Geschichten machen Politik
Zur Attraktivität von Weltformeln und Verschwörungstheorien
Die beiden ehemals großen deutschen Volksparteien hatten lange Zeit das Privileg, ihren Mitgliedern und ihren Wähler*innen die Welt in einem in sich zusammenhängenden und überzeugenden Erzählbogen vorzustellen. Diese Zeit ist vorbei und die Frage nach dem, was diese Parteien der Zukunft zu versprechen vermögen, bleibt unbeantwortet. Verschiedene Versionen dieser Zukünfte sprengen den bisherigen Zusammenhalt und machen es beiden Parteien schwer, sich Gehör zu verschaffen. Während die eine Partei höchst bemüht den Erzählungen anderer radikaler auftretender Akteure hinterherhechelte, übte sich die andere in der Distanzierung gerade von den Maßnahmen, für die sie selbst verantwortlich war.
Die letzten großen Erzählungen dieser beiden Parteien waren Willy Brandts Motto „Mehr Demokratie wagen“ und Helmut Kohls Versprechen der „blühenden Landschaften“. Gehör verschaffen konnten in den vergangenen Jahren sich jedoch radikale, im Wesentlichen extremistische Organisationen und Parteien, die jeweils eine fundamental andere Welt verheißen. Der Sammelband „Großerzählungen des Extremen“ (Herausgeber*innen sind Jennifer Schellhöh, Jo Reichertz, Volker M. Heins und Armin Flender, 2018 im Bielefelder transcript-Verlag veröffentlicht) analysiert in 14 Kapiteln vier dieser Großerzählungen: „Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror“:
„Es gibt je ein großes Narrativ, das uns verschiedene extremistische Ausprägungen als solche erst erkennen und verallgemeinern lässt und das Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe symbolisiert. Die Erzählung wird geglaubt und als Prämisse einer Deutung der Welt gesetzt. Einmal etabliert wird jedes Ereignis, jede Handlung, jede Perspektive in dieses Narrativ integriert. Die Geschlossenheit der Erzählungen begründet oftmals eine Nähe zu Verschwörungstheorien (…)“
Der „Große Austausch“
Die Großerzählung der Neuen Rechten ist der „Große Austausch“. Die Identitäre Bewegung und andere intellektuelle Vorbeter*innen verstehen die Ein- und Zuwanderung nach Europa als gesteuerten Prozess. Verantwortlich sind nach ihrer Auffassung die üblichen Verdächtigen: Juden, Kapitalisten, Liberale, Homosexuelle, die Europäische Union, in den USA die Demokratische Partei. Sich selbst inszenieren die Anhänger*innen der Neuen Rechten als Opfer.
Vergleichbare Großerzählungen haben Tradition. Dazu gehören beispielsweise Fichte, Turnvater Jahn und Ernst-Moritz Arndt, nach dem in Ignoranz seiner antisemitischen und franzosenfeindlichen Schriften immer noch Schulen benannt sind. Jennifer Schnellhöh zitiert in ihrer Einleitung Arndt u.a. mit folgenden Sätzen: „Ich will den Hass gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer (…) Dieser Hass klüger als die Religion des deutschen Volkes, als ein Heiliger waren in allen Herzen und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit“.
Als weitere Vorläufer werden Armin Mohler, der kurze Zeit auch für Franz Josef Strauß arbeitete, und Alain de Benoist genannt. Claus Leggewie fasst die Vorgeschichte in seinem Beitrag „Entkräftung und Widerstand“ zusammen: Das, was in den 1970er Jahren als Kampf gegen zu hohe und als ungerechtfertigt empfundene Steuern begann (z.B. in Schweden und Dänemark), mutierte zu militanter Xenophobie und zu anhaltender Wut gegen die „politischen Eliten“, als deren ultimative Verkörperung schließlich die Europäische Union angegriffen wird. Die Städtenamen „Brüssel“ und „Berlin“ (in den USA „Washington“) werden zu Kampfbegriffen. „Das fügt sich ins Bild einer illiberalen Demokratie, in der kritische Medien, allein dem Recht verpflichtete Gerichte und die verfassungsmäßigen Ansprüche von Minderheiten keine Bedeutung mehr haben und Kompromisse, das Lebenselixier einer auf Konsens ausgerichteten Demokratie, nicht gefragt sind.“
Allen Apologet*innen des „Großen Austauschs“ gemeinsam ist eine „ethnopluralistische“ Weltsicht, die jeder Ethnie, jedem Volk, in der Welt ein bestimmtes Territorium zuweist, das sie nicht verlassen sollten. Abgrenzung, Exklusion sowie militanter Schutz der eigenen Grenzen gehören zum Forderungskatalog der Neuen Rechten. Andererseits treten manche Vertreter*innen auch durchaus gemäßigt auf, indem sie an ein „Solidaritätsgefühl der Völker“ appellieren. Dies erklärt die Internationale der Neuen Rechten, die nicht nur im EU-Parlament versuchen, ihr Vorgehen zu koordinieren.
Man könnte diese ethnozentrierte Weltsicht als Spinnerei abtun, doch kommen die Leipziger Autoritarismus-Studie (2018) sowie die Bielefelder Mitte-Studie (2019) zu dem beunruhigendem Ergebnis, das Thomas Pfeiffer in seinem Aufsatz „Wir lieben das Fremde – in der Fremde“ zusammenfasst: „Alle genannten Daten sprechen dafür, dass der neurechte Ethnopluralismus-Diskurs in deutlich höherem Maße an politische Mentalitäten in der deutschen Bevölkerung anschlussfähig ist als dies für herkömmliche rechtsextremistische Positionierungen gilt.“
Die „wahre Religion“
Im Unterschied zu Rechtspopulist*innen und -extremist*innen vertreten Islamist*innen eine internationale Perspektive. An Stelle der Ethnie, euphemistisch oft als Kultur bezeichnet, steht die „wahre Religion“, der Islam in einer fiktiven Version, die seiner Frühzeit im 7. Jahrhundert zugeschrieben wird. „In den Narrativen werden Formen politischer Kritik mit religiösen Erzählungen verzahnt, die um einen vermeintlichen göttlichen Plan kreisen, der von den Gotteskriegern umgesetzt werden soll.“
Susanne Schröter gibt in „Religiöse Rechtfertigungen des Dschihadismus“ einen Überblick der verschiedenen Spielarten islamistischer Ideologie, vom Wahhabismus über die Muslimbruderschaft hin zum Dschihadismus des sogenannten „Islamischen Staat“s. Als Zeugnis der Urerlebnisse einer ständigen Benachteiligung, Missachtung und Vernichtung dienen vor allem zwei Daten, die Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 und die Eroberung Granadas durch die kastilisch-leonischen Krieger im Jahr 1492. Eine große und geradezu schillernde Bedeutung erhält in der Geschichts- und Erinnerungspolitik des radikalen und extremistischen Islam das Jahr 1979, in dem die sowjetischen Truppen in Afghanistan einmarschierten, die „Islamische Republik“ Iran gegründet wurde und der Angriff auf die Große Moschee in Mekka erfolgte, der oft als Geburtsstunde von Al-Kaida betrachtet wird.
Die Attraktivität islamistischen Denkens für Jugendliche analysiert Aladin El-Mafaalani in „Protest, Provokation und Plausibilität – Salafismus als Jugendbewegung“. Attraktiv ist die „Enthaltsamkeit im Kollektiv“. Dies ist ein Lebensentwurf, mit dem sich in einer bunten, konsumgeprägten Welt leicht von denjenigen unterscheiden lässt, zu deren Kreisen man aus welchen Gründen auch immer keinen Zugang hat. „Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen“ verstärken den Rückzug in die vermeintlich heile Welt des 7. Jahrhunderts. Das Tragen von Gesichtsschleiers oder Kopftuch wird zu einem Akt der „Emanzipation“. „In gewisser Weise bietet der Salafismus eine Kombination aus einer radikal gesellschaftskritischen Haltung und sichtbarer Provokation auf der einen Seite und einer extremen Klarheit auf der alltagspraktischen Handlungsebene.“
Offene Grenzen
Die Grenzen zwischen Populismus und Extremismus sind offen. Gemeinsam ist den „Großerzählungen“ der Neuen Rechten und der Islamist*innen die „manichäische Struktur“. Es gibt nur Gut und Böse, dafür und dagegen – so Paula Diehl in „Rechtspopulismus und Massenmedien“. Armin Flender zitiert in seinem Beitrag „Populismus und Demokratie“ Karin Priesters „Rechter und linker Populismus – Annäherung an ein Chamäleon (Frankfurt am Main, Campus, 2012). Sie sprach am Beispiel der FPÖ Jörg Haiders von einer „dünnen Ideologie“. „Populistische Bewegungen verabsolutieren das ‚Volk’ zum alleinigen Träger des Gemeinwohls, des ‚common sense‘ und sprechen allen Strukturen, die nicht diesem Willen entsprechen, jegliche Legitimität ab“.
Florian Hartleb beantwortet die Leitfrage seines Aufsatzes „Gibt es einen europäischen Kern des populistischen Diskurses“: „Vereinfachung, Polarisierung und Ausgrenzung in Kampagnenform“. Er nennt dies eine „Trumpetisierung europäischer Politik“. Jo Reichertz konstatiert die Medienaffinität der islamistischen Botschaften in „Manche glauben das, aber der Koran sagt…“ Medien erleichtern den Zugang. Er bringt es in dem Untertitel seines Beitrags auf den Punkt: „Der Medienislam als unhistorische Buchgläubigkeit ohne Auslegungsautorität“. Dies gilt gleichermaßen für die Neue Rechte. An Stelle eines Buches steht hier der Volksbegriff. Es wäre meines Erachtens durchaus von Interesse, in diesem Zusammenhang auch die Attraktivität esoterischer Welterklärungsmodelle auch in extremistischen Milieus zu untersuchen. Einig sind sich fast alle Varianten des Extremismus zumindest in einem Punkt: im Antisemitismus.
Die Resilienz der Demokratie
Doch wie sehen erfolgreiche Gegenstrategien aus? Manche propagieren den „Kampf der Kulturen“, eine mehr als missverständliche Übersetzung des Buchs von Samuel P. Huntington (Original: „The Clash of Civilisations“). George W. Bush spitzte diesen Kampf nach dem 11. September 2001 in seiner Formel vom „War on Terror“ zu. Volker Heins bezeichnet diese Vorgehensweise als „Schauergeschichte“: „Wie die Kurzgeschichten von Edgar Allen Poe funktionierte das Antiterror-Narrativ der amerikanischen Regierung so, dass die durchaus rationale Angst des Publikums vor terroristischer Gewalt mit narrativen Mitteln ins Irrationale gesteigert und um ein Gefühl des grenzenlosen Grauens erweitert werden sollte.“
Dies entspricht durchaus auch der Struktur der Waffe. Die Flugzeuge von 9/11 waren im Grunde nichts anderes als das, was in früheren Zeiten eine Autobombe war, nur eben aufgrund der Zahl der Opfer und der zentralen Bedeutung des Tatortes geeignet, Kriege zu legitimieren, die weder eine Autobombe noch die Hinrichtung einer einzelnen politisch prominenten Person hätten legitimieren können.
Ausgehend von der Metapherntheorie von Georges Lakoff und Mark Johnson („Leben in Metaphern – Konstruktion von Sprachbildern, Heidelberg, Carl Auer, 1998) fasst Susanne Kirchhoff in ihrem Beitrag („‘War on Terror‘ – Politische Implikationen einer Metapher“) die Ergebnisse verschiedener Studien zusammen: „In diesem Sinne wirkt Krieg entdifferenzierend und dichotomisierend: Er teilt die Welt in ein homogenes ‚Wir‘ und ein ebenso homogenes, feindliches ‚die Anderen‘“:
Einen völlig anderen – rechtsstaatlich motivierten – Ansatz formuliert Claus Leggewie: „Demokratische Gesellschaften sind alles andere als hilflos und können die drei ‚R‘ ins Feld führen: Responsivität, Resilienz und Resistenz (…): Demokratische Politik muss bürgernäher, selbstbewusster und wehrhafter werden.“ Dies mag sich auch in politischen Reden wiederfinden. Susanne Kirchhoff zitiert Barack Obama, der mit einer Rede im Mai 2013 „eine Verschiebung vom Kriegs- in Richtung Verbrechens-Frame“ in deutschen und US-amerikanischen Medien bewirkte und damit zu einer Rationalisierung der Debatte beitrug, zumindest vorübergehend, denn nach wie vor wirkt die „Großerzählung“ vom Krieg identitätsstiftend, beispielsweise im politischen Streit um die Mauer zwischen den USA und Mexiko. Wie es Politiker*innen und Verantwortlichen in den Medien gelingen könnte, „Großerzählungen“ dauerhaft zu dekonstruieren und freiheitlich-demokratische Versionen von Identifikation, Identität, Vertrauen und Zuversicht in einer Welt voller Unwägbarkeiten, Risiken und Unsicherheit zu schaffen, ist keine akademische Frage. Aber wann war die Welt jeweils übersichtlich?
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2019.)