„Gegen das Schweigen“
Luise F. Puschs nicht nur autobiographisches Buch
„Sonja – Eine Melancholie für Fortgeschrittene“. Ich behaupte mal, dass alle Frauen, die Anfang der 1980er Jahre auf der Suche nach dem eigenen Leben waren, genau sagen können, wo „Sonja“ bei ihnen im Bücherregal gestanden hat oder noch steht und wie sie es gelesen haben. Wir lasen es in unserer kleinen Frauen-WG in Bonn gleichzeitig und diskutierten beim Frühstück über den Inhalt: die Geschichte zweier Lesben, die in Hamburg mit ihrem Lebensentwurf an die Grenzen der bundesdeutschen Gesellschaft stoßen und an der intersektionalen (das Wort kannten wir damals noch nicht) Ausgrenzung – eine der Frauen ist Rollstuhlfahrerin – zerbrechen. Sonja, deren Querschnittlähmung bereits Folge eines Selbstmordversuchs war, bringt sich um. Wie kann man in einer Gesellschaft leben, in der die eigene Geschichte schlicht nicht vorkommt, sich ständig unter dem Radar bewegt? Was müssen wir, was können wir verändern, um authentisch und frei leben und lieben zu können? Judith Offenbach hieß die Autorin.
Kurze Zeit später erschien Luise F. Puschs Buch „Das Deutsche als Männer Sprache“. Der allererste Absatz elektrisierte uns: „In meinem Pass steht: ‚Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher.‘ Ich bin aber kein Deutscher. Hätte ich in einem Deutschaufsatz geschrieben, ich sei ‚Deutscher‘, so wäre mir das als Grammatikfehler angestrichen worden.“ Wir in unserer WG schauten sofort in unsere Pässe. Tatsache. Uns als uns gab es nicht. Wir waren generisch wegmaskuliniert, „mitgemeint“, subsummiert unter dem maskulinen Begriff, der für alle Menschen ungeachtet des Geschlechts gelten sollte. War uns bislang nicht aufgefallen. Sprache bestimmt das Bewusstsein. Und wir existierten im dominierenden Sprachgebrauch nicht. Es sollte noch irrwitziger kommen. Mitten im Buch eine „Glosse“ – so nennt Luise Pusch ihre kurzen scharfen Texte – überschrieben mit: „Die Menstruation ist bei jedem ein bisschen anders“.
Wirklich bei jedem? Es ging um das kleine von uns nie beachtete Begleitheftchen bei unseren „Damenhygieneartikeln“, sprich Tampons. Natürlich schauten wir in den betreffenden Schachteln in unserem Badezimmer nach – das stand da wirklich. Luise Pusch hatte nach ihrer Entdeckung, die sie süffisant schildert, an das Unternehmen geschrieben und ihrer Verwunderung Ausdruck verliehen. Die Tamponfirma meldete sich – und änderte wohl kurz drauf das in den Schachteln liegende Faltblättchen. In unseren Schachteln lag 1984 noch die unredigierte Fassung.
Und wieder kurze Zeit später wurde im Umfeld der Frauenbewegung gemunkelt, Judith Offenbach und Luise F. Pusch seien ein und dieselbe Person.
Harmonie im Fachbereich ist keine Punkband
Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz sind die Pionierinnen der feministischen Linguistik in Deutschland. Beide arbeiteten an der Uni Konstanz. Luise Pusch konnte sich habilitieren. Einen Lehrstuhl hat sie nie bekommen, Senta Trömel-Plötz auch nicht. Die Begründung: Ihre unerhörten Thesen störten die Harmonie am Fachbereich. Und das an der selbsternannten Reform-Universität Konstanz, berichtet Luise Pusch im Gespräch mit Sookee. Und Sookee reagiert auf diese Ungeheuerlichkeit sofort paradox intervenierend, „Harmonie im Fachbereich“ sei aber doch mal ein toller Name für eine Punk-Band (in: Feminismus und Sprache – Ein Gespräch). Sprache bestimmt das Bewusstsein.
Die mutwillig durch ein patriarchales Universitätssystem verhinderte wissenschaftliche Karriere hat Luise Pusch nicht davon abgehalten, bis heute ins Alter von fast 80 Jahren die Veränderungen der Sprache(n) zu untersuchen und sich für eine gerechte Sprache einzusetzen. Ihre und Senta Trömel-Plötz’ Bücher sind nach wie vor Standardwerke der Linguistik. Sprachwissenschaft bietet gutes Werkzeug, um kühl und präzise Strukturen des Denkens zu analysieren und zu verändern. Um Verschwiegenes und Totgeschwiegenes ans Licht zu bringen. „Die Sprachwissenschaft, wie ich sie gelernt und betrieben habe, untersucht und beschreibt die Sprachkompetenz der Forscherin* und versucht, sich darauf einen Reim zu machen. Ich war also die meiste Zeit meines Sprachforscherinnenlebens mein eigenes Forschungsobjekt.“ (Luise Pusch, Gegen das Schweigen)
Luise Pusch hat ihren Lebensunterhalt schließlich außerhalb der Uni-Hierarchien verdienen können. Was aber wäre geworden, welche Veränderungen und Leistungen hätte es in vielen Bereichen wissenschaftlichen Arbeitens gegeben, wenn Senta Trömel-Plötz und sie eine Theorieschule hätten bilden können. Eine Ahnung davon gibt das von Luise Pusch 1983 herausgegebene Handbuch zu feministischen Ansätzen und Ergebnissen in allen Wissenschaftsbereichen,Titel: „Feminismus – Inspektion der Herrenkultur“.
„Wovon man nicht sprechen kann, davon wird man krank“
Diesen Satz finden wir in Luise Puschs Buch „Gegen das Schweigen – Meine etwas andere Kindheit und Jugend“. Nun, 2023, ist Luise F. Pusch wieder auf Lesereise durch die Republik. Im Gepäck das während der Pandemie entstandene Buch „Gegen das Schweigen“. Es ist die Fortschreibung der laufenden Ereignisse, die in „Sonja“ beschrieben werden. Oder besser gesagt: „Sonja“, das im Suhrkamp-Verlag immer noch aufgelegt wird, jetzt unter dem Klarnamen der Autorin, ist die Fortsetzung des neuen Buches. Pusch beschreibt ihre Kindheit und Jugend in Ostwestfalen bis zu ihrem Studienbeginn in Hamburg.
Was Luise Pusch beschreibt, kommt meiner Generation sehr bekannt vor. Sie beschreibt nüchtern die Familienverhältnisse: äußerst christliches Elternhaus, in dem sich gleich mehrere Familienmitglieder der Mission des afrikanischen Kontinents verpflichtet fühlen, Mutter lässt sich scheiden, bringt ihre drei Kinder alleine durch, indem sie als Sekretärin arbeitet. Ungeachtet der klammen Finanzen ist völlig klar: alle Kinder sollen aufs Gymnasium gehen. Die Mutter heiratet bereits hochschwanger ein zweites Mal einen viel jüngeren Mann. Das, was das Kind Luise fühlt, kommt in ihrer Umgebung nicht vor. Es gibt keine Role-Models, es gibt Sehnsüchte, die nicht erfüllt werden. Auch Luise bleibt unter dem Radar.
Die Corona-Lockdowns erlebt Luise Pusch, die mit ihrer langjährigen Partnerin sonst abwechselnd in Boston und in Hannover lebt, alleine zwischen ihren Büchern und ihrer Musik. Und auf einmal fragt sie sich, warum ihr das nichts ausmacht. Natürlich vermisst sie die Partnerin, aber sie kommt gut alleine zurecht, besser als viele andere. Weil sie, so ihr Fazit, nichts anderes gewohnt ist aus ihrer Jugend. In „Gegen das Schweigen“ schreibt sie: „Das Überleben in der Krise erinnert mich stark an meine Jugend und frühe Erwachsenenzeit, die ich als nicht geoutete Lesbe in permanenter sozialer Angst verbrachte. Mein Heim war buchstäblich meine Festung – der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühlte, genau wie jetzt. Bücher waren meine Freunde, sie würden mich nicht wegstoßen oder verletzen. Alleinsein war viel einfacher und sicherer als Gesellschaft, selbst die meiner Familie oder enger Freundinnen* (die mein Geheimnis nicht kannten). Ich vermisse Joey sehr, aber ansonsten ist dies das Leben, das ich gelernt habe.“
Luise, das Kind und Luise, die Heranwachsende ist eine Meisterin des Verstellens, wie es drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. Über lange Jahre liebt sie eine Mitschülerin, Charlotte, der sie sich aber nie offenbart. Charlotte kommt aus „gutem Hause“, die Eltern geben eine Literaturzeitschrift heraus, Musik und die neue deutsche Literatur gehören zum Hause Frey wie die Luft zum Atmen. Die komplizierte Freundschaft mit der kapriziösen hochintelligenten Charlotte öffnet Luise die Türen zu dieser Welt. Luise steht nach eigenem Ermessen trotz aller Gastfreundschaft immer mehr in der Tür als dass sie wirklich dazu gehört. Sie fühlt sich minderwertig, versucht, geistig mitzuhalten.
Ihr eigener Körper ist ihr peinlich, wenn sie ihn denn spürt.
Erschreckend die Szene, als sie sich als kleines Mädchen auf der Wippe fürchterlich verletzt – sie wollte die Aufmerksamkeit der Kindergärtnerin erheischen und schaukelte ein bisschen zu heftig. Sie reißt sich die Kniekehle auf und blutet stark, beobachtet den Vorgang präzise. Sie wird notärztlich behandelt, die Mutter bekommt erst abends mit, was da passiert ist. Das Kind stört sich nicht an der Abwesenheit der Mutter in dieser schwierigen Situation. Aber die Narbe heilt schlecht und bleibt zeitlebens ein Seismograph, der anschlägt, wenn die Seele brennt.
Das Ungesagte benennen – sichtbar werden
Was hat Luise Pusch dazu gebracht, in ihrer Autobiographie noch einmal zurückzugehen und ihr Er-Leben aufzuschreiben? „Ich habe damals das Buch Sonja geschrieben, weil ich etwas für Lesben tun wollte, also für mich und meinesgleichen. Es gab zwar Bücher über uns, aber kaum von uns. Was die Außenwelt über uns schrieb, war meist pornographisch oder sonstwie verzerrend und beleidigend. Es wurde also Zeit, dass mal eine Insiderin erzählte, wie es in einem Lesbenleben, in einer lesbischen Beziehung wirklich aussah. / Mein Motiv zu diesem Buch über meine Kindheit und Jugend – die Kindheit und Jugend einer Lesbe im Deutschland der Nachkriegszeit, des Wirtschaftswunders und der sogenannten sexuellen Revolution der Swinging Sixties – ist dem meines ersten autobiographischen Berichts ähnlich. Ich möchte von einer Zeit erzählen, die mich und andere Lesben fast zerquetscht hat, von seelischen Zuständen, von denen die Öffentlichkeit kaum einen Schimmer hat, weil nicht darüber berichtet wurde. Weil wir damals zum Schweigen verurteilt waren, weil uns klar war, dass eine Entdeckung schwere Nachteile bringen würde und wir gleichzeitig kaum begriffen, wie uns geschah und was uns angetan wurde. Und als wir es dann allmählich kapiert hatten, gab es längst anderes und Dringlicheres zu tun.“
Luise Pusch beschreibt, wie jemand, der*die das Buch gelesen hat, völlig irritiert und verwundert fragt, da sei ja nicht wirklich irgendwo die Rede von Diskriminierung. Wie dies?
Strukturelle Diskriminierung, strukturelle Gewalt durch Gesetze, Verordnungen, Verbote, Verschweigen, Verschwindenlassen hinter den Fassaden der „Normalität“, fällt nicht auf. Sie fällt denen nicht auf, die Teil dieser anderen Normwelt sind, sie fällt ja nicht einmal denen auf, die versuchen, den Ansprüchen der „normalen“ Gesellschaft zu genügen und dabei ein Leben verlieren, bevor sie es finden konnten.
Luise Pusch hat Heimat und Zugehörigkeit in der Zweiten Frauenbewegung erfahren.
Jetzt war sie war Ende März 2023 in Köln und hat ihr Buch vorgestellt. Zu der Lesung kamen an die 100 Personen, das war nicht nur eine Reverenz an eine Pionierin der feministischen Linguistik, das war eine Reverenz an eine Frau, die eine ganze Generation auf ihrem Lebensweg geprägt hat.
Als Luise Pusch das Manuskript dem Suhrkamp-Verlag anbot, bei dem „Sonja“ seit 40 Jahren im Programm ist und die Reihe „Wahnsinnsfrauen“, in der Pusch gemeinsam mit Sybille Duda über Jahre die Biographien von bemerkenswerten Frauen veröffentlichte erschien, lehnte der Verlag ab. Ebenso der Wallstein Verlag, der bändeweise Puschs sehr amüsante und lesenswerte Glossen veröffentlicht. Das sei keine wirkliche Literatur, hieß es, oder zumindest war das die Botschaft.
Honni soit qui mal y pense.
Der kleine mutige Frauenbuchverlag AvivA hat dann die Veröffentlichung besorgt.
„Gegen das Schweigen“ mag vielleicht wirklich nicht die ganz große Literatur sein, manche mögen von Bekenntnisliteratur sprechen, aber ist Literatur das nicht immer? Das Buch sollte von vielen Menschen gelesen werden, denn es bietet einen großen und realistischen Einblick in die bleierne Zeit der 1950er und 1960er Jahre, wo so viel verschwiegen wurde, ist es allemal. Wer Didier Eribon oder Edouard Louis gelesen hat, sollte jetzt nicht auf halber Strecke anhalten. Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz, und weil wir dabei sind: Christina Thürmer-Rohr gehört ebenso auf die Leseliste.
Zum Weiterlesen – Bücher von Luise F. Pusch:
- Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend. Berlin, AvivA, 2022 (2. Auflage 2023).
- Sonja – Eine Melancholie für Fortgeschrittene. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1980.
- Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt am Main, edition suhrkamp. 1984.
- Feminismus. Inspektion der Herrenkultur, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1983.
- Alle Menschen werden Schwestern, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1990.
- Mit Sybille Duda, Wahnsinnsfrauen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1992ff (mehrere Bände, die Seite „fembio.org“ enthält etwa 13.000 Datensätze, Kurzbiographien und ist so etwas wie die Fortsetzung der „Wahnsinnsfrauen“ mit anderen Mitteln).
- Deutsch auf Vorderfrau – Sprachkritische Glossen, Göttingen, Wallstein, 2011.
- Gerecht und Geschlecht – Neue sprachkritische Glossen, Göttingen, Wallstein, 2014.
- Die Sprache der Eroberinnen und andere Glossen, Göttingen, Wallstein, 2016.
- Mit Sookee, Feminismus und Sprache – Ein Gespräch, Berlin, Querverlag, 2021.
- Im ZEIT-Podcast „Alles gesagt“ war Luise F. Pusch zu Gast und diskutierte mit ihren beiden Gastgebern Jochen Wegner und Christoph Amend am 22. November 2022 fünf Stunden, 22 Minuten und 17 Sekunden über die Frage: „Warum ist Deutsch eine Männersprache“.
Bücher von Senta Trömel-Plötz:
- Frauensprache: Sprache der Veränderung, Frankfurt am Main, Fischer, 1982.
- Gewalt durch Sprache – Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen., Frankfurt am Main, Fischer, 1984.
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2023, Internetzugriffe zuletzt am 7. April 2023.)