Friedenspolitik nach der Zeitenwende

Zweiter Teil: Der Streit um Lösungen im Krieg um die Ukraine

„‚Nichts ist mehr, wie es einmal war‘, mit diesem Wort lässt sich das Erleben von Zeitenwenden beschreiben. Sie etablieren einen neuen Normalzustand an der Stelle eines alten. Eine scheiternde Revolte kann eine Zäsur darstellen, aber zu einer Zeitenwende wird nur die siegreiche Umwälzung, die eine neue politische und kulturelle Ordnung mit eigenen Maßstäben von Gut und Böse erzeugt.“ (Martin Sabrow, Zeitenwenden in der Zeitgeschichte, Göttingen 2023)

Der Historiker Martin Sabrow, lange Jahre Direktor des Potsdamer Leibniz-Instituts für zeithistorische Forschung, bot in seiner Abschlussvorlesung einen umfassenden Überblick über diverse „Zeitenwenden“ oder als solche verstandene Ereignisse, beginnend mit dem von Thukydides dokumentierten erfolglosen Angebot der Melier an die Athener nach deren Überfall im Jahr 416 v.u.Z., der sich durchaus mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vergleichen ließe. Sabrow beschreibt aber auch, wie sich die Sichtweisen je nach politischer Position des Rückblickenden widersprechen können. Während die einen die im November 1918 meuternden Matrosen des Hochverrats anklagen, sehen andere in ihrem Handeln republikanische Tugend.

Kampf um zivilisatorische Werte und Institutionen

Die normative Einteilung der Welt in ein bestehendes gutes Lager – das Bündnis der Demokratien – und ein Lager der bösen Autokraten, der „Schurken“ – ist mehr als fragwürdig und unscharf. Richtig ist, dass dieser Grundkonflikt nahezu alle Gesellschaften beziehungsweise Staaten durchzieht, er aber nicht bruchlos auf die Staatenwelt und dort existierende Konstellationen übertragen werden kann. Die Annahme einer weltumspannenden Auseinandersetzung um die demokratisch-freiheitlichen Grundwerte hat gleichwohl etwas Richtiges. Auf die zahlreichen Krisen der Gegenwart reagieren reaktionäre Bewegungen mit nationalistischen, rassistischen, ethnisch-religiös aufgeladenen Konzepten, die düstere Vergangenheiten heraufbeschwören. Dazu gehört eben das Modell „Putin“. (siehe: Robert Misik, Putin – Ein Verhängnis, Wien 2022). Der russische Präsident Wladimir Putin versucht sich an die Spitze einer solchen rückwärtsgewandten Allianz zu setzen, um darauf gestützt russisch-imperialistische Ambitionen durchsetzen zu können. Daher ist auch die Annahme richtig, dass es bei dem Angriff auf die Ukraine nicht nur um einen begrenzten regionalpolitischen Krieg geht. Den Machthabern im Kreml schwebt eine deutlich erweiterte Einflusszone vor, deren Grenzen nicht genau definiert sind.

Es wurde bereits gesagt, dass man mit Assoziationen zur „Systemkrise“ der 1930er Jahre und dem damaligen faschistisch-nationalsozialistischem Versuch, das Rad der Geschichte ins Zeitalter der Imperialismen zurückzudrehen, vorsichtig umgehen sollte. Der warnende Hinweis auf diesen Zivilisationsbruch ist aber insofern hilfreich, als er klarer macht, was heute wieder auf dem Spiel steht: Es geht um die Universalität der Menschenrechte. Diese muss gegen jeglichen Kulturrelativismus oder ideologisch motivierte Einschränkungen entschieden verteidigt werden. Sonst droht eine weitere Abwärtsbewegung auf der Rutschbahn zu einer chaotisch-anarchischen Staatenwelt.

In eine ganz andere Richtung denken nicht nur hierzulande einflussreiche Wissenschaftler:innen. Sie gehen davon aus, dass in dieser „Welt(un)ordnung“, kein Platz mehr für romantische Vorstellungen einer wirkmächtigen UNO, einer europäischen Friedensarchitektur übrig sei. Das „komplette Denkgebäude der klassischen Friedens- und Konfliktforschung“ (sei) „ins Abseits geraten“, so der Politologe Ulrich Menzel (in: Am Übergang zum autoritären Jahrhundert, Berlin 2023). Ähnlich Herfried Münkler (in: Welt im Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2023) der davon ausgeht, dass eine normativ ausgestaltete Weltordnung bestenfalls durch Verträge und Verabredungen der großen Mächte abgelöst würde, denen es vorrangig um eigene Interessenwahrnehmung gehe. Für diese Autoren scheint der neue Kalte Krieg zwar nicht wünschenswert, aber unausweichlich. Die alten Konzepte der Abrüstung, der internationalen Zusammenarbeit, der Global Governance werden für passé erklärt.

Nun spricht Einiges dafür, dass sich die Wirklichkeit in naher Zukunft im Rahmen der verschiedenen ernüchternden Szenarien bewegt, die von diesen Autoren durchgespielt werden. Und man mag es auch so sehen, dass es nicht die primäre Aufgabe von Wissenschaft sei, politische Wegweisungen zu formulieren. Aber dennoch gilt: Dieser Art eines Ultrarealismus ist entschieden zu widersprechen. Es wäre fatal, wenn es im politischen Raum keine Kraft mehr gäbe, die dieser Reduktion auf einen sich nun mal ergebenden Status Quo die Idee einer besseren Zukunft entgegenstellt. Eine solche Idee ist im übrigen realitätsnäher als die dystopischen Erzählungen der machtaffinen Wissenschaft. Denn wenn es zutrifft, dass wir uns immer schneller auf verschiedenen Ebenen den Kipppunkten des Weltklimas nähern und ein „Weiter So“ extrem zerstörerische Konsequenzen für den Planeten nach sich ziehen würde, so ist äußerste Eile bei der Verteidigung der humanen Lebensgrundlagen geboten – und globale Zusammenarbeit.

Die UNO im „Mächtekonzert“

Mit anderen Worten: Eine Ära globaler Konfrontationen können wir uns ebenso wenig leisten wie die Verlängerung der auf fossilen Quellen beruhenden Wirtschaftsweise. Dies gilt ebenso für eine Fortsetzung eines globalen Wettrüstens, das immer auch die Wahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte erhöhen würde. Die Fokussierung auf die sozialökologische Transformation wird zum kategorischen Imperativ internationaler Politik. Sie ist nur im Zusammenwirken der Staatengemeinschaft zu bewältigen, was tiefgreifende (Struktur-) Reformen in den internationalen Beziehungen unabweisbar macht, so Mohamad ElBaradei (in: Weltordnung in Trümmern, in: IPG-Journal vom 25. Januar 2024).

Die Vorstellung eines „Mächtekonzerts“ (Begriff nach Harald Müller et al.: Ein Mächtekonzert für das 21. Jahrhundert. In: HSFK-Report Nr.1/2014), wonach die Großmächte den Entwicklungsgang der Weltpolitik bestimmen und kontrollieren, dürfte vor dem Hintergrund weiterwachsender Mitgestaltungsansprüche in den Schwellenländern und den Ländern des „globalen Südens“ nicht aufrecht zu halten sein. Die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele, die die UN-Generalversammlung 2016 beschlossen hat, ist ohne ein Mehr an Gleichberechtigung in den internationalen Institutionen nur schwer vorstellbar. Der oben gegebene Hinweis auf den Zusammenhang der Zunahme gewaltförmiger Konflikte mit der Marginalisierung der UNO ist an dieser Stelle von Belang. Es ist daher eine ganz schlechte Idee, sich von der UNO als Einflussfaktor zu verabschieden und die Bedeutung normativer Regeln abzuwerten. Im Gegenteil: Es geht um nicht mehr und weniger darum, die strikte Anerkennung des internationalen Rechts wieder durchzusetzen. Die Rolle der UNO als zentralem friedensstiftenden Faktor muss dabei wieder in den Mittelpunkt gerückt werden.

Es ist eine traurige Tatsache, dass die Kräfte, die sich gegenwärtig global dafür stark machen, vor allem in der Zivilgesellschaft anzutreffen sind und weniger in der Staatenwelt. Und sie sind schwach. Dennoch wird es Möglichkeit geben, dass sich neue Bewegungen, fortschrittliche Allianzen zwischen gesellschaftlichen Bewegungen, Einzelstaaten und den in internationalen Einrichtungen Tätigen bilden können, die sich dem Strom der Anarchie und der Unordnung entgegenstellen und helfen, das Raumschiff Erde wieder in die richtige Bahn zu bringen.

Progressive Politik wird an den Zielen „Gerechtigkeit global“, „universelle Menschenrechte“, „Frieden und Abrüstung“ festhalten müssen, weil ohne diesen Kompass kein Fortschreiten möglich sein wird. Konzepte zur Krisenprävention und der friedlichen Konfliktbearbeitung bleiben ebenso aktuell wie Neuüberlegungen zur Rüstungskontrolle und weltweiter Abrüstung. Es ist deshalb äußerst positiv, dass der UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 20. Juli 2023 eine „neue Agenda für den Frieden“ vorgelegt hat, die bis dato viel zu wenig Resonanz erfahren hat. Es ist höchste Zeit, das zu ändern.

Nüchterne Bedrohungsanalyse notwendig

Das Festhalten an zukunftsfähigen Zielen internationaler Politik ist das Eine; das Andere die konkrete Auseinandersetzung mit den Szenarien, die uns heute als unvermeidlich und alternativlos serviert werden. Zu diesen Szenarien gehört die Beschwörung, dass wir und unsere Lebensweise von den Bösewichten der Welt bedroht seien, gegen die eben nur eine wehrhafte Demokratie helfen könne. Aber stimmt das – siehe oben – etwa nicht? Schauen wir uns die Sache näher an.

Die Formel, dass am Hindukusch unsere Freiheit verteidigt würde, haben wir viele Jahre lang gehört. Dass daran etwas nicht stimmte, wurde schnell deutlich. Dass die Taliban uns überfallen wollten, stand nie an. Und die Kräfte, die in Afghanistan durch die US-/NATO-Intervention gestützt werden sollten, waren nur sehr bedingt demokratisch-freiheitlich. Mit dem Export der Freiheit mit militärischen Mitteln war es bekanntlich nicht weit her, die Mission ist gescheitert. Wenn jetzt wieder davon die Rede ist, die Ukraine verteidige unsere Freiheit und Sicherheit, so könnte Misstrauen angebracht sein. Aber die heutige Konstellation im Osten Europas ist mit Afghanistan nicht vergleichbar. Hat die Behauptung, dass es am Dnipro auch um unsere Freiheit gehen könnte, jetzt einen realen Kern?

Dabei kann diese Behauptung sich nicht nur auf den autoritären Charakter Putins stützen. Dass dem autokratischen Russland eine Ukraine mit entschieden liberaleren Errungenschaften gegenübersteht, ist zweifellos richtig. Aber die Formel zielt ja auf einen Systemkonflikt ab, der über diese beiden Staaten hinausgeht. Daher brauchen wir eine möglichst genaue Bedrohungsanalyse, die Einschätzungen des Gesamtkomplexes der zwischenstaatlichen Handlungsmöglichkeiten und –Wahrscheinlichkeiten umfassen muss. Das schließt auch Fragen nach den Kosten und Nutzen für die jeweiligen Akteure ein, die aus verschiedenen Optionen erfolgen könnten. Was können wir voraussagen?

Dass damit zu rechnen ist, dass die Russen morgen wieder am Brandenburger Tor stehen, ist Nonsense. Dafür sind die Kräfteverhältnisse zwischen NATO und der Russischen Föderation zu eindeutig. Schon mit Polen hätte Russland eine harte Nuss zu knacken und einen unverdaulichen Brocken zu schlucken. Präsident Putin hat in seinem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson einen Angriff auf Polen oder Lettland ausgeschlossen. Schnell wurde in den Medien darauf hingewiesen, dass Putin dies auch im Falle der Ukraine getan und daher gelogen habe. Dies zu beachten, ist nicht falsch, kann aber eine Analyse, welches Kalkül Putin jeweils verfolgt oder wann er sich angegriffen fühlt, nicht ersetzen. Dass Russland sich auf einen unmittelbaren Krieg mit einem NATO-Mitgliedsstaat, der dann Bündnisfall würde, einlassen will, ist unwahrscheinlich, aber (Fehlwahrnehmungen!) nicht völlig auszuschließen.

Dass die Kreml-Führung Belarus und Ukraine als Teil und Ausgangsbasis eines großrussischen Imperiums betrachtet, ist in Wort und Tat ausreichend dokumentiert. Daher ist mit erbitterter Entschlossenheit zu rechnen, dieses Ziel auf dem Gefechtsfeld auch durchsetzen zu wollen. Das gilt für die beschlossenen Annexionen ebenso wie für den Versuch, durch terroristische Attacken aus der Luft die ukrainische Bevölkerung zu demoralisieren und zur Aufgabe ihrer Souveränität zu zwingen. Die mitunter zu hörende Aussage; Russland wolle doch gar nicht „das ganze Land besetzen“, ist daher schönfärberisch und geht an der Sache vorbei.

Wie weit die imperialen Ambitionen ausgreifen, ob darunter auch Moldawa, Georgien, Nordkasachstan oder sogar das Baltikum und Teile Finnlands fallen, können wir nicht wissen. Es reicht aber, dass die Bevölkerung in den betreffenden Ländern eine große Besorgnis hat, dass ihr Selbstbestimmungsrecht per äußerer Gewalt eliminiert werden soll. Diese Existenzängste nicht ernst zu nehmen, wäre fahrlässig und könnte nur chauvinistischen Ehrgeiz in Moskau anstacheln. Es bleibt auch eine Tatsache, dass nahezu alle mittel- und osteuropäischen Staaten vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen sich von dem russischen Vordringen bedroht fühlen und darin ein beträchtliches Erpressungspotenzial sehen.

Betrachten wir die Sache dennoch nüchtern: Die eurasischen Machtphantasien, die unter Putin Auftrieb gewannen, stoßen an enge Grenzen. Im Osten hat das Gipfeltreffen der zentralasiatischen Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadshikistan, Kirgisien) mit China im Mai 2023 überdeutlich gemacht, dass sich diese Staaten keiner russischen Vormachtstellung beugen werden und ihre Zukunft eher in der Anlehnung an China sehen. Auch die Mongolei ist um Eigenständigkeit bemüht. Das Projekt der Neuen Seidenstraße ist in diesen Ländern sehr attraktiv, dem Russland nichts entgegenzusetzen hat. Peking hat dort auch eine engere militärische Partnerschaft angeboten. An der Südflanke hat der mit türkischer Hilfe erreichte militärische Sieg Aserbeidschans über den früheren Russland-Verbündeten Armenien offengelegt, wie selbst der engere russische Einflussbereich geschwunden ist. Im Westen ist die NATO durch den Beitritt zweier rüstungsstarker Länder wie Finnland und Schweden noch dichter an Russland herangerückt. Gestützt auf die drückende militärische und wirtschaftliche Überlegenheit des „Westens“ dürfte eine Abhaltung russischer Angriffserwägungen doch ohne allzu große Bemühungen möglich sein, oder?

Aber Vorsicht. Auf der anderen Seite sind eben nicht unwichtige Positionsgewinne eines postimperialen, nach neuen Einflusszonen strebenden Russlands in Afrika und Nahost zu verzeichnen. Ja, in Europa selbst, hat Putin Freunde und Partner gefunden, die kräftig an der Erosion des europäischen Integrationsprozesses arbeiten. Durch seine Partnerschaften im Rahmen der BRICS-Staatengruppe und des Shanghai-Kooperationsrates erhofft sich das Putin-Regime Rückendeckung für die Pläne, auf die Weltbühne als führende Macht zurückzukehren. Die neue Achse mit Iran und Nordkorea, die in diesem Rahmen den besonders aggressiven antiwestlichen Part spielt, hat sich für Moskau bereits im laufenden Krieg durch größere Waffenzufuhr ausgezahlt. Es sind auch diese Faktoren, die sehr wahrscheinlich Putin zur Eröffnung des Krieges gegen die Ukraine verleitet haben. Und es ist nicht davon auszugehen, dass der großrussische Appetit auf Mehr kleiner geworden ist.

Neue Qualität: Die russische Aufrüstung

Mariupol, PortCity vor der Zerstörung. PortCity war eines der schönsten Einkaufs- und Unterhaltungszentren von Mariupol. Wikimedia Commons.

Gern wird der plausibel klingende Satz gesagt, die russischen Streitkräfte hätten ja schon Schwierigkeiten gehabt, Bachmut in der Ostukraine zu erobern, dann sei ein Vorrücken nach Danzig oder Berlin erst recht völlig unrealistisch. Dafür spricht Einiges. Dennoch bleibt die Aussage ungenau, weil sie statischer Betrachtung folgt und nicht die gravierenden Veränderungen seit dem Oktober 2022 erfasst. Die Kreml-Führung ist bei der Eröffnung ihrer „Spezialoperation“ davon ausgegangen, binnen weniger Tage Kiew in die Knie zwingen zu können. Entsprechend war der Kräfteeinsatz dosiert und die Kriegsführung eher zurückhaltend.

Den Einsatzwillen der ukrainischen Territorialverteidiger hat man sträflich unterschätzt. Nachrichtendienstliche Fehleinschätzungen und chauvinistische Überheblichkeit ergänzten sich. Die beträchtliche Zahl der Fahnenflüchtigen auf der Krim und im Donbass, die auf die russische Seite wechselten, tat ein Übriges zu diesem Hochmut hinzu. Der Vorstoß auf die ukrainische Hauptstadt scheiterte kläglich. Nachdem man aber anschließend an der „Ostfront“ beträchtlich vorankam und bis zum Sommer große Gebiete (Mariupol, Cherson) vereinnahmt hatte, beging man den nächsten Fehler. Man unterschätzte die Rolle, die die westlichen Waffenlieferungen ab Juli 2022 bei der Befähigung der ukrainischen Armee spielten (Himars-Artillerie etc.) und musste in der Herbstoffensive Kiews herbe Verluste einstecken. Man erinnere sich noch an die verzweifelten Appelle des Anführers der Wagner-Milizen, man möge dringend die benötigte Munition liefern und den Nachschub besser organisieren. Die Antwort bestand ab Oktober 2022 in der Teilmobilmachung, die treffend als Eingeständnis gewertet wurde, dass man sich im Krieg befinde, und in der brutalen Eskalation des Luftkrieges gegen die Lebensadern der ukrainischen Gesellschaft. Seitdem haben sich dieser „Lernprozess“ Moskaus und die Anspannung aller Kräfte für eine militärische Eskalationsüberlegenheit systematisch fortgesetzt. Die Kriegsmaschinerie des Kremls läuft seitdem auf Hochtouren, die Waffenproduktion wurde vervielfacht, monatlich werden neue Personalreserven nachgeführt und die Gesellschaft auf noch größere Opfer eingestimmt.

Das russische Budget für Rüstung und Krieg beträgt offiziell 109 Milliarden Euro, was einem knappen Drittel des Gesamthaushalts entspricht! Etwa sechs Prozent des BIP werden für das Militär aufgewandt (Deutschland noch unter zwei Prozent). Natürlich wird damit auch Wachstum generiert – Menschen finden dort Arbeit, verdienen gutes Geld. Aber die Belastungen für die Ökonomie durch die exorbitanten Summen für Destruktivkräfte sind beträchtlich und das Geld für Zukunftsinvestitionen fehlt an allen Ecken und Enden. Daher stellt sich die Frage, wie lange die russische Seite diese Belastung durchhalten kann. Anlass zur Beruhigung ist das nicht, so Hannes Koch am 14. März 2024 unter der Überschrift „Unbeschadetes Russland“ in der Frankfurter Rundschau. Man kann es auch sagen, Russland ist zu einer noch gefährlicheren Macht geworden.

Mariupol, PortCity am 19. März 2022. Foto aus der Telegramnachricht „MARIUPOLNOW“. © Jüdisches Echo Westfalen-Lippe.

Dass Russland im gegenwärtigen Krieg horrende Verluste an Menschen und Material erleidet, ist eine Tatsache, auch wenn wir die genauen Zahlen nicht wissen können. Der Hinweis von Expert:innen, dass der Zeithorizont, um diese Verluste wettzumachen, fünf bis zehn Jahre betragen wird, ist in die Betrachtung einzubeziehen. Daher ist Panikmache nicht angesagt. Es bleibt aber festzuhalten, dass Russland in den letzten zehn Jahren eine beträchtliche Vergrößerung und Modernisierung seines militärischen Arsenals betrieben hat, die es fortzusetzen gedenkt. Der Ukraine-Krieg hat sich zudem als Booster für rüstungstechnologische Neuerungen auf beiden Seiten herausgestellt (Digitalisierung, KI), die man aufmerksam verfolgen muss.

Ja zum Selbstverteidigungsrecht der Ukraine

Wohl kaum jemand im linken Lager bestreitet, dass die Ukraine gegen den in Moskau vom Zaum gebrochenen Angriffskrieg das Recht auf Selbstverteidigung (VN-Charta, Artikel 51) in Anspruch nehmen kann. Dass sie dabei auch von bewaffneter Gegenwehr Gebrauch machen kann, halten viele auch für richtig. Leider bleibt dieses Zugeständnis in nicht wenigen Fällen eine bloße Leerformel. Schon mit der Forderung nach dem vollständigen Rückzug der russischen Streitkräfte, um die territoriale Integrität der Ukraine wieder herzustellen, haben sich manche schwer getan.

Die UN-Generalversammlung hat genau dies in zwei Resolutionen unmissverständlich bekräftigt und sich auf den Standpunkt gestellt, dass der krasse Völkerrechtsbruch revidiert werden muss. Daher steht immer auch die Frage im Raum: Wie viel ist uns das Völkerrecht wert? Und: Wenn es um einen Akt der Notwehr im Einklang mit Artikel 51 der UN-Charta geht, gilt dann auch das Prinzip der Nothilfe? Solidarität kann nicht aus bloßen Bekundungen bestehen. Es geht um praktische Konsequenzen. In dieser Lage auf ehernen Prinzipien – „keine deutschen Rüstungsexporte“ – zu beharren, muss in den Augen der Überfallenen als moralisch bemänteltes Sich-Herumdrücken gewertet werden.

Richtig ist allemal, dass wir alle uns mit den Folgen einer solchen Haltung auseinandersetzen sollten. Dass die Vertreter:innen der NATO-Politik davon sprechen, dass eine kriegerische Aggression nicht belohnt werden darf und dass ein Zurückweichen der Ukraine nicht zu einem stabilen Frieden, sondern dem Gegenteil führen würde, wird nicht dadurch falsch, dass man mit der politischer Grundhaltung der NATO nicht einverstanden ist. Es ist eben nicht ersichtlich und widerspricht allen Erfahrungen der letzten Jahre, anzunehmen, dass Wladimir Putin auf ein Einknicken der Ukraine seinerseits mit einem Rückzug und Friedensverhandlungen antworten würde. Die gesamten Erfahrungen des Krieges belegen, dass es der Kreml-Führung darum geht, sich einen Teil der Ukraine einzuverleiben, diese Gebiete zu russifizieren und in Kiew ein willfähriges Regime zu installieren, das mit der mehrheitlich gewünschten Europa-Orientierung des Landes bricht. Frieden und Sicherheit sind auf diesem Weg nicht zu erreichen.

Wladimir Putin hat zuletzt auf Fragen des Chefs der Nachrichtenagentur Rossiya Segodnya, Dmitri Kisseljow, geantwortet: Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre von unserer Seite irgendwie absurd.“ Braucht es noch mehr Klarheit über die Denkweise der Kreml-Führung?

Ohne Waffenlieferungen bleibt nur die Kapitulation

Die Kritik, dass sich die deutsche Debatte fast ausschließlich auf das Thema der Waffenhilfe für die Ukraine konzentriert habe, ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Relevanter scheint mir, dass dieser Streit innenpolitisch instrumentalisiert und moralisch aufgeladen, statt sachlich ausgetragen, wurde. Wichtigtuerische Vertreter:innen in Medien, Politik und Wissenschaft konnten mangelnde Kenntnis durch martialische Entschlossenheit zum Kampf überspielen. Dies ist mehr als ärgerlich. Die Story etwa, dass ein bestimmtes Waffensystem Game Changer“ in diesem Krieg sein könnte, wie die Leo II-Kampfpanzer – gerne von den Waffenlieferanten lanciert – wurde begierig in der Öffentlichkeit aufgegriffen, hält aber genauerer Prüfung nicht stand.

Es bleiben dennoch Grundtatsachen:

  • Ohne die Waffenhilfe von außen müsste die Ukraine eher früher als später vor dem russischen Angriff kapitulieren. Dass dies so ist, kann seriös von niemandem bestritten werden.
  • Ein solcher Diktatfriede qua Kapitulation ist das Gegenteil von Verhandlungen zwischen zwei eigenständigen Akteuren auf Augenhöhe.
  • An ein gerechtes und daher dauerhaftes Ende der Gewalt ist unter diesen Vorzeichen nicht zu denken. Eher dürfte das Gegenteil zutreffen.
  • Das menschliche Leid des Krieges ist entsetzlich. Welches Elend ein abruptes Ende des Krieges zugunsten Putins hervorrufen würde, ist nur zu erahnen. Man denke nur an weitere riesige Fluchtbewegungen. Oder an die Rache der Sieger.

Die bittere Konsequenz lautet daher: Der Ukraine muss auch militärisch beigestanden werden, damit es überhaupt zu ernsthaften Verhandlungen und einem stabilen Friedensschluss kommen kann. Das bedeutet aber nicht, dass diese Unterstützung bedingungslos sein sollte – koste es was es wolle. Der oberste Leitsatz, wonach die NATO auf keinen Fall direkte Kriegspartei werden darf, ist strikt einzuhalten. Die NATO-Staaten wandeln ohnehin auf einem schmalen Grat, wenn man die intensive Unterstützung der ukrainischen Armee durch Ausbildung, Satellitenaufklärung, Nachrichtendienste, Militärberater bedenkt. Wenn jetzt ein französischer Präsident laut über den Einsatz von Bodentruppen nachdenkt, so sollten alle Alarmglocken läuten. Bundeskanzler Scholz hat völlig Recht, wenn er mit Blick auf die besondere deutsche Verantwortung die Lieferung bestimmter Waffensysteme besonders gründlich abwägen will, dazu Helmut Ganser unter dem Titel „Eingeengte Debatte“ im IPG-Journal.

Die von links gern gepflegte Kritik an der Fixierung der NATO-Mitgliedsländer auf immer mehr und immer schwerer werdende Waffen ist nicht ganz von der Hand zu weisen, geht aber im Kern an der Sache vorbei. Die Antwort der Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, blieb anfangs zögerlich, für eine gewisse Zeitspanne strikt begrenzt, unzureichend koordiniert, ohne Konzept (dazu: Lutz Unterseher: Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine, Münster 2023).

Die Zögerlichkeit, die beispielsweise US-Präsident Joe Biden oder Kanzler Olaf Scholz an den Tag gelegt haben, hatte trotzdem etwas fundamental Richtiges. In der Konfrontation mit dem hochgerüsteten, nuklear bewaffneten Russland müssen die Risiken des militärischen Engagements sorgfältig abgewogen werden! Und diese Zurückhaltung – trotz anderslautender Kriegsrhetorik – war notwendig als Gegengewicht zu den „Kalten Kriegern“, die nur die Sprache der Gewalt kennen, weil ja der Gegner nur diese Sprache verstehe.

Und doch ist es legitim Fragen zu stellen: Hätten Waffenlieferungen vor dem russischen Angriff, die über leichte Abwehrsysteme (Javelin, Stinger, die eher für einen Partisanenkampf nach einer Besetzung des Landes gedacht waren!) und eine Handvoll Flugzeuge herausgegangen wären, den raschen Vorstoß Russlands im Süden und Osten des Landes aufhalten können? Hätte die frühzeitige Lieferung von effektiven Luftabwehrwaffen (Iris T, Patriot) den Terrorangriffen Moskaus auf die Infrastruktur des Landes Grenzen setzen können? Hätte die bessere Ausstattung der Herbstoffensive den ukrainischen Kräften mehr Durchschlagskraft verleihen können?

Die ukrainische Offensive blieb stattdessen limitiert, was den russischen Streitkräften erst die Möglichkeit gab, Zeit zu gewinnen und sich in mehreren befestigten Linien zu verschanzen. Damit wurde das weitere Vorrücken der Ukraine erheblich erschwert. Aus dem Vorteil dieser gefestigten Defensive heraus, ist nun der Punkt erreicht, an dem Putins Truppen die Ukraine in arge Bedrängnis bringen können, weil deren Regenerationsfähigkeit und Bewaffnung Belastungsgrenzen erreicht hat. Wenn Russland entscheidende Durchbrüche gelängen, könnte es mit der ukrainischen Abwehrfront rasch vorbei sein. Daher tut man jetzt gut daran, eine solche – in der Tat fatale – Entwicklung zu verhindern. In dieser Situation stattdessen einen Stopp der Waffenlieferungen an Kiew zu veranlassen, kann nur als Ermutigung des Angreiferlandes verstanden werden, mit der Landraub- und Unterwerfungspolitik fortzufahren.

Aber müssen wir uns überhaupt mit solchen „militärlogischen“ Betrachtungen beschäftigen? Ja. Es ist notwendig, immer die Dynamik des Krieges und seiner möglichen Fortsetzung im Auge zu behalten, denn davon werden schließlich auch die jeweiligen Denkhorizonte der beteiligten Akteure beeinflusst. Und Friedenswissenschaft, die sich auf gedankliche Modelle aus der „Ferne“ beschränkt, hat nur einen begrenzten Erkenntniswert.

Zu grobes Raster: Siegfrieden oder Niederlage?

Nun wird in der Debatte gerne darauf hingewiesen, dass sich der bewaffnete Konflikt festgefahren habe, keine Seite mehr entscheidende Gewinne erzielen könne. Übrig bleibe die unfassbare Zerstörung des Landes und der Verlust unzähliger Menschenleben. Mit Blick darauf erscheint ein sofortiger Waffenstillstand unabweisbar. Das Denken in den Kategorien von Sieg oder Niederlage erscheint in diesem Kontext als Realitätsverweigerung mit inhumanen Konsequenzen. Ist diese kritische Sicht nicht richtig? Ja und Nein. Der Wunsch, dass dieser Ist-Zustand schon aus humanitären Gründen beendet werden müsste, ist überaus nachvollziehbar. Nur leider geht der Wunsch an der komplexen Realität des Krieges und den damit verbundenen militärischen Logiken vorbei.

Die Kriterien Sieg oder Niederlage sind zu abstrakt, auf die unmittelbar militärische Ebene verengt und daher nicht genügend aussagekräftig. Es trifft vermutlich zu, dass keine der beiden Seiten das Potenzial hat, die Gegenseite militärisch zu überwältigen. Aber die damit verbundene Vorstellung, dass es zu großen Entscheidungsschlachten kommen würde, wie wir sie aus früheren Großkriegen kennen, führt in die Irre. Ob eine Seite die Oberhand gewinnt und sich der Widerpart zurückziehen muss, hängt von mehr Faktoren ab. Die USA mussten aus Vietnam schmählich abziehen, obwohl sie keine einzige Niederlage auf dem Gefechtsfeld erlitten hatten. Für den Hals-über-Kopf-Abzug aus Afghanistan gilt dasselbe. Der Entscheidung zum Rückzug lagen komplexe Kosten-, Nutzenschätzungen zugrunde, die auch im Falle des Krieges um die Ukraine gelten würden. Wie hoch sind die Kosten des Krieges? Kann man diese Aufwendungen dauerhaft stemmen? Wie steht es um die Moral der kämpfenden Truppe? Welchen Rückhalt gibt es in den jeweiligen Bevölkerungen? Welche Chancen hat man, seine Ziele auch zu erreichen? Welche Imageverluste erleidet man international, wenn man einfach weitermachen würde und so weiter und so fort?

Die Einwohner sind gezwungen, ihre Angehörigen direkt neben ihren Häusern unter den Fenstern der Häuser zu begraben. Wo früher Blumenbeete und Rasen waren, sind heute Friedhöfe. 1. April 2022. Foto: Alexander Ermochenko, Reuters. © Jüdisches Echo Westfalen-Lippe.

Interessanterweise scheinen beide Seiten davon auszugehen, dass es vor allem darauf ankomme, den Gegner so zu zermürben, dass er irgendwann klein beigeben muss. In diesem Zermürbungs- beziehungsweise Abnutzungskrieg werden die Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten durchgespielt, die die andere Seite in einer bestimmten Zeit aufbieten kann oder auch nicht. Moskau setzt darauf, dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, das erhebliche Übergewicht Russlands bei der Mobilisierung von Personalreserven auszugleichen, glaubt daran, eine gewisse Überlegenheit aus der Luft aufrechterhalten zu können, die zur Ermüdung des ukrainischen Widerstandswillens führen müsse und geht insgesamt von einer abnehmenden Unterstützung des Westens aus. Kiew setzt – so Franz-Stefan Gady und Michael Kofmann im März 2024 in „Survival“ – auf die technisch überlegenen Waffensysteme der NATO-Länder, auf die entschieden höhere Produktivität dieser Länder, die sich längerfristig im Rüstungswettlauf auswirken sollte, auf die höhere Motivation seiner Bevölkerung und der Streitkräfte. Das bedeutet, dass die Vorstellung, der Krieg möge bald vorüber sein, leider nicht eintreffen wird. Der Zermürbungskrieg, der zugleich auf überraschende Vorstöße und Geländegewinne orientiert, um die jeweilige Ausgangslage zu verbessern, geht weiter (so Jack Watling und Nick Reynolds in RUSI).

Was folgt aus einem solchen Szenario, wenn man weiter an der Solidarität mit der Ukraine festhält?

  • Es sollte weiter darum gehen, zu verhindern, dass die Ukraine aufgeben muss;
  • den Machthabenden in Moskau und der russischen Bevölkerung soll verdeutlicht werden, dass man die mit dem Krieg verfolgten Ziele nicht erreichen wird;
  • oberstes Ziel bleibt es, die Verhandlungsposition Kiews erheblich zu verbessern, um einen wirklich tragfähigen Frieden zu erreichen.

Dabei geht es weiterhin um die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes und die Behauptung der Ukraine als souveränes Land. Der Preis dafür ist verdammt hoch – und selbstverständlich sind immer auch Überlegungen notwendig und sinnvoll, ob ein Aufgeben, das in einen langfristigen zivilen Widerstand münden soll, nicht die bessere Alternative ist. Nur kommt man gegenwärtig nicht daran vorbei, dass sich die ukrainische Bevölkerung zum bewaffneten Widerstand entschlossen hat. Dies gilt trotz naheliegender Ermüdungserscheinungen immer noch.

Die Möglichkeiten der Diplomatie realistisch einschätzen

Weder Waffenstillstand noch Friedensverhandlungen sind im gegenwärtigen Krieg in Sicht. Ein Waffenstillstand, der nur zur Regenerierung oder Umgruppierung der Truppen genutzt würde, würde nur zu neuerlicher Eskalation der Kämpfe führen. Er müsste ergo mit der Einleitung von Friedensgesprächen verbunden sein. Dafür jedoch gilt der Satz: Friedensverhandlungen finden nicht statt, solange die Hauptbeteiligten partout nicht wollen, nicht dazu bereit sind und sich immer noch entscheidende Vorteile auf dem Gefechtsfeld erhoffen. Genau dies ist allen Ermüdungserscheinungen zum Trotz, der Fall. Und es bleibt leider richtig, dass der Schlüssel für Verhandlungen in Moskau liegt, auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Putins Russland will diesen Krieg, die Ukraine verteidigt sich. Das wiederum bedeutet weder, dass die Ukraine für alle Zeit auf Maximalpositionen beharren kann, noch dass niemand sonst mitzureden hat. Aber ohne Signale des Angreifers, dass man bereit ist, zurückzustecken, ist eine Eröffnung von Verhandlungen wenig wahrscheinlich. Präsident Putin hat erst kürzlich bekräftigt, dass man nicht zurückweichen werde. Und das Mantra aus Moskau lautet unverändert, die Ukraine müsse die Realitäten auf dem Kriegsschauplatz anerkennen, will heißen, sie soll sich mit den russischen Eroberungen abfinden. Auch die Kriegsführung Moskaus lässt keine Begrenzung erkennen. Im Gegenteil: Sie ist auf weiteren Vormarsch ausgerichtet.

Der Einspruch gegen diesen ernüchternden Befund und das Insistieren darauf, dass man alles versuchen müsse, um möglichst schnell zum Frieden zu kommen, ist nachvollziehbar. Auf einen Friedensschluss hinzuwirken, um weitere Zerstörungen und Menschenopfer abzuwenden, ist hochgradig respektabel. Daher ist von der Bundesregierung und der EU auch zu fordern, dass sie Initiativen für Friedensverhandlungen unterstützt. Die Hoffnungen auf einen Erfolg der Dschidda-Initiative etwa haben sich allerdings bisher nicht erfüllt, dazu Wolfgang Zellner im Oktober 2023. Ob ein neuer Versuch der Schweiz, der beim Forum in Davos angeregt wurde, etwas bewirken kann, ist ungewiss.

Dennoch sollte nichts unversucht bleiben, um der Diplomatie zum Durchbruch zu verhelfen. Es bleibt auch dabei, dass es genügend Vorschläge gibt, wie man längerfristig einer friedlichen Lösung des kriegerischen Konflikts beikommen könnte. Martina Fischer hat unter dem Titel „Wie kann man den Krieg gegen die Ukraine beenden?“ schon August 2023 sehr viel Material zusammengetragen, das für künftige Verhandlungen relevant sein könnte. Aber ohne den nüchternen Blick auf die realen Gegebenheiten geht es auch nicht.

Das Theater von Mariupol vor der Zerstörung. Foto. Mykola Swarzyk. Wikimedia Commons.

Jetzt müsste ein „Kompromissfrieden“ gefunden werden, sagen Kommentatoren unter Verweis auf ein vermutetes Patt im Stellungskrieg und das Ausmaß der Zerstörungen. Worin dieser Kompromiss liegen soll, wird nicht näher definiert, aber angedeutet. Die Ukraine möge Teile des Landes an Russland übergeben – die Krim sowieso, aber auch Teile der Ostukraine (Was ist gemeint: Die vormaligen Donbass Teilrepubliken oder die vier nach dem 24. Februar 2022 annektierten Gebiete?). Und sie möge sich als neutralen Staat definieren, der sich nicht der NATO anschließen würde. Auch die Mitgliedschaft in der EU möchten manche ausschließen. Was erhielte die Ukraine im Gegenzug? Die militärischen Angriffe Russlands würden eingestellt. Damit ist aber auch eindeutig gesagt, dass Putin seine Kriegsziele weitgehend erreicht hätte: Die anvisierte Landnahme und ein Veto über die künftige ukrainische Außen- und Sicherheitspolitik. Ob ein solcher „Kompromissfrieden“ dauerhaft bliebe, ist zudem offen.

Es ist daher kein guter Vorschlag, jetzt ausgerechnet dem Opfer des Krieges nahezulegen einzulenken. Der Angreifer würde in seiner Entschlossenheit bestärkt, die eigenen Maximalziele auch erreichen zu können. Überdies: Ein Abrücken von den Beschlüssen der UN-Generalversammlung, in denen die Annexionen für null und nicht erklärt werden, heißt das Völkerrecht weiter zu schwächen. Friedensfördernd ist das nicht.

Nun weisen diejenigen, die für einen Kompromiss plädieren, der der Ukraine sehr viel abverlangen würde, darauf hin, dass die Ukraine in den Verhandlungen wenige Tage nach Kriegsbeginn doch selber weitreichende Zugeständnisse („Istanbul-Kommuniqué“) gemacht habe. Die Neutralität wurde angeboten, die Wieder-Inbesitznahme der Donbassregion und der Krim wurde faktisch zur Disposition gestellt. An dieser Stelle ist eine Einordnung nützlich. Tatsache ist, dass ein tragfähiger Kompromiss, anders als immer wieder behauptet, längst nicht ausverhandelt war. Ich habe dies in den Blättern für deutsche und internationale Politik als „Die Johnson-Legende“ bezeichnet. Zuletzt haben die US-amerikanischen Wissenschaftler Samuel Charap und Sergey Radchenko nach der Durchsicht weiterer Dokumente präzise belegt, dass ein solcher Vorschlag nicht auf dem Tisch lag. Die russische Delegation wollte Russland absurderweise ein Vetorecht bei den Sicherheitsgarantien einräumen. Für die ukrainischen Streitkräfte waren extrem niedrige Obergrenzen vorgesehen, ukrainische Gesetze sollten (Stichwort „Entnazifizierung“) geändert werden. Für die Regierung in Kiew inakzeptable Bedingungen. Endgültig seien, so die Autoren, die Verhandlungen an der Frage der territorialen Grenzen gescheitert. Trotz Kritik an der Haltung westlicher Staaten, die nicht so sehr an einer Verhandlungslösung interessiert gewesen seien, kommen Charap und Radchenko zu dem Schluss: „Die Behauptung, dass der Westen die Ukraine gezwungen hätte, sich aus den Gesprächen zurückzuziehen, ist unbegründet.“ Eine spektakulär aufgezogene Veröffentlichung in der WELT am Sonntag vom 28. April 2024 („Geheimdokument, das der Redaktion vorliegt“) bestätigt 1:1 die dortigen Fakten; was den Autor nicht daran hindert, zu behaupten, damals sei ein Friedensschluss greifbar nahe gewesen.

Das Theater von Mariupol nach den Bombenangriffen. Foto: Reuters © Jüdisches Echo Westfalen-Lippe.

Insgesamt gilt zudem, dass die jeweiligen Umstände, in deren Rahmen Verhandlungen stattfinden, berücksichtigt werden müssen (dazu Julia Strasheim in der Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung). Ob die Selensky-Regierung sich behaupten würde, war zu Beginn der russischen Invasion nicht klar: Die Hauptstadt Kiew war umlagert, im Süden und Osten rückten russische Truppen in großem Tempo vor. Der Korrespondent des Wall Street Journals Yaroslav Trofimov (in: Our Enemies Will Vanish. The Russian Invasion and Ukraine`s War of Independence. New York 2024) hat das Geschehen in diesem Zeitraum und danach akribisch nachgezeichnet. Ob es westliche Unterstützung der Gegenwehr (zu der Selensky entschlossen war) in ausreichendem Maße geben würde, war ebenfalls noch offen. Der durch den Widerstand der ukrainischen Territorialverteidigung bewirkte Rückzug der russischen Truppen aus der Großregion Kiew, und die Zusagen der USA und Großbritanniens (Johnson-Besuch am 9. April 2022), moderne Kriegswaffen liefern zu wollen, trugen zu einem Stimmungsumschwung in Kiew bei, der die Selensky-Regierung davon überzeugte, dass man sich nicht den russischen Forderungen beugen müsse. Der Zorn der durch die aufgedeckten russischen Kriegsverbrechen (Butscha, Irpin) genährt wurde, tat ein Übriges, um die Skepsis über Friedensverhandlungen zu verstärken.

Die Ausgangslage hat sich seitdem erheblich verändert und die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Jetzt von der Ukraine zu verlangen, sie möge sich wieder auf einen Stand zurückbegeben, den sie mit dem Rücken zur Wand, kurzzeitig eingenommen hatte, ist nicht nur realitätsfremd, sondern auch moralisch verwerflich, zumindest befremdlich. Vertreten lässt sich ein solcher Standpunkt nur, wenn man glaubt, Russland maximal entgegenkommen zu müssen, um Frieden zu erreichen. Die Belange des Schwächeren, des Unterlegener spielen in diesem Kalkül dann eine unterordnete Rolle. So dürfte die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung die Vorstellung, dass ihr Land auf Dauer neutral bleiben müsse, und sich nicht den europäischen beziehungsweise transatlantischen Allianzen beitreten darf, heute reichlich absurd erscheinen. Gilt denn nun der Grundsatz demokratischer Selbstbestimmung oder nicht?

Was links oder fortschrittlich sein soll, einem Land bestimmte internationale Grundorientierungen vorschreiben zu wollen, erschließt sich mir nicht.

(K)eine gute Idee: Den bewaffneten Konflikt „einfrieren“?

Mariupol, Küste und das umkämpfte Stahlwerk vor der russischen Invasion. Foto: Dwilkens. Wikimedia Commons.

Mit Blick auf die verhärteten Fronten und die Unmöglichkeit des Sieges einer Seite sind in jüngster Zeit Überlegungen lanciert worden, die Ukraine möchte sich für einen Waffenstillstand verwenden, der darauf hinauslaufen sollte, den Konflikt „einzufrieren“. Das heißt alle Territorialfragen bleiben de jure ungelöst, würden de facto aber auf russische Besitznahme hinauslaufen. Daher, so das Kalkül, könnte sich der Kreml mit einem solchen Ende der Kampfhandlungen einverstanden erklären. Das wäre zweifelsfrei bitter für die Ukraine, die Landesteile mit beträchtlichen Ressourcen (Schwarzerde, Rohstoffe, Häfen) aufgeben müsste und mit neuen Flüchtlingsproblemen konfrontiert wäre.

Zu einer solchen Übereinkunft würden gegebenenfalls gehören, die exakte Bestimmung der Demarkationslinie, Truppenentflechtungen und Gremien zur Überwachung und Streitschlichtung. Die Kontrahenten billigen den „militärischen status quo“ eher zähneknirschend. Daraus folgt aber auch, dass sie aller Wahrscheinlichkeit danach trachten, diesen Zustand irgendwann wieder zu verändern. Damit ist im konkreten Fall mit Sicherheit mit der Fortsetzung des Hochrüstens auf beiden Seiten zu rechnen. Dies gilt allerdings auch für andere Szenarien. Ein stabiler Frieden sieht jedenfalls anders aus. Nun könnte sich ein solches „Kriegsende“ dennoch als die beste aller schlechten Möglichkeiten herausstellen. Ein solcher Punkt ist im ukrainisch-russischen Krieg aber längst nicht erreicht. Über eine solche Beendigung der Kriegshandlungen nachzudenken, darf trotzdem kein Tabu sein.

Meine Einwände gründen sich auf folgende Aspekte: Einen Waffenstillstand, der direkt mit der Eröffnung von Friedensverhandlungen verbunden wäre, würde man nicht unbedingt mit dem Begriff des „Einfrierens“ assoziieren. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat zu Recht angemahnt, dass man darüber nachdenken und sprechen muss, wie man zu einer diplomatischen Beendigung des Krieges kommen kann. Er hat diese Vorstellung, mit dem Begriff des Einfrierens verbunden, das wiederum als Beginn eines Verhandlungsprozesses gedacht war. Das war zumindest missverständlich formuliert und bedurfte nachträglicher Korrektur. Die gehässige Kampagne gegen Mützenich durch die selbsternannten Kriegsstrateg:innen ist aber mitnichten angebracht.

„Einfrieren“ bezeichnet in der Regel einen länger andauernden Zustand und bezieht sich auf die militärische Lage auf dem Kriegsschauplatz. Aber in diesem Fall gilt doch, dass Verhandlungen, die auf einen dauerhaften Frieden abzielen, diese Lage aber zur Disposition stellen, nicht aber festschreiben müssten! Und ist eine Veränderung des Ist-Zustandes eine Conditio sine qua non für einen Friedensschluss? Die Rede ist vom Rückzug der russischen Invasionstruppen – auf welche Linie auch immer.

Zu bedenken ist auch, wenn man davon ausgeht, dass es nur darum gehen kann, die bestehende Frontlinie festzuschreiben, worüber dann noch verhandelt werden soll? Über die inneren Verhältnisse in den annektierten Gebieten (also quasi spiegelverkehrt zu Minsk: Minderheitenrechte für Ukrainer:innen etc.) wird nicht gesprochen werden. Anhand des georgisch-russischen Konflikts kann studiert werden, was in den vereinnahmten Gebieten (Südossetien, Abchasien) passiert: Russifizierung.

Bleibt als Gegenstand der Verhandlungen nur noch der Status der Ukraine. Für die Anhänger einer Befriedung Russlands (Harald Kujat, Horst Teltschik, Egon Vad, Johannes Varwick und andere) ist dabei klar, dass die Ukraine auf den NATO-Beitritt verzichten muss und sich für neutral erklärt – wie die Schweiz. Varwick geht folgerichtig noch einen Schritt weiter und will der Ukraine auch die Mitgliedschaft in der EU verweigern. Bekanntlich begann der russische Krieg nach dem Euromaidan, bei dem es nicht um die NATO-Mitgliedschaft ging, sondern um ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Wer also Putin maximal entgegenkommen will, wird davon ausgehen, dass der Ukraine auch der Weg in die EU verbaut sein wird. Die Folgen für die innere Entwicklung des Landes (Beispiel Belarus) aber auch für Bewegungen aus dem Land selbst (Flüchtlinge!) kann man erahnen. Es liegt auf der Hand, dass auf dieser Grundlage eine Zustimmung der Ukraine nicht zu erreichen ist; es sei denn, die Ukraine ist wegen der russischen Übermacht dazu gezwungen. Wie anders als „Diktatfrieden“ sollte man das nennen?

So gesehen ist die Vorstellung, man möge den Konflikt einfrieren und dann verhandeln, meines Erachtens eine fragwürdige Idee: Die Gefahr ist groß, damit dem Credo der russischen Seite in die Hände zu spielen, dass die Ukraine erst die durch den Krieg geschaffenen Realitäten des Krieges anerkennen müsse, damit es zu Friedensverhandlungen kommen könne. Dass die Ukrainer:innen diesen Vorschlag als Affront ansehen (müssen), ist nachvollziehbar.

Was mir besonders missfällt: Diese Idee in einer Situation, in der die ukrainischen Streitkräfte unter erheblichem Druck stehen, zu präsentieren, macht es noch schwieriger. Es geht immer wieder um die Grundfrage, ob man ernsthaft glaubt, Wladimir Putin durch maximales Entgegenkommen an den Verhandlungstisch bringen zu können. Ich glaube das nicht.

„Regime Change“ oder Gegenmachtbildung?

Es wird in Friedenskreisen gerne kolportiert, dass man auch mit Autokraten sprechen und einen Friedensschluss erreichen müsse. Dem ist in dieser Allgemeinheit kaum zu widersprechen. Das enthebt uns aber nicht davon, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs im konkreten Fall ist. Da man dies nie abschließend bewerten kann, ist es auch richtig, Versuche zu friedlicher Einigung zu starten. Aber auch wenn es äußerst bitter klingt: Wie man es dreht und wendet, spricht viel für die Annahme, dass ein tragfähiges Ende dieses Krieges nur durch einen Regimewechsel in Moskau herbeigeführt werden wird.

Die jetzige russische Führung hat ihr Überleben eindeutig mit der Erreichung ihrer Kriegsziele verknüpft. Schon die im Oktober 2022 beschlossenen Annexionen belegen es. Der als Russland-Kenner ausgewiesene britische Historiker Orlando Figes geht daher noch einen Schritt weiter, den er in mehreren Interviews in unterschiedlichen Zeitungen betonte: „Um den Krieg zu beenden, müsste der Putinismus, das ganze System beendet werden, nicht nur die Macht Putins.“ Dass ein solcher Wandel nicht von außen zu erreichen ist – mit militärischen Mitteln schon gar nicht – liegt auf der Hand. Welche Konsequenzen aus einer solch zugespitzten Annahme zu ziehen sind, wird man sorgfältig durchdenken müssen.

Wenn von „Regime Change“ die Rede ist, kann man diejenigen, die davor warnen, gut verstehen. Nach der „Zeitenwende“ 1989/90 war es ein Grundkonzept „westlicher Akteure“ in anderen Ländern, vornehmlich in den sogenannten „failed states“ den Aufbau möglichst demokratischer Staaten („Nation Building“) voranzubringen. Militärisches Eingreifen galt dabei als probates Mittel. Dieses Modell ist weitgehend gescheitert. Was aus der erklärten Absicht, die Lage in fragilen oder feindlichen Ländern zum Besseren zu wenden, wurde, kann in Afghanistan, im Irak oder Libyen studiert werden. Dieses Desaster wirkt bis heute abschreckend. Die Linke, die davor warnte, hat Recht behalten. Aber nur die Negation dieses untauglichen, selbstgerechten Politikansatzes hilft auch nicht weiter. Denn es bleibt legitim und notwendig, sich Gedanken zu machen, auf welche Weise es gelingen könnte, das Putin-Regime maximal zu schwächen. Wie kann man die Kriegsfähigkeit des Landes mindern und zugleich die materiellen Belange der Bevölkerung möglichst schonen? Es geht also um den Gesamtkomplex der Sanktionen. Was ist zweckmäßig, was nicht? Zugleich bleibt es ein Gebot der Klugheit und der Voraussicht, wenn diese Politik immer wieder mit Angeboten an die russische Seite, sprich; die russische Gesellschaft zu künftiger Zusammenarbeit verknüpft wird.

Es geht auch nicht nur darum, auf die bösen Anderen zu zeigen. Die eigenen Verfehlungen westlicher Interventionspolitik sind zu benennen und zu korrigieren. Denn die notwendige politische Isolierung des Putin‘schen Regimes hängt nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, die Staaten, die sich heute zögerlich bis widerwillig zeigen, wenn es um die Verurteilung des Angriffskrieges geht, zu einer klareren Haltung zu bringen. Dafür braucht es keine Moralpredigt, sondern einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik.

Kategorisch gilt auch, dass solche Regimewechsel von den jeweiligen Bevölkerungen herbeigeführt werden müssen. Aber was tun, wenn ein solcher Umschwung, der in diesem Falle einen Kriegszustand beenden könnte, nicht in Sicht ist? Dann bleibt nur die Möglichkeit, so die These, die Macht des kriegstreibenden Regimes durch eine Art „Gegenmachtbildung“ essentiell zu beschneiden. In unserem Fall müsste deutlich gemacht werden, dass der Kurs des Putin-Regimes für Russland verhängnisvoll und zum Scheitern verurteilt ist. Beatrice Heuser hat in der Zeitschrift SIRIUS die verschiedenen Szenarien einer Kriegsbeendigung anschaulich und ausgewogen durchgespielt. Ihr Fazit klingt plausibel.

Dass dazu die Koordination der Waffenhilfe (Ramstein Allianz) gehört, ist leider unumgänglich. Es geht aber um viel mehr. Es braucht eine politische Allianz, die sich für die Wiederherstellung der Souveränität und Integrität der Ukraine engagiert und das Völkerrecht wieder an die Stelle des Rechts des Stärkeren setzen will. Und dabei ist auch die gesellschaftliche und politische Linke gefragt. Aber unter welchen Bedingungen sollten Linke ein solches Bündnis unterstützen? Müsste man sich nicht stattdessen dem Ansinnen der USA und der NATO entgegenstellen, Russland unter allen Umständen schwächen zu wollen, um dann bessere Handlungsoptionen im globalen Wettbewerb mit China zu haben oder um den Forderungen der „Emerging States“ nach mehr Einfluss in der Welt (siehe oben) im hegemonialen Eigeninteresse wirkungsvoller begegnen zu können? Ja, das wird man zu berücksichtigen haben und daraus eigenständige Positionen von links im Rahmen der Allianz gegen Russland entwickeln müssen.

Damit hat sich die Frage extrem widersprüchlicher Bündnisbeziehungen nicht erledigt. Sie hat sich in bestimmten historischen Situationen immer wieder gestellt, im spanischen Bürgerkrieg etwa, als demokratische Antifaschist:innen gemeinsame Sache mit der stalinistischen Sowjetunion und deren Ableger im Lande machen mussten, um die Republik zu verteidigen. Auf der Ebene der Staaten galt dies auch. Der linke US-Präsident Roosevelt agierte an der Seite des erzkonservativen britischen Premier Churchill und des sowjetischen Despoten Stalin. Das war die Grundlage für die Bildung der Vereinten Nationen. Wo steht geschrieben, dass es solche Allianzen nur im Falle einer globalen Existenzbedrohung geben darf? Und war der dialektische Ansatz, aus einer solchen Konstellation heraus, weitergehende demokratische, fortschrittliche Entwicklungen zu befördern, falsch oder illusorisch? Es gilt doch auch innergesellschaftlich, innerstaatlich, dass in breiten Bündnissen gegen die rechtsextreme AfD die Frage von links aufzuwerfen ist, warum die Rechte stark wird und was dies mit asozialer Politik „der Mitte“ zu tun hat, die eben überwunden werden muss. Darüber muss doch diskutiert werden!

Die schlechte Alternative dazu lautet Appeasement. So hat man die Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg genannt. Dafür kennzeichnend: Die Bedrohung durch eine bewaffnete Aggression wurde lange Zeit heruntergespielt oder gar geleugnet; Schritte zur Eindämmung der Gefahr (abschreckende Rüstung, Abbruch wirtschaftlicher Beziehungen) wurden abgelehnt beziehungsweise verworfen. Dem potenziellen Aggressor wurden stattdessen weitreichende Zugeständnisse angeboten, damit er friedlich bleiben möge (Beispiel: Großbritanniens Offerte an Deutschland zur Übernahme afrikanischer Kolonien, damit Hitler im Osten Ruhe gäbe). Das Resultat dieser Politik ist bekannt.

Welche Bedeutung dabei der Faktor Zeit hat, kann man anhand der Entwicklung der 1930er Jahre des letzten Jahrhunderts studieren. Die durch die Hoffnung auf Besänftigung des Nazi-Regimes (zu) lange versäumte rechtzeitige Gegenreaktion auf die deutsche Brachialaufrüstung führte dazu, dass der Aggressor nachdrücklich ermuntert wurde. Das heißt auch, dass der Umfang der Verluste und Opfer durch den Krieg allein durch den raschen Vormarsch der Nazi-Wehrmacht immens gesteigert wurde. In einer gewissen Weise, den veränderten Umständen Rechnung tragend, gilt somit auch heute, dass es besser ist vorzusorgen als „nachzuarbeiten“. Tim Bouverie setzt sich in seinem Buch „Mit Hitler reden“ (Hamburg, 2021) anhand der historischen Quellen akribisch mit der Politik der Tory-geführten Chamberlain-Regierung in Großbritannien in den 30er Jahren auseinander, ihrer geistigen Grundlagen und praktischen Folgen. Auch wenn man Vieles für nicht übertragbar hält: Ein Lehrstück. Eine solche Aussage muss in linken Ohren erschreckend klingen und sie ist es auch. Aber was sind die wirklichkeitstauglichen Alternativen?

Containment statt Appeasement

Wer A sagt, muss B sagen. Wer sagt, die Ukraine darf nicht zur Kapitulation gezwungen werden, weil es friedenspolitisch fatal wäre, der wird für Waffenhilfe an das Land plädieren. Appelle reichen offensichtlich nicht.

Wer sagt, dass von Russland eine erhebliche und akute Bedrohung für die Anrainerregionen und gegebenenfalls darüber hinaus ausgeht und wer mögliche Angriffe auf das eigene Territorium verhindern will, der kann Maßnahmen der Bündnis- und Landesverteidigung nicht pauschal ablehnen.

Konkret: Was ist falsch daran, dass die NATO dieser nicht fiktiven Gefahr durch Um-Dislozierung ihrer Streitkräfte Rechnung trägt? So erscheint die Aufstockung der militärischen Präsenz und die dauerhafte Stationierung einiger Brigaden im Baltikum folgerichtig. Der bisherige Umfang dieser Truppenverlegungen kann von der Gegenseite auch nicht als provokativ aufgefasst werden. Diese Potenziale reichen nur zur temporären Abhaltung von Angriffsoperationen, zu mehr aber nicht. Mehr braucht es aber auch nicht. Aber es nicht zu tun könnte als Einladung zu Provokationen der Gegenseite aufgefasst werden. Die militärisch exekutierte Verbreiterung des Korridors nach Kaliningrad etwa würde die NATO vor die Frage stellen, ob die Bündnisverpflichtung gilt und eine unmittelbar militärische Reaktion erfolgen müsse. Dies sollte man besser nicht riskieren.

Zur Abwehrbereitschaft gehört mit Blick auf die kriegswirtschaftliche Mobilisierung und die exorbitante Zahl der Waffenbeschaffungen in Russland auch, dass diesem Bedrohungspotenzial etwas entgegengesetzt wird. Dem scheint der Aufwuchs der Armeen in Osteuropa und die Unterstützung der Staaten, die im Visier russischer Expansion sein könnten, zu dienen. Aber wie weit will man dabei gehen? Welche Risiken nimmt man in Kauf? Wie können sie möglichst niedrig gehalten werden? Kann die angemessene Abwehrbereitschaft nicht durch Effizienzsteigerungen im militärischen Apparat erreicht werden, statt diesen Moloch immer weiter aufzublähen?

Paul Schäfer, Köln

Paul Schäfer hat Anfang April 2024 auf seiner Internetseite einen ausführlichen Essay veröffentlicht, den er dem Demokratischen Salon zur Verfügung gestellt hat. Hier wird der Text in drei Teilen veröffentlicht, das erste Kapitel im April 2024 zur Analyse, hier das zweite Kapitel. Im Juni 2024 folgt das letzte Kapitel, das die Anforderungen an die zukünftige deutsche beziehungsweise europäische Friedens-, Verteidigungs- und Rüstungspolitik benennt und bewertet. Diese Texte werden an die Rahmenbedingungen des Demokratischen Salons angepasst und gegebenenfalls je nach Stand der weiteren Entwicklungen aktualisiert. Eine erheblich gekürzte Fassung erscheint im Juni 2024 in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Am Ende des dritten Teils gibt es eine ausführliche Liste der verwendeten und zitierten Literatur.

Paul Schäfer (*1949) ist Diplom-Soziologe, war unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs (SPD) und Gerhard Zwerenz (PDS), 2003 bis 2007 mit Ulrike Detjen Landesvorsitzender der PDS NRW, von 2005 bis 2013 Abgeordneter im Deutschen Bundestag für die Linke, für die er dort als Obmann im Verteidigungsausschuss und als verteidigungs- und abrüstungspolitischer Sprecher tätig war. Er arbeitet seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag als Publizist mit Beiträgen unter anderem in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, der Zeitschrift „Vorgänge“ und der taz. Er ist Mitglied der Redaktion der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“. Weitere Informationen auf seiner Internetseite. Im Demokratischen Salon veröffentlichte er im Juni 2023 den Essay „Der Krieg gegen die Ukraine – Acht Thesen über Moral und linke Politik“.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung in der vorliegenden Fassung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 26. Mai 2024. Titelbild: Peter Andriuschenko, Mariupol am 4. März 2022. Das Bild wurde mir von J.E.W., der Zeitschrift der Jüdischen Gemeinden Westfalen-Lippe zur Verfügung gestellt. Siehe hierzu auch das von J.E.W. und vom Demokratischen Salon in fünf Teilen veröffentlichte Tagebuch von Nataliia Sysowa.)