnis der vielen unterdrückten Minderheiten mit einer großen Zahl der Menschen der Mehrheitsbevölkerung. Jetzt entsteht die Einheit, die es über 40 Jahre nicht gab.

Norbert Reichel: Wir haben seit September 2022 von einer „Feministischen Revolution“ gesprochen. Katajun Amirpur sprach in dem von mir im April 2023 dokumentierten Gespräch von einem „revolutionären Prozess“ mit offenem Ausgang. Wie bewertet ihr den Stand dieses „revolutionären Prozesses“. Die Instrumente der Unterdrückung werden zurzeit verschärft: Am 26. März 2023 lief die Meldung, dass die Überwachung der Bekleidungsvorschriften digital, elektronisch, mit Kameras im öffentlichen Raum intensiviert werden sollte und dass Menschen aufgefordert werden, Frauen anzuzeigen, die sich nicht vorschriftsgemäß kleideten. Angedroht wurde unter anderem der Entzug des Passes und des Führerscheins. Aber es geht ja nicht nur um das Kopftuch und andere Bekleidungsvorschriften, auch wenn bei uns in Deutschland manche Medien dies glauben machen. Menschen, die sich kritisch äußern, als Künstler*innen, als Intellektuelle, als einfache Bürger*innen, werden verhaftet, zu drakonischen Strafen verurteilt. Ein junges Paar, das öffentlich tanzte, wurde zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Auf youtube gibt es eine ganze Reihe von Tanzvideos junger Iraner*innen. Wer suchen will, muss nur die Worte „Tanz“ und „Iran“ in die Suchmaschine von youtube eingeben.

Homayoun: Es ist ein Revolutionsprozess. Am Anfang gab es eine Welle mit Tausenden von Teilnehmenden bei den Demonstrationen, überall, landesweit. Dann kam ein harter Winter. Vieles verlagerte sich von den Straßen weg. Ich habe mit Leuten gesprochen, die berichteten von Kinos, in denen die Zuschauer*innen mitten in einer Vorstellung Parolen gegen das Regime gerufen haben. Und alle machten mit. Es gab diese Mädchen, die in der Klasse die Kopftücher herunternahmen, den Schuldirektor verjagten und „Jin, Jiyan, Azadî“ (Kurdisch) bzw. „Zan, Zendegi, Azadi“ (Persisch) an die Tafel schrieben. Mädchen singen „Baraye“. Mit offenem Haar. Traumhaft, wunderschön, wenn ich mir diese Videos anschaue.

Wenn ich an meine Kindheit denke – ich bin als zwölfjähriger Junge nach Deutschland gekommen –, da hätte sich das niemand getraut. So muss man sich die heutigen Proteste vorstellen. Es gibt inzwischen verschiedene Landesteile im Iran, in denen Frauen kein Kopftuch mehr tragen, wo das Alltag ist. Es gibt viele Bilder und Videos aus verschiedenen Landesteilen. Geistliche trauen sich nicht mehr, in bestimmte Zonen hineinzugehen. Es ist traurig, dass es so weit gekommen ist, aber diese Geistlichen haben das System vier Jahrzehnte unterstützt.

Norbert Reichel: Erodiert das System?

Homayoun: Es wackelt gewaltig. Ich habe Bilder aus Parks gesehen, in denen das Regime Bilder aufhängen lässt, mit Blumen, auf denen der Tschador, dieses Ganzkörpertuch, als Stolz des Landes vorgestellt wird. Gleichzeitig sagt der Kommandeur der Revolutionsgarden, das sei die letzte Warnung. Alle Frauen, die kein Kopftuch tragen, werden verfolgt, mit modernster High-Tech-Technologie, übrigens auch Dank der Technologie aus Deutschland, zum Beispiel von SIEMENS in den vergangenen Jahrzehnten. Auf der einen Seite werben sie damit, wie schön der Tschador wäre, auf der anderen Seite drohen sie heftigste Strafen an. Sie wissen ganz genau, dass sie mit aller Kraft an der Sache dranbleiben müssen, weil sie sonst morgen weg vom Fenster sind. Das wissen sie.

Die andere Gefahr: Kulturrelativismus

Norbert Reichel: Ich kann mich gut daran erinnern, dass es hier in Deutschland Menschen gab, die Anfang der 1980er Jahre den Tschador begrüßten. Manche Feministinnen sahen darin eine Befreiung, weil niemand mehr ihren Körper unziemlich ansehen könne und weil sie unter dem Tschador im heißen Sommer sogar nackt laufen könnten. Das ist leider kein Witz.

Quelle: iranjournal.org

Tala Hariri: Es ist absurd. Mein persönliches Bestreben – ich denke Homayoun stimmt mir zu – ist es, immer auch gegen diesen Kulturrelativismus anzukämpfen. Da heißt es, es wäre doch eben die Kultur der iranischen Frauen und das wäre halt so, dagegen dürften wir doch gar nichts sagen. Das ist höchst menschenverachtend. Hier sagt ja auch niemand, Femizide, die in Deutschland jeden dritten Tag geschehen, gehörten zur deutschen Kultur, oder häusliche Gewalt, die es in allen sozialen Schichten gibt und eben nicht nur in migrantischen Milieus. Dieser Kulturrelativismus kommt gerade aus Parteien aus dem linken Spektrum, aus Parteien, von denen man sich eigentlich die größte Unterstützung erhofft. Sie sagen, sie könnten uns nicht unterstützen, weil sie dann ja Rassist*innen wären, oder sie sagen, wir wären Rassist*innen, obwohl wir noch niemanden getroffen haben, der uns hätte erklären können, wie man als Iraner*in rassistisch sein könnte, wenn man etwas gegen die Unterdrückung von Frauen durch Religion sagt.

Norbert Reichel: Ich habe das selbst auch schon erlebt. Wenn ich etwas Kritisches zum Kopftuchzwang oder zum islamistischen Terrorismus sage, bin ich in manchen Kreisen der alte weiße Rassist. Von rechter Seite wird der Islam grundsätzlich verachtet, da gibt es kein Wenn und Aber. Von linker Seite werden alle schnell als Rassist*innen bezeichnet, die in irgendeiner Weise die Ausprägungen des Islam, in denen Menschen unterdrückt werden, anprangern. Auch zum Antisemitismus von Muslim*innen wollen viele Linke lieber gar nichts sagen, abgesehen davon, dass manche unter ihnen selbst einen merkwürdigen Antisemitismus pflegen, vor allem wenn es gegen Israel geht.

Tala Hariri: Und das macht man wohl auch mit Frauen, die aus dem Iran kommen, die nicht wie ich in Deutschland geboren und hier aufgewachsen sind, sondern selbst im Iran zwangsverschleiert oder sogar zwangsverheiratet wurden, die höchst traumatisiert geflüchtet sind, hier ein Leben in Freiheit anstreben, aber mit diesen Scheindebatten konfrontiert werden. Das betrifft nicht nur Frauen, die aus dem Iran kommen, auch Frauen aus Saudi-Arabien, Afghanistan, denen aber hier gesagt wird, das ist doch Teil eurer Kultur, und eure Männer sind eben Frauenschläger, damit müsst ihr doch einfach klarkommen. Das gehört nun einmal zu eurer Kultur, wenn ihr nicht zur Schule oder zur Universität gehen dürft, verschleiert und gegen euren Willen verheiratet werdet. Das ist höchst retraumatisierend für diese Frauen, die sich gegen ein Unterdrückungssymbol gewehrt haben und mit ihrem Engagement hier in Deutschland auch die Unterdrückung in ihrem Herkunftsland beenden wollen, Stattdessen stehen sie auch hier am Pranger.

Norbert Reichel: Diese Merkwürdigkeiten hat Fahimeh Farsaie in ihren Büchern so treffend beschrieben, auch das Vorgehen bei Asylverfahren. Ach nehmt euch doch zurück, bereut, was ihr gesagt habt, dann geschieht euch auch nichts. Stünde sogar im Koran.  

Homayoun: Ich kommuniziere seit Jahren mit meinem Umfeld, ein eher linkes und grünes Umfeld. Aber keine*r hat das Thema Iran, das Thema Kopftuch ansprechen wollen. Ich habe mich sehr alleine gefühlt. Auch aus dem konservativen Bereich kam zunächst nichts. Das hat sich ein wenig geändert. Aus dem konservativen Bereich kommt inzwischen die schärfste Kritik am Regime der Islamischen Republik Iran. Ich erkenne das allerdings quasi nur bei Politiker*innen, kaum bei denjenigen, die konservative Politiker*innen wählen. Allerdings geht doch die Irritation im grünen und linken Lager zurück. Man ist offener geworden. Nach wie vor schwierig finde ich jedoch, dass von allen immer nur vom iranischen Regime gesprochen wird, das Terrorregime aber nicht beim Namen genannt wird, als Regime der Islamischen Republik Iran. Das hat wohl auch damit zu tun, dass man in Deutschland Islamfeindlichkeit nicht unterstützen möchte. Es muss aber möglich sein, dass wir ein theokratisches System, das seit vier Jahrzehnten tagtäglich Terror ausübt, als das bezeichnen was es ist: ein theokratisches Terrorregime. Deutschland ist seit 40 Jahren der größte westliche Handelspartner und einflussreichste diplomatische Partner dieses Regimes dieses Regimes. Wir arbeiten daran, dass aufgeklärt wird, damit das System beim Namen genannt wird.

Norbert Reichel: Dazu gehört dann auch Aufklärung über doppelte Standards. Kritik am Islam der Islamischen Republik Iran oder auch anderer sich auf die Scharia berufender Staaten wird sehr zurückhaltend geübt. Wenn es um Israel geht, sieht das ganz anders aus. Da fühlen sich viele Deutsche, gerade Linke, berufen, Israel und möglichst auch alle Jüdinnen und Juden dieser Welt an den Pranger zu stellen.

Tala Hariri: Die Tatsache, dass wir hier unsere Freiheit genießen, heißt für manche offenbar nicht, dass die Menschen im Iran diese Freiheit auch genießen sollten. Diesen doppelten Standard wenden wohl viele Menschen an. Wir weisen sie dann darauf hin, dass sie doch selbst nicht in einem solchen theokratischen Staat leben wollten, in dem die Religion in Form der Scharia jeden Lebensbereich beherrscht.

Ich glaube, dass viele Menschen, die sich mit dem Thema nicht auskennen, tatsächlich Angst haben, sich zu äußern. Wir mussten uns in unsere Gegenüber erst einmal hineinversetzen und auch erklären, wir sind nicht für ein Kopftuchverbot, wir sind gegen den Kopftuchzwang. Für uns war das selbstverständlich, aber wir trafen Leute, die der Meinung waren, dass alle, die im Iran auf die Straße gingen, irgendwelche Faschist*innen wären, die ein komplettes Religionsverbot wollen. Wäre das so, dann hätten wir auch keine Unterstützung von konservativen Parteien in Deutschland. Vielleicht muss man erst mal bei Null ansetzen und die Rechtslage und deren Umsetzung im Iran erklären.

Wie islamisch ist der Iran heute?

Norbert Reichel: Interessant finde ich das Buch von Katajun Amirpur, das im März 2023 erschien: „Iran ohne Islam“. Ihre These: inzwischen ist der Iran kein islamisches Land mehr. Das Regime hat bewirkt, dass sich viele Menschen vom Islam abgewandt haben.

Homayoun: Ein enges Familienmitglied ist ein sehr gläubiger Muslim. Er betet fünf Mal am Tag. Aber er sagte mir: die größten Feinde des Islam sind die Herrschenden in der Islamischen Republik Iran. Sie haben alles dafür getan, damit sich Menschen von der Religion abwenden. Ich selbst auch, ich bin in einer muslimischen Familie geboren, daher auch automatisch Muslim, aber wenn das, was dieses Regime praktiziert, deren Religion, deren Gott ist, dann möchte ich damit nichts zu tun haben.

Es gibt natürlich viele Menschen, die den Islam friedlich praktizieren. Aber im Iran wurde Religion zu etwas, das nur noch dazu da ist, die Menschen zu unterdrücken. Ich habe nun von einer Dame erfahren die gläubige Muslimin ist, die im Iran auch eine höhere Position hat, die aber jetzt Khamenei angreift und fordert: beweist uns doch, wo irgendwo in den religiösen Schriften steht, dass Frauen ein Kopftuch tragen müssen. Wo steht das? Warum kommt man dann erst in den Himmel? Sie ist überzeugte Kopftuchträgerin, wendet sich aber gegen den Zwang. Das zeigt schon, wie kaputt dieses System ist. Es ist nicht mehr zu retten.  

Die Todesurteile werden im Iran immer für drei Tatbestände ausgesprochen: Korruption, Verdorbenheit auf Erden, Krieg gegen Gott. Ich habe mich mit gläubigen Muslimen im Iran unterhalten. Sie wollen Gerechtigkeit und sagen, dass die einzigen, die gegen Gott Krieg führen, die Mullahs sind. Das müssen wir der Welt sagen. Eher säkular eingestellte Europäer*innen können sich gar nicht vorstellen, was solche Sätze für einen Menschen bedeuten, die mit ihrem Glauben aufgewachsen sind und in ihrem Glauben leben. Und es zeigt, mit welch inneren Konflikten diese Entwicklung für viele Menschen einhergeht.

Tala Hariri: Und in Deutschland heißt dies: Religionskritik muss immer möglich sein. Ich muss den Islam in der Islamischen Republik Iran kritisieren dürfen. Das gehört bei einer Demokratie dazu. Wer das nicht zulässt, sagt mehr über sich aus, als über die Religion.

Norbert Reichel: Die Formel sollte eigentlich lauten: jeder darf religiös sein, aber niemand muss es.

Tala Hariri: Im September und im Oktober 2022 war es sehr erfrischend zu sehen, dass Frauen in vielen islamischen Ländern, in Ägypten, in Syrien ihre Kopftücher verbrannten. In diesen Ländern gibt es keinen Kopftuchzwang, aber diese Frauen solidarisierten sich mit den Iranerinnen. Das taten Frauen, die gläubige Musliminnen sind, Frauen, die keine sind. Sie alle wollten zeigen, warum soll ich dieses Kopftuch tragen. Wer kann mich dazu zwingen? Gesetze, Familie, Arbeitsmarkt? Selbst in Gebieten, in denen terroristische Vereinigungen agieren, trauen sich Frauen, ihre Kopftücher abzulegen oder gar zu verbrennen oder sie hochzuhalten und zu sagen, dass sie sich mit den Frauen im Iran solidarisieren.

Es ist so traurig, dass es in Deutschland kaum Bemühungen muslimischer Vereinigungen gab, sich mit den Frauen im Iran zu solidarisieren, und wenn, dann erst sehr spät. Wir fühlten uns in der iranischen Community doch sehr allein gelassen. Wir haben von Frauen aus arabischen Ländern, aus Ägypten, Tunesien, Marokko mehr Unterstützung bekommen als von den islamischen Verbänden in Deutschland. Das war am Anfang schon demotivierend, hat uns aber auch angespornt, weiter Bildungsarbeit zu betreiben, weiter Demonstrationen zu organisieren, größer zu werden, zu wachsen, uns zu vernetzen, weil wir nur so erreichen können, dass auch Frauen, die eher privilegiert aufgewachsen sind, sehen, dass das, was im Iran vor sich geht, ethisch in keiner Weise vertretbar ist, dass jede freie Person auf diesem Planeten dagegen sein muss.

Politische Unterstützung?

Norbert Reichel: Ihr deutetet eben schon einmal an, dass es bei Politiker*innen Bewegung gebe. Das Verständnis wachse. Am deutlichsten sehe ich das Engagement für einen demokratischen Iran bei Norbert Röttgen.

Homayoun: Mit Abstand. Seit sieben Monaten. Er spricht unsere Sprache, er gibt alles, was wir sagen, weiter, er spricht die Sprache der Menschen aus dem Iran, bringt es in das Parlament ein. Wir sind in regem Austausch. Er motiviert uns aktiv, damit wir weitermachen. Wir würden das sowieso tun, aber das hilft sehr. Stark fand ich auch, dass Jessica Rosenthal im Januar 2023 auf unserer Demonstration sagte, es ist erst vorbei, wenn das Regime gefallen ist. Das stand im Bonner Generalanzeiger, und ihre Rede gibt es auch auf Clips in den Sozialen Medien.

Was wir jedoch sehr vermissen und sehr schwierig finden, ist diese stille Diplomatie, die gerade in der Bundesregierung geschieht, im Bundeskanzleramt und auch von der Außenministerin und ihrer Feministischen Außenpolitik. Wir versuchen sehr differenziert zu argumentieren. Aber dafür brauchen wir auch Antworten. Wir müssen wissen, warum bestimmte Dinge zurzeit nicht unterstützt werden. Wir haben Annalena Baerbock zu unserer Demonstration am 29. April 2023 in Bonn eingeladen. Sie hat abgesagt. Wir haben gefragt, ob sie zu einem anderen Termin kommen könne. Darauf erhielten wir keine Antwort.

Norbert Reichel: Auch das ist eine Antwort.

Homayoun: Das ist eine Antwort. In Ottawa hat Justin Trudeau, der Premierminister, an einer Großdemonstration teilgenommen, auf der Straße, Hand in Hand mit den Iraner*innen. Auch in anderen Ländern gab es Solidarität: Joe Biden hat auf einer Wahlkampfveranstaltung im November 2022 die „Befreiung des Iran“ angekündigt, Marc Rutte, der niederländische Premierminister hat sich deutlich geäußert. Warum geht das nicht in Deutschland? Obwohl man sich eine Politik der „Zeitenwende“ und der „Feministischen Außenpolitik“ vorgenommen hat. Das ist die größte Vorlage, die man überhaupt haben könnte.

Tala Hariri: Ich glaube, das ist auch innerhalb der Gruppe von Menschen, die sich mit der Frauenbewegung im Iran solidarisieren, demotivierend zu sehen, wie wenig sich deutsche Politiker*innen mit der Thematik auseinandersetzen. Sie können nicht alles wissen, aber man muss nur googlen und weiß, dass die offizielle Bezeichnung des Iran „Islamische Republik Iran“ ist. Selbst bei der Lektüre von Wikipedia müsste man sehen, wer im Iran, in Afghanistan, in Pakistan das Sagen hat, welche Rolle dort Extremist*innen spielen.

Norbert Reichel: Es gibt den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags. Die recherchieren das alles schnell und in höchster Qualität.

Tala Hariri: Auch der Verfassungsschutz ist gut informiert. Er beobachtet auch viele Organisationen, die aus dem Ausland gesteuert werden. Die Erkenntnis, dass der Iran kein so „tolles Land“ ist – wenn ich das noch einmal zitieren darf –, könnte ein*e Fünftklässler*in in zehn Minuten herausfinden. Es ist schon erstaunlich, wie wenig unsere Politiker*innen wissen.

Homayoun: Aktuell haben wir Stillstand. Am Anfang geschah erst einmal nichts. Ich habe auf Äußerungen von Annalena Baerbock gewartet, jeden Tag geschaut.

Norbert Reichel: Navid Kermani hat das im Oktober 2022 in der ZEIT sehr deutlich gesagt. Manchmal denke ich fast, das hat Methode: Naomi Klein nannte im November 2022 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ den Parallelfall Ägypten.

Homayoun: Annalena Baerbock hat immer wieder schöne Bilder geteilt, aber Feministische Revolution war wohl erst einmal woanders. Dann ging es los mit dem Human Rights Council der United Nations. Das ist wiederum ein großes Verdienst von ihr. Zum ersten Mal nach 44 Jahren wurden dort die eklatanten Menschenrechtsverletzungen im Iran betrachtet. Es ging zwar nur um die Zeit nach dem Tod von Mahsa Amini, nicht um die Zeit davor, aber das ist immerhin ein erster Schritt. Gleichzeitig hat die Islamische Republik Iran Deutschland auf dieselbe Ebene gesetzt wie die USA und Israel, neben den „Satan-Staaten“. Wir haben gedacht, endlich geht es los. Dann nahm es aber wieder ab.

Zum Jahreswechsel hörten wir nichts vom Bundeskanzler. In seinem eigenen Jahresbericht sagte er kein Wort zum Iran. Er nannte ihn „mein Jahresrückblick“! Am nächsten Tag hat der Verfassungsschutz alle Iraner*innen in Deutschland gewarnt, weil die iranischen Geheimdienste alle Menschen, die an Demonstrationen teilnehmen, beobachten, fotografieren, filmen, weil darunter die Familie, in Deutschland und im Iran, leiden könne. Seitdem gab es noch die Münchner Sicherheitskonferenz, zu der zum ersten Mal das Regime nicht eingeladen worden ist. Aber sonst herrscht Stille. Wir hören nichts von Annalena Baerbock, nichts vom Bundeskanzler. Das ist sehr schade, denn wir haben so viel gekämpft.

Jetzt müssen wir es anders machen. Wir haben ein einmaliges Bündnis geschaffen. Wir haben verschiedene Gruppen aus der Klimaschutzbewegung, aus der feministischen Bewegung, aus den Kreisen der Organisationen, die Geflüchtete unterstützen, United Nations Women Germany, insgesamt zehn Bündnispartner, mit denen wir am 29. April 2023 eine Großdemonstration veranstalten. Wir müssen noch an einer Stelle arbeiten: wir brauchen auch die Konservativen im und aus dem Iran. Wir müssen sie überzeugen, dass es auch für sie besser ist, in einem demokratischen Iran zu leben als in dem jetzigen theokratischen System.

Tala Hariri: Wir haben alle demokratischen Parteien eingeladen. Aus allen Parteien war auch immer jemand bei unseren Demonstrationen dabei, allen voran Norbert Röttgen. Leider hat sich die ein großer Teil der Wählerschaft seiner Partei bisher zurückgehalten. Gerade aber die ältere Bevölkerung wollen wir ansprechen. Die Repräsentation aller Altersgruppen ist uns wichtig. Alle Personen jeder sozialen Schicht, jeden Alters, jeder Religion oder auch fehlender Religion wollen wir gewinnen. Demonstrationen, Bildungsarbeit, Veröffentlichung von Aufsätzen, Artikeln, Büchern, Netzwerke – all das soll erreichen, dass nicht nur Berliner*innen oder nur Studierende teilnehmen.

Homayoun: Und nicht nur Menschen, die aus dem Iran kommen. Wir wurden von verschiedenen Seiten auch angesprochen. Wir können das dann vielleicht auch anderswo organisieren, auch wenn der Schwerpunkt in Berlin und in Bonn ist. Warum auch Bonn? Aus Bonn heraus wurden die diplomatischen Beziehungen zum Iran aufgenommen, weitergeführt, all die Entscheidungen getroffen, die die Islamische Republik Iran stabilisierten.

Tala Hariri: In Bonn steht heute noch das Gebäude der ehemaligen iranischen Botschaft an der B 9, in der Nähe der Rheinaue. Das Gebäude gehört heute noch der Islamischen Republik Iran. Von dort wurden politische Dissident*innen, Kritiker*innen des Regimes abgehört. Und ich denke, auch heute. Es gibt berechtigte Annahmen, dass von diesem Gebäude Fereydoun Farrokhsad abgehört wurde, der ein Exil-Iraner und Bonner war und in seiner Wohnung brutal ermordet worden ist. Bonn ist auch in dieser Hinsicht ein Symbol. Wir wollen der Bonner Bevölkerung auch das Gefühl geben, was es heißt, in einer internationalen Stadt zu leben und welche Geschichte vor der eigenen Haustür stattgefunden hat und stattfindet.

Der Mut der Menschen im Iran

Norbert Reichel: Zuletzt gab es eine Runde, an der sich auch der Sohn des Schahs, Reza Pahlavi beteiligte. Wie bewertet ihr diese Initiative?

Homayoun: In der Nacht zum 1. Januar 2023 haben er und acht weitere Berühmtheiten alle die gleiche Nachricht getwittert. Es stehe ein neuer aufblühender Iran bevor, bis zur Befreiung und so weiter. Wir waren alle sehr überrascht, damit hatten wir nicht gerechnet und fanden das aber auch alle sehr schön. Wenige Tage, vielleicht zwei Wochen später ist er weit vorgeprescht: er sagte, er wolle, dass wir alle, die wir für einen neuen Iran stünden, ihm die Befugnis geben, für die Menschen im Iran als Anwalt zu sprechen. Es gab scharfe Kritik. Das hat ihm auch ein bisschen geschadet. Er hat das aber sehr schnell reflektiert und man hat die ersten Konferenzen einberufen, zu denen verschiedene Aktivist*innen eingeladen wurden, darunter auch aus einer der kurdischen Parteien. Inzwischen bilden sie eine Art Kollektiv mit verschiedenen Weltanschauungen. Das scheint zu fruchten. In Kanada gab es vor etwa drei Wochen eine erste gut besuchte Veranstaltung, an der auch jemand aus Deutschland teilgenommen hatte. Reza Pahlavi war jetzt Mitte April in Jerusalem und betete an der Klagemauer, sprach mit der israelischen Regierung. Er versucht mit seiner Gruppe weltweit Sympathien zu gewinnen. Das scheint zu gelingen.

Die Menschen im Iran wurden in einem Schwarz-Weiß-Denken erzogen. Das ist richtig, das ist falsch. Dass man sich dazwischen bewegt, so wie Tala hier aufgewachsen ist, das denke ich inzwischen, das wurde nicht zugelassen. Es ist auch eine kulturelle Revolution. Demokratie wird nicht einfach geschenkt. Dafür muss man kämpfen. Das Schöne ist, gleichzeitig das Traurige: Menschen gehen auf die Straße und sind bereit für unsere Sache zu sterben. Das zeigt, dass die Menschen die freie Welt wollen, ein demokratisches System.

Quelle: iranjournal.org

Tala Hariri: Ich denke, dass die Menschen im Iran auch einen großen Erkenntnisgewinn hatten. In den 1970er Jahren gab es die Einstellung, schlimmer könne es nicht werden. Jetzt wissen sie: schlimmer geht immer. Manche fürchten, dass das Mullah-Regime stürzt und andere Gruppierungen die Macht übernehmen wie beispielsweise die Volks-Mujaheddin, vor denen sie teilweise mehr Angst haben als vor den Mullahs. Es gibt schon die Angst, wer kommt denn dann? Welches System könnte die Islamische Republik ersetzen? Monarchien gab es schon immer, auch Theokratien. Einen demokratischen Rechtsstaat hat es im Iran aber noch nie gegeben. Jetzt eine Revolution herbeizuführen, etwas ins Leben zu rufen, das es noch nie gegeben hat, das ist ein langer Prozess, der mehrere Jahre dauern kann. Ich hoffe, dass es nicht zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt. Wer die Geschichte kennt, weiß, dass auch die Islamische Revolution etwa neun Jahre gedauert hatte. Vielleicht gab es schon in den 1960er Jahren erste Bestrebungen, den Schah zu stürzen, und etwas mehr als ein Jahrzehnt später gab es seinen Sturz.

Homayoun: Khomeini hat sein Buch 1970 in Nadschaf vorgestellt. Dort hat er seine schiitischen Schüler über den Islamischen Staat gelehrt, den er einführen wollte.

Norbert Reichel: Widerstand gegen den Schah gab es schon in den 1960er Jahren. In Berlin erlebten wir dies 1967, als Männer des SAVAK auf Demonstrierende mit Dachlatten einprügelten, auf oppositionelle Iraner*innen, auf deutsche Studierende. Es gab die Jubelperser oder Prügelperser, wie sie genannt wurden. Und dann kam der 2. Juni 1967. Der Schah saß in der Oper und Benno Ohnesorg wurde auf einer Demonstration gegen den Schah erschossen.

Homayoun: Da hat die Polizei auch nicht so genau hingeschaut, was da passierte.

Mir ist wichtig zu wissen, dass wir sehen: die Menschen im Iran zeigen was Mut heißt. Sie kämpfen für etwas, das hier selbstverständlich ist. Wir haben hier in Deutschland verlernt, wie wertvoll unsere Demokratie ist. Auch das extreme Framing mancher Politiker*innen zeigt das. Ich nenne ein einfaches Beispiel: der Bundestag hat fast einstimmig den Atomausstieg beschlossen, jetzt ist es so weit und behauptet wird, das wäre grüne Ideologie.

Norbert Reichel: Markus Söder, der heute ein so großer Verfechter der Atomkraft ist, hat nach dem Unglück von Fukushima im Jahr 2011 als bayerischer Umweltminister mit seinem Rücktritt gedroht, wenn man nicht aus der Atomenergie ausstiege.

Homayoun: Das, was da zurzeit in Deutschland geschieht, ist eine Spaltung. Das kann Menschen auch dazu führen, dass sie Demokratie ablehnen. Im Iran können wir erleben, was Demokratie bedeutet. Die Menschen im Iran sind bereit, das Wichtigste, ihr Leben für die Demokratie hinzugeben. Das müssen wir uns immer vor Augen halten.

Was machen wir nun damit? Es gibt zwei Möglichkeiten: einmal, es geht um Solidarität, auf Demonstrationen, mit Kunstaktionen. Ich kann aber auch die Politiker*innen in meinem Kreis anschreiben, Mails und Briefe schreiben, und damit die Menschen im Iran unterstützen. Es kann nur besser werden, wenn der Iran ein freies Land wird. Bei allen Krisen, Klima, Energie, kann der Iran helfen. Im Iran gibt es enorme Möglichkeiten, die man durchdenken kann, die der Welt helfen.

Tala Hariri: Der Iran ist ja auch für alle Länder im Nahen und Mittleren Osten ein großes Vorbild. Dann können wir vielleicht auch mit der Demokratisierung in den anderen Staaten schaffen. Wenn die Iraner das schaffen, sollten es die anderen doch auch schaffen. Eine demokratische Welle im Nahen Osten!

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Internetzugriffe zuletzt am 3. Mai 2023. Titelbild: Corinna Heumann, „Beauty! – Botticelli Meets Calligraphy 2022” – © Corinna Heumann, alle anderen Bilder im Text, sofern nicht anders bezeichnet: © frauenlebenfreiheit_bonn)