Friedenspolitik nach der Zeitenwende

Erster Teil: Versuch einer Analyse nach zwei Jahren Ukraine-Krieg

„Ich habe einen Traum. dass ich eines Tages aufwache, und nichts davon ist mehr da. Nicht, dass es zu Ende ist, nein, dass es überhaupt nie stattgefunden hat. Ich möchte am 23. Februar aufwachen. Und hundert Kindergeschichten durchsehen. Oder meinetwegen tausend. Und dann bricht ein anderer Tag an. Der soundsovielte Februar. Und der Zug der Wirklichkeit fährt auf einem anderen Gleis weiter.“ (Natalja Kljutscharjowa, Tagebuch vom Ende der Welt, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Berlin, edition suhrkamp, 2023) 

Und wohin fuhr der deutsche „Zug der Wirklichkeit“? Wer stellte welche Weichen? Die Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers am 27. Februar 2022 war ein Schock. Die Ankündigung eines 100 Milliarden-Sondervermögens für militärische Ausgaben und einer dauerhaften Anhebung der Militärausgaben auf über zwei Prozent des BIP standen für eine radikale Wende deutscher Sicherheitspolitik. Gängige Positionen einer auf Frieden, Entspannung und Abrüstung gerichteten Außenpolitik wurden über Nacht ad acta gelegt. Politiker, die früher mit dem unschönen Begriff „Stahlhelmer“ belegt worden waren, Anhänger der sogenannten. realistischen Denkschule und Medienvertreter, sahen sich in ihrer Annahme bestätigt, dass man allen „Schurken“ dieser Welt nur mit Gewalt begegnen und die eigenen Interessen nur mittels militärischer Stärke durchsetzen könne. Dieses Szenario hat sich seitdem weiter verdüstert. Neue Waffenfabriken, die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht, Phantasien über eine nuklear ausgerüstete Europäische Union – all das hat die Menschen verunsichert und ihnen Angst gemacht. Gleichzeitig ergeben Meinungsumfragen, dass eine große Mehrheit dafür ist, dass wir uns in einer zusehends friedloseren Welt wappnen und wehrhaft machen müssen.

(Un)-Beantwortbare Fragen?

Die Zeitenwende traf auf eine „weitgehend pazifizierte Zivilgesellschaft“ – so Wolfram Wette am 2. März 2024 in der Frankfurter Rundschau –, die sich in ihrer Skepsis gegenüber militärischer Gewalt durch die missratenen Auslandseinsätze der Bundeswehr lange Zeit bestätigt sehen durfte. Das linke Spektrum der Politik und die Friedensbewegung reagierten entweder konsterniert oder mit der trutzigen Behauptung, die altbewährten Grundsatzpositionen seien mit dem „Kalten Krieg 2.0.“ aktueller denn je. Und es ist tatsächlich schwer zu verarbeiten, dass nahezu alle Parteien und Medien eine Anhebung der Wehrausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und mehr für selbstverständlich halten und in der Öffentlichkeit beständig nach noch mehr Waffen und Soldaten gerufen wird. Es ist überdies schwer zu ertragen, wenn diejenigen, die zu gründlicheren Abwägungsprozessen raten, als „naiv“ verächtlich gemacht und stigmatisiert werden.

Dass gerade die gesellschaftliche und politische Linke durch den russischen Angriff in größte Schwierigkeiten gestürzt wurde, ist unübersehbar. Ein Zufall ist es nicht. Man sah sich als die „Friedenspartei“, die auf der richtigen Seite der Geschichte steht und die in der deutschen Bevölkerung meist einen guten Resonanzboden fand. Nun ist man in schweres Wasser geraten, worüber auch Demonstrationen mit der Beteiligung von mehreren tausend Teilnehmer:innen nicht hinwegtäuschen können. Klar scheint nur: Die Hoffnung, dass der Spuk möglichst rasch vorbeigehen möge, wird Wunschdenken bleiben. Die „Zeitenwende“ und Folgen wird uns noch länger um den Schlaf bringen.

Aber wie kann eine eigenständige friedenspolitische Positionierung in diesen schwierigen Zeiten überhaupt aussehen? Wie kann man dem Aufrüstungshype hierzulande entgehen, zugleich aber glaubwürdig den ukrainischen Unabhängigkeitskampf unterstützen? Wie kann man die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen aufgreifen, ohne der rigiden Kriegsrhetorik zu verfallen? Worüber müssen wir weiter nachdenken und debattieren? Eine Warnung vorab: Wir werden Widersprüche aushalten müssen.

Der Ukraine-Krieg als historische Zäsur

Die oft bemühte Wendung, im Februar 2022 sei der Krieg nach Europa zurückgekehrt, ist nicht richtig. Mit den Bürgerkriegen auf dem Balkan in den 1990er Jahren wurden Konflikte erstmals nach 1945 auf europäischem Boden wieder kriegerisch ausgetragen. Damals wie heute wurde das Völkerrecht verletzt (vor allem. durch den NATO-Luftkrieg gegen Serbien). Aber: Es waren Kriege, die überwiegend mit Handfeuerwaffen und leichtem Kriegsgerät geführt wurden; erst die NATO-Intervention brachte Hightech-Waffen zum Einsatz. Diese Machtasymmetrie machte es möglich, Kriege relativ rasch militärisch – nicht politisch – zu beenden. Zu bedenken ist auch: Das Eingreifen von außen war zu keinem Zeitpunkt auf eine dauerhafte Besetzung eines Landes oder die Auslöschung eigenständiger staatlicher Existenz gerichtet. Dennoch hat das Motiv, einen autokratischen Präsidenten, der einen verloren gehenden Herrschaftsbereich zurückholen wollte, in die Schranken zu weisen, nicht die Bombardierungen Rest-Jugoslawiens legitimieren oder rechtfertigen können.

Insgesamt wird man zu dem Schluss kommen: Die Dinge liegen heute anders. Die zweitstärkste Nuklearmacht der Erde greift den flächenmäßig zweitgrößten Staat Europas an, um sich einen nicht kleinen Teil dieses Landes einzuverleiben und dort eine ihr wohlgesonnene Quisling-Regierung zu etablieren. Einen solchen Bruch des Völkerrechts hatte es in Europa nach 1945 nicht mehr gegeben. Die Unterstützung der angegriffenen Ukraine durch die NATO und weitere Staaten führte dazu, dass sich zwei Streitkräfte gegenüberstehen, die über modernste Waffentechnik verfügen und diese auch einsetzen. Das Risiko einer unmittelbaren Konfrontation zwischen NATO und Russland ist hoch, der Einsatz von Atomwaffen nicht gänzlich auszuschließen.

Die Auswirkungen dieses Krieges sind nicht regional begrenzt. Das Problem ausbleibender Getreidelieferungen machte sich an verschiedenen Ecken des Globus drastisch bemerkbar; die mit dem Krieg verschärften Sanktionsregime betreffen die gesamte Weltwirtschaft. Preissteigerungen bei lebenswichtigen Produkten bedeuten für die Entwicklungsländer eben auch höhere Verschuldung, erst recht bei steigenden Zinsen. Daher müssen sich nolens volens auch diejenigen im globalen Süden, die von einem „europäischen Krieg“ sprechen, um damit ihre Distanz, ihre Neutralität und fehlende Betroffenheit, mit diesem Thema auseinandersetzen. In den Gremien der Vereinten Nationen müssen sie Farbe bekennen. Die Frage, wie dieser Krieg endet, entscheidet schließlich mit darüber, wie sich die internationalen Beziehungen in diesem Jahrzehnt entwickeln werden.

Dass wir es mit einer einschneidenden politischen Zäsur in Europa und darüber hinaus zu tun haben, ist zwei Jahre nach dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022 offensichtlich. Nach historischen Vergleichen wird gesucht. Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel versucht die gegenwärtige dramatische Entwicklung verstehbar zu machen, indem er auf Analogien zur Machtergreifung Hitlers, zum Mauerbau und der Kubakrise in den sechziger Jahren oder dem nach den Anschlägen von 9/11 ausgerufenen „War on Terror“ verweist (Ulrich Menzel, Wendepunkte – Am Übergang zum autoritären Jahrhundert. Berlin 2023). Letzteres ist schnell geklärt. Der Hinweis auf den „Krieg gegen den Terror“ ist nicht verkehrt. Man denke nur an die damals aufgebrachte Redewendung: „Nine Eleven hat alles verändert“. In der Tat wurden nach den Terrorattacken in New York und Washington drei Kriege beziehungsweise Militärinterventionen angefangen, die zu erheblichen Verwerfungen der internationalen Politik geführt haben und einschneidende Änderungen in der Innenpolitik sehr vieler Länder nach sich zogen. Eine friedlichere Welt wurde nicht erreicht, im Gegenteil. Dieses Ereignis wirkt nach bis heute.

Kalter Krieg damals und heute

Der Hinweis auf die Krisenjahre 1961/62 scheint besonders naheliegend zu sein. Der Kalte Krieg erreichte mit der Kubakrise seinen Höhepunkt, die Welt stand am Abgrund. Aber es gab verantwortungsbewusste Politiker, die auf dem Wege des Kompromisses die Gefahr abwenden konnten. Und was wesentlicher ist: Es entwickelte sich die Einsicht, dass es im Nuklearzeitalter auf globaler Ebene nur Gemeinsame Sicherheit geben kann. Egon Bahr, einer der Väter der Entspannungspolitik der 1970er Jahre, hat in seiner Autobiographie (Egon Bahr, Zu meiner Zeit. München 1996) geschildert, wie der Mauerbau Überlegungen befeuerte, dass und wie ein Interessenausgleich auf der Basis der Anerkennung des territorialen Status Quo möglich sein sollte und könnte. In der NATO setzte sich mit dem Harmel-Report die Auffassung durch, dass militärische Abschreckung mit Schritten zur Vertrauensbildung und der Kooperation ergänzt werden müsste. Die friedliche Koexistenz zwischen den verfeindeten Blöcken sollte auch Wege zu Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung eröffnen.

Ausgangspunkt für die Beendigung einer schroffen Konfrontationspolitik war die Anerkennung der nach 1945 entstandenen Staatsgrenzen, die schließlich in der Übereinkunft der KSZE 1975 festgeschrieben wurden! Auf dieser Grundlage wurde vieles möglich. Stellvertreterkriege in der sogenannten „Dritten Welt“ gab es weiterhin, aber zwischen den Blöcken war Entspannung angesagt. Nota bene: Substantielle Abrüstung bei den konventionellen Streitkräften wurde nach Jahren der Stagnation (MBFR-Verhandlungen) erst durch die politischen Umwälzungen in Moskau (Gorbatschow) möglich. Auch das wird man im Auge behalten müssen.

Heute haben wir es mit einem heißen Krieg zwischen einer offen revisionistischen Macht zu tun, die einen Weltmachtanspruch geltend machen möchte, die die Souveränität von Nachbarstaaten missachtet und die gewaltsame Veränderung völkerrechtlich anerkannter Grenzen nicht scheut, und einem ziemlich hoch gerüsteten Land, das mit der NATO im Bunde steht. Aus der am Status Quo orientierten und in diesem Rahmen kooperationsbereiten UdSSR ist ein Regime geworden, das wider die Fakten großrussischen Phantasien nachhängt und die Wiederherstellung des alten Weltmachtstatus mit allen Mitteln erreichen will. Dazu gehört auch die Schaffung von Einflusszonen, die die Aushebelung demokratischer Regierungsformen zugunsten autoritärer Herrschaft einschließt. Martin Schulze Wessel hat diese Entwicklungen in der russischen beziehungsweise sowjetischen und dann wieder russischen Geschichte in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“ (München 2023) beschrieben.

So zu tun, als hätten wir es noch mit der grundsätzlich friedlichen, zurückhaltenden Sowjetunion zu tun, mit der man sich nur an den Verhandlungstisch setzen müsse, geht an der heutigen Welt vorbei. Die schlichte Leugnung des „post-imperialen Habitus“ (Klaus Schlichte) Russlands, ist wohlfeil, aber wirklichkeitsfremd. Vielmehr ist die Frage zu beantworten, wie die imperialistische Politik des Putin-Regimes so eingehegt werden kann, dass sich daraus wieder Verständigungsmöglichkeiten auf diplomatischem Weg und konstruktive Kooperationsbeziehungen ergeben.

Annäherungen an die Realität: Ein neuer Faschismus?

Die Hitler-Analogie scheint zu dem heute gern bemühten Bild eines globalen Ordnungskonflikts zwischen demokratischen und autoritären bis faschistischen Staaten zu passen. Aber Putin ist nicht Hitler. Die Putin-Partei Einiges Russland ist nicht die NSDAP. Putin nennt als seine geistigen Vorbilder den „weißen General“ Denikin, Intellektuelle wie Alexander Solschenizyn oder Ivan Ilyin. Ihnen gemein ist der Glaube an eine (ost)slawisch und religiös-orthodox fundierte russische Nation, zu der Russland, Belarus, die Ukraine, aber auch Teile von Kasachstan unbedingt zugehörig sind. Auch Anhängern eines weit gespannten „Eurasien“-Projekts, in dessen Mittelpunkt die Russische Föderation stehen sollte, wie Alexander Dugin, wird Einfluss auf Putins Denken zugeschrieben. Timothy Snyder hat diese intellektuellen Grundlagen der Weltanschauung Putins in seinem Buch „The Road to Unfreedom – Russian – Europe – America) beschrieben (New York 2019, deutsche Ausgabe 2018 bei C.H. Beck). Der großen russischen Nation kommt in diesen Denkrichtungen eine besondere historische Mission gegen die dekadente westliche Zivilisation zu. Unter Putins Mentoren sind auch solche, die die Nazis bewunderten, zu diesem Thema: Serhij Plokhy, The Russo-Ukrainian War (Penguin Books 2023). Dennoch wird man vorsichtig formulieren müssen. Der ideologische Standort ist mit Begriffen wie nationalistisch-imperial, autoritär, autokratisch, gewaltbereit ausreichend beschrieben; der Fanatismus der Nazis scheint noch einen Schritt entfernt.

Vor allem gilt eins: Ein russischer Griff nach der Weltmacht ist in der heutigen Welt ebenso wenig vorstellbar wie umgekehrt die unipolare Herrschaft der USA. Aber nicht zu übersehen: Das sich positiv auf den autokratischen Putin beziehende Lager umfasst die Weltmacht China, Mitglieder der BRICS-Staatengruppe, aber inzwischen auch ultrarechte Parteien in der entwickelten kapitalistischen Welt und Sympathisanten in autoritär verfassten Ländern rund um den Globus. Auch wenn ein monolithischer Machtblock extrem reaktionärer Kräfte heute nur schwer vorstellbar ist, sollte man die Gefahren einer globalen Rechtsdrift nicht unterschätzen.

Das führt zu der Frage, die uns interessieren muss: Handelt es sich bei diesen ultrarechten Strömungen, die sich teilweise doch beträchtlich unterscheiden, um einen neuen Faschismus? Berthold Franke forderte in einem Essay für die Blätter für deutsche und internationale Politik im Oktober 2023 „einen neuen Faschismusbegriff“. Richtig ist: Den Faschismus gibt es nicht. Es handelt sich um nach Raum und Zeit zu unterscheidende Ordnungssysteme, die unterschiedlich ausgeprägt sein können. Bestimmte gemeinsame Merkmale sind gleichwohl unverkennbar: Die Fixierung auf den großen Führer, das hassgeprägte Freund-Feind-Denken – heute insbesondere gegen die Migrant:innen und kulturell anders orientierte Menschen (Feministinnen, LGTBIQ*), die Sortierung der Welt nach ausschließlich ethnisch-nationalen, gegebenenfalls nach religiösen Gesichtspunkten, pathologisch anmutende Selbstinszenierungen als Opfer der Geschichte und einer bösen Umwelt, Wut auf die repräsentativ-demokratischen und rechtstaatlichen Institutionen, die Sehnsucht nach guten, alten Zeiten, in denen noch Ordnung herrschte und das „eigene“ Land noch etwas galt, die Bereitschaft, diese Ziele auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Die soziale Basis solcher Bewegungen ist über die Jahrzehnte im Grundsatz gleichgeblieben. Der Faschismus sammelt die Deklassierten, die von Deklassierung bedrohten beziehungsweise die sich deklassiert Fühlenden aller Klassen und Schichten ein, die nach Vergeltung für erlittene oder empfundene Demütigungen und Abwertungen suchen. Wenn er an die Macht kommt, bleibt von dem vorgeblichen Kampf gegen das Establishment wenig übrig, die Interessen der an den Rand Gedrängten kommen unter die Räder. Diese klassenmäßigen Bestimmungen scheinen auf die russische Situation wenig zu passen, alle anderen Merkmale durchaus. Vor allem der von August Thalheimer in den späten 1920er Jahren von Marx entlehnten Begriff des Bonapartismus („Über den Faschismus“), also eines über den Klassen stehenden verselbständigten Staatsapparats, vermittelt tiefere Einsichten in den Charakter des russischen Regimes (dazu auch Klaus Dörre, Der Krieg gegen die Ukraine und der Kampf um eine neue Weltordnung, in: Das Argument 340, 2023).

Eine andere Parallele springt ins Auge. Es fällt normalerweise uns Sterblichen schwer zu sagen, wie man mit diesen aus Krisenprozessen hervorgebrachten Bewegungen und ihren Anführern umgehen soll. Ist es denn nicht augenfällig wie hier gelogen, die Tatsachen verdreht, Irrationales behauptet wird und ist ein skrupellos gewaltbereiter Mob nicht abstoßend? Wie können irrlichternde Gestalten wie Mr. Trump so viel Einfluss gewinnen? Historische Erfahrungen sind bei der Klärung dieser Frage hilfreich, aber nicht hinreichend. Hannah Arendt hat in ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ mit Blick auf die humanistische und aufklärerische Denktradition in der Gesellschaft angemerkt, „dass wir uns von dem radikal Bösen keinen Begriff machen können“. In den 1930er Jahren herrschte lange die Vorstellung, dass man sich mit Hitler-Deutschland verständigen möge, um Schlimmeres zu verhindern. Eric Hobsbawm hat in „Das Zeitalter der Extreme“ („Age of Extremes – The short twentieth Century“, 1994, deutsche Ausgabe München 1995) über den Umgang mit Hitlers Deutschland treffend geschrieben: „Es ging um eine faschistische Macht. Solange diese Tatsache beiseite gelassen oder nicht richtig eingeschätzt wurde, konnte man diesem Staat auch noch mit den üblichen Kalkulationen der Realpolitik begegnen. Man konnte Deutschland Widerstand leisten oder es beschwichtigen (…)“. Zum Versuch, dieses Deutschland zu beschwichtigen, ihm Kompromisse anzubieten, wie es die USA, Großbritannien und Frankreich längere Zeit versuchten, schreibt Hobsbawm: „Kompromisse und Verhandlungen mit Hitlers Deutschland waren unmöglich, denn die politischen Ziele des Nationalsozialismus waren grenzenlos und irrational. Expansion und Aggression gehörten untrennbar zum System …“ Auch damals wurden Teile der Linke in ein großes Dilemma gestürzt: Sie mobilisierten aus der Erfahrung mit dem Schrecken des ersten Weltkrieges und wegen der zu erwartenden Grausamkeit des kommenden gegen den Krieg, propagierten den Frieden. „Andererseits aber konnte kein Widerstand gegen den Faschismus Erfolg haben, der nicht bereit war, zu den Waffen zu greifen.“

Nun muss natürlich die Frage gestellt werden, welche Aussagekraft solche historischen Vergleiche überhaupt haben. So kann durchaus in Frage gestellt werden, ob die obigen Zuschreibungen auf Putins Russland passen. Ein großrussischer Chauvinismus muss auch nicht automatisch zu Expansionskriegen führen. Und die eurasischen Machtphantasien reichen in der Tat an den Omnipotenzwahn der Nazis (die Hitlerjugend sang: Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“) nicht heran. Aber dies ist vor allem den veränderten geopolitischen Umständen geschuldet.

So viel kann mit Sicherheit gesagt werden: Putins Russland ist ein besonders autokratisches, ultrareaktionäres Regime, dessen totalitäre Tendenzen durch den Angriffskrieg noch beschleunigt worden sind. Stellt man die alltägliche Kriegspropaganda des Regimes (Russia Today: „alle russischen Länder zurückholen“), die staatlichen Kampagnen für „traditionelle Werte“ (sprich: reaktionär-fundamentalistisch) in Rechnung – und das sollte man tun, denn es prägt das gesamte Denken der Gesellschaft – so liegt man mit dem Etikett „präfaschistisch“ nicht verkehrt. Für eine präzise Typologie werden dennoch weitere Analysen und Erörterungen nötig sein.

Neben den ideologischen Merkmalen sollten auch strukturelle Gegebenheiten, die die Grundlage für den Typus autoritärer bis totalitärer Herrschaft bilden, im Blick bleiben. Im Falle Russlands sind es die Macht des Sicherheitsapparats („Silowiki“) und der Oligarchen des fossilen Energiesektors, der Aufstieg eines Führers und einer mit ihm verbundenen Gruppe beziehungsweise Partei, aber auch die ideologischen Welten, in denen sich diese Staatskaste bewegt, die sich in staatlicher Geschichtspolitik und Medienapparaten materialisieren usw. Zugleich ist es wichtig zu erkennen, dass sich ein solches Herrschaftsprojekt als dynamischer Prozess entwickelt, der von innergesellschaftlichen wie internationalen Faktoren und Entwicklungen abhängt.

Ob all dies in welcher Form auch immer auf Putin und das heutige Russland zutrifft, ist Gegenstand einer regen Debatte, an der sich beispielsweise Klaus Schlichte („3x Ukraine – Zur Politischen Soziologie eines Angriffskrieges“, in: Leviathan Heft 3 / 1922), Sebastian Hoppe („Kategoriale Dissonanzen – Russlands regressiver Weg in den Krieg und die Historische Soziologie imperialistischer Außenpolitiken“, in: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1 / 2023) und Felix Jaitner („Russischer Kapitalismus – Die Zukunft des ‚System Putin‘“, Hamburg 2024) beteiligten. Aber: Der Putin von 2001 ist mit dem Putin von 2012 und erst recht heute nicht zu vergleichen. Der Krieg gegen die Ukraine wurde nicht 2008 nach dem NATO-Gipfel geplant, der die Aufnahme der Ukraine grundsätzlich billigte. Erst als man sich in ausreichender Stärke wähnte, sich eine günstige Gelegenheit bot (der Abzug der NATO aus Afghanistan, die Streitereien in der EU etc.), und man mit verhältnismäßig wenig Widerstand rechnete, kam der Angriffsbefehl. Der Euromaidan 2014 wurde in Moskau so gedeutet, dass man jetzt losschlagen müsse, wenn man die Ukraine nicht endgültig verlieren wollte. Die verhältnismäßig verhaltene Reaktion westlicher Staaten auf die Annexion der Krim und die Gründung der prorussischen Teilrepubliken im Donbass tat ein Übriges dazu, um den Schritt zum großen Krieg zu wagen. Der Krieg schließlich hat Russland weiter verändert – siehe die Umstellung auf die Kriegswirtschaft, die verschärfte Repression gegen alle Andersdenkenden, die ideologische Konditionierung qua Massenmedien.

Die inzwischen breit vorhandene Literatur und die Kenntnisse über die Alltagsrealität in Russland (zuletzt der Tod des Oppositionsführer Nawalny, der quasi einer Lager-Schocktherapie unterzogen wurde) belegen ausreichend, dass Putins Russland inzwischen faschistoide, totalitäre Züge aufweist. So beispielsweise Gerd Koenen in seinem Buch „Im Widerschein des Krieges – Nachdenken über Russland“, München 2023. Eine pauschale Abweisung der Faschismusthese hilft allerdings nicht weiter. Es könnte sich als gefährlich erweisen, die Gefahren, die aus der totalitären Wendung Russlands drohen, zu ignorieren. Der schon zitierte Berthold Franke hat recht: Der verengte Blick auf die NS-Diktatur hierzulande verstellt die Sicht auf die Faschismen, die jeweils sehr spezifische Ausprägungen aufweisen bei sehr ähnlicher Grundkonfiguration.

Der Anteil des Westens an der russischen Entwicklung

Die Entwicklung der Russischen Föderation zu einem russischen präfaschistischen Staat kann nicht isoliert vom Weltgeschehen begriffen werden. Dies gilt vor allem deshalb, weil der Epochenbruch 1989/90 die Folgejahrzehnte prägte und dabei die Konflikte im postsowjetischen Raum einen wichtigen Brennpunkt bildeten. Der Untergang des sowjetischen Imperiums war mit zwei Weichenstellungen verbunden, die die damals proklamierten Hoffnungen auf eine neue friedliche Weltordnung konterkarierten: Die USA sahen sich in ihrer Rolle als exzeptioneller Macht bestätigt, die im Zentrum einer unipolaren Weltordnung stehen sollte. Die NATO, die ihres Feindes beraubt worden war, wollte unbedingt bleiben und musste dazu neue Gestaltungsansprüche, „out-of-area“, anmelden. Was diese Fixierung der Militärallianz im Verhältnis zu Russland und zu den mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) bedeuten würde, war eine kurze Zeit offen. Aber die ursprüngliche Absicht, neue Trennlinien in Europa vermeiden zu wollen, wurde sehr rasch aufgegeben. Entwicklungen in Russland (Putschversuch, Tschetschenien) spielen dabei eine Rolle, aber mehr noch innenpolitische Prozesse in den USA.

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Mary Sarotte hat nach dem Studium umfangreicher Originalquellen und vielen Interviews mit maßgeblichen Politiker:innen diese Entwicklungen für die neunziger Jahre akribisch in ihrem Buch „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“ (München 1923, amerikanische Originalausgabe: Not One Inch – America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate, New Haven 2021) nachgezeichnet. Die ursprüngliche Idee der NATO, eine allen Ländern im Osten offenstehende „Partnerschaft für den Frieden“ anzubieten, wurde 1995 de facto aufgegeben. Damit wäre man den auf den NATO-Beitritt drängenden Visegrád-Ländern (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) sowie den baltischen Staaten entgegengekommen und hätte durch militärische Kooperation deren Sicherheit vor Russland erhöht, zugleich aber möglicherweise das Entstehen neuer Bruchlinien zu Russland, der Ukraine etc. vermieden.

Diese Idee aufzugeben war ein schlimmer Fehler, der sich rächen sollte, auch wenn der Druck aus den beitrittswilligen Staaten Osteuropas auf die NATO enorm hoch war und heute schwer zu klären sein wird, ob die NATO diesem Druck nicht standhalten konnte oder nicht standhalten wollte. Er wurde auch nicht dadurch kompensiert, dass in diesem Jahrzehnt und den Folgejahren eine beträchtliche Integration dieses Raumes in die Weltwirtschaft stattfand und weitreichende sicherheitsrelevante Abkommen und Vereinbarungen erreicht werden konnten (Verträge über strategische Nuklearwaffen, im konventionellen Bereich der KSE-Vertrag, schließlich die Konstituierung des NATO-Russlandrates).

Das Ganze wurde mehr und mehr überlagert durch eine sich entwickelnde Konfliktdynamik (Golfkrieg, Balkan-Kriege. Tschetschenien, Nine Eleven-Terroranschlag), die sich auch auf das Ost- Westverhältnis auswirkte. Statt der 1990/1991 auf den Schild gehobenen neuen Weltordnung war eine Erosion dieser regelbasierten Ordnung, in der der UNO eine Schlüsselrolle zukommen sollte, zu verzeichnen.

Die USA spielten unter der Präsidentschaft George W. Bushs eine besondere Rolle, weil sie in Afghanistan und im Irak zwei Kriege führten, die ganze Regionen destabilisierte und eine weitere Gewalteskalation nach sich zogen. Im Verhältnis zu Russland, das um die Jahrhundertwende durch eine vom Westen beförderte Schocktherapie am Boden lag, setzte sich vor allem in den USA die Haltung durch, dass man „die Russen kaufen“ könne (Sarotte). Die Eliten in den USA glaubten, dass man deren Belange daher nicht mehr sonderlich beachten müsse.

Es war auch ein Fehler, bedingungslos auf Präsident Jelzin zu setzen, der die rudimentäre parlamentarische Demokratie durch eine Art Präsidialdiktatur ersetzte (Coup d‘Etat 1993) und den Aufstand der Tschetschenen blutig niederschlug. Jelzins wirtschaftspolitische Schocktherapie kam den Interessen des internationalen Kapitals entgegen; das zählte mehr als das Streben nach Demokratie. Andererseits: Welche Alternativen gab es? Die Kontrahenten Jelzins, der rechte Nationalist Schirinowski und der Nationalbolschewik Sjuganow, standen für den Weg zurück in finstere Zeiten. Demokratieförderlich war die Kritiklosigkeit des „Westens“ gleichwohl nicht. Das gilt auch für die Unterstützung des Jelzin-Nachfolgers Putin, der seinen kometenhaften Aufstieg aus dem Geheimdienst an die Staatsspitze durch die nochmalige brutale Niederschlagung der Tschetschenen befestigte. Die Bewunderung Putins durch den Ex-Bundeskanzler Schröder mag als Beispiel genügen, um zu zeigen, dass „westliche Politik“ auf ihre Weise den Irrweg der russischen Entwicklung begünstigt hat.

Auch an den sicherheitspolitischen Verhärtungen sind NATO-Mitgliedsstaaten nicht unbeteiligt gewesen. Auf der anderen Seite bleibt festzuhalten, dass sich die NATO-Mitgliedsstaaten an die Vereinbarungen des NATO-Russland-Grundlagenabkommens bis zum Angriff Putins auf die Ukraine gehalten haben! Scharf kritisiert werden muss allerdings, dass man bei den Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag allzu berechtigte Forderungen Moskaus strikt abwies statt um Kompromisse zu ringen (die Einbeziehung der baltischen Staaten in einen neuen Vertrag, die Präzisierung der Stationierungsrichtlinien etc.). Es hätte also durchaus Alternativen gegeben. Die kritische Aufarbeitung dieser auf das „Ende des Kalten Krieges“ folgenden Zwischenzeit ist nicht aus Gründen historischer Rechthaberei notwendig. Es geht um Folgerungen für eine neue Ära des Friedens und der Zusammenarbeit, die aus dieser Kritik erwachsen sollten. Die Fortsetzung der Selbstgefälligkeit der „westlichen Staatengemeinschaft“, die ein charakteristisches Merkmal dieser Zeit ist, droht einen solchen Entwicklungsweg zu blockieren. Es ist kein Zufall, dass sie heute immer stärker von den Ländern „des Südens“ angeprangert wird. Das muss sich ändern.

Die Kritik am „Westen“ taugt für eins jedoch nicht: zur Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges. Diese Entscheidung trägt einzig der russische Präsident. Und die innergesellschaftlichen, machtpolitischen Voraussetzungen zu dieser Kriegsentscheidung wurden durch endogene Faktoren bestimmt. Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 und die politische Legitimationskrise 2010/2011 führten in der zweiten Amtszeit Putins – so Sebastian Hoppe – zu Weichenstellungen in Richtung auf einen immer totalitärer werdenden Staat, der sich auf äußere Expansion und die Konfrontation mit der „westlich“ dominierten Weltordnung verlegte.

Eine kritische Einordnung der USA- NATO-Politiken der Vergangenheit unterscheidet sich elementar von einer Umkehrung der Täter- Opferbeziehungen im Krieg gegen die Ukraine, wie sie in Teilen der Linken und der Friedensbewegung seit dem Februar 2022 leider bis heute vorgenommen wird. Schon aus Gründen moralischer Glaubwürdigkeit gilt, dass es keinerlei Nähe zu den Putin`schen Rechtfertigungen geben darf.

Die aus den Fugen geratene Welt

Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat jüngst die Aussage gemacht, die Lage heute sei schlimmer und schwieriger als zu Zeiten des Kalten Krieges nach 1945. Der Mann hat recht. Das hat nicht nur mit den eben geschilderten Veränderungen in Russland zu tun. Der Krieg in der Ukraine ist eingebettet in bedrohliche Entwicklungen globalen Ausmaßes:

Ein neuer Wettstreit um globale Hegemonie, mit China und den USA an der Spitze und ihnen jeweils zuzurechnenden Bündnispartnern hat begonnen. Die Unsicherheiten und Reibungen, die eine solche Übergangsphase mit sich bringt, sind aus der Geschichte bekannt. Auch wenn sich, im Unterscheid zum alten Kalten Krieg. keine zwei homogenen Blöcke gegenüberstehen werden, wird dieser Ordnungskonflikt die internationalen Beziehungen prägen. Die daraus entstehende multipolare Weltordnung, das heißt auch die Pluralisierung der Machtzentren, wird die Welt nicht per se friedlicher machen, sondern mit Wettrüsten, Krisen und Spannungen verbunden sein. Die vorauszusagende Machtverschiebung nach Asien (China, Indien) und die damit einhergehende deutlichere Kritik der Staaten des globalen Südens am „Westen“ und seiner Doppelmoral ist zumindest ambivalent zu deuten. Nicht jede Kritik am westlich-kapitalistischen Entwicklungsmodell ist fortschrittlich.

In diesem Kontext ist auch der Anspruch Putins zu sehen, Russland wieder zu einer globalen Führungsmacht machen zu wollen. Putin inszeniert sich als Anführer der globalen Unterklassen und des nach Gerechtigkeit strebenden Globalen Südens, um auf diesen Resonanzboden gestützt, die eigene imperiale Agenda voranbringen zu können. Mit BRICS ist ein Staaten-Club entstanden, der vor allem durch das Streben geeint wird, die globale Hegemonie des „Westens“ zu brechen. Die damit einhergehende Aushöhlung einer auf der UN-Charta gründenden regelbasierten Weltordnung verheißt nichts Gutes. Die dringend gebotene weltweite Zusammenarbeit zur Abwehr der Klimakatastrophe droht weiter ins Hintertreffen zu geraten. Multipolarität ist per se kein Modell für eine friedlichere Zukunft. Es bleibt auch zu hoffen, dass kulturrelativistische Ideen, die die Universalität der Menschenrechte in Abrede stellen und in denen autoritär-konservativen Gesellschaftsmodellen ein Freibrief erteilt wird, auf Dauer keine globale Ausstrahlung entwickeln können.

Wenn heute ein Kalter Krieg 2.0. apostrophiert wird, so ist darauf hinzuweisen, dass wir längst in einer neuen Ära der Aufrüstung und zunehmend gewaltförmiger Konflikte angekommen sind. Die Zahlen des Uppsala Conflict Data Programs belegen diesen Trend. Zwischen 1990 und 2007 ist die Zahl der bewaffneten Konflikte gesunken. Der Wiederanstieg begann ab 2010. Im Januar 2023 musste die UN feststellen, dass ein Höchststand seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht wurde, so Emma Beals und Peter Salisbury in „The World at War“ (in: Foreign Affairs, Oktober 2023).

Die letzten Monate haben mit den Kämpfen im Kongo, im Südsudan, zuletzt dem mörderischen Konflikt in Gaza/Nahost, diesen „Rekord“ noch getoppt. Die Entfesselung der Gewalt drückt sich auch darin aus, dass neben regulären Streitkräften der Staaten bewaffnete Gruppen (Milizen) eine große Rolle spielen, die Zugang zu modernster Waffentechnik und üppigen Finanzen haben und wiederum von anderen Staaten unterstützt werden. Man liegt richtig, wenn man dabei an die von Moskau geführten Söldnermilizen in Teilen Afrikas denkt.

Eins fällt in diesem Zusammenhang besonders auf: Die Vereinten Nationen, die eigentlich und in erster Linie für Frieden und internationale Sicherheit zuständig sind, sind nahezu völlig an den Rand gedrängt worden. Die rivalisierenden Großmächte beziehungsweise nach mehr Einfluss strebenden Regionalmächte wollen die Dinge unter sich ausmachen. Auf internationale Regeln (UNO-Charta) wird dabei wenig Wert gelegt. Dazu passt, dass die erreichten Fortschritte auf dem Feld der Abrüstung und Rüstungskontrolle nahezu komplett außer Kraft gesetzt wurden. Die Nichtratifizierung des Anpassungsübereinkommens zum KSE-Vertrag 1999 durch die NATO-Mitgliedsstaaten, die vor allem von den USA betrieben wurde, und der von den USA einseitig gekündigte Vertrag über die Raketenabwehr 2002 gehören ins Sündenregister westlicher Politik. An anderen Verträgen (ein Beispiel: INF) gab es ein beiderseitiges Desinteresse der vormaligen Supermächte. Neue Verhandlungen zur strategischen Nuklearrüstung liegen auf Eis, bestehende Verträge zu Mittelstreckenraketen (INF), konventioneller Rüstung (KSE) wurden aufgekündigt, die Gesamtheit der vertrauensbildenden Maßnahmen (Datenaustausch, Open Skies) ist hinfällig geworden. Ein wirklicher Neuanfang wird vermutlich erst nach einem Ende des Ukraine-Krieges begonnen werden.

Diese Sicht auf die heutige Weltlage bietet wenig Hoffnungsvolles, ja, sie trägt eher dazu bei, resignieren zu wollen. Aber es bleibt dabei: Wenn der Planet Erde eine gedeihliche Zukunft haben soll, muss darum gekämpft werden, dass Friedens- und Abrüstungsprozesse wieder in Gang kommen und die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen konsequent angepackt werden.

Paul Schäfer, Köln

Paul Schäfer hat Anfang April 2024 auf seiner Internetseite einen ausführlichen Essay veröffentlicht, den er dem Demokratischen Salon zur Verfügung gestellt hat. Hier wird der Text in drei Teilen veröffentlicht, das erste Kapitel im April 2024 zur Analyse, im Mai und im Juni 2024 zwei weitere Kapitel, die sich mit den Perspektiven zur Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine sowie mit einer differenzierten Bewertung der Anforderungen für die deutsche beziehungsweise europäische Friedens-, Verteidigungs- und Rüstungspolitik befassen. Diese Texte werden an die Rahmenbedingungen des Demokratischen Salons angepasst und gegebenenfalls je nach Stand der weiteren Entwicklungen aktualisiert.

Paul Schäfer (*1949) ist Diplom-Soziologe, war unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs (SPD) und Gerhard Zwerenz (PDS), 2003 bis 2007 mit Ulrike Detjen Landesvorsitzender der PDS NRW, von 2005 bis 2013 Abgeordneter im Deutschen Bundestag für die Linke, für die er dort als Obmann im Verteidigungsausschuss und als verteidigungs- und abrüstungspolitischer Sprecher tätig war. Er arbeitet seit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag als Publizist mit Beiträgen unter anderem in „Blätter für deutsche und internationale Politik“, der Zeitschrift „Vorgänge“ und der taz. Er ist Mitglied der Redaktion der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“. Weitere Informationen auf seiner Internetseite. Im Demokratischen Salon veröffentlichte er im Juni 2023 den Essay „Der Krieg gegen die Ukraine – Acht Thesen über Moral und linke Politik“.

Natalja Kljutscharjowa, die eingangs zitiert wurde, wurde 1981 geboren. Sie lebt in Jaroslawl, Russland. Sie ist Schriftstellerin, Dramaturgin und Lektorin in einem Kinderbuchverlag.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung in der vorliegenden Fassung im April 2024, Internetzugriffe zuletzt am 15. April 2024. Titelbild: Peter Andriuschenko, Mariupol am 4. März 2022. Das Bild wurde mir von J.E.W., der Zeitschrift der Jüdischen Gemeinden Westfalen-Lippe zur Verfügung gestellt. Siehe hierzu auch das von J.E.W. und vom Demokratischen Salon in fünf Teilen veröffentlichte Tagebuch von Nataliia Sysowa.)