Ganztagsbildung ist Kinderrecht

Der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz – Geschichte und Perspektiven

„Hier macht Lernen Spaß – wir bauen eine neue Schule.“ (Titel eines Werbefaltblatts der Landesregierung aus dem Jahr 2003 für die OGS in Nordrhein-Westfalen)

Die nordrhein-westfälische Serviceagentur Ganztägig lernen (SAG) und der Demokratische Salon haben am 2. November 2021 in einer digitalen Informationsveranstaltung die mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder verbundenen Fragen vorgestellt und mit mehreren Expert*innen aus Schule, Jugendhilfe und Kommunalverwaltung diskutiert. Im Zentrum stand eine nordrhein-westfälische Besonderheit, das Trägermodell mit der engen Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Allerdings dürften viele der angesprochenen Aspekte der Debatte auch in anderen Ländern Interesse wecken, zumal die gesetzliche Regelung des Rechtsanspruchs auf einer Ergänzung im Kinder- und Jugendhilferecht beruht.

Diese Dokumentation der Veranstaltung enthält ein Interview der beiden Leiterinnen der SAG, Birgit Schröder und Hiltrud Wöhrmann, mit Norbert Reichel, der lange Jahre den Aufbau des Ganztags in Nordrhein-Westfalen verantwortlich begleitet hat, vier Blitzlichter zu mit dem Ganztag verbundenen Inhalten sowie eine Diskussion mit drei Vertreter*innen von Landesjugendamt, Schulaufsicht und Wohlfahrtsverbänden. Die Gesamtmoderation leisteten Birgit Schröder und Hiltrud Wöhrmann, die Moderation der Abschlussveranstaltung Norbert Reichel.

Teil I: Das Interview

Eine kurze Standortbestimmung

Birgit Schröder: Als im Jahr 2003 in Nordrhein-Westfalen die Offene Ganztagsschule, kurz OGS, in manchen Städten auch in Anlehnung an die KiTa OGaTa genannt, entstand, war ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz noch in weiter Ferne. 2021 beschlossen Bundestag und Bundesrat einen solchen Rechtsanspruch für die Kinder der Klassen 1 bis 4. Er gilt ab 2026 und wird bis 2030 schrittweise für alle vier Klassenstufen eingeführt. Die Länder werden ihre bisherigen Ganztagssysteme weiterführen, manche Länder werden ihre Horte ausbauen, andere rein schulische Angebote. Die nordrhein-westfälische OGS zeichnet sich durch das das bundesweit einzigartige Trägermodell aus. Schule und Jugendhilfe, Land, Kommunen und die Träger der freien Jugendhilfe arbeiten eng zusammen. Verschiedene wissenschaftliche Studien belegen den Entwicklungsstand.

Hiltrud Wöhrmann: Inzwischen haben sich diverse Gremien und Verbände zur Zukunft des Ganztags geäußert. Dazu gehören die beiden Stellungnahmen des Deutschen Vereins für private und öffentliche Fürsorge, in dem Kommunale Spitzenverbände und Wohlfahrtsverbände zusammenarbeiten, sowie der 15. Kinder- und Jugendbericht. Ein wichtiges Stichwort dieses Berichts ist der kinder- und jugendorientierte Ganztag. Thomas Coelen und Hans-Uwe Otto sel.A. haben die Integration von formeller und nicht-formeller Bildung „Ganztagsbildung“ genannt. Und die UN-Kinderrechtskonvention verlangt Vorrang für die Belange der Kinder. Daher der Titel der gemeinsamen Veranstaltung von Serviceagentur Ganztägig lernen und Demokratischem Salon vom 2. November 2021.

Die Vorgeschichte

Birgit Schröder: Norbert, du warst von 1999 bis 2018 im nordrhein-westfälischen Bildungsministerium für den Ausbau des Ganztags verantwortlich, zunächst als Referatsleiter, dann ab 2011 Leiter der Gruppe „Nachhaltige Bildungspolitik“, in der auch der Ganztag ressortierte. Du kennst die Vorgeschichte des Ganztags vor der Jahrtausendwende. Diese sollten wir kennen, wenn wir die Zukunft des Ganztags bewerten und planen.

Norbert Reichel: Vielleicht zu Beginn ein meines Erachtens wichtiger Hinweis. Es gibt einige Mütter und Väter des Ganztags wie wir ihn heute kennen. Eine ganz entscheidende Phase des Ausbaus waren die Jahre 2003 bis 2005. In dieser Zeit ressortierten Jugendhilfe und Schule in einem Ressort, dem Ministerium für Schule, Jugend und Kinder (MSJK). Der Aufbau der OGS ressortierte in der Abteilung „Kinder und Jugend“ dieses Ministeriums. Abteilungsleiter war Klaus Schäfer, ich war der zuständige Referatsleiter in seiner Abteilung. Wir kannten uns schon aus der Zeit vor 2003 und sahen auf eine gemeinsame Geschichte zurück, in der wir sozusagen als Tandem von Jugendhilfe und Schule in den Kommunen für die Zusammenarbeit dieser beiden Politikfelder warben. Dies setzten wir dann ab 2003 in einem gemeinsamen Ressort fort. 2005 wurde die Kinder- und Jugendabteilung in ein Generationenministerium verlegt, das von mir geleitete Referat blieb im Schulministerium. Wir haben die Zusammenarbeit fortgesetzt, doch das wurde mit der Zeit immer schwerer. Es wäre gut, wenn die nächste Landesregierung im Zuge der Umsetzung des Rechtsanspruchs dieser Zusammenarbeit wieder feste und verlässliche Formen geben könnte.

Doch zur Vorgeschichte: In der Bundesrepublik Deutschland gab es bereits in den 1970er Jahren Vorschläge zum Ausbau des Ganztags in der Schule. Bis dahin gab es ausschließlich Ganztagsangebote der Jugendhilfe, in Horten und in großen altersgemischten Gruppen. Der Bildungsgesamtplan von 1976 enthielt Planungszahlen, der Gesprächskreis Bildungsplanung veröffentlichte 1980 Vorschläge zur qualitativen Ausgestaltung. Ganztag war nicht unumstritten. Manche glaubten, der Staat entziehe die Kinder den Eltern und verwiesen auf die DDR, in der es mit den Schulhorten ein ausgebautes Ganztagsystem gab. Auf diese Idee kommt heute kaum noch jemand. Zur Akzeptanz des Ganztags auch in konservativen Kreisen trugen in der CDU maßgeblich Ursula von der Leyen und Jürgen Rüttgers bei.

Ein Hinweis für diejenigen, die Interesse haben, sich etwas ausführlicher mit der Geschichte des Ganztags zu befassen: es gibt eine Fülle von Dokumenten und Berichten zur Geschichte des Ganztags, die ich in meiner privaten Ganztagsbibliothek gesammelt hatte und von denen viele anderswo kaum verfügbar sein dürften, darunter eben auch viel graue Literatur. Seit Dezember 2018 steht diese Bibliothek im Institut für soziale Arbeit. Ich erwähne das, weil ich denke, dass all diese Dokumente und Berichte wunderbaren Stoff für Master- und Doktorarbeiten bieten.

Ein Prachtstück der Sammlung im ISA ist das Typoskript der wissenschaftlichen Begleitung der ersten Ganztagsgrundschule in Nordrhein-Westfalen, die Grundschule Münster-Gievenbeck (heute: Wartburgschule), aus dem Jahr 1984. Diese Ganztagsschule entstand in einem von Bund und Land geförderten BLK-Modellversuch. Das Land gab einen 30%igen Ganztagszuschlag, alles Weitere finanzierte die Stadt Münster. In den 1980er Jahren entstanden in Nordrhein-Westfalen etwa 30 weitere Ganztagsgrundschulen. Im Jahr 1992 reduzierte das Land den 30%igen Lehrerstellenzuschlag auf 20 %. Zum Vergleich: Der Bildungsgesamtplan sah einen Stellenzuschlag von 100 % zuzüglich Overhead vor.

Ganztagsgrundschulen hatten lange keine Priorität. Die nordrhein-westfälische Landesregierung förderte in den 1990er Jahren den Ganztag ausschließlich in Gesamt- und Hauptschulen. Dies war der erste scheiternde Versuch zur Rettung der Hauptschule, der zweite scheiterte in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre mit der Erweiterten Ganztagshauptschule. In allen anderen Schulformen gab es jeweils einige Handvoll Ganztagsschulen. Dort gab es einen systematischen Ausbau erst ab 2007.

In allen Dokumenten zur Ganztagsschule vor der OGS fehlte etwas Entscheidendes: Jugendhilfe fand nicht statt. Es gab nur eine Ausnahme: das Projekt „Schulkinderhaus“, der Hort in der Grundschule, auch ein BLK-Modellversuch. Das war eine Art OGS avant la lettre, allerdings deutlich besser finanziert. Es entstanden etwa 30 Schulkinderhäuser in Nordrhein-Westfalen (Anmerkung: bei einer Internetrecherche finden sich diverse „Schulkinderhäuser“, die aber mit diesem Projekt in der Regel nichts zu tun haben).

Jugendhilfe hatte in Horten und großen altersgemischten Gruppen um das Jahr 2000 etwa 40.000 Plätze, die für etwa 3 bis 4 % der Kinder in Nordrhein-Westfalen reichten. 10.000 dieser 40.000 Plätze lagen in Köln und in Essen. Bedarfsgerecht war das nicht. In einer vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft beauftragten Studie aus dem Jahr 1992 wurde für drei Länder, darunter Nordrhein-Westfalen, bereits ein Bedarf von etwa 40 % festgestellt. Auftragnehmer waren Tino Bargel und Manfred Kuthe. Ich war damals der zuständige Referent im Bundesministerium. Die Studie erhielt hohe öffentliche Aufmerksamkeit, auch dank des Engagements des damaligen Bundesbildungsministers Jürgen W. Möllemann.

Push- und Pull-Faktoren für den Ausbau

Birgit Schröder: Und dann entstand Druck.

Norbert Reichel: Ja, bereits in den 1990er Jahren. Das erste Ergebnis war in Nordrhein-Westfalen die 1995 gegründete „Schule von acht bis eins“, eine verlässliche Vormittagsbetreuung bis etwa 13 Uhr. Schulministerin war damals die Sozialdemokratin Gabriele Behler. Ähnliche Programme gab es auch in den meisten anderen westlichen Ländern. Es entstanden weitere Programme, das Programm „Dreizehn Plus“ für die Nachmittagsbetreuung in der Schule, das Programm „Schülertreff in der Tagesstätte“ (SiT), ein Landesprogramm zur Planungshilfe, das in drei Kommunen stattfand.

Entscheidend waren die Jahre 2003 bis 2005. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion sorgte dafür, dass die Kommunen die Möglichkeit erhielten, Hortplätze, Dreizehn-Plus-Gruppen und SiT-Gruppen in der OGS zusammenzuführen. Errechnet wurde ein etwa 65%iger Stellenzuschlag inclusive Overhead. Das lag deutlich über den bisherigen Ganztagsprogrammen, aber ebenso deutlich unter den Berechnungen des Bildungsgesamtplans und der bisherigen Hortfinanzierung.

Einen wesentlichen Schub für den Ganztag gab es durch das 2003 verkündete Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB), das mit 4 Mrd. EUR ausgestattet war, von denen das Land Nordrhein-Westfalen 914 Mio. EUR erhielt. Die Begründung dieses Ganztagsprogramms war ein Etikettenschwindel. Eigentlich ging es um eine bedarfsdeckende Ganztagsbetreuung, als Begründung wurde aber die PISA-Studie herangezogen. Es sollte um Bildungsqualität gehen. Es ist natürlich so: Minister*innen bekommen im neu gebauten Ganztagsgebäude ein schöneres Foto als in einem guten Förderunterricht, der auf dem Foto nicht anders ausschaut als das, was wir ohnehin schon immer gesehen haben. Damals gab es auch einige Mythen, beispielsweise über den PISA-Sieger Finnland, dem eine Ganztagsschule angedichtet wurde. Hatte Finnland nicht, um 14 Uhr war Schluss.

Hiltrud Wöhrmann: Die OGS wurde in Nordrhein-Westfalen zur Erfolgsgeschichte.

Norbert Reichel: Das Bundesprogramm war der erste Faktor des Gelingens, der zweite Faktor war die Deregulierung der Finanzierung. Der kommunale Beitrag reduzierte sich auf etwa 15 Prozent der bisher für einen Hortplatz erforderlichen Mittel und sollte komplett über Elternbeiträge refinanziert werden, die Eigenmittel für das Bau- und Ausstattungsprogramm konnten die Kommunen über unbare Eigenleistungen erbringen. Es gab somit nicht nur Push-Faktoren, sondern auch Pull-Faktoren. Die Kommunen hatten es erheblich leichter, Ganztagsplätze einzurichten.

Binnen wenigen Jahren wurde die vom Land angestrebte Versorgungsquote von 25 % weit übertroffen. Wir sind inzwischen bei etwa 355.000 Plätzen, das sind etwas mehr als 50 %, in manchen Städten haben wir eine Bedarfsdeckung von über 70 % oder sogar 80 %, manche Schulen sind schon eine OGS für alle und arbeiten im Grunde wie eine gebundene Ganztagsschule.

Birgit Schröder: Es gibt viele Lehr- und Fachkräfte, auch Verbände, die für eine gebundene Ganztagsschule plädieren.

Norbert Reichel: Die wird sich mit der Zeit von selbst entwickeln. Die Beispiele der OGS für alle zeigen, wie das geht. Es gibt rechtlich eigentlich nur ein kleines Hindernis. Eltern haben ein Recht auf die nächst gelegene Grundschule. Wenn diese eine Ganztagsschule ist, sie aber keinen Ganztag wollen, muss die Schule das Kind trotzdem aufnehmen. Es bedürfte einer kleinen Änderung in § 46 Abs. 3 Schulgesetz NRW, die zwischen Schulen differenziert, in denen alle Kinder am Ganztag teilnehmen und Schulen, in den nur ein Teil der Kinder den Ganztag genießt.

Hiltrud Wöhrmann: Wie viele Plätze werden wir brauchen?

Norbert Reichel: Bis zum Ende der nächsten Legislaturperiode im Jahr 2027 wäre es meines Erachtens denkbar, mit insgesamt etwa 550.000 Plätzen zu planen, in der übernächsten Legislaturperiode werden wir dann sehen, wie nahe wir an die 100%ige Deckung herankommen. Angebot schafft Nachfrage – das lehrt die Erfahrung aus der Einführung von Rechtsansprüchen auf einen KiTa-Platz.

Birgit Schröder: So weit zu den Quantitäten. Aber wie sieht es mit der qualitativen Weiterentwicklung der OGS aus?

Norbert Reichel: Zurzeit hängt die Qualität der OGS-Plätze von den finanziellen Möglichkeiten der jeweiligen Kommune ab. Reiche Kommunen wie Düsseldorf oder Bonn finanzieren einen Platz mit etwa 3.000 EUR oder mehr, viele Kommunen können gerade einmal den Pflichtbetrag von etwas über 500 EUR erbringen. Dort liegt der Preis pro Platz inklusive Landesmittel dann bei etwa 1.800 EUR pro Platz. Rechnet man die höheren Fördersätze für Plätze mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit ein, ergibt sich ein Durchschnitt von etwa 2.000 EUR. Daher hat die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege im Jahr 2017 eine Kampagne ins Leben gerufen: „Gute OGS darf keine Glückssache sein“. Es gab im Jahr 2018 Verhandlungen zwischen Land und Wohlfahrtspflege, in denen eine auskömmliche Finanzierung errechnet wurde.

Birgit Schröder: Wirkte sich die Kampagne auf die Finanzierung der OGS aus?

Norbert Reichel: Jein. Es gab im Grunde vier Phasen einer verbesserten Finanzierung. 2006 sorgte die CDU für eine Verdoppelung der Lehrerstellenanteile für die OGS sowie des Pro-Kopf-Zuschusses des Landes für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. 2011 setzten SPD und Grüne durch, dass die in den Vorjahren aufgelaufenen Tarifsteigerungen erstmals ausgeglichen wurden, 2017 sorgten die Grünen dafür, dass jedes Jahr analog zur KiTa ein Aufwuchs von 3 % angesetzt wurde, um Tarifsteigerungen automatisch aufzufangen. CDU und FDP konnten sich nach 2017 über eine Erhöhung von etwa 12 % verständigen. Diese letzte Erhöhung wäre ohne die Kampagne nicht erfolgt, doch dabei blieb es dann. Die Qualität des Ganztags – das kann man nicht oft genug wiederholen – entscheidet über die Akzeptanz des Ganztags bei Kindern und Eltern. Da ist noch einiges zu tun.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) als Ausgangspunkt

Birgit Schröder: Der Rechtsanspruch wird auf Bundesebene über das SGB VIII, das Kinder- und Jugendhilfegesetz geregelt.

Norbert Reichel: Das war für die Seite des Bundes die einzige Möglichkeit. Es liegt in der Verantwortung der Länder, dies in Ausführungsgesetzen umzusetzen. In Nordrhein-Westfalen gibt es in § 4 Kinderbildungsgesetz bereits seit Einrichtung der ersten OGS’en eine Regelung, dass der Bedarf für eine Ganztagsbetreuung von Schulkindern auch „an Schulen“ erfüllt werden kann.

Nordrhein-Westfalen ist gut auf ein gemeinsames Handeln von Jugendhilfe und Schule vorbereitet. Auch in Zukunft wird das nordrhein-westfälische Trägermodell gelten. Wir müssen meines Erachtens die Einführung des Rechtsanspruchs jedoch zum Anlass nehmen, einige Ungleichgewichte zu regeln. Bisher ist de facto, nicht de iure, die Schulaufsicht für Genehmigung und Aufsicht zuständig, auf der Seite der Jugendhilfe fehlt das Gegenstück. Daher plädiere ich dafür, dass die zukünftigen OGS’en auch eine Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII erhalten. Damit bilden die Jugendämter ein Gegengewicht zur Schulaufsicht. Bei Konflikten müssen sich dann Jugendamt und Schulaufsicht miteinander auf Augenhöhe – wie das so heißt – verständigen. Das ist keine zusätzliche Bürokratie, wohl aber eine zusätzliche Unterstützung, wie sie übrigens einige Jugendämter bereits jetzt leisten. Abgesehen davon sind letztlich die Jugendämter dafür zuständig, dass der Rechtsanspruch durchgesetzt wird. Wenn Eltern auf einen Platz klagen, ist das Jugendamt in der Pflicht.

Räume und Bedarfsplanung – kommunale Mammutaufgaben

Hiltrud Wöhrmann: Was geschieht jetzt als Nächstes?

Norbert Reichel: Ich denke, dass der Bund den Ländern schon in den ersten Monaten des Jahres 2022 eine Verwaltungsvereinbarung vorlegen wird. Die Investitionsmittel werden gemäß § 5 Ganztagsfördergesetz nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt. Nordrhein-Westfalen erhält 421.518.400 EUR. Die Länder werden einen Eigenanteil von 30 % erbringen müssen, das wären in Nordrhein-Westfalen 126.455.520 EUR. Ich gehe davon aus, dass sich Land und Kommunen diese Summe teilen werden. Die Mittel müssen bis 30. Juni 2028 abgerechnet werden. Dies bedeutet, dass die Kommunen bereits jetzt mit den Planungen beginnen sollten. Und sie sollten – das wäre in vielen Kommunen eine wirkliche Innovation – die Schulen, die freien Träger der Jugendhilfe, die Eltern, die Kinder bei den Planungen von Anfang an beteiligen. Wir brauchen intelligente Raumkonzepte. Beim IZBB entstanden Gebäude, die vormittags leer standen, während die zugehörige Schule nachmittags leer stand.

Birgit Schröder: Als Serviceagentur haben wir uns mehrfach mit der Doppelnutzung von Räumen befasst. Wir haben eine Menge an guten Beispielen in Nordrhein-Westfalen, die jederzeit abgerufen werden können. Wir haben auch eine eigene Dokumentation zur Schularchitektur erstellt, weitere Dokumentationen gibt es von Seiten der Montag-Stiftungen in Bonn. Wird das Land Standards für Bau und Ausstattung regeln?

Norbert Reichel: Das ist unwahrscheinlich, aber wir brauchen weiche Formen der Qualitätsentwicklung. Der Raum ist – so Loris Malaguzzi, der Erfinder der Reggio-Pädagogik – der dritte Pädagoge. Wünschenswert wären integrierte Raumprogramme, die nicht nur den Ganztag, sondern auch andere Bedarfe einbeziehen, die Inklusion, Bewegungsräume, Ruheräume, Arbeitsräume für das Personal, Hygiene und Digitalisierung. Meines Erachtens wären alle Länder gut beraten, solche integrierten Programme aufzulegen. In Nordrhein-Westfalen könnte vielleicht das 2016 von der damaligen rot-grünen Regierung aufgelegte Programm „Gute Schule 2020“ als Vorbild dienen, aber es gibt sicherlich auch andere Möglichkeiten, als Land in die Infrastruktur zu investieren und die Kommunen nachhaltig zu unterstützen.

Die zweite Herausforderung ist die Bedarfsplanung. Land und Kommunen sollten sich darauf einstellen, dass der Bedarf flächendeckend nahe an 100 % heranreichen wird. Den Bedarf sollte niemand unterschätzen, gerade angesichts des Fachkräftebedarfs in der Wirtschaft und der erforderlichen Vorsorge für eine auskömmliche Rente. Ich glaube auch nicht, dass acht Stunden pro Tag – diese sieht das Gesetz vor – ausreichen werden. Meines Erachtens sind neun, oft sogar zehn Stunden erforderlich. Das entspricht auch Berechnungen der Wohlfahrtsverbände. All dies auch in den Ferien, die laut Gesetz abzudecken sind. Länder und Kommunen sollten vorsorgen, dass auch Bedarfe, die über den Rechtsanspruch hinausgehen, erfüllt werden können. Das gilt ebenso für Bedarfe unterhalb der täglichen acht Stunden. Auf die Raumbedarfe hat das keinen Einfluss, wohl aber auf die Personalkalkulation.

Die Personalkalkulation – 4.000 EUR pro Platz

Hiltrud Wöhrmann: Wie viel Personal bräuchten wir?

Norbert Reichel: Das ist die dritte Herausforderung: das Personal. Wir brauchen einen verlässlichen Personalschlüssel. Und das SGB VIII hat in § 72 ein Fachkräftegebot! In Gesprächen mit der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege habe ich im Jahr 2018 ein Modell verhandelt, das nicht umgesetzt wurde, aber eine gute Grundlage für eine auskömmliche und qualitativ ansprechende Finanzierung der OGS wäre. Pro Gruppe von 25 Kindern bräuchten wir eine Lehrkraft, die sich täglich jeweils eine Stunde an den Angeboten beteiligen kann, eine sozialpädagogische Fachkraft, die etwa 27 bis 30 Stunden tätig sein wird, sowie eine begleitende weitere Kraft. Das könnte auch Binnendifferenzierung erleichtern, beispielsweise für kulturelle oder sportliche Angebote. Einzurechnen sind Zeiten für Vor- und Nachbereitung, Leitung und Kooperation. Hinzu kommen Mittel für Küchen- und Reinigungskräfte sowie den Overhead.

Das ergäbe nach meinen Berechnungen etwa 90.000 EUR pro 25er-Gruppe, d.h. rund 3.600 EUR pro Platz. Berechnungen der GEW und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts liegen etwas höher. Hinzuzurechnen wäre ein Inklusionszuschlag für etwa 15 % der Kinder. Dieser Bedarf ließe sich gegebenenfalls über eine pauschale Gesamtfinanzierung pro Platz in Höhe von 4.000 EUR regeln. Wohlgemerkt: alles auf dem Stand der Jahre 2018 und 2019. Angesichts zu erwartender Tarifsteigerungen ist eine Berechnung von 100.000 EUR pro 25er-Gruppe realistisch. Die jährliche 3%ige Steigerung ist dann jeweils jährlich hinzurechnen. Zurzeit liegt die Summe für eine 25er-Gruppe bei etwa 50.000 EUR. Für Kreise und Landschaftsverbände, die ausschließlich Träger von Förderschulen sind, wäre allerdings eine deutlich höhere Finanzierung pro Platz erforderlich.

Die Länder haben gegenüber dem Bund durchgesetzt, dass sich der Bund auch an den laufenden Betriebskosten beteiligen wird. Hierfür stellt der Bund im Endausbau, im Jahr 2030, insgesamt 1,3 Mrd. EUR zur Verfügung. Diese Summe ist nicht im Ganztagsfördergesetz vermerkt, soll aber ab 2026 aufwachsend bereitgestellt werden. Rechtsgrundlage ist eine Änderung im Finanzausgleichsgesetz. Bei Anwendung des Königsteiner Schlüssels ergäben sich für Nordrhein-Westfalen rund 274 Mio. EUR pro Jahr. Das wäre umgerechnet auf angenommene 600.000 Plätze ein Betrag von rund 450 EUR pro Platz.

Bei der Finanzierung des Personals muss bereits kurzfristig berücksichtigt werden, dass die nach derzeitigem Ermessen neue Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP einen Mindestlohn in Höhe von 12 EUR festschreiben dürfte. Das betrifft viele Kräfte im Ganztag, die zurzeit noch untertariflich bezahlt werden. Wir können daher nicht bis 2026 warten, die Träger brauchen jetzt Planungssicherheit. Wenn es nicht gelingt, eine solche Finanzierung zu realisieren, wird die OGS für Fachkräfte uninteressant. Qualität bleibt dann – ich erinnere an die Kampagne der Freien Wohlfahrtspflege – „Glückssache“. Der Fachkräftemarkt ist ohnehin so gut wie leer. Eine OGS ohne Fachkräfte wäre jedoch fatal. Wer Qualität will, sollte die Mittel für das Personal zeitnah verdoppeln. Dazu gehören auch attraktive Arbeitsplätze, sonst droht eine Kündigungswelle wie wir sie zurzeit beispielsweise im Pflegebereich erleben.

Hiltrud Wöhrmann: Wie schätzt du die Zukunft der Elternbeiträge ein?

Norbert Reichel: Ich gehe davon aus, dass in der nächsten Legislaturperiode – wie bereits in anderen Ländern Fakt – die Elternbeiträge für die KiTa der Vergangenheit angehören werden. Elternbeiträge in der OGS sind dann nicht mehr begründbar. Das hat zur Folge, dass das Land in Zukunft auch auf kommunale Beiträge für das Personal verzichten muss. Die Bereitstellung von Räumen und Ausstattung, die erforderlichen Sanierungsarbeiten, all das belastet Kommunen ohnehin schon genug.

Plädoyer für ein Ganztagsbildungsgesetz – eine konkrete Utopie

Birgit Schröder: Bisher haben wir für die OGS nur Erlasse.

Norbert Reichel: Das Land ist gehalten, ein Ausführungsgesetz zu schaffen. Denkbar ist ein eigenes Gesetz, denkbar wären aber auch Ergänzungen von Schulgesetz und KiBiz. Bereits jetzt haben wir in § 4 Kibiz und in § 9 Schulgesetz einige Hinweise. Ich plädiere für ein eigenes Ganztagsbildungsgesetz mit Querbezügen zu Schulgesetz und Kibiz, ggf. als Artikelgesetz.

Das Land sollte möglichst unverzüglich mit allen Beteiligten, den Kommunen, den Trägern der freien Wohlfahrtspflege, Elternverbänden, Verbänden der Beschäftigten, Partnerorganisationen wie Landessportbund, Verbänden des Kulturbereichs darüber sprechen, wie die zukünftigen Regelungen aussehen könnten. Eine gesetzliche Regelung könnte für das Jahr 2024 angestrebt werden, sodass für alle Beteiligten genug Zeit bleibt, sich auf die Umsetzung ab 2026 einzustellen.

Hilfreich wären auch Beratungsangebote. Die Serviceagentur Ganztägig lernen, die Landesjugendämter, die Bezirksregierungen – sie alle haben Strukturen, auch gemeinsame Arbeitsgruppen, über die dies gewährleistet werden kann. Eine wissenschaftliche Begleitung nach dem Modell der Bildungsberichterstattung Ganztag zwischen 2003 und 2018 wäre sicherlich ebenfalls hilfreich, zumindest für die Jahre 2026 bis 2030.

Hiltrud Wöhrmann: Zum Abschluss sollten wir noch einmal die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule ansprechen. Das ist der Kern einer gelingenden OGS, ihre „zentrale Grundlage“, wie es von Anfang an schon in den Erlassen zu lesen war.

Norbert Reichel: Auf Augenhöhe und mit aufrechtem Gang. Ich erwarte von der Einführung einer Betriebserlaubnis einen Schub, der auch den Jugendämtern mehr Möglichkeiten gibt, die OGS mitzugestalten. Das ließe sich im Einklang mit der Umsetzung der SGB-VIII-Reform, die Beteiligungs- und Beratungsansprüche von Kindern regelt und die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule bei den Hilfen zur Erziehung erweitert.

Ich wünsche mir Ganztagsbildung unter dem Dach der Schule mit einer selbstbewussten Jugendhilfe als Trägerin der außerunterrichtlichen Angebote, mit Inklusionsassistenz und weiteren Jugendhilfeleistungen aus einer Hand, möglichst als Familiengrundschulzentren mit zwischen allen Beteiligten abgesprochenen Schutzkonzepten nach dem Vorbild Früher Hilfen, auf kommunaler Ebene organisiert bei weitestgehender Autonomie der Akteur*innen in der jeweiligen OGS. Dazu gehören dann auch weitgehende Mitwirkungsrechte des Personals der Jugendhilfeträger in den schulischen Gremien (§§ 64ff. Schulgesetz NRW), gemeinsame Angebote im Ganztag von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften der Jugendhilfe im Tandem, eine enge Verknüpfung von Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII und Schulleitungskonferenzen in den Kommunen.

Birgit Schröder: Sind das Visionen oder eine konkrete Utopie?

Norbert Reichel: Vielleicht von beidem etwas, aber wenn wir genau hinschauen, finden wir schon viele hervorragende Modelle, die wir lediglich in die Fläche bringen müssten – wie das Beamt*innen und Politiker*innen so nennen. Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule ist die zentrale Grundlage. So steht es im Erlass und so sollte es dann auch im Gesetz stehen. Wir alle können dafür sorgen, dass dies dann auch überall gelebt wird, auf der Planungs- wie auf der Arbeitsebene.

Allerdings sollte das Land diese nach wie vor beispielhafte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule auch aktiv unterstützen. In der ersten Dekade der OGS gab es ein hochrangig besetztes Gremium, in dem Land, Kommunen, freie Träger der Jugendhilfe, Landesjugendämter, Serviceagentur Ganztägig lernen sich eng miteinander abstimmten. Es entstanden Rahmenvereinbarungen mit zentralen Partnerorganisationen der OGS. Diese formalisierte Zusammenarbeit wurde in den letzten Jahren vernachlässigt. Es wäre kein Aufwand und meines Erachtens dringend geboten, ein solches Gremium wiederzubeleben und die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule auf Arbeits- und Planungsebene gleichermaßen voranzubringen, allerdings mit einem zusätzlichen Element: Beteiligung der Kinder und ihrer Eltern von Anfang an. Denn wie gesagt: Ganztagsbildung ist Kinderrecht!

(Anmerkung: alle Internetzugriffe zwischen dem 22. und 29. Oktober 2021)

Teil II: Vier Blitzlichter

Im zweiten Teil der Veranstaltung gab es vier kurze Blitzlichter zu Themen, die für die qualitative Weiterentwicklung der OGS von hoher Bedeutung sind. Es geht um die fachlichen Inhalte, die OGS als Familiengrundschulzentrum, die Notwendigkeit von Schutzkonzepten sowie die Kooperation von Jugendhilfe und Schule am konkreten Beispiel einer Kommune. Die folgenden vier Texte werden von den jeweiligen Autor*innen verantwortet.

Blitzlicht 1: Gemeinsam aufwachsen – gemeinsam lernen in der OGS

Die OGS Gottfried Kinkel in Bonn Oberkassel versteht sich als inklusive ganztägige Bildungseinrichtung. Der Ganztag bildet eine Einheit, die gemeinsam von Schulleitung und Lehrkräften sowie vom Kinderwerk Baronsky und seinen pädagogischen Mitarbeiter*innen gestaltet wird. Fast alle Schüler*innen nehmen regelmäßig an den Ganztagsangeboten teil. Die Schule orientiert sich an den Kinderrechten. Sie ist eine der etwa 100 nordrhein-westfälischen Grundschulen im Kinderrechteprogramm von Education Y, das seit etwa zehn Jahren vom Land gefördert wird.

Gelingensbedingungen für die Ganztagsbildung sind das gemeinsame Bildungsverständnis, das beziehungsreiche Lernen und die multiprofessionelle Teamarbeit. Inhaltliche Orientierung bieten die Bildungsgrundsätze von 0 bis 10, die das Land Nordrhein-Westfalen für Kindertageseinrichtungen und Primarschulen hat erarbeiten lassen und die sich in den Lehrplänen des Landes, in den schulinternen Lehrplänen sowie im schuleigenen OGS-Bildungsprogramm wiederfinden. Sie enthalten zehn Bildungsbereiche: Bewegung; Körper, Gesundheit und Ernährung; Sprache und Kommunikation; Soziale und (inter-)kulturelle Bildung; Musisch-ästhetische Bildung; Religion und Ethik; Mathematische Bildung; Naturwissenschaftlich-technische Bildung; Ökologische Bildung; Medien. Zusammenfassen ließen sich diese Bildungsbereiche vielleicht mit den Zielen der Demokratie, der inklusiven Gestaltung, der nachhaltigen Bildung im Geiste von Chancengerechtigkeit und der Stärkung der Persönlichkeiten der Kinder.

All diese inhaltlichen Bereiche bilden die gesellschaftliche Wirklichkeit ab, die das Leben der Kinder, in der Familie, in der Schule, im Kreis ihrer Freund*innen, im Sportverein oder in der Musikschule oder wo auch immer stets in irgendeiner Form betreffen oder begleiten. Entscheidend ist jedoch für den Erfolg einer OGS, dass die Kinder ihre Themen selbst bestimmen beziehungsweise dort wo es Vorgaben der Lehrpläne gibt die Ausgestaltung mitbestimmen können. Dies ist bei der OGS Gottfried Kinkel eines der wichtigsten Ziele: das Kind steht im Mittelpunkt. Kinderparlament und Klassenräte sorgen für eine wirkliche ganztägige Partizipation. Es gab dort bereits eine Fülle von Entscheidungen mit unmittelbarer Auswirkung, z.B. die süßigkeitenfreie Schule, die Ausgestaltung der Projektwoche, die Gestaltung des Außengeländes, Projekte, Ausflüge, Einsatz des Finanzbudgets.)

Die OGS Gottfried Kinkel zeichnet sich durch Multiprofessionalität aus. Dabei gilt Gleichrangigkeit aller Beschäftigten, sodass die oft zitierte „Augenhöhe“ gewährleistet ist. In der OGS arbeiten Lehrkräften, Sonderpädagog*innen, Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Integrationsassistent*innen, diverse Ergänzungskräfte, auch aus dem Bundesfreiwilligendienst. Ebenso beteiligen sich der Hausmeister, die Schulsekretärin und nicht zuletzt die Eltern und Mitglieder der verschiedenen Vereine im Stadtteil. Das Motto ließe sich mit „Schulpädagogik meets Sozialpädagogik“ beschreiben, Ganztagsbildung ist eine Querschnittsaufgabe, die nur gelingen kann, wenn alle Beteiligten eine inklusive Haltung verfolgen.

Die gemeinsame abgestimmte Bildungsarbeit, Bildungspartnerschaften zwischen OGS, Eltern und Kindern ermöglichen präventives, inklusives und ganztägiges Lernen, ein gemeinsames Aufwachsen der Kinder, sodass sich letztlich perspektivisch auch Sozialkosten reduzieren. Das Konzept hilft Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften, Leitungskräften und allen weiteren Beteiligten, sich vorhandene Stärken, Entwicklungspotenziale, aber auch Entwicklungsbedarfe in der OGS bewusst zu machen. Mit dem von der Serviceagentur Ganztägig lernen entwickelten Instrument „QUIGS 2.0“ verfügen alle über einen Rahmen für die gemeinsame Umsetzung und für die Überprüfung der vereinbarten Arbeitsziele. „QUIGS 2.0“ wird zurzeit zu „QUIGS 3.0“ weiterentwickelt und wird als digitales Instrument noch flexibler als es schon ist.

Eine Besonderheit der OGS Gottfried Kinkel ist der Frei Day, der wöchentliche und fächerübergreifende Projekttag. Dieser orientiert sich an den von den Vereinten Nationen beschlossenen Sustainable Development Goals (SDG). Die Arbeit der OGS lässt sich somit auch unter dem Label einer Bildung für nachhaltige Entwicklung zusammenfassen. Die KMK hat gemeinsam mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den Orientierungsrahmen Globale Entwicklung erstellen lassen, der in regelmäßigen Abständen weiterentwickelt wird.

Ein wichtiger Faktor ist die Raumgestaltung. Es gibt Räume, Flächen, Nischen, in und auf denen formelles, informelles und non-formelles Lernen stattfinden kann. Flure werden als Erschließungsflächen genutzt, Transparenz und Offenheit prägen den Charakter der Innenräume und Außenflächen, sodass es in der Schule immer Orte gibt, an denen sich Kinder treffen, aber auch zurückziehen können, Orte, die sie selbst entdecken und gestalten. Das Pronomen „mein“ entfällt. Es gibt nicht mehr „meine Klasse“, „mein Gruppenraum“. Alle Räume sind gemeinsame Räume, Ganztagsräume.

Die OGS Gottfried Kinkel hat die COVID-19-Pandemie als Chance verstanden. Lehrpläne wurden entschlackt, neue Zeugnisformate entwickelt, digitale und analoge Bildung miteinander verbunden, alles im Rahmen der landesweiten Vorgaben, aber mit viel Fantasie und Kreativität, denn letztlich kommt es darauf an, dass die Kinder von dem, was in der OGS geschieht, profitieren. In einem Film der Regisseurin Selma Brand wurde dies dokumentiert. Manches, was während der Pandemie entwickelt wurde, lässt sich auch nach der Pandemie nutzen.

Letztlich gelten folgende Fragen: Wie können wir Lernen neu denken? Was können wir von anderen lernen? Was, wie und wo lernen Erwachsene? Was, wie und wo lernen Kinder? Und was und wie sollten Erwachsene und Kinder lernen, voneinander und miteinander?

Christian Eberhard, Schulleiter der OGS Gottfried Kinkel Bonn, Ganztagsberater bei der Bezirksregierung Köln

Blitzlicht 2: Auf dem Weg zum Familiengrundschulzentrum

Mit dem Projekt „Familiengrundschulzentren im Rahmen der Ruhr-Konferenz“ fördert das Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW die Weiterentwicklung von Offenen Ganztagsschulen zu Familiengrundschulzentren. Bis 2023 werden in zwölf Ruhrgebiets-Städten 40 neue Familiengrundschulzentren aufgebaut. Ziel ist es, die Bildungsinfrastruktur in den Stadtteilen so weiterzuentwickeln, dass die Teilhabe- und Bildungschancen von Kindern und Familien in herausfordernden Lagen gestärkt werden. Die Arbeit der Familiengrundschulzentren knüpft ausdrücklich auch an das Wirken der Familienzentren in den Kindertagesstätten an. Kooperationspartner sind auch die Familiengrundschulzentren, die Teil der Initiative der Wübben-Stiftung sind oder im Projekt „Kinderstark NRW“ entstanden sind beziehungsweise entstehen.

Das Institut für soziale Arbeit (ISA) ist im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit der Wübben-Stiftung und der Auridis-Stiftung Träger der „Koordinierungsstelle Familiengrundschulzentren“. Den Rahmen bildet die Ruhr-Konferenz. Die Koordinierungsstelle ist angegliedert an die Serviceagentur Ganztägig lernen beim ISA e.V.

Als Familiengrundschulzentren entwickeln sich Offene Ganztagsgrundschulen zu sozialräumlichen Knotenpunkten weiter, an denen kommunale Angebote für Kinder und deren Familien gebündelt werden. Durch ein abgestimmtes Zusammenwirken von Schule, Jugendhilfe und sozialen Diensten sollen zukünftig mehr Familien an den Angeboten teilhaben. Ziel ist es, das Recht der Kinder auf Bildung zu stärken, indem niedrigschwellige Beratungsangebote und eine hochwertige Bildungsinfrastruktur im Quartier mehr Zugangsgerechtigkeit sicherstellen.

Der Auftrag der Familiengrundschulzentren ist abgeleitet aus dem Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule und Jugendhilfe (§§ 1, 2 Schulgesetz NRW bzw. §§ 1, 2, 13 SGB VIII) sowie dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Bildung und Teilhabe: § 28 SGB II, §§ 34f, 34a und 34b SGB XII, § 6b BKGG, § 3 Absatz 3 AsylbLG). Er baut zudem auf den Zielen der Offenen Ganztagsschule (OGS) auf und entwickelt spezifische Merkmale im Bereich der Sozialraumorientierung und der Bildungspartnerschaft an den Offenen Ganztagsgrundschulen weiter (vgl. Nr. 2.1. und Nr. 3 des RdErl. vom 23.12.2010).

Familiengrundschulzentren zeichnen sich durch fünf Merkmale aus:

  • Familien im Mittelpunkt
  • Bedarfs – und Wirkungsorientierung
  • Niedrigschwelligkeit und Teilhabe
  • Schulentwicklung
  • Netzwerk im Sozialraum – Kooperation – Kommunale Koordinierung

Aus diesen Merkmalen resultieren vielfältige Aufgaben: niedrigschwellige Angebote wie z.B. informelle Gespräche zur Übergangsgestaltung bis zu Informations-, Beratungs- und Unterstützungsangebote bei Bildungs- und Erziehungsprozessen oder auch der Brückenbau zwischen Schule, Jugendhilfe und sozialen Diensten.

Damit Familiengrundschulzentren ihre Kernaufgabe – eine systemübergreifende Verknüpfung kommunaler kind- und familienbezogener Angebotsstrukturen – effektiv wahrnehmen können, ist der Aufbau und die Entwicklung eines abgestimmten, kommunalen Konzeptes notwendig. Das Konzept setzt dabei an der bestehenden Verantwortungsgemeinschaft von Jugendhilfe und Schule an.

Der Gestaltung dieses multiprofessionellen Entwicklungsprozesses sowohl auf Schulebene als auch auf kommunaler Ebene kommt eine Schlüsselstellung zu. Um den Prozess zu koordinieren, werden kommunale Koordinierungsstellen mit bis zu einer Personalstelle eingerichtet, die die Steuerungsebenen aus kommunalen Verwaltungseinheiten mit Akteuren der Praxisebene und der Schulaufsicht verknüpfen. Die Öffnung der Schulen in den Stadtteil hinein und für Kooperationspartner wird über kommunale Steuergruppen begleitet. Gemeinsames Ziel ist es, Familien noch frühzeitiger zu erreichen und zu entlasten, Hilfen aus einer Hand anzubieten und Familien als Bildungspartner zu stärken.

Auf Ebene der Schulen werden alle Mitglieder der Schulgemeinde in den Schulentwicklungsprozess einbezogen. Für den Entwicklungsprozess stehen den Schulen zusätzliche Personalressourcen im Umfang von jeweils einer halben Stelle für die Leitung des FGZ sowie Sachkosten zur Verfügung. Die Schulleitung, die Leitung der OGS und die Leitung des Familiengrundschulzentrums gestalten auf der Praxisebene die Konzeptionierung, Steuerung, Programmatik und Angebotsstruktur des FGZ. Gemeinsames Ziel der Schulgemeinde ist es, chancengerechte Zugänge für alle Kinder mit ihren Familien unabhängig von Lebenslagen und sozialer Herkunft zu schaffen. Ein gutes Beispiel ist das Projekt in Gelsenkirchen.

Um einen qualitativ hochwertigen Ausbau zu unterstützen, tauschen sich die Projekt-Kommunen mit Familiengrundschulzentren projektbegleitend unter der Moderation der Koordinierungsstelle Familiengrundschulzentren im Ruhrgebiet beim ISA zu ihren Erfahrungen aus. Die Koordinierungsstelle bündelt die Ergebnisse aus dem Qualitätsdialog, die dann in die Arbeit der landesweiten Steuergruppe und die Weiterentwicklung des Ansatzes einfließen.

Katharina Fournier, wissenschaftliche Mitarbeiterin, ISA e.V.

Blitzlicht 3: Schutzkonzepte in der OGS

Mit der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 wurde die Kindheit als Lebensabschnitt bestimmt, in dem jeder Mensch ein Recht auf besonderen Schutz und Unterstützung hat (vgl. Deutsches Komitee für UNICEF e.v. 2019), und festgelegt, dass dieser Schutz ausdrücklich auch eine öffentliche Aufgabe ist. Das Kindeswohl hat Vorrang (Artikel 3, Absatz 1) und Kinder und Jugendliche haben konkret das Recht auf Schutz vor körperlicher oder seelischer Gewaltanwendung und insbesondere vor sexueller Gewalt und sexueller Ausbeutung.

Auch wenn die Kinderrechte bisher noch nicht im Grundgesetz verankert werden konnten, ist im SGB VIII zweifelsfrei festgelegt, dass das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen ist (§1 KJSG). Entsprechend eindeutig sind die Schutzaufträge von Jugendämtern, freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der dort tätigen Fachkräfte (§ 8a bzw. 8b SGB VIII) und von Schulen bzw. für Lehrer*innen und staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen (§ 4 KKG) über ein verbindliches Vorgehen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung geregelt.

Insbesondere an Lehrkräfte sind höhere Anforderungen zu stellen als an andere Beamt*innen oder Angestellte des öffentlichen Dienstes, da sie in ihrem Verhalten Vor- und Leitbilder sind. Für sie besteht die dienstliche Verpflichtung sowohl zum präventiven als auch zum interventiven Kinderschutz. Sie sind verpflichtet, jedem Hinweis auf etwaige, sexuelle Gewalt bei ihren Schüler*innen nachzugehen sowie das eigene Verhalten so auszurichten, dass es über jeden diesbezüglichen Zweifel erhaben ist (§ 34 BeamtStG). Ausdrücklich vorgeschrieben ist durch die Fürsorge- bzw. Beratungspflicht für Lehrpersonen sowie für alle anderen in Schule tätigen Personen, unabhängig von ihrer Anstellungsträgerschaft, dass sie in Verdachtsfällen jeder Gewalt innerhalb oder außerhalb der Schule der Bitte des betroffenen Kindes um Verschwiegenheit nicht nachkommen dürfen, sondern umgehend die Schulleitung darüber informieren müssen. Diese hat bei tatsächlichen Anhaltspunkten für sexuelle Gewalt wiederum die zuständige Schulaufsichtsbehörde unverzüglich zu benachrichtigen (vgl. Bezirksregierung Düsseldorf 2011, entsprechend auch § 29 ADO NRW).

Die Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen zeigt sich in den Fallzahlen von sexueller Gewalt bei Kindern. Diese erleidet in Deutschland etwa jedes siebte Kind. Betroffen sind Mädchen und Jungen, aber die Zahl der Mädchen überwiegt (UBSKM 2021). Grundsätzlich kann aber jedes Kind u. jede*r Jugendliche Opfer werden; etwas zwei Drittel in und ein Drittel außerhalb der Familie. Mögliche Täter*innen sind erwachsene Personen inner- und außerhalb der Schule sowie Mitschüler*innen; zwischen 10 und 20 % sind weiblich. Es gibt kein einheitliches Täterprofil, aber das wesentliche Tatmotiv ist der Wunsch, Macht auszuüben und das Gefühl von Überlegenheit zu erleben. Bei nur wenigen Täter*innen liegt eine krankhaft sexuelle Fixierung auf Kinder vor (Pädosexualität).

Da in jeder Klasse durchschnittlich drei bis vier Kinder von sexueller Gewalt betroffen sein können und für Lehr- und Fachkräfte in der Schule ein (keineswegs neuer) präventiver und interventiver Schutzauftrag zwingend vorgeschrieben ist, sind Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt für alle Schulen essentiell. Dieses soll möglichst gewährleisten, dass die Schule nicht zum Tatort wird und dass die Kinder vor sexueller Gewalt durch Erwachsene im schulischen Kontext oder durch Mitschüler*innen geschützt werden. Außerdem sollen die Mädchen und Jungen in ihrer Schule als Kompetenzort Hilfe finden, wenn sie im schulischen oder im privaten Umfeld sexuelle Gewalt erleben.

Erfreulicherweise stehen den Schulen inzwischen dafür Hilfen zur Verfügung. Für die Entwicklung eines Schutzkonzeptes können auch zahlreiche Materialien aus dem bundesweiten Projekt „Schule gegen sexuelle Gewalt“ genutzt werden. Schulleitungen und Kollegien sollen ermutigt und fachlich unterstützt werden, sich mit diesem komplexen und sehr emotionalen Thema professionell auseinanderzusetzen (vgl. Rörig, o.J.). Neben der übergroßen blauen Mappe liefert vor allem das dazugehörige Portal wertvolle Unterstützung bei der Schutzkonzeptentwicklung. Für jedes Bundesland finden sich hier vielfältige allgemeine und landesspezifische Informationen. Konkrete Hilfen bei der Konzeptentwicklung können außerdem schulpsychologischen Beratungsstellen, Fachberatungsstellen gegen sexuelle Gewalt, Kinderschutzfachkräfte (über das Jugendamt) sowie Beratungsstellen der Polizei für Sexualdelikte bzw. Kommissariate für Kriminalprävention/Opferschutz  leisten.

Ein standardisiertes Schutzkonzept gegen sexuelle Gewalt gibt es allerdings nicht. Jede Schule muss ihren eigenen Weg zu ihrem schulischen Schutzkonzept planen und gehen – unter Berücksichtigung der jeweiligen Bedingungen im Land und vor Ort. Mit der Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ sollen Schulleitungen und Kollegien ermutigt und fachlich unterstützt werden, sich mit dem komplexen und sehr emotionalen Thema sexueller Kindesmissbrauch professionell auseinanderzusetzen. Ziel ist es, dass Kinderschutz im Schulalltag selbstverständlich wird. Nur durch das Engagement jeder Schule kann es schrittweise zu einem Rückgang der unverändert hohen Fallzahlen kommen. Schulen können Kinder und Jugendliche wirkungsvoll schützen und ihnen helfen, unabhängig davon, ob sie sexuelle Gewalt in der Familie, in der Schule, in der Freizeit oder über das Internet erleiden.

Dirk Fiegenbaum-Scheffner, pädagogischer Mitarbeiter, Serviceagentur Ganztägig lernen NRW im Institut für soziale Arbeit e.V.

Blitzlicht 4: Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe in Kamen

In der Stadt Kamen (Kreis Unna) wird die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule auf vielen Ebenen praktiziert. Ein besonderer Fokus liegt auf der Gestaltung der offenen Ganztagsschule (OGS) im Primarbereich. Dies betrifft drei Aspekte: die zugrunde liegende Haltung, die niedrigschwelligen Verwaltungsstrukturen, die konkreten Projekte.

Die Haltung: Vom Kind aus denken – Gemeinsam stark!

Die rechtskreisübergreifende Kooperation von Jugendhilfe und Schule ist in der Stadt Kamen eine Frage der Haltung und Teil der kommunalen Gesamtstrategie. Ziel ist es, zu einem gelingenden Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen in Kamen beizutragen. Daran orientiert sich das alltägliche Handeln der vielfältigen Akteure vor Ort an mehreren Leitzielen und Haltungen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Motto „Vom Kind aus denken!“ Dies geht einher mit dem Anspruch, Zuständigkeitsdenken und Systemgrenzen zu überwinden, um Synergien und Potenziale gemeinsam zu nutzen und schließlich Strukturen und Angebote bedarfsgerecht weiterzuentwickeln. Die Interessen und Bedarfe von Kindern, Jugendlichen und Familien stehen in Kamen im Zentrum der gemeinsamen Arbeit der beteiligten Professionen und Ämter.

Ihre konzeptionelle Verankerung hat die kommunale Gesamtstrategie im kommunalen Präventionskonzept „Gemeinsam stark!“. Die dort verankerten Grundgedanken bilden nicht nur den Rahmen der Präventionsarbeit, sondern werden in viele weitere Arbeitsfelder übertragen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die einzelnen Akteure nur gemeinsam stark genug sind, aktuelle und künftige Herausforderungen zu meistern und die Qualität von Angeboten und Strukturen bedarfsgerecht, von Kindern, Jugendlichen und Familien aus gedacht, weiterzuentwickeln.

Die Verwaltungsstrukturen: flache Hierarchien – kurze Wege

Die beschriebene Haltung der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule spiegelt sich auch in den Verwaltungsstrukturen der Stadt Kamen. So können Prozesse und Veränderungen niedrigschwellig, schnell und flexibel begleitet werden. Die Arbeitsfelder Jugendhilfe und Schule sind mit ihren Untergruppen in einem gemeinsamen Dezernat und Fachbereich verortet. Strukturell verankerte Dienstbesprechungen und die räumliche Nähe der Verwaltungsbereiche fördern eine Kultur flacher Hierarchien und kurzer Wege, die bedarfsgerechtes und flexibles Agieren ermöglichen. Gestärkt wird die Kultur der Zusammenarbeit durch die durch Fordern und Fördern geprägte Haltung der Verwaltungsleitung. Das heißt z.B., dass die zuständige Dezernentin, seit Juli 2018 auch Bürgermeisterin, die verschiedenen Bereiche der Verwaltung aktiv auffordert, Themen gemeinsam zu bearbeiten und dies auch durch ihr Handeln unterstützt. So schafft sie Strukturen, die die Zusammenarbeit ermöglichen und verleiht der rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit über die Kommunalverwaltung hinaus auch in der Praxis durch eine hohe Präsenz Gewicht. Das Motto „Vom Kind aus denken!“ ist auch hier stets handlungsleitend.

Ein konkretes Projekt: OGS vom Kind aus gedacht

Ein Beispiel für die konkrete Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule ist die Umsetzung des kommunalen Qualitätsentwicklungsprozesses „OGS gemeinsam gestalten – vom Kind aus denken!“, welcher im Rahmen der „Qualifizierungsoffensive OGS“ über einen Zeitraum von drei Jahren durch das nordrhein-westfälische Kinder- und Jugendministerium (MKFFI) gefördert wird. Das Projekt verfolgt das Ziel, die Qualitätsentwicklung der OGS in Kamen auf eine gemeinsame, nachhaltige und verlässliche Basis zu stellen, um die pädagogische Arbeit im offenen Ganztag kontinuierlich zu verbessern und die Akteure der OGS für die Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen zu stärken. Zu benennen ist hier unter anderem die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule unter quantitativen wie qualitativen Gesichtspunkten Die Umsetzung erfolgt gemeinsam mit den beteiligten Akteuren vor Ort, dies sind u.a. Schulleitungen, OGS-Träger, OGS-Leitungen, Schulaufsicht, Berater*innen im Ganztag sowie Jugendamt und Schulverwaltung.

Die Stadt Kamen setzt dieses Projekt aus Überzeugung um. Als Kommune in der Haushaltssicherung sind die finanziellen Möglichkeiten sicher begrenzt. Dennoch arbeiten alle gemeinsam an dem Ziel, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um einen weiteren Beitrag zu einem gelingenden Aufwachsen von Kindern in Kamen zu leisten.

Nicole Börner, Stadt Kamen, Jugendhilfeplanung und Prävention

Teil III: Die Chance, die wir nutzen sollten – eine Diskussionsrunde

Im dritten Abschnitt der Veranstaltung „Ganztagsbildung ist Kinderrecht – Perspektiven des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz“ fand eine von Norbert Reichel moderierte Diskussionsrunde zwischen Marion Gebauer (Der Paritätische NRW), Sabine Stahl (BR Arnsberg) und Lorenz Bahr (Leiter des Landesjugendamts Rheinland) statt.

Norbert Reichel: Gute OGS darf keine Glückssache sein? Das hat ganz viel damit zu tun, wie man die Qualität der Fachkräfte gewährleisten kann. Wie wird das zurzeit im Paritätischen oder auch in anderen Wohlfahrtsverbänden diskutiert?

Marion Gebauer: Mit Blick auf die Qualität können wir natürlich nur sagen, dass viele unserer Forderungen, die wir damals in der Kampagne „Gute OGS darf keine Glückssache sein“ gestellt haben, noch nicht erfüllt wurden. Es ist noch nicht der Punkt erreicht, an dem die erforderlichen Voraussetzungen für gute Qualität im Ganztag vorliegen. Es gibt immer noch viele offene Fragen in Bezug auf das Personal, die Attraktivität der Arbeitsplätze, die Qualifizierung des Personals und bei steigenden Kinderzahlen das Thema Räume. Die Kinderzahlen steigen bereits jetzt, fünf Jahre vor der Umsetzung des Rechtsanspruchs. Hinzu kommt die sehr heterogene Finanzierungslage der Kommunen. Wir haben einfach keine vergleichbare Qualität in NRW. Mit Blick auf den Rechtsanspruch sollte dies angegangen und geändert werden.

Norbert Reichel: Was wären bei einem Ausführungsgesetz für die Wohlfahrtsverbände die wichtigsten Eckpunkte?

Marion Gebauer: Zum einen muss der quantitative Ausbau in den Blick genommen werden. Das wird bei vielen Kommunen jetzt als erstes angegangen, aber parallel dazu darf die Qualität nicht außerachtgelassen werden. Wir erhoffen eine Qualitätsdebatte für den offenen Ganztag. Mit der Verständigung auf den Rechtsanspruch ist derzeit schon bemerkbar, dass der Ganztag deutlich mehr Aufmerksamkeit gewonnen hat und dass auch in anderen Bereichen der offene Ganztag eine wichtige Rolle spielt.

Zum Ausführungsgesetz: es ist zunächst erst einmal gut, dass wir nach so vielen Jahren der Projektförderung überhaupt in eine gesetzliche Finanzierung kommen. Wir müssen darauf achten, was in diesem Ausführungsgesetz drinsteht. Die folgenden zentralen Punkte werden seit Jahren gefordert, nicht nur von den Wohlfahrtsverbänden: Regelungen zur Qualifikation des Personals (Fachkräftegebot), Festlegung von Gruppengrößen. Derzeit hängt dies oft von den Standorten ab, sogar innerhalb der Kommunen gibt es Unterschiede. Raumnutzungskonzepte und Raumstandards sind ebenso notwendig, denn es kommen immer mehr Kinder in den Ganztag, die Räume werden jedoch dementsprechend nicht parallel ausgebaut. Es sind integrierte Raumnutzungskonzepte nötig. Dabei geht es nicht nur um die Umverteilung, dass Klassenräume zu Gruppenräumen werden und die Kinder sich dann ganztägig im Klassenraum aufhalten.

Es ist spannend, das Thema der Familiengrundschulzentren zu denken, auch weiterzudenken, beziehungsweise auch dann, wenn eine OGS nicht zum Familiengrundschulzentrum wird, den Sozialraum miteinzubeziehen. Die Jugendhilfeträger sind in diesem Bereich von Bedeutung. Sie kennen die Gegebenheiten vor Ort (Jugendzentren, Sportvereine etc. in der Nähe).

Die Kooperation zwischen der Jugendhilfe und Schule muss in einem Ausführungsgesetz verankert werden. Kooperation kann zwar nicht verordnet werden, dass muss vor Ort gelebt werden, aber die gesetzliche Regelung schafft die Grundlage. Wichtig ist, dass im Sinne der Kinder ein gemeinsames Bildungsverständnis und Handlungskonzept von Jugendhilfe und Schule aufgestellt werden kann.

Norbert Reichel: Was wären für Sie aus schulischer Sicht die wichtigen Eckpunkte, die in ein Ausführungsgesetz reingehören?

Sabine Stahl: Aus schulischer Perspektive wäre es wichtig, möglichst verbindlich zu vereinbaren, dass es um einen Schulentwicklungsprozess geht. Es geht nicht nur um eine Organisationsfrage oder um strukturelle Fragen, sondern vor allem um die inhaltliche Frage, wie sich eine Schule aus der Perspektive der Gestaltung zu einer offenen Ganztagsschule weiterentwickeln kann.

Wichtig für das Ausführungsgesetz ist es, dass die Inhalte, die bereits im Erlass enthalten sind, beispielsweise zur Rolle von Schulprogrammarbeit, zur Rolle der Schulkonferenz in einer offenen Ganztagsschule, gesetzlich verankert werden. Es geht darum, wie sich Schulprogrammarbeit aus einer gemeinsamen Perspektive von Schule und Jugendhilfe gestalten lässt, es geht um eine gemeinsame Verständigung. Was ist aus der Perspektive dieser Multiprofessionalität „gute kindgerechte Bildung“.

Norbert Reichel: Wie sehen Sie die Perspektive für gemeinsame Fortbildungen? Wie wird es in der Ausbildung möglich, dass eine Begegnung von Jugendhilfe und Schule schon so früh wie möglich stattfindet?

Sabine Stahl: Es wird häufig gesagt, gemeinsame Fortbildungen im offenen Ganztag stießen an die Grenzen der Arbeitszeiten der verschiedenen Mitarbeitenden. Ich denke, das lässt sich jedoch planen, aber eine solche Planung ist schon wichtig. Darüber hinaus bietet die gemeinsame Fortbildung der am Ganztag beteiligten Professionen sehr große Chancen. So stellt sich die Frage, wie ernst es genommen wird, dass zwei Professionen, Lehrkräfte und pädagogische beziehungsweise sozialpädagogische Fachkräfte, zwei Zuständigkeiten, zwei Chancen für umfassende Bildungsprozesse von Kindern zusammengeführt werden. Mit Sport oder Kultur kommen gegebenenfalls noch weitere Partner und Chancen hinzu. In der staatlichen Lehrkräftefortbildung wird dies noch nicht ausreichend mitgedacht. Für die Schulprogrammarbeit heißt das, dass sich eine OGS als eine Schule versteht, die von Lehrkräften und Fachkräften der Jugendhilfe gemeinsam gestaltet wird. Dann muss auch die Programmatik von Anfang an gemeinsam gestaltet werden.

Norbert Reichel: Ein wichtiger Punkt zur Stärkung der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule ist die Vertretung der Kolleg*innen Jugendhilfe in den Gremien der Schule, in der Schulkonferenz, in der Lehrerkonferenz. Die Möglichkeit besteht ja bereits. Haben Sie Erfahrungen, wie Schulen damit umgehen?

Sabine Stahl: Die Erfahrungen sind gut. Es gibt viele Schulen, die es als selbstverständlich ansehen, dass sich in den Gremien verschiedene Professionen beteiligen. Sie haben sich zu Nutze gemacht, Entscheidungen aus verschiedenen Perspektiven heraus zu treffen. Doch dabei kommt es auch auf die Intensität an, in der diese Möglichkeit genutzt wird, und dies hängt auch mit der Wertschätzung der Zusammenarbeit zusammen. Die Strukturen sind da und werden auch genutzt, jedoch ist „Luft nach oben“ vorhanden. Wenn man sich die Zeit zur Zusammenarbeit nimmt, lohnt es sich.

Norbert Reichel: Welche Eckpunkte sind aus der Sicht des Landesjugendamtes unabdingbar, um ein gutes Ganztagbildungsgesetz zu schaffen?

Lorenz Bahr: Vom Kind aus zu denken ist das richtige Leitziel. Bei dem Beschluss für den Rechtsanspruch hatte dieses Leitziel überhaupt keine Relevanz. Da wurde nicht an die Kinder gedacht, sondern an die Eltern in ihrer Rolle als Berufstätige.

Es besteht vor allem in Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit, die Schule gemeinsam neu zu denken. Wir brauchen ein Ausführungsgesetz. Ohne ein Ausführungsgesetz wird es nicht mehr gehen, alleine über die Erlasslage ist die Umsetzung des Rechtsanspruchs nicht mehr möglich. Als Dezernent für Kinder, Jugend und Familie beim Landschaftsverband Rheinland sage ich, jetzt kommt die Jugendhilfe mit Macht in die Schule.

Ich begründe, warum die Jugendhilfe an Bedeutung so sehr gewinnt. Die Gewährleistungsverpflichtung für die Umsetzung des Rechtsanspruchs liegt bei den Jugendämtern. Es wird Klagen geben. Wenn Eltern keinen Platz für ihr Kind bekommen haben, richten sich diese Klagen gegen den Jugendhilfeträger, ausführend ist aber der Schulträger. Jugendhilfeträger und Schulträger sind in den kreisangehörigen Städten und Kreisen nicht immer identisch. Es werden im Ausführungsgesetz Verfahren und Zuständigkeiten geklärt werden müssen, sonst wird alles durcheinandergeraten.

Die Gewährleistungsverpflichtung des örtlich zuständigen Jugendamtes bezieht sich auch auf die Qualität (§79a SGB VIII) der Angebote. Der §79a SGB VIII ist geschärft worden, das heißt, die Jugendämter sind jetzt für die Qualität der Einrichtungen des offenen Ganztages zuständig. Außerdem sind die Einrichtungen des offenen Ganztages nach dem SGB VIII teilstationäre Einrichtungen, genauso wie die Kindertageseinrichtungen.

Das heißt, jetzt besteht die Chance, die OGS neu zu erfinden. Eines der wesentlichen Elemente ist die Frage des Kinderschutzes als Verpflichtung der Schulen und der Träger des offenen Ganztages, auch im Zusammenhang mit der Aufsicht. Die Betriebserlaubnis erteilende Behörde sind die Landesjugendämter. Es wird geprüft, ob bei stationären und teilstationären Einrichtungen die personellen, räumlichen, sächlichen, wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Kinderschutzkonzepte zum Einsatz kommen.

Das Wohl des Kindes in den Einrichtungen soll sichergestellt werden. Dazu gehören Dinge, die genannt wurden, wie der Personalschlüssel, die Festlegung von Qualifikationen derjenigen, die in der Einrichtung arbeiten. Die Formulierung im § 45 SGB VIII bedeutet, dass die Landesjugendämter zumindest über die Angebote aus der Jugendhilfe Aufsicht führen, wenn nicht eine andere Organisation vergleichbar Aufsicht führt. Heute führen die Bezirksregierungen im Rahmen der Schulen Aufsicht, aber wenn die Bezirksregierungen personell nicht ausgestattet und die entsprechenden Konzepte nicht vergleichbar gedacht werden, um diese Aufsicht führen zu können, wird es zwingend notwendig, dass intensiv über die Aufsicht zu diskutieren ist.

Allerdings werden wir zunächst einen massiven Ausbau erleben, qualitative Fragen fallen erfahrungsgemäß oft nach hinten. Die Verbindung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz mit der Verpflichtung zur Beschäftigung von Fachkräften (§ 72 SGB VIII) wird dazu führen, dass der Fachkräfteanspruch in gewisser Weise flexibilisiert wird, da ein Fachkräftemangel bereits jetzt vorhanden ist. Das wird große Probleme machen.

Norbert Reichel: Ist es wirklich zwingend, dass alle zunächst nur an den quantitativen Ausbau denken und dann im Jahr 2030 vielleicht merken, jetzt müsse auch an die Qualität gedacht werden? Bis 2026 ist ja noch etwas Zeit und der große Schub an zusätzlichen Plätzen, der 2026 beginnen wird – schrittweise bis 2030 –lässt sich doch vorbereiten. Es ist doch ein Unterschied zu 2003 festzustellen, es sind doch Chancen vorhanden? Schätzt ihr das genauso ein?

Marion Gebauer: Wir werden wieder die Vielfalt in NRW erleben, wie wir sie jetzt schon haben. Das beginnt mit der Bedarfsplanung, die in unterschiedlicher Weise und Intensität durchgeführt werden wird. Alle müssen jetzt darüber nachdenken, wie viele Plätze denn überhaupt geschaffen werden müssten. Da schon Kommunen vorhanden sind, die Plätze für 70-80% der Kinder haben, werden diese vielleicht etwas weicher fallen, da wird auch eher in die Qualitätsdebatte eingestiegen werden können. Aber die Kommunen, die gerade am unteren Rand sind oder vielleicht unter 40% liegen, dort wird der quantitative Ausbau massiv im Fokus stehen. Das heißt nicht, dass die Jugendhilfeträger und die Schule vor Ort nicht Qualität und eine Qualitätsdebatte einfordern müssen und die erforderlichen Diskussionen führen müssen. Doch die Diskussionen werden härter und stärker geführt werden müssen als bei den Kommunen, die schon ein gewisses Level im Ausbau erreicht haben.

Norbert Reichel: Wenn wir von Qualität reden, reden wir von den Fördersätzen, denn wenn die so blieben, wie sie zurzeit sind, wird es für die Kommunen schwierig.

Sabine Stahl: Was heißt Qualität? Von welchem Qualitätsverständnis gehen wir aus, wenn wir sagen, wir wollen Qualität entwickeln? Wir haben die Chance, dies zu tun, weil jetzt alle wissen, dass das Thema offener Ganztag durch den bevorstehenden Rechtsanspruch eine andere Bedeutung gewinnt. Wir haben die Chance, in Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe an dem Qualitätsbegriff weiterzuarbeiten. Qualität kostet Geld, wann stehen die Finanzmittel zur Verfügung, um das umzusetzen? Aus der quantitativen Untersuchung der TU Dortmund geht hervor, wie sich der quantitative Bedarf in Bezug auf einen Rechtsanspruch gestalten wird. Es wäre sehr wünschenswert, diese Untersuchung zu ergänzen. Welche qualitativen Erwartungen gibt es an den offenen Ganztag? Wenn wir diesen Diskussionsprozess jetzt führen, haben wir sicherlich eine Chance. Diese Überlegungen können jetzt schon beginnen.

Norbert Reichel: Im Chat bezog sich ein Kollege, Jugendhilfeplaner seit 25 Jahren, auf den Vortrag von Nicole Börner. Er wies darauf hin, was alles möglich ist, wenn die „Strukturen entsprechend eingerichtet sind.“ Es zeige sich aber auch, „Handeln in Kommunen hängt sehr stark von den Personen in Leitungsfunktionen ab. Vorgesetzte erstellen die Rahmen, die sich häufig als Wände erweisen und Arbeiten, wie für Kamen aufgezeigt, nicht ermöglichen.“

Lorenz Bahr: Es ist eine riesige Chance da, die genutzt werden sollte. Dabei will niemand, dass Kinder sich acht Stunden in Räumen aufhalten, die nicht geeignet sind – das haben wir in der Coronakrise mit dem vieldiskutierten Bewegungsmangel der Kinder und seinen Folgen zur Genüge erlebt. Kinder brauchen bewegende, anregende, offene Räume, Freiräume werden gewünscht und sind erforderlich. Es dürfen nicht weitere Modulbauten auf den gleichen Flächen geplant und gebaut werden. Die Chance, Schule neu zu denken, ist vorhanden und dies muss auch getan werden. Die Flächen sollten anders genutzt werden. In Großstädten werden teilweise Kitas gebaut, deren Raumkonzepte auf Grenzen stoßen, wenn die Flächen nicht vorhanden sind, aber wir finden immer sinnvolle, aus der Perspektive der Kinder gute Lösungen. Das gilt auch für die OGS‘en. Die natürlichen Grenzen müssen gesehen und erkannt und dagegen gearbeitet werden. Wenn wir in den Ausbau nur hineinstolpern und nur noch auf Ausbau setzen, wird uns das nicht gelingen, werden wir die Chance nicht nutzen. Das gilt auch in Bezug auf den Fachkräftebedarf. In den nächsten drei Jahren werden auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe Fachkräfte fehlen, dazu wird eine weitergehende Strategie auf Bundes- und Landesebene benötigt und auf der Ebene der Kommunen.

Norbert Reichel: Ich danke Ihnen für das Gespräch und denke, dass wir uns auch dem Thema der Aus- und Fortbildung der Lehr- und Fachkräfte ausführlicher widmen müssen. Hierzu ließe sich eine Folgeveranstaltung denken, in der wir über die Curricula in Hochschulen und Fachschulen, Ausbildungsseminaren und Fortbildungsveranstaltungen ebenso nachdenken müssen wie über die Kapazitäten und die von Lorenz Bahr angesprochene Frage der Chancen und der Grenzen einer Flexibilisierung des Fachkräftegebots angesichts des absehbaren Mangels.

In diesem Zusammenhang nehme ich gerne einen Hinweis aus dem Chat auf. Dort schrieb eine Kollegin: „Neben allen geforderten Standards und gesetzlichen Regelungen brauchen wir auch eine sprachliche Verständigung: Es gibt derzeit keine verständliche / einheitliche Berufsbezeichnung für die Mitarbeitenden in den außerunterrichtlichen Angeboten. Das Ministerium (z.B. in den Corona-Mails) spricht teilweise von nichtschulischem Personal oder Personal außerschulischer Träger (und vergisst sie mit schöner Regelmäßigkeit bei den üblichen Grüßen und Danksagungen zu Weihnachten oder Schuljahresende). Der Begriff OGS meint oft nicht den gesamten ganztägigen Schulbetrieb, sondern nur den Nachmittag, d.h. die Kinder gehen aus dem Unterricht in die OGS. Last not least: Es muss ein Ganztag gestaltet werden, in dem nicht die Kinder die einzigen ganztägig Anwesenden sind.“

Ich kann mich gut erinnern, dass ich gerade das Thema der Grüße und Danksagungen in meiner früheren Tätigkeit jedes Jahr bei diversen Anlässen ansprechen musste, weil die zuständigen Kolleg*innen der Öffentlichkeitsarbeit im Schulministerium die pädagogischen Fachkräfte mal wieder vergessen hatten. Die Serviceagentur Ganztägig lernen hat eine Fülle von Beispielen, wie aus einer OGS eine tatsächlich ganztägige Einrichtung aller Beteiligten wird. Das sollte unser Maßstab sein.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2021, alle Internetzugriffe der Blitzlichter und der abschließenden Diskussion zuletzt am 5. November 2021. Die Rechte der Bilder liegen bei der Serviceagentur Ganztägig lernen, die sie mir freundlicherweise für diesen Text zur Verfügung gestellt hat.)