Friedenspolitik nach der Zeitenwende

Dritter Teil: Konsequenzen für Deutschland und Europa

„Jeder Realist weiß, dass die demokratische Lebensweise derzeit in jedem Teil der Welt direkt angegriffen wird – entweder mit Waffen oder durch die giftige Propaganda durch jene, die Zwietracht in den Nationen zu fördern versuchen, die noch in Frieden leben.“ (Franklin Delano Roosevelt am 6. Januar 1941 vor dem US-Kongress)

Mit diesen Worten begründete der linke Präsident Franklin Delano Roosevelt die Notwendigkeit, die Rüstungsbemühungen zu erhöhen und die Alliierten in Europa und Asien mit Waffenlieferungen zu unterstützen. „Wie die Menschen nicht allein vom Brot leben, kämpfen sie nicht allein mit Waffen“, merkte er an und legte dar, worum für eine Welt gekämpft werden muss, die auf grundlegenden menschlichen Freiheiten basiert: Freiheit der Rede, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Angst.

Ausreichende Landesverteidigung für Frieden unverzichtbar

Wer sagt, dass Landesverteidigung – wohl oder übel – unter den gegebenen Umständen sein müsse, muss ausbuchstabieren, wie er sich das vorstellt. Nur mit einer floskelhaften Zustimmung bei Ablehnung aller daraus abzuleitenden Konsequenzen wird man nicht weiterkommen und in der Öffentlichkeit nicht ernst genommen werden. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Bedrohungslage, die sich auch auf Erpressungspotenziale Moskaus beziehen muss, scheint der Prozess einer Umrüstung der Bundeswehr nahezu alternativlos. Dass dieser Umbau militärischer Logik folgt, ist nicht zu vermeiden. Unter Minister Pistorius wird dieser Prozess der Wehrhaftmachung und Abschreckung gegenüber Russland in größter Eile vorangetrieben. Leider kommt man an einem Tatbestand nicht vorbei: In der auf globale Interventionen getrimmten Bundeswehr wurden Kernbestandteile der alten „Verteidigungsarmee Bundeswehr“ erheblich ausgedünnt. Daher bedeutet Umrüstung auch partiell Rüstungssteigerung. In welchem Maße dies zu geschehen hat, muss kritisch hinterfragt und öffentlich debattiert werden. Die stupide Zwei-Prozent-Aufrüstungsformel ergibt wenig Sinn und ist weiter abzulehnen. Die Rüstungsausgaben (Personal, Beschaffungen, Forschung und Entwicklung) sind stattdessen jeweils im Detail konkret sicherheits- und verteidigungspolitisch zu begründen.

Dies gilt auch für die Frage, wie die Bundeswehr künftig ihren Personalbedarf decken will und ob zu diesem Zwecke die außer Kraft gesetzte Wehrpflicht wiederbelebt werden soll, wie es Boris Pistorius will und die CDU es inzwischen in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat. Ein staatlicher Zwangsdienst ist und bleibt ein Eingriff in persönliche Freiheitsrechte und bedarf einer triftigen Begründung. Ob dafür der Hinweis auf eine zunächst abstrakte Bedrohungslage ausreicht, darf bezweifelt werden. Vor allem: Wenn der benötigte Personalumfang im Rahmen der Atlantischen Allianz (!) anderweitig gesichert werden kann, erscheint die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht als unzureichend begründet. Braucht man tatsächlich eine Aufstockung auf 250.000 Soldat:innen? Ob das von Minister Pistorius favorisierte schwedische Modell – allgemeine Musterung, die Truppe sucht sich danach geeignete Kandidat:innen aus – geeignet ist, das Rekrutierungsproblem zu lösen, bedarf genauerer Prüfung. Kann auf diesem Wege eine angemessene (soziale) Repräsentation der Bevölkerung und eine Hebung des Qualifikationsniveaus erreicht werden? An der hohen Abbrecherquote wird sich dadurch nichts ändern. Hier geht es um Motivlagen und um vernünftige Arbeits- und Lebensbedingungen. Wäre es nicht sinnvoller, zunächst hier anzusetzen?

Gerne wird in der Friedensbewegung ins Feld geführt, dass die NATO-Staaten fast 50 Prozent der Militärausgaben weltweit tätigen und damit Russland militärisch um ein Vielfaches überlegen seien. Als Konter gegen das marktübliche Lamento militärischer Interessengruppen über die unterausgestatteten Streitkräfte des Westens taugt dieser Satz und es ist nicht verkehrt, ihn ins Feld zu führen. Dennoch ist diese Aussage deutlich unterkomplex. Viele Aspekte bleiben dabei unberücksichtigt: Der überragende Anteil der US-Streitkräfte an den NATO-Ausgaben sind Ausgaben, die nicht zuletzt für die globale Machtprojektion aufgeboten werden, im konkreten Fall aber eher nutzlos sind (Flugzeugträger, globales Stützpunktsystem). Dies gilt auch für das große Gewicht der Etats für die Nuklearwaffen in den USA, Großbritanniens oder Frankreich.

Ferner zu berücksichtigen ist das Ausmaß an Verschwendung und Fehlallokation im Rüstungskapitalismus, die Unvergleichbarkeit der Haushaltszahlen (zum Beispiel unterschiedliche Herstellungskosten der Rüstungsgüter) und Einiges mehr. Zudem sind die sich unmittelbar gegenüberstehenden Streitkräftepotenziale zu vergleichen, nicht Globalzahlen. Last not least sind die Entwicklungstendenzen in Betracht zu ziehen. Nur ein Beispiel: Russland hat im letzten Jahr 1500 Panzer und 22.000 Drohnen neu produziert und den Streitkräften zugeführt. Der Gesamtbestand der Bundeswehr beläuft sich (siehe auch wikipedia) auf 289 Kampfpanzer und 732 Schützenpanzer. Der Drohnenbestand wird mit einer Zahl unter tausend angegeben. Nun ist die Bundesrepublik nur ein Mitgliedsland unter dreißig NATO-Mitgliedern. Es bleibt unter dem Strich daher eine Tatsache, dass die Nordatlantische Allianz Russland militärisch und wirtschaftlich drückend überlegen ist. Diese „Überrüstung“ auf Dauer zu stellen und gar noch ausbauen zu wollen, ergibt keinen Sinn, ist extrem kurzsichtig und daher abzulehnen.

Aber was brauchen wir wirklich für die Landesverteidigung?

Die erste Frage, die sich stellt und die bisher von der militärischen und politischen Führung der Bundeswehr nicht beantwortet wird, lautet: Der Verteidigungsetat ist zwischen 2015 und 2024 von 34 auf 52 Milliarden Euro angewachsen. Das ist selbst inflationsbereinigt eine kräftige Zunahme. Wo ist das ganze Geld geblieben, wenn jetzt Inspekteure der Bundeswehr davon sprechen, dass die Truppe „blank“ dastehe? Man wird nachhaken müssen: Warum verschlingt das System Rüstung so viel Geld und liefert nur wenig Ertrag? Was wird gegen die offenkundige Verschleuderung von öffentlichen Geldern getan? Reichen die jetzt zum hundertsten Mal verkündeten Umstrukturierungsmaßnahmen aus, um Kosten zu sparen?

Wie hoch wird der Investitionsbedarf für einen solchen Umbau veranschlagt? Niemand scheint Genaueres zu wissen. Im Sondervermögen sind erhebliche Mittel für die Beschaffung der F-35-Flugzeuge der USA vorgesehen, mit denen die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik gesichert werden soll. Ein größerer Posten besteht aus der Munitionsbeschaffung, die der aktuellen Unterstützung der Ukraine zukommt. Nach 2026 soll ein neuer bisher ungedeckter Finanzbedarf auf die Bundeswehr zukommen. Was braucht man längerfristig wirklich? Wie soll dieser Bedarf bezahlt werden? Auch Einzelbeschaffungen, die im gegenwärtigen Klima durchgewinkt werden, gehören auf den Prüfstand. Nur ein Beispiel: Welchen Sinn sollte eigentlich die Beschaffung der Arrows 3 Raketenabwehrsysteme für die Bundeswehr haben? Gegen welche Waffen sollen sie eingesetzt werden?

Die Formel des Verteidigungsministers von der Kriegsertüchtigung der Deutschen wird in militärisch-industriellen Kreisen auch dahingehend übersetzt, dass man zum „Siegen“ fähig werden müsse.  Reicht verteidigungsfähig nicht? Und was hat diese „Philosophie“ mit der altbekannten NATO-Doktrin zu tun, dass die Allianz auf jeder Eskalationsstufe militärisch überlegen sein müsse. „Eskalationsdominanz“ scheint weiter das Denken der Militärstrategen zu bestimmen. Ist das wirklich zwingend geboten, gibt es dazu alternative Strategien? Eine offene gesellschaftliche Debatte darüber kann es nur geben, wenn hier rüstungskritische Stimmen angemessen zu Wort kommen.

Im Rahmen des doppelten Ansatze, der sowohl „Abwehr- als auch Abrüstungsbereitschaft umfasst wird man sich auch Gedanken machen müssen, in welchem Maße eine zivile Verteidigung des Landes organisiert werden sollte. Manche werden sich an das Schlagwort der „vernetzten Sicherheit“ erinnert fühlen, das in Verbindung mit den wenig erfolgreichen Auslandseinsätzen der Bundeswehr immer wieder bemüht wurde. Es ist in der vom Kabinett am 14.6.2023 verabschiedeten nationalen Sicherheitsstrategie vom Begriff der „integrierten Sicherheit“ abgelöst worden, der auch auf das Zusammenwirken von Politik, Militär und Zivilgesellschaft abzielt.  Andere werden sehr schnell mit dem Vorwurf einer „Militarisierung der Gesellschaft“ bei der Hand sein. Es wird nicht reichen, diese Kritik kategorisch abzuweisen. So richtig es ist, dass kritische Infrastrukturen hierzulande vor Naturkatastrophen, Terror und Krieg geschützt werden müssen, so bleiben doch Fragen, welchen Weg man einschlagen will. Orientiert man sich an den Modellen einer „Total-Defense“, wie sie in Ländern wie Österreich, der Schweiz, Finnland oder Schweden aufgebaut worden ist, die ein hohes Maß der Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens bedingen, oder gibt es dazu Alternativen? Welches Ausmaß sollen die Pläne zur Zivilverteidigung haben, wer wird in die Gesamtorganisation, wie einbezogen? Brauchen wir wirklich eine Bürgerwehr nach Schweizer Modell? Diese Debatte hat noch gar nicht begonnen.

Proeuropäisch denken: EU und Weltpolitik

Was das Verhältnis progressiver Kräfte zum Projekt der Europäischen Union angeht, so ist über Deutschland hinaus eine dauerhafte Kakophonie zu konstatieren. Angesichts der außerordentlichen Probleme, die die verschiedenen Erweiterungen der EU hervorrufen, der Zunahme der Fliehkräfte, tendieren linke Strömungen und Parteien gerne dazu, sich auf den nationalstaatlichen Rahmen, der mit sozialstaatlichen Errungenschaften verbunden war, zurückziehen zu wollen. Die Kritik an der kapitalistischen Globalisierung verbindet sich mit der Anklage, die EU wolle sich zu einem neuen imperialen Zentrum, Militarisierung inbegriffen, mausern. Aber aus einem „Nein zu …“-, „Widerstand gegen …“-Fundamentalismus lassen sich keine zukunftsgerichteten Handlungsoptionen ableiten.

Vor dem Hintergrund der sich verstärkenden Weltunordnung, der großen Unsicherheiten über die künftige Entwicklung besonders mächtiger Staaten (USA, China), wird die Rolle der Europäischen Union gerade im „Europa-Wahljahr“ zunehmend Thema der Debatte. Soll sich die EU auf einen bescheidenen Platz in den Hierarchien der Welt zurückziehen oder soll sie sich in den Streit um globale Hegemonie aktiv und selbstbewusst einschalten? Wie soll und wie kann dies geschehen? Mit wem soll sie sich dabei verbünden, mit wem nicht? Oder gelingt ihr eine völlig eigenständige Rolle auch jenseits transatlantischer Verbündeter? Und auf welcher normativen und faktischen Grundlage sollte sie agieren?

EU als weltpolitischer Faktor

Mit Blick auf die Weltlage scheint die Erkenntnis naheliegend, dass ein Machtfaktor gebraucht wird, der dazu beiträgt, die aus den Fugen geratene Welt wieder ins Gleis zu rücken. Ein Staatenbündnis, das darauf hinarbeitet, die globale Zusammenarbeit bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen zu stärken, ist nötig. Dabei geht es a) um die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele (SDG`s), die die UN-Generalversammlung im September 2015 beschlossen hat, und b) um die Verteidigung freiheitlich-demokratischer Ideen. Nun entspricht die Realität der EU mitnichten einer solchen Anforderung. Aber welches andere Kraftzentrum soll ein solches Programm an vorderer Stelle ins Werk setzen? Wo liegen die größten Chancen, um mit den geforderten politischen Veränderungen zu beginnen? Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass der alte Kontinent am ehesten geeignet scheint, den Karren in die richtige Richtung zu drängen. Man mag das Eurozentrismus nennen. Aber die Annahme. der „globale Süden“ werde es schon richten, die an die großen Hoffnungen auf die „Dritte Welt“ früherer Zeiten anschließt, hat wenig Entsprechung in der Wirklichkeit. Aber richtig ist zweifellos, dass europäische Alleingänge ehr kontraproduktiv wären. Es kommt darauf an, eng mit den Ländern des Südens zu kooperieren, die sich für globale Gerechtigkeit und friedliche Konfliktlösungen einsetzen.

Eine EU, die sich zersplittert, in Konflikten aufreibt, wird global keine Rolle mehr spielen können. Es geht auch nicht um eine statische Betrachtung, dass die EU bereits der Akteur sei, der die Welt retten könnte. Es geht um Zukunftsperspektiven, die ohne die Nachhaltigkeitsziele, tragfähige globale Entwicklungsstrategien, Menschen- und Freiheitsrechte, nicht erreichbar sein werden. Ein Rückzug auf ein Europa „souveräner Vaterländer“ wäre gleichbedeutend mit einem dramatischen Verlust internationaler Gestaltungsmöglichkeiten, was wiederum nationale Handlungsspielräume begrenzen dürfte. Die Vorstellung, der Prozess der Globalisierung ließe sich komplett umkehren, ist wirklichkeitsfremd. Eine begrenzte De-Globalisierung erscheint vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der kapitalistischen Durchdringung der Welt in den vergangenen dreißig Jahren alles andere als abwegig. Eine stärkere und gezieltere Regionalisierung der Wirtschaftskreisläufe erleben wir gegenwärtig ohnehin (was nicht immer vorteilhaft ist). Ein Zurück zu den nationalstaatlichen Konstellationen des 19. Jahrhunderts aber wird es jedenfalls nicht geben.

Bei der „weltpolitischen Befähigung“ der EU sollte es grundsätzlich weniger um den Aufbau eines neuen Machtzentrums inmitten hegemonialen Wettstreits gehen, sondern darum, dass die EU ein zentraler Faktor sein sollte, um die Gestaltungsmacht der Vereinten Nation und die Geltung des internationalen Rechts zu stärken.

Ansatzpunkte für eine andere EU-Politik

Nüchtern, das heißt unideologisch betrachtet, wird man feststellen, dass es bei aller Grundsatzkritik vielfältige Ansatzpunkte für eine andere Politik der EU gibt. Sie durchzusetzen und weiterzuentwickeln wird mit Blick auf den Rechtsruck bei den EU-Parlamentswahlen 2024 nicht leichter werden. Und die neoliberalen Beharrungskräfte sind längst nicht verschwunden. Aber mit dem Green Deal, Fit for 55, dem Recovery Fund ist ein Spurwechsel vom Neoliberalismus zum erneuerten Keynesianismus angelegt, an dem angedockt werden kann. Diese Transformation wird ohne eine Revision und Reform der Grundlagen-Verträge aber letztlich nicht gelingen. Auch dies gehört zur Wahrheit.

Was die Außenbeziehungen der EU betrifft, sind die Pläne nachhaltiger Entwicklungsförderung mittels Infrastrukturaufbau (Global Gateways) oder zu einer Grünen Wasserstoffökonomie genauer zu prüfen und zu konkretisieren. Es wäre zudem erforderlich, dass die EU positiv auf die neue „Entkolonisierungswelle“ gegen die europäischen Kolonialmächte und die USA besonders in Afrika angemessen reagiert – auch wenn dieser Vorgang gegenwärtig mit Einflussgewinnen Russlands und Chinas verbunden sein könnte. Das hieße konkret: Statt der manischen Fixierung auf Migrationsabwehr wäre es oberstes Gebot, mitzuhelfen, die Lebens- und Umweltbedingungen in den Entwicklungsländern zum Guten zu wenden. Die Vorschläge für eine andere globale Finanz- und Handelspolitik (Reform der Bretton Woods-Institutionen, Bridgetown-Initiative) sollten dringend aufgegriffen werden.

Strategische Autonomie der EU?

Die aktuellen Kriege in Osteuropa und Nahost haben gezeigt, wie notwendig beides ist: Größtmögliche Eigenständigkeit der EU und die EU als vorwärtsdrängender Faktor für eine multilaterale, kooperative Weltordnung. In diesem Zusammenhang fällt häufig das Stichwort „strategische Autonomie“. Die drohende Gefahr einer zweiten Trump-Präsidentschaft in den USA hat solchen Überlegungen noch einmal eine besondere Brisanz und Dringlichkeit verliehen. Aber was bedeutet es, strategisch autonom zu sein? Welche Voraussetzungen müssten gegeben sein?

Die EU muss als ein Staatenbündnis („Block“) wahrgenommen werden, das für bestimmte Grundwerte und Zukunftsziele steht und an einem Strang zieht. Nennen wir es die geopolitische Orientierung oder die handlungsleitenden Narrative der Union. Von einer solchen Verständigung in der Gemeinschaft, die über wohlklingende Formeln hinausgehen müsste, ist die EU gegenwärtig recht weit entfernt. Aber gerade hier – im Wettstreit mit den Ideen und Vorstellungen anderer Akteure – wird Europa punkten müssen. Dafür spricht allein der demographische Faktor, der Europas Gewicht immer geringer werden lässt.

Um in den internationalen Beziehungen ausreichendes Gewicht zu erlangen, braucht es allerdings mehr. Glaubwürdigkeit ist zum Beispiel ein hohes Gut. Und dabei ist der Nachweis, dass sich diese Prinzipien in der Wirklichkeit bewähren und sukzessive durchsetzen, elementar wichtig. Genau hier gilt: Es sind nicht zuletzt die doppelten Standards in der Außenpolitik der EU, die ihre Anziehungskraft und Ausstrahlung im „Rest der Welt“ mindern. Uneinheitlichkeit und Streit im Binnenverhältnis tun ein Übriges dazu, um die Spielräume der Union zu schmälern. Wenn Erzählungen (Narrative) wenig erfolgreich sind, schwindet deren Überzeugungskraft.

Autonomie zielt machtpolitisch darauf ab, dass die Union eigenständige Entscheidungen treffen kann und sich nicht äußeren Einwirkungs- oder gar Erpressungsversuchen beugen muss. Das setzt nach gängigem (realpolitischen) Verständnis voraus, dass sich diese Union auf ausreichende wirtschaftliche und militärische Stärke stützen muss, um Dinge auch selbstständig entscheiden und umsetzen zu können. Aber realiter entscheidet eine Reihe von Faktoren darüber, welche Handlungsmacht ein Staat bzw. ein Staatenbündnis in den jeweiligen internationalen Konstellationen hat. Dass die EU in der Weltwirtschaft ein maßgeblicher Faktor ist, ist kaum zu bestreiten. Muss sich die EU also einfach nur noch eine global einsetzbare Streitmacht zulegen, um die erste Geige zu spielen? Schon allein die lange Kolonialgeschichte des Alten Kontinents spricht gegen diese Vorstellung. Die Widerstände gegen eine militärische Supermacht EU würden beträchtlich sein. Stattdessen werden Wirtschaft und Technologie, und vor allem die sogenannten weichen Machtfaktoren – Europa als Zivilmacht – darüber entscheiden, welche Rolle die EU künftig weltpolitisch einnehmen wird. Die Verschiebung der Gewichte hin zum Militärischen wird meines Erachtens die spezifische Stärke der EU eher beeinträchtigen statt stärken.

Aber was ist mit der latenten militärischen Bedrohung durch den russischen Imperialismus, gegen den sich die EU wappnen muss? Und ist sie mit Blick auf Entwicklungen bei NATO-Verbündeten gut beraten, mögliche Aggressoren eigenständig abwehren zu können? Aber ist sie dazu auf mittlerer Sicht überhaupt in der Lage?

Auf dem Feld der Nuklearwaffen wird dies nicht möglich sein. Laufende Debatten über eine europäische Atommacht haben keinen Bezug zur Wirklichkeit und führen zu nichts. Auch bei den konventionellen Waffen wird es schwierig und eine entsprechende Aufrüstung hätte einen verdammt hohen Preis, der die Gemeinschaft an anderer Stelle (siehe oben) empfindlich treffen würde. Und erscheint es überhaupt zwingend, wenn man schon die Gefahr des US-amerikanischen Isolationismus beschwört, jetzt einer europäischen Abkoppelung das Wort zu reden? „Emanzipieren ohne abzukoppeln“, war ein Lieblingswort Egon Bahrs. Gilt dies angesichts der dramatischen Negativtendenzen in den USA nicht erst recht?

Es bleibt richtig, dass der EU eine eigenständigere Politik gut zu Gesicht stünde. Ein drittes Lager, das sich machtpolitisch zwischen den USA einerseits und China sowie Russland andererseits zu behaupten sucht, ist indes überflüssig. Daher erscheint es sinnvoller, sich zunächst darauf zu konzentrieren, den europäischen Pfeiler in der NATO zu stärken. Das wurde seit Mitte der 1990er Jahre versucht und scheiterte jeweils am Widerstand der dominierenden Macht jenseits des großen Teiches. Aber die Zeiten haben sich geändert. Auch in den USA sehen außen- und sicherheitspolitische Eliten, dass die globalen Interventions- und Kontrollmöglichkeiten des Landes im Schwinden sind. Eine solche Orientierung scheint also nicht nur wegen der Notwendigkeit transtalantischer Verbindungen sinnvoll. Es gilt auch eine überflüssige und kostspielige Verdopplung von militärischen Kapazitäten und Strukturen zu vermeiden.

Nach Lage der Dinge kann man jedoch nicht ausschließen, dass sich unter einem Präsidenten Trump Isolationstendenzen in der US-amerikanischen Außenpolitik durchsetzen. Eine erratische Politik auch gegenüber Russland ist zu erwarten, die gerade für die Ukraine-Solidarität desaströse Folgen haben könnte. Daher braucht die EU einen Plan B, der nicht nur Überlegungen einschließen muss, was in diesem Fall verteidigungspolitisch zu kompensieren wäre. Die Frage nach europäischen Sicherheitsgarantien, die in Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrages niedergelegt, aber bisher substanzlos geblieben sind, wird neu auf der Tagesordnung stehen. Die Konkretisierung dieser Beistandsgarantien wurde bei den Vertragsverhandlungen von einer Reihe kleinerer Staaten abgelehnt. Bleibt dies so? Und was wären die Konsequenzen, wenn man solche Garantien will?

Konturen einer EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Damit sind die Fragen, die den gesamten Komplex einer EU-Militärunion betreffen, auf der Agenda. Sich nur gegen die „Militarisierung der EU“ zu wenden, wird nicht reichen. Gesunde Skepsis bleibt aber angesagt. Die Grundfrage: Ist für uns eine EU vorstellbar, die sich als Verteidigungsgemeinschaft versteht, die demzufolge das Kapitel postkolonialer Militärinterventionen beendet und die international beständig auf abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Schritte drängt (was die EU gegenwärtig mitnichten tut)?

Auf dieser Grundlage ließen sich Vorstellungen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln, deren konkrete Ausgestaltung freilich noch aussteht. Erste Gedanken können formuliert werden:

  • Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass der Auftrag der Streitkräfte im Rahmen einer „EU-Militärunion“ ausschließlich auf die territoriale Verteidigung gerichtet sein müsste. Das heißt auch, sich von neokolonialen Militärinterventionen in Afrika und anderswo zu verabschieden. Inwieweit Truppenkontingente für UN-mandatierte und geführte Peace-Keeping-Einsätze bereitgestellt werden sollten, ist im Einzelfall nach restriktiven Kriterien zu prüfen.
  • Nationale Streitkräfte sind und bleiben eine Tatsache. Umso wichtiger ist es, einen Prozess der vermehrten Streitkräfteintegration und -kooperation innerhalb der EU zu bejahen.
  • Herauszufinden ist, welche kostensparenden Synergie-Effekte durch solche Integrationsprozesse (Rüstungspolitik, Infrastruktur, Truppenverbände) erreicht werden können und ob dadurch auch Rüstungsbegrenzungen möglich werden.
  • Beträchtliche Einsparpotenziale werden nur durch die Überwindung der national aufgestellten Rüstungsindustrien zu erreichen sein. Entsprechende europäische Strukturen unter maßgeblicher Beteiligung der Staatengemeinschaft sind aufzubauen, die gewährleisten, dass Forschung und Entwicklung gebündelt und die Zahl der Waffentypen verringert werden. Es ist im Übrigen nicht zu vertreten, dass in diesem Bereich das Prinzip der Profitmaximierung bestimmend ist.
  • Militärische Doppelstrukturen in EU und NATO sollten weitestgehend vermieden werden. Dies galt etwa für die bis dato nie eingesetzten EU-Battle-Groups, deren Aufbau sich als dysfunktional erwiesen hat. Ob ihre Umfunktionierung im Rahmen des sog. Europäischen Kompasses Sinn ergibt, bedarf sorgfältiger Prüfung. Der Rückbau solcher Militärstrukturen darf kein Tabu sein.

Auch wenn man der NATO als Verteidigungsallianz einen gewissen Stellenwert zuweist – und der Ukraine-Konflikt wird nicht so schnell beendet werden und daher den Habitus der unmittelbar und mittelbar Beteiligten weiter prägen – so bleibt es ebenso richtig: Die Existenz der NATO ist nicht das Ende der Geschichte. Die Grundsatzkritik an diesem USA-dominierten, auf Rüstungsüberlegenheit gestützten und exklusiven Militärbündnis bleibt. Die Ersetzung der NATO durch eine gesamteuropäisch, transatlantische Sicherheitsarchitektur, die Russland einschließt, muss weiter das übergeordnete friedenspolitische Ziel sein.

Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik verlangt komplementär, dass sich die EU auf eine rüstungskontroll- und abrüstungspolitische Agenda verständigt. Ziel muss es sein, einen Ausweg aus der sinnlosen Rüstungsspirale und der damit verbundenen Ressourcenverschwendung zu finden.

Friedens- und sicherheitspolitische Alternativen

Heißt das unter dem Strich, dass man all dies, was uns als Kriegsertüchtigung täglich serviert wird, aus Gründen der „Staatsräson“ akzeptieren muss und nichts anders tun kann, als sich in die Schar der „Aufrüstungshardliner“ einzureihen? Mitnichten. Es wird für fortschrittliche Politik viel mehr darauf ankommen, nachdenklich-kritischer Gegenpol in dieser Gemengelage zu sein. Und – immer über den Tag hinausdenkend – Vorschläge in die Öffentlichkeit zu bringen, wie es danach weitergehen soll.

Es braucht warnende Stimmen vor den Risiken des sich weiter steigernden Krieges, die von den selbsternannten Cold Warriors gerne weggedrückt werden. Es braucht mahnende Stimmen gegen die Siegermentalität in Politik und Medien, die um jeden Preis kämpfen will. Und es braucht Stimmen, die vorausschauen, weiter blicken und die allen Umständen zum Trotz auf den Dialog und Diplomatie setzen, damit ein dauerhafter Frieden wieder möglich wird. Es geht um positive Möglichkeiten statt stupider Hau-Drauf-Mentalität.

Man wird realistisch sehen müssen, dass Deutschland als Hauptunterstützerland für die Ukraine nicht prominent in Frage kommt, wenn es in diesem Krieg um Konfliktvermittlung geht. Auch die EU ist da keine erste Adresse und wird nur mithelfen können. Gleichwohl ist es mehr als erforderlich, dass die Bundesrepublik und die Europäische Union alle diplomatischen Initiativen nicht nur rhetorisch, sondern auch tatkräftig unterstützen und eigene Überlegungen beisteuern. Grundsätzlich sollte es darauf ankommen, die EU stärker als eine Instanz zur friedlichen Konfliktbearbeitung und Konfliktlösung auszubauen. Dabei ist die Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte zur Versöhnung genauso wichtig wie die stetige Finanzierung konzeptioneller Vorarbeiten für Friedensdiplomatie im Wissenschaftsbereich. Und es bleibt weiterhin nötig, die Ursachen der gewaltträchtigen Konflikte herauszuarbeiten und daraus Strategien für dauerhaften Frieden abzuleiten.

Wie könnten vor diesem Hintergrund pragmatische Vorschläge für eine fortschrittliche Friedens- und Sicherheitspolitik aussehen? Dazu einige vorläufige Überlegungen in zehn Eckpunkten.

Erstens: Eine „Kanonen-statt-Butter“-Politik ist abzulehnen, Sozialstaat, Ökologie und Verteidigung gehen zusammen.

Eine Einschränkung der Ausgaben für Soziales, die Umwelt, für Bildung, für Entwicklungszusammenarbeit für Zwecke der Aufrüstung kommt für uns nicht in Frage. Im Gegenteil: Was an Zukunftsinvestitionen für die sozialökologische Transformation unabweisbar ist muss auch finanziert werden. Diese Auseinandersetzung um die Mittelverteilung im Bundeshaushalt wird sich spätestens mit dem Auslaufen des 100-Mrd.-Sondervermögens für die Bundeswehr im Jahre 2027 (das heißt: in der Mitte der nächsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages) zuspitzen. Um die nötigen Ausgaben zu finanzieren, muss die widersinnige Schuldenbremse aufgehoben, müssen Möglichkeiten, Finanzressourcen durch die Abschöpfung des superreichen Teils der Gesellschaften zu generieren, beträchtlich ausgeweitet werden (Reichensteuer, Erbschaftssteuer, Vermögensabgabe etc.). Das heißt aber auch, dass der Einwand von links, ein Mehr an militärischer Verteidigung und die Verteidigung des Sozialstaates gingen partout nicht zusammen, nur sehr bedingt zutrifft. Die Umrüstung der Bundeswehr und ein guter Sozialstaat sind im Rahmen unserer Wirtschaftskraft bezahlbar.

Zweitens: Militärkritik bleibt wichtig.

Zu Recht wird von linker Politik ein Übergewicht des militärischen Denkens in der hiesigen Öffentlichkeit beklagt, das jegliches Nachdenken über zivile Alternativen an den Rand zu drücken droht. Es ist bitter notwendig, sich immer wieder bewusst zu machen, welche Demokratiegefährdungen, ja Demokratieunverträglichkeiten mit einem militärisch-industriellen Sektor und dem Sozialsystem „Militär“ verbunden sein können. Wir reden hier über exorbitante Kosten, die zu Lasten ziviler Entwicklung gehen, über den ganzen Bereich der Korruption und Verschwendung, der durch Monopolstrukturen aber auch durch militärische Geheimhaltungszwänge – das heißt auch unzureichende parlamentarische Kontrolle – begünstigt wird. Wir reden über die Versuchung, „im schlimmsten Fall“ zu denken und mit Feindbildern die eigene Tätigkeit legitimieren zu wollen. Welche Gefahren aus dem Befehl-Gehorsam-Prinzip erwachsen, hat die Geschichte der Wehrmacht gezeigt. Die Bundeswehr hat danach das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ (den Begriff prägte wohl Friedrich Beermann, SPD, schon im Jahre 1952) auf den Schild gehoben, um die Bindung des soldatischen Tuns an Völkerrecht und Gesetz zu betonen. Wie wir wissen (Rechtsextremismus in der Truppe beispielsweise), ist dieses Prinzip immer wieder umstritten, und die Umsetzung erschöpft sich oft in bürokratisch-ritualisierten Umgangsformen. Wenn „Kriegsertüchtigung“ oben an stehen soll, wie von Minister Pistorius postuliert, sind äußerste öffentliche Wachsamkeit und die gesellschaftliche Kontrolle der Streitkräfte geboten.

Drittens: Verteidigung mit Augenmaß!

Verteidigungspolitik mit Vernunft beginnt damit, eine möglichst genaue Bedrohungsanalyse einzufordern. Leider sind die nötigen Informationen in Zeiten des Krieges und unter verschärften Geheimhaltungszwängen nur sehr schwer zu erhalten. Die völlige Erosion internationaler Rüstungskontrolle (Open Skies, vertrauensbildende Maßnahmen, Datenaustausch im Rahmen des KSE-Vertrages etc.) kommt nun hinzu. Aber nüchterne Abwägungen können wir dennoch vornehmen und uns damit gegen die halt- und kritiklose Übernahme militärischer Worstcase-Szenarien durch die Politik wappnen. Zugleich geht es insbesondere darum, im Auge zu haben, welche Eskalationsrisiken durch Wettrüsten und Konfrontationspolitiken befördert werden und wie man ihnen entgegenwirken will. Nicht nur im Ukraine-Krieg ist strikte Eskalationskontrolle angesagt.

Eine auf „Kriegsertüchtigung“ gepolte Öffentlichkeit trägt die Gefahr in sich, dass Abwägungsprozesse bezüglich der Risiken und Kosten des Krieges, die Erörterung von Alternativen, schlicht niedergebügelt werden. Wer Verteidigung mit Augenmaß will, muss deshalb an pluralen, sachbezogenen Debatten statt schierer Meinungsmache in der Öffentlichkeit interessiert sein.

Viertens: Mehr über defensive Verteidigung nachdenken.

In den 1970er und 1980er Jahren wurden Überlegungen angestellt, wie militärische Strukturen Ausrüstungen und Einsatzdoktrinen, verändert werden könnten, um mehr Sicherheit und Stabilität in den internationalen Beziehungen herbeiführen zu können. „Defensive Verteidigung“ und „Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ waren damals Schlüsselbegriffe. Diese Diskussionsansätze fügten sich in das Konzept gemeinsamer Sicherheit ein, das für diese Entspannungsphase zwischen Ost und West prägend war. Aufbauend auf dem ohnehin gegebenen Vorteil des Verteidigers im Krieg sollten grenzüberschreitende, raumgreifende Offensivpotenziale minimiert beziehungsweise durch defensiv ausgerichtete Militärformationen ersetzt werden. Es ist sehr schade, dass diese Überlegungen in den heutigen Debatten so gut wie keine Rolle mehr spielen. Aber was ist von diesen Ansätzen heute zu übernehmen? Wie lässt sich diese Idee mit den dramatischen militärtechnologischen Umwälzungen seitdem in Einklang bringen? Denken wir an die gesamte Kategorie ferngelenkter Abstandswaffen, an bewaffnete Drohnen und das stark gestiegene Gewicht der Luftstreitkräfte im Verbund der Waffen. Diese Waffensysteme sind eben offensiv wie defensiv einsetzbar. Sie werden in den jüngeren Kriegen massiv eingesetzt.

Inwieweit lassen sich solche, zunächst nationalstaatlich konzipierte Umbaukonzepte mit integrierten Militärstrukturen, wie es in der NATO der Fall ist, vereinbaren? Lutz Unterseher (in: Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine. Grundlagen und Programm. Berlin 2023) geht bei seinem Vorschlag für eine defensive Verteidigung der Ukraine davon aus, dass sich die westliche Hilfe eher abschwächen und die Ukraine schließlich auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ angewiesen sein wird. Doch ohne die NATO-Unterstützung ist ein erfolgreiches Widerstehen der Ukrainer gegen die russischen Angreifer wenig vorstellbar. Und der Vorschlag, die spärlicher werdende Waffenhilfe des Westens auf das Modell einer defensiven Verteidigung zu orientieren, wird daran scheitern, dass die Ausrüster, Militärberater und -ausbilder aus den USA, Großbritannien und andern NATO-Ländern nicht so schnell umdenken werden. Ob das israelische „Iron Dome“-System wirkungsvoll wäre, ist zumindest zu prüfen. Allerdings denkt Israel nicht über den Export dieses Verteidigungssystems an Andere nach.

Die Grundideen einer defensiven Verteidigung sollte man dennoch, im Auge behalten und weiterentwickeln. Sie könnten spätestens bei künftigen Abrüstungsverhandlungen eine Rolle spielen.

Fünftens: Das Reformkonzept der Bundeswehr auf den Prüfstand stellen.

Der gegenwärtige Umbau der Bundeswehr scheint auf ein Zurück zur alten „Verteidigungsarmee“ der 1980er Jahre hinauszulaufen. Diese Grundstrukturen werden durch die neuen Mittel und Instrumente der Kriegsführung (Drohnen, CyberWarfare etc.) angereichert. Ob ein solches Streitkräftedispositiv alternativlos ist, ist eine offene und grundlegende Frage. Zumindest könnte hinterfragt werden, wie viele Panzer noch gebraucht werden? Was kann von den Streitkräften Schwedens und Finnlands gelernt werden, die aus ihrer Neutralitätstradition heraus auf Abwehr gesetzt hatten? Oder braucht die deutsche Marine tatsächlich noch mehr Fregatten, die für Einsätze im Südchinesischen Meer vorgesehen sind? Was soll dabei der besondere deutsche Beitrag für das Streitkräftedispositiv der NATO sein? Sinnvoll erscheint es etwa, sich darauf zu konzentrieren, die Verlegefähigkeit der Bündnisstreitkräfte nach Osteuropa zu sichern. Die festgelegten Maßnahmen zur Verteidigung an der NATO-Grenze im Osten sollten umgesetzt werden. Wie viel Geld wird dafür benötigt? Werden die Ambitionen für globale Einsätze auch wirklich zurückgefahren oder gar noch gesteigert?

Sechstens: Einen deutschen Griff nach Atomwaffen darf es nicht geben.

Die Debatte über eine deutsche oder europäische Atomabschreckung ist überflüssig und gefährlich, da sich Deutschland zum A-Waffenverzicht verpflichtet hat und eine europäische Verfügung über diese Systeme unrealistisch ist. Es ist kein Zufall, dass der französische Präsident, der diese Debatte angeheizt hat, in diesem Punkt vage bleibt. Statt die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen zu fördern, sollte das Engagement für ein Verbot dieser Massenvernichtungswaffen gestärkt werden.

Siebtens: Am Grundsatz einer äußerst restriktiven Rüstungsexportpolitik festhalten.

In den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung aus dem Jahre 2000, auf die sich beispielsweise auch der Rüstungsexportbericht 2021 bezieht, sind Kriterien festgehalten, die bei der Ausfuhr von Waffen aus Deutschland strikt zu beachten sind. Darunter finden sich Festlegungen, dass Waffen nicht geliefert werden sollen, wenn sie zu kriegerischer Eskalation beitragen, wenn in Empfängerländern inakzeptable Menschenrechtsverletzungen auf der Tagesordnung sind, wenn durch übermäßige Rüstung Entwicklungen blockiert werden etc. Eigentlich wollten SPD und Grüne in der jetzigen Regierungskoalition diese Grundsätze in eine Gesetzesform gießen und damit verbindlicher machen. Genau daran ist festzuhalten! Dass solche Waffenlieferungen nicht über einen Leisten geschlagen werden dürfen mit den Hilfsleistungen für den Verteidigungskampf der Ukraine ist ein Gebot moralischer und politischer Redlichkeit. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Grundgesetz für die übergeordnete Bedeutung des Völkerrechts entschieden (Artikel 25 Grundgesetz) und damit das Recht angegriffener Staaten auf Selbstverteidigung anerkannt. Diese Nothilfe in eins zu setzen mit der Lieferung von Kampfpanzern an Saudi-Arabien ist grober Unsinn. Dass nun die Bundesregierung eine solche Waffenausfuhr aus „geopolitischen Erwägungen“ für erforderlich hält und bereit ist, die eigenen Exportrichtlinien zu missachten, ist inakzeptabel und zu verurteilen.

Achtens: Die Mittel für Konfliktprävention, internationales Krisenmanagement und nachhaltige Entwicklung müssen erheblich ausgeweitet werden, statt sie unter dem Vorzeichen der Hochrüstung abzuschmelzen.

In einer Koalitionsvereinbarung 2018 hatte die CDU/SPD-Regierung versprochen, eine Kopplung zwischen vermehrten Rüstungsausgaben und den Ausgaben für zivile Konfliktbearbeitung und Entwicklungszusammenarbeit herzustellen. Diese Ausgaben sollten im Verhältnis 1:1 aufwachsen, um sowohl die NATO-Vorgaben, wie die Zusagen bei der UNO zur Erreichung der ODA-Quote (Anteil der Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt) einzuhalten. Dieses Versprechen ist kurze Zeit später stillschweigend einkassiert worden. Doch die dramatische Zunahme der bewaffneten Konflikte in der Welt verlangt hier und jetzt ein verstärktes Engagement der UN und anderer internationaler Institutionen. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat in diesem Kontext im April 2024 eine neue Nord-Südpolitik angemahnt. „Nur wenn wir als Partner im Globalen Süden respektiert werden, können wir auch Einfluss auf Krisen und Konflikte nehmen.“ Entwicklungspolitik sei auch Friedenspolitik. Es geht um Strukturreformen, Finanzhilfen, gemeinsame Infrastukturprojekte, Beiträge für die Vereinten Nationen, zivilen Friedensdienst und vieles mehr. Die dafür benötigten Haushaltsausgaben müssen stetig und verlässlich zur Verfügung stehen.

Neuntens: Schritte zur Vertrauensbildung, der Rüstungskontrolle und Abrüstung immer wieder auf die Agenda bringen.

Die Destabilisierungs- und Eskalationsrisiken sind durch die Erosion der Rüstungskontrolle einerseits, die Gewaltkonfrontation im Osten Europas andererseits stark angewachsen. Alte Themen wie „Krieg aus Versehen“ (Christopher Clarks „Schlafwandler“-These stimmte allerdings nie) sind wieder aktuell. Daher wären Schritte zur (nuklear-)strategischen Stabilität trotz Regionalkrieg dringlich. US-Präsident Biden hat dem russischen Konterpart die Fortsetzung der Verhandlungen über die strategischen Systeme (New START) angeboten; Präsident Putin hat abgelehnt und stattdessen die Verlegung von russischen substrategischen Waffen nach Belarus veranlasst und die Suspendierung des Teststoppabkommens erklärt.

Das darf nicht das letzte Wort sein. Es wäre klug, in die US-amerikanisch-russischen Verhandlungen auch das Thema der Raketenabwehr einzubeziehen, um Sicherheitsbelange Moskaus aufzunehmen. Die Einbeziehung Chinas in die Gespräche zu nuklearer Rüstungskontrolle und Abwehr wird nicht zuletzt mit Blick auf den Rüstungswettlauf in Fernost zum Gebot der Vernunft. Da die vertrauensbildenden Maßnahmen und Einrichtungen (NATO-Russland-Rat) aufgekündigt sind oder auf Eis liegen, sollten alle möglichen Gesprächskanäle offengehalten werden. Statt über eine illusorische und unsinnige Atombewaffnung der EU zu fabulieren, sollte die europäische Außenpolitik auf neue Vereinbarungen zur nuklearen Rüstungskontrolle drängen und sich auf eine EU-Agenda zur Abrüstung nach dem Krieg vorbereiten. Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch.

Zehntens: Über den Tag hinaus denken.

Der Grundgestus fortschrittlicher Politik sollte davon bestimmt sein, Entwürfe für eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur vorzuschlagen, die nach der Eiszeit des Krieges, unverzüglich angegangen werden sollten. Es wird nicht reichen, diese Entwürfe am Tag X, wann auch immer der sein mag, aus der Schublade zu ziehen. Schon heute ist es wichtig, solche Perspektiven aufzumachen. So wird es nicht reichen, wenn man zur Beendigung des Krieges beitragen will, rhetorisch Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren. Angebote zur Kooperation „nach dem Krieg“ und zur sukzessiven Aufhebung der Sanktionen sind schon heute wichtig, um Teile der Bevölkerung Russlands für einen Friedensprozess zu gewinnen.

Es ist auch kein Fehler, sich mit Übergangsszenarien zum Frieden zu beschäftigen, in denen der UNO beziehungsweise der OSZE eine tragende Rolle zukommen sollte. Dies schließt Überlegungen ein, ob und wie die NATO zu einem sicherlich heute noch nicht absehbaren Zeitpunkt durch eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung inklusive Russlands schließlich ersetzt oder aufgehoben werden könnte. Aber grundsätzlich gilt: Eine ernsthafte Befassung mit den Vorschlägen des UN-Generalsekretärs für eine New Agenda for Peace sollte hier und heute beginnen. Denn die Vorstellung, dass man sich auf eine sehr lange Zeit unversöhnlicher Konfrontationsszenarien einrichten müsse, konfligiert fundamental mit den Erfordernissen zur konstruktiven und kooperativen Bearbeitung der großen globalen Probleme (Klimakatastrophe und Artensterben, Armutsbekämpfung und Migration) und ist daher nicht akzeptabel. Vielmehr ist es elementar wichtig, an Konzepten gewaltfreier Konfliktlösungen und der friedlichen Zusammenarbeit festzuhalten und diese weiterzuentwickeln.

Paul Schäfer, Köln

Paul Schäfer hat Anfang April 2024 auf seiner Internetseite einen ausführlichen Essay veröffentlicht, den er dem Demokratischen Salon zur Verfügung gestellt hat. Hier wird der Text in einer erweiterten und aktualisierten Fassung und drei Teilen veröffentlicht, das erste Kapitel im April 2024, im Mai das zweite, jetzt im Juni 2024 das dritte Kapitel. Eine erheblich gekürzte Fassung erschien in der Ausgabe für Juni 2024 der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Paul Schäfer (*1949) ist Diplom-Soziologe, war unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs (SPD) und Gerhard Zwerenz (PDS), 2003 bis 2007 mit Ulrike Detjen Landesvorsitzender der PDS NRW, von 2005 bis 2013 Abgeordneter im Deutschen Bundestag für die Linke, für die er dort als Obmann im Verteidigungsausschuss und als verteidigungs- und abrüstungspolitischer Sprecher tätig war. Er arbeitet seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag als Publizist mit Beiträgen unter anderem in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, der Zeitschrift „Vorgänge“ und der taz. Er ist Mitglied der Redaktion der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“. Weitere Informationen auf seiner Internetseite. Im Demokratischen Salon veröffentlichte er im Juni 2023 den Essay „Der Krieg gegen die Ukraine – Acht Thesen über Moral und linke Politik“.

Literaturliste:

(Texte, die im Internet zu finden sind, wurden in den einzelnen Teilen des Essays verlinkt, daher sind hier nur die Links aufgeführt, in denen es keine andere Möglichkeit gibt, die Texte zu lesen.)

  • Horst Afheldt, Verteidigung und Frieden – Politik mit militärischen Mitteln, München 1976.
  • Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986.
  • Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996.
  • Emma Beals / Peter Salisbury, The World at War – What is behind the Global Explosion of Violent Conflict? In: Foreign Affairs, October 30, 2023.
  • Samuel Charap / Sergey Radchenko, The Talks That Could Have End the War in Ukraine, In: Foreign Affairs, April 16, 2024.
  • Klaus Dörre, Der Krieg gegen die Ukraine und der Kampf um eine neue Weltordnung, in: Das Argument 340 – Ukraine-Krieg – Weltordnungskrieg, 2023.
  • Mohamad ElBaradei, Weltordnung in Trümmern, in: IPG-Journal vom 25. Januar 2024.
  • Euroforum Deutschland, Sicherheitspolitik und Verteidigungsindustrie – Sonderveröffentlichung Handelsblatt Journal, Februar 2024.
  • Tobias Fella, Nuclear Arms Control is for Realists, in: The National Interest February 13, 2024.
  • Franke, Berthold: Für einen neuen Faschismusbegriff. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/23.
  • Franz-Stefan Gady / Michael KofmanMaking Attrition Work: A Viable Theory of Victory for Ukraine, in: In: Survival, vol.66 no.1, February- March 2024.
  • Helmut W Ganser, Eingeengte Debatte, in: IPG-Journal 12. März 2024.
  • Antonio Guterres, Antonio, A New Agenda For Peace.
  • Beatrice Heuser, Welche Friedenslösungen für den Russland-Ukraine-Krieg? Gedanken zu Strategien des Friedensschließens, in SIRIUS, Heft 1/23.
  • Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme – Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts., München / Wien 1995.
  • Frank Hoffer, Bitterer Waffenstillstand oder Krieg bis zu einem Sieg. in: bruchstuecke.info, 24. Februar 2024.
  • Sebastian Hoppe, Kategoriale Dissonanzen – Russlands regressiver Weg in den Krieg und die Historische Soziologie imperialistischer Außenpolitiken, in: ZeFKo Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1/2023, Heidelberg 2023.
  • Sebastian Hoppe, Personenkult und Regression: Russlands Weg zur Kriegsgesellschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2024.
  • Paul Mason, Europas Albtraum, in: IPG-Journal 27. Februar 2024.
  • Ulrich Menzel, Wendepunkte, Am Übergang zum autoritären Jahrhundert, Berlin 2023.
  • Robert Misik, Putin – Ein Verhängnis, Wien 2022.
  • Herfried Münkler, Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2023.
  • Rolf Mützenich, Kampf der Giganten, in: IPG-Journal 28. Juni 2023.
  • Dirk Peters, Eine militärisch autonome EU? Europäische Sicherheit und transatlantische Partnerschaft nach Afghanistan, .in: Prif-Blog, 2. August 2022.
  • Wolfgang Richter, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, hg, von der Friedrich Ebert Stiftung, Wien Dezember 2023.
  • Ruth Rohde, Gefahren für die Demokratie, Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau 6. März 2024.
  • Mary Elise Sarotte, Nicht einen Schritt weiter nach Osten – Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung, München 2023.
  • Julia Strasheim, Why do warring parties enter negotiations during an ongoing war? Insights from the 2022 Ukraine-Russia talks, in: ZeFKo Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1/2023, Heidelberg 2023.
  • Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik, Hg., Strukturwandel der Verteidigung – Entwürfe für eine konsequente Defensive, Opladen 1984.
  • August Thalheimer, Über den Faschismus, 1928.
  • Yaroslav Trofimov, Our Enemies will Vanish – The Russian Invasion and Ukraine`s War of Independence, New York 2024.
  • Lutz Unterseher, Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine – Grundlagen und Programm, Berlin 2023.
  • Jack Watling / Nick Reynolds, Russian Military Objectives and Capacity in Ukraine Through 2024, in: org, February 13, 2024.
  • Wolfgang Zellner, Dschidda oder Hoffnung auf Frieden. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2023.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung in der vorliegenden Fassung im Juni 2024, Internetzugriffe zuletzt am 9. Juni 2024.)