Fridays for future?

Schulpflicht und basta? So einfach ist die Rechtslage nicht.

Schülerinnen und Schüler demonstrieren seit mehreren Wochen in vielen deutschen Städten freitags während der Schulzeit für die Rettung des Planeten und gegen den Klimakollaps. Sie streiken. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist groß, die Politik reagiert von Zustimmung oder Respekt bis zu Häme und persönlichen Angriffen.

Julia Klöckner, für Bildungsfragen nicht zuständige Bundesministerin für Landwirtschaft und Ernährung, twittert als Antwort auf die Frage, warum vor allem aus der CDU viel Kritik an den streikenden Schülerinnen und Schülern kommt, schlicht „Weil Schulpflicht keine dumme Erfindung ist?“. So einfach kann man es sich machen. Die leider sehr viel zuständigere Schulministerin des Landes Nordrhein-Westfalen Yvonne Gebauer (FDP) fordert in einem Schreiben an alle Schulleiterinnen und Schulleiter, die Schulpflicht sei durchzusetzen. In einer Schulmail wird auf einen Erlass verwiesen, der das dauernde Fernbleiben vom Unterricht regelt. Unter anderem geht es um „zwangsweise Zuführung“ und „Ordnungswidrigkeitsverfahren“, wenn Schüler dauerhaft dem Unterricht fernbleiben. Aus Sachsen-Anhalt vernimmt man Ähnliches. Aus Bayern werden Fälle berichtet, in denen Verweise an ganze Klassen ausgesprochen wurden oder einzelnen Schüler*innen, die als Organisator*innen identifiziert wurden, im Wiederholungsfall die Entlassung von der Schule angedroht worden sein soll.

So einfach ist die Rechtslage nicht. In der Tat gab es Zeiten, in denen Schulen als „Anstalten“ galten, in denen Schülerinnen und Schüler in einem sogenannten „besonderen Gewaltverhältnis“ stehen. Ebenso übrigens wie die Insass*innen von Strafvollzugsanstalten. Der uns heute seltsam vorkommende Begriff des „Gewaltverhältnisses“ traf auch insofern zu, als man bis in die 1950er Jahre auch kein Problem mit einem Züchtigungsrecht von Lehrkräften hatte. Daraus schloss man, dass die Grundrechte innerhalb einer Anstalt wie der Schule nicht gelten. Sowohl der Rohrstock als auch die Idee des besonderen Gewaltverhältnisses sind zum Glück Geschichte.

Schülerinnen und Schüler haben natürlich Grundrechte, auch das Grundrecht der Versammlungs- oder der Meinungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat aus Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz (GG) das Recht der Bundesländer abgeleitet, eine allgemeine Schulpflicht gesetzlich festzulegen. Aber diese Schulpflicht muss gegen die Grundrechte der Schülerinnen und Schüler im Einzelfall abgewogen werden. Wer also meint, mit dem Verweis auf die Schulpflicht sei die Sache klar und jede Sanktion eines Schulstreiks gerechtfertigt, an dem ist die verfassungsrechtliche Entwicklung seit spätestens 1972 vorbei gegangen. In diesem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Strafgefangenen-Beschluss die Idee des „besonderen Gewaltverhältnisses“, in dem eine Berufung auf Grundrechte ausgeschlossen sein sollte, beerdigt (BVerfG, Beschluss vom 14.03.1972, Az: 2 BvR 41/71, BVerfGE 33,1).

Das bedeutet, dass die Auslegung des Schulrechts grundrechtsfreundlich sein muss: Sie muss das entgegenstehende Grundrecht der Versammlungsfreiheit würdigen und ihm zur Geltung verhelfen, soweit es der Bildungs- und Erziehungsauftrag zulässt. Das gilt nicht nur für die Frage, ob eine Demonstration als wichtiger Grund ein Fehlen entschuldigt, sondern auch für die Anwendung von Ordnungs- oder gar Zwangsmaßnahmen. Es ist also ein Unterschied, ob jemand der Schule fernbleibt, weil er oder sie keine Lust hat. Oder ob er oder sie dies tut, um ein politisches Grundrecht wahrzunehmen.

Das Verwaltungsgericht Hannover hat 1991 ausgeführt: „Die Kollision zwischen dem Grundrecht des Schülers aus Art. 8 GG und seiner in Art. 7 Abs. 1 GG wurzelnden Pflicht zum Schulbesuch ist nur durch Abwägung der Rechtsgüter im Einzelfall zu lösen. Dabei kann der Umstand, dass durch Teilnahme an der Demonstration nur verhältnismäßig wenig Unterricht ausfällt, bei der Entscheidung über das Befreiungsbegehren berücksichtigt werden.“ (VG Hannover, Beschluss vom 24.01.1991, Az. 6 B 823/91, NJW 1991, 1000-1001).

Dieser Grundsatz, dass das Spannungsverhältnis zwischen der Schulbesuchspflicht und der Versammlungsfreiheit im Wege der Rechtsgüterabwägung zu lösen ist, findet sich auch in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg aus 2012. Das Gericht betont, dass die der Schule durch Art. 7 Abs. 1 GG aufgetragene Erziehung zum mündigen Staatsbürger grundsätzlich auch die Gestattung zu politischer Betätigung einschließt. Im konkreten Fall kam das Gericht zu dem Schluss, dass im Einzelfall kein wichtiger Grund für die Abwesenheit wegen der Teilnahme an einer Versammlung vorlag, weil sich deren Anliegen nachhaltig und ohne zeitliche Einschränkungen auch außerhalb der Unterrichtszeit verfolgen ließ. Der Eintrag unentschuldigten Fehlens im Zeugnis wurde bestätigt (VG Hamburg, Urteil vom 04.04.2012, Az.2 K 3422/10, NVwZ-RR 2012, 892-896).

Daraus lässt sich jedenfalls ableiten, dass es sich Schulleitungen schon mit dieser Entscheidung nicht so einfach machen können, wie ihnen Ministerien vielfach signalisieren. Sie müssen Einzelfallentscheidungen treffen und sie müssen dabei das Gewicht der Versammlungsfreiheit berücksichtigen.

Urteile zur Rechtmäßigkeit von darüber hinaus reichenden Ordnungsmaßnahmen wegen der Schulabwesenheit zum Zwecke der Teilnahme an einer Versammlung sind in den einschlägigen Datenbanken nicht veröffentlicht, soweit ich das überblicke. Hier bleibt der Blick ins Gesetz.

Nehmen wir exemplarisch das Bayerische Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG), eher nicht das liberalste Schulgesetz der Republik. Artikel 86 über Erziehungsmaßnahmen und Ordnungsmaßnahmen kann man das Wesentliche entnehmen. Danach setzen Erziehungsmaßnahmen voraus, dass sie „zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags oder zum Schutz von Personen und Sachen“ geeignet und erforderlich sind. Schulleiter*innen müssen darlegen, dass das zu ahndende Verhalten die Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags gefährdet – die Gefährdung von Personen und Sachen spielt hier offenkundig keine Rolle. Schon über diese Frage kann man trefflich streiten, jedenfalls gehört etwas mehr Argumentation dazu als ein schlichter Verweis auf die Schulpflicht.

Nur wenn Erziehungsmaßnahmen zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags nicht ausreichen, kann nach der bayerischen Gesetzeslage über Ordnungsmaßnahmen überhaupt nachgedacht werden. Die müssen wiederum verhältnismäßig sein, das heißt, sie müssen überhaupt geeignet sein, die (erst darzulegende) Gefährdung des Bildungsauftrags abzustellen, es darf dafür kein weniger einschneidendes Mittel geben und sie müssen im Verhältnis zum Verhalten der Schüler*innen stehen. Bei alldem ist auch das Alter der Schüler*innen zu berücksichtigen, mit Sicherheit auch die Schwere des Eingriffs in den Bildungsauftrag der Schule und eben erneut, dass die Abwesenheit zum Zwecke der Wahrnehmung eines Grundrechts erfolgte. Ordnungsmaßnahmen sind als schärfere Eingriffe also noch stärker rechtfertigungsbedürftig, wenn sie als Reaktion auf eine Grundrechtsausübung erfolgen.

Die in Art. 86 Abs. 2 BayEUG aufgeführten Ordnungsmaßnahmen stehen zudem in einem aufsteigenden Schwereverhältnis zueinander. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann ein schweres Mittel nur dann ergriffen werden, wenn der Zweck der Maßnahme durch ein milderes Mittel nicht zu erreichen ist. Keine Diskussion gibt es über die Zulässigkeit von Klassenverweisen. Die sind in Art. 86 Abs. 3 Nr. 2 BayEUG klipp und klar als unzulässig definiert.

Kaum vorstellbar erscheint es mir auch, durch Teilnahme an einem Schulstreik eine schulische Gefährdung zu begründen. Eine solche Gefährdung ist in Art. 86 Abs. 2 Nr. 6 BayEUG als Gefährdung von Rechten Dritter oder der Aufgabenerfüllung der Schule durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten definiert. Die Organisation eines Streiks als „schweres“ Fehlverhalten zu qualifizieren, dürfte vor dem Hintergrund der Versammlungsfreiheit schwierig sein. Schon die bloße Androhung einer Schulentlassung setzt aber ein solches schweres oder wiederholtes Fehlverhalten voraus, das noch dazu die Aufgabenerfüllung der Schule gefährden muss.

Für die zwangsweise Vorführung oder die Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern, wie sie den Schulministerien in Nordrhein-Westfallen und Sachsen-Anhalt offenkundig vorschweben (in Bayern: Artt. 118, 119 BayEUG) als noch drastischere Maßnahmen steigt der Begründungsaufwand entsprechend zusätzlich.

Der traurige Zwischenbefund lautet also: Etliche der Kommentare aus der Politik lassen auf ein erschreckendes Fehlverständnis der Rechte von Schülerinnen und Schülern schließen. Etliche der bekannt gewordenen oder angedrohten Sanktionen dürften rechtlich auf äußerst wackligen Beinen stehen.

Wer mit Folgen droht, die die Gesetzeslage nicht hergibt, will keinen sachlichen Hinweis auf mögliche Folgen geben, damit sich die Schülerinnen und Schüler darauf einstellen können, sondern einschüchtern.

Dass Politiker*innen und Politiker Minderjährigen mit dem ‚Rohrstock‘ scharfer Ordnungsmaßnahmen drohen, obwohl das Recht vorrangig erzieherisches Vorgehen verlangt und Ordnungsmaßnahmen unter den Vorbehalt sorgfältiger Einzelfallabwägungen unter Berücksichtigung der Grundrechte stellt, hat einen Grund: „Fridays for future“ erscheint bedrohlich. Darum ist die Bewegung für die politische Bildung über die realen Bedingungen von Politik und Demokratie in Wirklichkeit wohl mindestens so hilfreich wie der theoretische Unterricht im Klassenraum. Politik und Demokratie werden von Machtverhältnissen geprägt. Hier erleben sie, dass auf die Bedrohung von Macht und Strukturen nicht unbedingt immer nur mit sachlichen Argumenten reagiert wird, sondern mit Machtausübung.

Soweit Lehrkräften und Schulleitungen von den Landesverwaltungen für die gebotene verhältnismäßige Reaktion im Einzelfall überhaupt Raum gelassen wird, werden die Klügeren unter ihnen diese Chance für Lernerfahrungen zu nutzen wissen. Sie werden darüber sprechen, dass in der Demokratie Rückgrat notwendig ist. Sie werden die ihnen über die Schulpflicht anvertrauten Kinder und Jugendlichen darin bestärken, dieses Rückgrat zu entwickeln anstatt ihnen mit demn Verweis auf die Schulpflicht Engagement und Mut beizeiten auszutreiben. (Was zum Glück sowieso in der Regel scheitert.)

Was rate ich Schülerinnen und Schülern?

Mein erster Rat: Nehmt das Thema möglicher Folgen nicht auf die leichte Schulter, sondern setzt euch damit auseinander und besprecht das sorgfältig und solidarisch.

Am Ende muss jeder für sich selbst abwägen und entscheiden, welche Folgen er im Zweifel tragen kann. Und dabei sollte auch kein Gruppendruck ausgeübt werden. Jemand, der ohnehin um den Bildungsaufstieg kämpft, zu Hause und in der Schule, kann in einer anderen Situation sein als eine Einserschülerin mit starkem elterlichen Rückhalt.

Die Konsequenz, dass man – je nach Praxis vor Ort früher oder später- einen Eintrag wegen unentschuldigten Fehlens im Zeugnis stehen haben wird, ist wahrscheinlich und sicherlich auch hinnehmbar.

Pauschale Ordnungs- und Zwangsmaßnahmen halte ich, nach Würdigung der Gesetzeslage, für schwer begründbar. Aber wie gesagt, am Ende entscheidet der Einzelfall. Und auch gegen rechtswidrig verhängte Sanktionen muss man sich erstmal zur Wehr setzen. Nicht alle haben Eltern, die im Fall des Falles bereit und finanziell dazu in der Lage sind, einen Rechtsbeistand zu Rate zu ziehen oder gar vor Gericht zu gehen. Und natürlich gibt es subtile Sanktionsmöglichkeiten, die in den Schulgesetzen nicht aufgeführt und auch schwer zu belegen und gerichtlich abzuwenden u sind. Auch darauf sollte man vorbereitet sein.

Mein zweiter Rat: Wenn ihr euch politisch engagieren wollt, macht das, aber setzt euch auch auf den Hosenboden und lernt. Wer sich auseinandersetzen will, sollte darauf achten, dass er nicht allzu viel Angriffsfläche auf der Leistungsseite bietet. Oder um mal meinen reichen Erfahrungsschatz zu bemühen: Das gespannte Verhältnis zu meinem Schuldirektor am Gymnasium, Mitglied der CSU, hatte einen nicht geringen Einfluss auf meine nicht ganz schlechte Abiturnote. Ich wollte schließlich sicherstellen, dass der mir nicht am Zeug flicken konnte. Er hat mich weder politisch noch über die Notengebung klein gekriegt.

Manuela Rottmann MdB

(Anmerkungen: Manuela Rottmann ist Obfrau der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des 19. Deutschen Bundestags. Erstveröffentlichung im Mai 2019, Internetlink wurde am 16. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Die Autorin legt Wert darauf, dass der Artikel nicht als Rechtsberatung zu verstehen ist. Er gibt die persönliche Recherche und Meinung der Autorin wieder.)