Gefühlspolitik, faschistische Version

Analysen von Drehli Robnik und Siegfried Kracauer

„Mag die sozial wirksame Idee immerhin von Einzelpersönlichkeiten in die Welt hinausgeschleudert werden, ihren eigentlichen Leib bildet die Gruppe. Das Individuum zeugt und proklamiert wohl die Idee, aber die Gruppe trägt sie und sorgt für ihre Verwirklichung. Parteien setzen sich für die Erreichung bestimmter Ziele ein, Vereine schließen sich zu irgendwelchen Zwecken zusammen.“ (Siegfried Kracauer, Die Gruppe als Ideenträger, 1922, zitiert nach: Siegfried Kracauer, Das Ornament als Masse, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1963)

Welche Gruppe bilden Faschisten? Welche Gruppe bilden diejenigen, die andere als „Faschisten“ bezeichnen? Drehli Robnik hat sich in seinem Buch „Flexibler Faschismus“ (Bielefeld, transcript, 2024) mit diesen Fragen beschäftigt. Dieses Buch eröffnet die Chance, umfassender und tiefgehender darüber nachzudenken, was „Faschismus“ beziehungsweise „Faschismen“ für manche Menschen so attraktiv macht, dass sie darüber Freiheit und Demokratie aufzugeben bereit sind. Die Antwort ist komplex. Eine zentrale Aussage von „Flexibler Faschismus“ lautet, dass man den Begriff des „Faschismus“ im Plural verwenden und von „Faschismen“ sprechen müsse. Das mache den Begriff „fluid“. Eine Schlüsselrolle spielen die Menschen, die oft genug als „Mitte“ – Kracauer spricht von „Mittelschichten“ – bezeichnet werden, im Grunde aber nicht mehr und nicht weniger als einen allgemein verbreiteten Habitus in der Mehrheitsgesellschaft repräsentieren, der sich vorrangig für sich selbst interessiert und glaubt, die eigenen Interessen wären mit denen der Mehrheit wenn nicht gar des ganzen „Volkes“, der „Nation“ identisch, sich aber so gut wie gar nicht für die Perspektiven von Minderheiten interessiert.

Grundlage der Analysen Robniks sind die Schriften von Siegfried Kracauer (1889-1966). In sieben Kapiteln beschreibt Robnik Kracauers Bild von „Faschismus“, das sich auch auf unsere Zeit übertragen ließe. Er diagnostiziert allerdings in unserer Zeit eine „Inflation der Faschismus-Etikettierungen“, „Faschismus als ein Wort in Bewegung“. Beschworen wird in Politik und Medien immer wieder, dass sich Geschichte wiederholen könne, eine Sorge und Angst, die sich vor allem in der Formel des „Nie wieder“ fixiert. Robnik sieht wie vor 100 Jahren Kracauer einen „Faschisierungsprozess“ und verweist damit auf den Bewegungscharakter des Faschismus sowie der diversen faschistischen Gruppierungen, die sich selbst oft genug weniger als Partei denn als „Bewegung“ verstanden und verstehen, deren gemeinsames Ziel es bei allen Unterschieden im Detail jedoch war und ist, eine Gesellschaft ausschließlich nach ihrem Bilde zu gestalten. Eine Vorstufe mag heutzutage die von Viktor Orbán und seinen Anhängern propagierte „illiberale Demokratie“ sein, in weiteren Schritten werden jedoch Lebensweisen, Einstellungen und Vorstellungen einer liberalen und demokratischen Gesellschaft Schritt für Schritt aus dem Blickfeld der Politik, der Medien, der Gesellschaft entfernt. Das mag nicht unbedingt das Ziel all derer sein, die proto-faschistische und krypto-faschistische Bewegungen unterstützen, ihnen mag wahrscheinlich auch nicht klar sein, dass diese Bewegungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Auflösung der liberalen Demokratie betreiben.

Faschismus und Nihilismus

Drehli Robnik ist Historiker, Filmwissenschaftler und einiges mehr. Er bezieht seine Analyse der Studien Siegfried Kracauers immer wieder auf die Schriften verwandter Autor:innen wie beispielsweise Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Ignazio Silone oder – dies mag manche verwundern – Friedrich Nietzsche. Die besondere Perspektive Kracauers lässt sich vielleicht in einem Begriff zusammenfassen: Faschismus ist „fluid“. Gegenstand der Analyse Robniks sind Theoretiker, die sich selbst ausdrücklich als „faschistische“ Theoretiker verstanden, beispielsweise Carl Schmitt, Giovanni Gentile, José Antonio Primo de Rivera. Deren Schriften waren im Grunde Gebrauchsanweisungen für Machtstreben, Machtgewinn und Machterhalt faschistischer Parteien und ihrer „Führer“.

Ignazio Silone (1900-1978), dessen Beziehung mit Siegfried Kracauer Robnik ausführlich beschreibt, sprach davon, dass Faschisten der „Wille zur Macht“ treibe, ein Begriff, der auf Friedrich Nietzsche zurückgeht, den Nietzsche jedoch nie als Buchtitel verwandte. Dies geschah erst, als aufgrund des Turiner Zusammenbruchs Nietzsches seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche die Gelegenheit nutzte, Nietzsches Nachlass nach ihren Vorstellungen zu redigieren und zu verfälschen. In welchem Maße sie das tat, deckte erst Mitte der 1950er Jahre von Karl Schlechta Mitte der 1950er Jahre auf. Die Bewertung Nietzsches als Protofaschisten prägt leider heute noch viele Bücher, Essays, die sich mit Nietzsche beschäftigen. Prominent zu nennen ist in der faschistischen Nietzsche-Rezeption das 1931 erschienene Buch von Alfred Baeumler „Nietzsche, der Philosoph und Politiker“. Nach wie vor werden Bücher Nietzsches mit dem Titel „Der Wille zur Macht“ verlegt und geben mit diesem Titel weiterhin Anlass zu Fehlinterpretationen. Das, was Nietzsche als Analyse verstand, wurde in dieser Rezeption als politisches Programm missverstanden. Ein Beispiel für Nietzsches Analyse aus dem Nachlass der Achtzigerjahre mag dies belegen (zitiert nach der Schlechta-Ausgabe): „Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Verführung seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel. / Gesamteinsicht: die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“

Nietzsches Analyse politischer Prozesse spitzt die Frage der „Macht“ in dem Problem des fragilen Verhältnisses von „Leben“ und „Nichts“ zu. Beide Begriffe sind wenig konkret und erhalten ihre „Bedeutung“, ihren Sinn erst – wie Ludwig Wittgenstein formulieren würde – „im Gebrauch in der Sprache“ (in: Philosophische Untersuchungen § 43). Das „Leben“ verliert in einer auf Zerstörung zielenden Bewegung, wie sie der Faschismus, den Nietzsche noch nicht kennen konnte, mit seinem Todeskult vertrat, seinen Sinn, gibt geradezu jeden Sinn auf. Die Bewegung wird Selbstzweck. „Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über die Aufgangs-Instinkte geworden… Der Wille zu Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben.“ (diese Stelle folgt bei Schlechta wenige Zeilen nach der zuvor zitierten). Wie gesagt: eine Analyse, kein Programm, aber in der Zuspitzung und gerade wegen der fehlenden Präzision der Begriffe immer instrumentalisierbar. Letztlich könnte sich fast jede autoritäre oder totalitäre Ideologie auf Nietzsche berufen, ähnlich wie sich auch fast jede Politik auf Machiavelli berufen könnte. Übrig bleibt eine nihilistische Sicht auf Politik und Geschichte.

Nietzsche gibt keine Antwort auf die Frage, wie diese nihilistische Sicht überwunden werden könnte. Theodor W. Adorno sieht gerade in diesem Fehlen einer konstruktiven Perspektive die Gefahr. Er formuliert in „Negative Dialektik“: „Überwindungen, auch die des Nihilismus samt der Nietzscheschen, die es anders meinte und doch dem Faschismus Parolen lieferte, sind allemal schlimmer als das Überwundene.“ Nicht zuletzt, weil kaum jemand die Gefahr in diesen „Parolen“ erkennt. Anders gesagt: die Wirkungen eines Textes sind gefährlicher als der Text selbst. Durchaus in diesem Sinne überschreibt Robnik das vierte der sieben Kapitel seines Buches mit der Formel „Ideologie: Flexibler Faschismus als totalitärer Nihilismus“. Seine These: „Vielleicht sind Faschismus und gar nichts ja gar nicht so weit voneinander entfernt. Kracauer wird in seinen politischen Studien der 1930er und 1940er Jahre oft und oft betonen, dass Faschismus gewissermaßen das zur politischen Ideologie gewordene gar nichts ist.“ Hier sieht Robnik auch Verbindungen zwischen den Analysen Kracauers und Silones. Noch einmal Adorno in „Negative Dialektik“: „Die Totalität des Widerspruchs ist nichts als die Unwahrheit der totalen Identifikation, so wie sie in dieser sich manifestiert. Widerspruch ist Nichtidentität im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert.“ Dem vom Faschismus repräsentierten „gar nichts“ kann sich letztlich niemand entziehen. Das bedeutet nicht, dass Widerstand sinnlos wäre. Aber das ist eine andere Debatte.

Antipolitik – Postpolitik

Im siebten und letzten Kapitel nimmt Robnik den im vierten Kapitel vorbereiteten Gedanken wieder auf: „Heute: das Nichts nach dem Faschismus, Faschismus nach dem Nichts“. Faschismus ist die Antithese zur Politik. Ausgehend von Kracauers 1948 entstandener Analyse des 1946 veröffentlichten Films „Paisá“ von Roberto Rossellini sieht er in dessen Episoden die Darstellung „einer Welt, die antipolitisch geprägt ist, weil sie nicht nur den Faschismus, sondern sämtliche Formen und Versprechen einer die Gesellschaft bewegenden Politik bzw. deren Ideen hinter sich lassen will.“ Dies ist „postpolitisch“ und geradezu „politikfeindlich“. Robnik zitiert Kracauers Text „The Decent German“ aus dem Jahr 1949: „Politics for these people is nothing but a hateful intrusion into their emotional and cultural privacy”.

Der Bürger möchte eigentlich von Politik in Ruhe gelassen werden und ignoriert den politischen Charakter seines Drangs zur Entpolitisierung des Alltags, wie auch Franz Biberkopf, der Held von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) und der Verfilmung von Phil Jutzi (1931): „Der Kleinbürger, Kleinwarenhändler, Biberkopf, ein ‚decent peddler‘ analog zum decent German, sieht in seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Politik die Nazis im Berlin von 1931 nicht als Gefahr, sondern als Kundschaft.“ Das antidemokratische Potenzial, die antidemokratische Gefahr wird ignoriert oder geleugnet, erst recht nach 1945, als die Katastrophe, in die Nationalsozialismus und Faschismus Europa stürzten, eigentlich für alle sichtbar geworden sein sollte. Dies ignorierend können sich heutzutage selbst erklärte Faschisten, erklärte Nazis als Demokraten inszenieren, was sie heutzutage, in den 2020er Jahren auch tun. Sie gehen sogar so weit, dass sie Demokraten als Nazis und Faschisten diffamieren und sich, immer wieder auch Symbole und Zeichen der Shoah okkupierend, als Opfer darstellen wie beispielsweise während der Corona-Pandemie.

Das eigentlich Politische ist das A-Politische. So wird es präsentiert. Und das A-Politische ist in höchstem Maße politisch, so die Wirkung. Wir erleben mit dem Aufschwung faschistischer und krypto- und postfaschistischer Politiker:innen in den 2010er und 2020er Jahren im Grunde eine Politisierung der gesellschaftlischen Konflikte, die gleichzeitig eine Entpolitisierung ist. Beispiele dafür geben – so Robnik – nicht nur Giorgia Meloni und Herbert Kickl (die ich nicht auf eine Stufe stellen möchte), sondern auch Politiker wie Sebastian Kurz (ich erlaube mir Sahra Wagenknecht als eine weitere Wiedergängerin des von Sebastian Kurz verkörperten Typus von Politiker:innen zu nennen). Sie alle – auch Politikerinnen wie Giorgia Meloni und Marine Le Pen, die Thea Dorn als „Löwenmütter“, als „Mütter der Nation“, beschrieb – propagieren ein Bild fürsorglich-radikaler Männlichkeit: „Die Selbstbehauptung männlicher Gefühle über Wirklichkeit und Wahrheit zu setzen, dazu bedarf es nicht notwendig eines groben Machismo à la Trump, Putin oder Bolsonaro. Dazu genügt der glatte Schwiegersohn-Tonfall eines Sebastian Kurz.“ Oder die schmeichelnde Entschiedenheit einer Giorgia Meloni, die allerdings an politischem Geschick alle hier genannten Männer bei Weitem übertrifft. Sie alle verkörpern „die widersprüchliche Verbindung zwischen einerseits autoritärem Durchregieren und andererseits einem antiinstitutionell-rebellischen Gestus, wie sie Kracauer in seinem Caligari-Buch anspricht. Der Führer ist ‚oben‘, ein ungebundener Herrscher, mitunter Staats- oder Regierungschef, und zugleich Rebell mit direktem Draht zu den vielen da ‚unten‘.“

Robnik spricht mit Verweis auf Simon Stricks Buch „Rechte Gefühle“ (Bielefeld, transcript, 2021) auf die von ihnen verkörperte „Gefühlspolitik“: „In Sachen Gefühlspolitik überließ die Linke, so Kracauers Fehlerdiagnose, einiges der nationalsozialistischen Propaganda; diese versteht sich blendend auf das Mobilisieren von Gefühlen“. Die heutige Linke positioniert Gefühle ausschließlich in der hybriden Form des Wokism, der jedoch in der Mehrheitsgesellschaft sich bisher als kaum anschlussfähig erweist. Das Äußern von Gefühlen ist noch lange keine Strategie. Das Nihilistische solcher „Gefühlspolitik“ liegt eben genau da: Fakten sind irrelevant, reale Machtverhältnisse ebenso, Gefühle sind alles und daher auch Fiktionen möglicher Machtverhältnisse, wie sie proto- und kryptofaschistische Bewegungen propagieren.

Der autoritäre Herrscher, der zugleich gegen herrschende Zustände rebelliert, ist im Grunde ein Wiedergänger des Alexander, der den gordischen Knoten durchschlägt. Der Rebell als Zerstörer alter Ordnung. Denn wer politischen Streit beenden will, will nicht nur Ruhe, sondern auch Klarheit, Eindeutigkeit. Hier ist sich die demokratische Politik der vergangenen Jahrzehnte selbst in die Falle gegangen. Sie versucht immer wieder erfolglos, Kritik auch von Anti-Demokraten (Stichwort: die „Sorgen“ der Bürger, wird in der Regel nicht gegendert), durch Adaptation aufzunehmen und die Bürger:innen. auf diese Art und Weise ruhigzustellen. Die von diesen erhoffte Klarheit entsteht so nicht, allenfalls der Eindruck, dass die Regierenden eben einfach nicht wissen, was sie wollen. Das Unbehagen bleibt, Beruhigung, Ruhe funktioniert nur für einen begrenzten Zeitraum.

Robnik diskutiert die Frage, ob das Unbehagen vieler Menschen an politischem Streit („Genug gestritten!“) als „Entpolitisierung“ verstanden werden könnte, die jetzt von Gruppierungen wie „Pegida, die AfD, die Identitären, Gelbwesten, Trumpismus und Rallyes der Alt-Right, Corona-Protesten – als eine Art Repolitisierung von rechts erscheinen“ könnte. Robniks Antwort lautet nein, denn das Ergebnis sind „weniger Handeln als Hasskampagnen; weniger eine Reaktivierung von Streit als eine Zunahme von Hetze; sie zielt nicht auf vertiefte demokratische Teilhabe oder auf erweiterte Spielräume der Konfliktaustragung, sondern ultimativ darauf, dass demokratische Unruhen und Ansätze von Minderheitenrechten verschwinden – im Szenario des charismatisch geführten, ethnisch identifizierten und gereinigten Volkes.“ Ich gestehe, ich bin mir da nicht so sicher, denn „Hass“ ist ein starkes in Politik umsetzbares Gefühl, der Wunsch nach Zerstörung all dessen, das ärgert. Wer aus „Hass“ zuschlägt, belegt das zerstörerische Potenzial einer mit Gefühlen munitionierten Politik. Im Grunde ein dialektisches Verhältnis. Die Kampagnen, die zunächst die Basis waren, werden in der zerstörerischen – manche sagen: revolutionären – Tat zum Überbau, der wiederum zu einer Verbreiterung der Basis beiträgt.

Das funktioniert auch auf der intellektuellen Ebene. Über die oft zitierten „Sorgen“ hinaus werden von der neuen Rechten – so Robnik – Begriffe wie „Kritik“ und „Theorie“ okkupiert, wer sie als „migrationskritisch“ oder ihre Thesen als „Verschwörungstheorie“ bezeichnet, „nobilitiert“ sie geradezu, erkennt den intellektuellen Überbau als Basis politischen Handelns an. Anti-demokratisch ist dies allemal, ob es auch „faschistisch“ ist, spielt nicht unbedingt die wesentliche Rolle. Schlägertrupps der Neuen Rechten mögen sich als „Faschisten“ fühlen oder diese Etikettierung sogar abstreiten, indem sie ihre Gegner:innen ihrerseits als „Faschisten“ bezeichnen. Aber es ist irrelevant, welches Selbstverständnis sie haben, in der Praxis verhalten sie sich wie faschistische Schlägertrupps der 1920er und 1930er Jahre. Wenn Opfer der NSU-Morde Angst hätten, nach Chemnitz zu fahren, falls dort das geplante nationale Dokumentationszentrum errichtet werden sollte – darauf verwies Gamze Kubaşık, Tochter des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık in der Süddeutschen Zeitung –, zeigt dies nur, wie weit Schlägertrupps und rechter Terror es inzwischen gebracht haben. Robnik schließt mit dem lapidaren Hinweis auf „ein Nichts, das manchmal vielleicht faschistisch ausfällt.“ Faschismus als schlagkräftig angewandter Nihilismus.

Geschichtslose Gesellschaft

Die immer wieder in politologischen und soziologischen Studien, eindrucksvoll von Thomas Biebricher in seinem Buch „Mitte / Rechts“ (Berlin, Suhrkamp, 2023) dekonstruierte „Mitte“, die sich radikalisiere oder von rechts aufrollen lasse, war bereits ein Gegenstand der Analysen Siegfried Kracauers. Besonders hervorzuheben sind seine Texte „Die Angestellten“ (1929/1930) und „Die Gruppe als Ideenträger“ (1922). Zentrale Begriffe sind der „Raum“ und eben die „Gruppe“. Wie entsteht kollektive Identität und wie positioniert sich diese „Gruppe“ im politischen sowie im realen „Raum“? In diesem Kontext spielt auch die immer wieder gestellte, aber kaum beantwortbare Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt eine Rolle. Zurzeit wird die Studie „Triggerpunkte“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (Berlin, Suhrkamp, 2023) oft mit dem Tenor zitiert, es gäbe die oft behauptete „Spaltung der Gesellschaft“ nicht. Das möchten manche vielleicht hören, aber das ist nur ein Teil der Botschaft. Die „Triggerpunkte“ belegen lediglich, dass sich radikalisierende Menschen für die Demokratie noch nicht verloren sind. Die Radikalisierungspotenziale, das Unbehagen an politischem Streit, die wachsende Ungeduld in manchen Bevölkerungsgruppen sind ebenso Thema dieser Studie, doch Entwarnung ist natürlich immer die schönere Botschaft. Beruhigung statt Analyse.

Drehli Robnik wendet mit Siegfried Kracauer diese Debatte ins Grundsätzliche: „Spaltung ist nicht das akute Problem, sondern ein Grundzustand von Gesellschaft; und Kracauers politischer Realismus fragt danach, wie die Spaltungen, aus denen Gesellschaften und das Leben in ihnen bestehen, als Konflikte austragbar sein können.“ Die „Mittelschichten“ sind in diesem Kontext eine Art Indikator für gesellschaftlichen Wandel, es ließe sich aber auch einfach von Mehrheits – oder bezogen auf ihren Habitus mit einem Wort von Birgit Rommelspacher – von „Dominanz“gesellschaft sprechen. Wenn die „Mittelschichten“ sich auf die Rede von der „Spaltung“ einlassen, aber nicht mehr über die Austragung von Konflikten verhandeln, wird Demokratie letztlich in Frage gestellt, denn Demokratie gehört ungeachtet allgemeiner Zustimmung, dass Demokratie wichtig sei, nicht zum überlebensnotwendigen Inventar politischer Meinungsbildung in den „Mittelschichten“.

Die „Mittelschichten“ – so Kracauer in „Aufruhr der Mittelschichten“ – „sind heute zum großen Teil ökonomisch proletarisiert und in ideeller Hinsicht obdachlos“. Vereint sind sie – so die Analyse Kracauers in „Die Angestellten“ – beispielsweise in der Mode, denn „Mode und Wirtschaft arbeiten sich in die Hand“, „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist eben jenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Photographien umfassend wiedergegeben werden kann.“ Kracauer verwendet den Begriff der „Zuchtwahl“, auch wenn diese von niemandem – zumindest nicht bewusst – gesteuert wird, sondern sich einfach aus wirtschaftlichen Erwägungen ergibt, mit Schönheitssalons, Haarfärbemitteln, Schönheitsoperationen und nicht zuletzt der „Überhöhung der Jugend“, die einhergeht mit einer „Entwertung des Alters“.

Eben dies sind die Träume, die Kracauer in dem Text „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ (1927) mit einer eigentümlichen Dialektik beschreibt: „Es mag in Wirklichkeit leicht geschehen, dass ein Scheuermädchen einen Rolls Royce-Besitzer heiratet; indessen, ist es nicht der Traum der Rolls Royce-Besitzer, dass die Scheuermädchen davon träumen zu ihnen emporzusteigen?“ Und damit das Gesamtsystem stabilisieren, weil sie an „das richtige Leben im falschen“, das es nach Adornos Diktum in den „Minima Moralia“ gar nicht gibt, glauben, zumindest dieses erhoffen.

Mitunter nehmen das Kino und die dort gezeigten Filme den Charakter einer Religion an. So ließe sich ein Gedanke Siegfried Kracauers aus dem Text „Die Hotelhalle“ (entstanden 1922 bis 1925, unveröffentlicht) weiterspinnen, die Hotelhalle – oder  eben auch das Kino oder die Mall – als „Kehrbild des Gotteshauses“. Auch wenn „das Beisammen in der Hotelhalle ohne Sinn“ bleibt, sich Menschen dort – wie in Romanen Vikki Baums – aus unterschiedlichen, gegebenenfalls auch sich widersprechenden Gründen aufhalten, der Flüchtende ebenso wie der Spitzel, „bemächtigt sich ein interesseloses Wohlgefallen an der sich selbst erzeugenden Welt, deren Zweckmäßigkeit man empfindet, ohne die Vorstellung eines Zweckes mit ihr zu verbinden.“ Die „Hotelhalle“ ist der Ort der „Unvollkommenheit des gemeinsamen Lebens“ so wie das Gotteshaus und die sich dort versammelnde „Gemeinde“ sich gegenseitig der Illusion eines gemeinsamen Zieles und von Gemeinschaft schlechthin versichern. Nihilistisch konnotierte Orte sind sie beide, denn während der eine Ort die Falschheit im Leben verkörpert, gibt der andere das Zeichen eines fiktiven Richtigen.

Die Vorstellungswelt in der „Alltagskultur der Mittelschichten“ lässt eine „Ideologie der Geschichtslosigkeit“ erkennen, „eine Weigerung, sich mit der eigenen Geschichtlichkeit zu konfrontieren“. Damit einher geht eben auch das Unbehagen an jeglicher Politik: Dass Geschichte nicht vorbestimmt, nicht berechenbar ist, macht zielorientiertes, eingreifendes, kollektiv eingebundenes, strittiges Handeln – sprich Politik – gerade nicht irrelevant, sondern macht solch ein Handeln vielmehr erst möglich und sinnvoll.“ Der Streit um Geschichte, der Wunsch nach einer eindeutigen, die eigene Vergangenheit möglichst bestätigenden, wenn nicht gar verherrlichenden Geschichtspolitik, wie sie in autoritären und totalitären Staaten auch betrieben ist – aktuell gut sichtbar in Putins Russland, auch präsent in türkischen, ungarischen und (noch) in polnischen Schulbüchern –, ist letztlich ein Streit um die Wirksamkeit von Politik. Man muss schon einiges tun, um die Bürger:innen und nicht zuletzt die jungen Menschen auf Kurs zu bringen.

Hier ließen sich die Debatten um die Bagatellisierung und Relativierung der Shoah von Martin Walser über Alexander Gauland bis hin zu manchen antikolonialistischen Linken als a-, wenn nicht sogar antipolitische Debatten einordnen. Auch das Nachdenken über Geschichte ist eben politisch, die (faschistische) Mehrheitsgesellschaft will ohne Wenn und Aber „Dominanzgesellschaft“ sein: „Faschistische Propaganda ist eine Massenverbreitung, die weniger Inhalte vertritt oder Positionen bezieht als dass sie Gefühle und Stimmungen verbreitet, und zwar ultimativ, um den anderen zum Schweigen zu bringen.“ Ein anderes Geschichtsbild als das eigene wird als Beleidigung, als Herabwürdigung verstanden und angeprangert. An die Stelle einer politisch-fachlichen Diskussion tritt – Robnik verweist auf Analysen von Ernesto Laclau und Max Horkheimer – die politische Aufladung von Begriffen, die sich auch heute feststellen lässt: das Christentum wird nicht zitiert, um „die verachtenswerten Reichen (zu) attackieren, sondern den Massen Tugend und Reinheit (zu) predigen“. Die politische Versammlung ist dann nicht nur Kundgebung, sondern Verkündigung. Und nur darauf kommt es an. Die diversen Faschismen, von denen manche sich auch aus ganz anderen ideologischen Quellen speisen mögen, haben letztlich eine einzige Botschaft: Wir sind großartig, alle anderen wollen uns jedoch demütigen. Donald Trump ist ein Meister in der Verbreitung solcher Botschaften und nutzt in diesem Sinne – vielleicht sogar ohne das zu wissen – die Methoden faschistischer Propaganda. Beschrieben hat diesen Typus des faschistoid handelnden Politikers Leo Löwenthal in „Falsche Propheten – Studien zur faschistischen Agitation“ (1949).

Wider die Falschheit im falschen Leben

Im Jahr 1946 veröffentlichte Kracauer den Text „Hollywoods Terror Films – Do They Reflect an American State of Mind?“ In diesem Text benennt er – so Drehli Robnik – die unmittelbare Nähe von Demokratie und Faschismus, die sich in Verständnis und Handeln einer sich geschichtslos verhaltenden Mehrheitsgesellschaft spiegele und damit den Blick auf den wahren Charakter von Demokratie und Faschismus verstelle: „In der US-Gesellschaft sind, so legt Kracauer dar, demokratische Formen und Faschismus-Brennstoff (‚fuel for fascism‘) so sehr ineinander, betreffen die ‚political and social struggles‘ so sehr das Existenziell-eingemachte der Leute (‚very core of our existence‘), dass er über sein Exilland konstatieren kann, vielmehr muss: ‚A civil war is being fought inside every soul‘.“ Robnik warnt allerdings auch vor falschen Analogien: „Faschismen und verwandte rechte Politiken von 2020/30 sind anders als die von 1920/1930. Zugleich aber ist da ein Eindruck von Wiederholung und Gleichklang schwer zu ignorieren.“ Robnik unter Bezug auf Kracauers „Totalitäre Propaganda“ (1938, damals unveröffentlicht): „Nicht Austragung von ‚Meinungskampf‘, sondern der ‚Meinungstod‘ ist demnach das Ziel dieser Propaganda, dieser Mobilisierungspolitik“.

Kern des Klassenbewusstseins der Mittelschichten ist es, jeden „eigenen Klassenstatus zu leugnen“. „Auf den Spuren von Marx‘ Brumaire-Text versteht Kracauer die Mittelschicht, die zwischen den etablierten Klassen zerrissene Nicht-Klasse, und ihre Rolle im Faschisierungsprozess zunächst ein Stück weit im Sinn der Bonapartismus-Theorie“. Die „Mittelschichten“ passen sich an, weil „das Imaginarium faschistischer Politik den Massen eine Doppelung von Hinschlagen und Sich-Beugen bietet, beides als lustbesetzte fantasmatische Wirklichkeiten“. Sie begeben sich somit in die Rolle des Fans, der nicht unbedingt ein Fanatiker sein muss, aber dennoch immerhin so weit geht, dass er den Fans, die er als Gegner identifiziert, jede Berechtigung abspricht, sich mit Recht als Fans besagten Gegners zu verstehen. Schalke oder Dortmund – damit ist Fußball nicht proto- oder kryptofaschistisch, wohl aber durchaus ein Bild des Freund-Feind-Modells, das nach Carl Schmitt der Kern des Politischen ist. In einem solchen Szenario lassen sich Massenmord, Holocaust, Staatsgewalt gegen Minderheiten ignorieren. Stattdessen wird faschistischer Terror mit eigenen Demütigungen assoziiert. „Mehrmals konstatiert Kracauer in den 1920er und frühen 1930er Jahren eine Verklammerung zwischen dem jüdischen Volk und dem nichtjüdischen Volk: eine enge Verbindung, die sich in einer Art deutschen Sündenbock-Projektion auflöst.“ Robnik sieht diese „Verklammerung“ heute beispielsweise in den Protesten gegen die Covid-19-Maßnahmen. Die eigene Erfahrung welcher gefühlten Diskriminierung auch immer ist letztlich immer nachhaltiger als jede historische Reminiszenz an die Shoah.

Aber was erwarten „Mittelschichten“ denn nun? Robnik: „Mittelschichts-Angehörige träumen vom gütigen Herrscher, der alles ins Lot bringt, die Schuldigen bestraft und die Fleißigen, Braven tätschelt; mit Kracauers Worten gesagt: Sie ‚träumen von einer Versöhnung der Klassen durch eine schiedsrichterlich über der Nation waltende Macht‘.“ (Kracauer in „Totalitäre Propaganda“). Eine solche Versöhnung erträumt in dem den Film „Deutschland im Herbst“ einleitenden Gespräch die Mutter von Rainer Werner Fassbinder. Nicht Diktatur an sich wäre schlecht, schlecht wären nur die Diktatoren, die Menschen unterdrücken und misshandeln, aber warum sollte es keine netten Diktatoren geben? Auch hier wieder ein Traum vom „richtigen Leben im falschen“.

Anstatt des Traums vom „richtigen Leben im falschen“ wäre es vielleicht an der Zeit, die Falschheit des falschen Lebens zu entlarven. Robnik bezieht sich auf Kracauers Analyse des Films „Mädchen in Uniform“ mit dem Titel „Revolte im Mädchenstift – Ein guter deutscher Film“ (1931). Der Film kann mit Kracauer als Gegenbild zu eine kollektive Männlichkeit verherrlichenden Filmen gesehen werden, beispielsweise zu G.W. Pabsts Bergwerkkatastrophenfilm „Kameradschaft“ (ebenfalls 1931). „Nicht nur anhand von Mädchen gendert Kracauer modellhafte Bekundungen einer solchen Gegenmacht im sich faschisierenden Deutschland als weiblich.“ Damit ließe sich auf die die 2020er Jahre zunehmend bestimmenden Debatten über den Gegensatz sich eher rechts orientierender Männer und sich eher links und liberal orientierender Frauen schließen.

Die polnische Wahl vom 13. Oktober 2023 wurde von Frauen entschieden, Ähnliches zeichnet sich möglicherweise bei der Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 in den USA ab. Nach einer Studie der Financial Times tendieren junge Männer zunehmend nach rechts, junge Frauen nach links. Das hat – so Ansgar Hudde in einem Gespräch mit der taz – durchaus auch etwas mit Bildungskarrieren zu tun und war in Deutschland bereits bei der Bundestagswahl 2021 feststellbar. Rechts muss dabei nicht unbedingt AfD bedeuten, der neoliberale Kurs der FDP war 2021 schon attraktiv genug für junge Männer. FDP und Grüne hatten damals unter den jungen Wähler:innen Ergebnisse von jeweils etwa 30 Prozent. Wie zentral Frauenrechte sind und wie sie in autoritär-totalitären Staaten abgebaut und von Parteien der Neuen Rechten angegriffen werden, dokumentiert Sofi Oksanen in ihrem Buch „Putins Krieg gegen die Frauen“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2024).

Den Gedanken einer weiblichen Gegenöffentlichkeit führt Robnik in Bezug auf Forschungen von Ewa Majewska weiter aus, die sich mit der feministischen Kritik des Faschismus befasst hat. Sie bezieht sich auf Walter Benjamins Text „Über den Begriff der Geschichte“ (1940): „Potenz-Huberei in Sachen Helden-Identität sei letztlich dem Nationalismus und Rassismus zu nahe, der doch bekämpft werden sollte. (…) Ein weak messianism, als Pathos-Form einer ‚initial weakness‘, breite Raum und Kontext für Widerstand. Dies biete der schwache Messianismus sowohl geschichtspolitisch, als ein Gedächtnis vergangener Unterdrückungen und Kämpfe, als auch ontologisch, womit die Frage von subjektiven Seinsweisen mitgemeint ist: also z.B. Stark-sein-Müssen versus Schwach-sein-Können.“ Es gibt auch andere Wege, den gordischen Knoten zu lösen als ihn zu durchschlagen und damit etwas zu zerstören, das möglicherweise auch als etwas Verbindendes dienen könnte. Auf viele anti-demokratische Parolen ließe sich dieses Bild durchaus anwenden.

Dekonstruiert werden müssten jedoch einige Mythen. Zentral ist der Mythos des Rebellen, der zum guten Herrscher wird und damit wirklich – diesmal aber wirklich – das „Ende der Geschichte“ einläutet. Das, was Karl Marx in „Der 18. Brumaire des Louis Napoleon“ (MEW 8) über Frankreich sagt, ließe sich auch auf das Deutschland nach 1848 wie viele Staaten der heutigen Zeit übertragen: „Frankreich scheint also nur der Despotie einer Klasse entlaufen, um unter die Despotie eines Individuums zurückzufallen. und zwar unter die Autorität eines Individuums ohne Autorität. Der Kampf scheint so geschlichtet, dass alle Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben niederknien.“ Es ist beispielsweise „der Wunderglaube der französischen Bauern entstanden, dass ein Mann namens Napoleon ihnen alle Herrlichkeit wiederbringen werde.“ Geschichtslosigkeit, Antipolitik, Bestätigung ihrer Gefühle, Ruhe und Klarheit, Eliminierung alles Störenden – genau so hätten es die „Mittelschichten“, die Mehrheitsgesellschaft gerne, auch heute: „Make our country – make us – great again“. Vielleicht ist Trump die Farce der faschistischen Tragödie, aber eigentlich waren schon Louis Napoléon, Mussolini und Hitler durchaus lächerliche Figuren. Und wenn wir nicht aufpassen, wird aus der Farce der heutigen „Faschismen“ eine neue Tragödie. Wir müssen nicht nach Russland und in die Ukraine schauen, um die Anzeichen zu erkennen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2024, Internetzugriffe zuletzt am 19. März 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer aus der Serie „Aneignung“, Ausschnitt.)