Gewaltgeschichte(n), Gefühle, Geschichtspolitik
Ein Gespräch mit der Osteuropahistorikerin Katja Makhotina
„Rajzman sprach über die Bedingungen im Lager, über den vorgetäuschten Bahnhof. Der stellvertretende Kommandant, Kurt Franz, baute einen erstklassigen Bahnhof mit Signalen. Später wurde ein vorgetäuschtes Restaurant hinzugefügt, und Fahrpläne wurden ausgehängt mit Abfahrts- und Ankunftszeiten: Grodno, Suwałki, Wien, Berlin. Wie eine Filmkulisse. Um die Leute zu beruhigen, erklärte Rajzman. Damit es keine Zwischenfälle gebe.“ (Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2018)
Philippe Sands (*1960) geht es in „Rückkehr nach Lemberg“ um das Engagement der beiden in Lemberg ausgebildeten Juristen Hersch Lauterpacht (1897-1960) und Raphael Lemkin (1900-1959). Sie schufen die juristischen Grundlagen für die Begriffe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“, die Nürnberger Prozesse und die UN-Völkermordkonvention, die 1951 in Kraft trat. Die dritte Hauptperson des Buches ist Hans Frank, Generalgouverneur der nicht annektierten Teile des besetzten Polen, der im ersten Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurde. Philippe Sands schuf in seinem Buch jedoch auch ein Denkmal für die vielen unbekannten Zeitzeug*innen, von denen nur wenige Gelegenheit erhielten, in einem Prozess gegen NS-Täter*innen auszusagen. Einer dieser Zeugen war Samuel Rajzman (1904-1979). Er überlebte das Vernichtungslager Treblinka, er war Buchhalter, er sprach Polnisch. Seine Aussage beschreibt Philippe Sands als „ruhig und ausdruckslos“.
Denkmäler, Gedenken zu schaffen ist die vornehme Aufgabe von Geschichtswissenschaften und Erinnerungskulturen. Dabei kommt es auf Nuancen an. Der Titel der englischen Ausgabe (sie erschien 2016 in London bei Weidenfeld & Nicolson) spricht den Gegenstand des Buches direkt an: „East West Street – On the Origins of Genocide and Crimes Against Humanity“. Dagegen klingt der Titel der deutschen Ausgabe eher so, als handele es sich um einen nostalgischen Reisebericht, vielleicht eine subtile Form von Verdrängung?
Einen mehr als passenden Titel wählten Katja Makhotina und Franziska Davies für ihr am 28. April 2022 im NS-Dokumentationszentrum München erstmals vorgestelltes Buch „Offene Wunden Osteuropas“. Das Datum hat durchaus Bedeutung. Es ist der Jom HaSchoah des Jahres 2022. Ich habe mit Katja Makhotina am 21. April 2022 über die Hintergründe ihrer Reisen zu Erinnerungsorten in Osteuropa sowie die Irrungen und Wirrungen diverser Erinnerungskulturen in Deutschland, in Polen, in den baltischen Staaten, vor allem in Litauen sowie in den post-sowjetischen Ländern gesprochen. Seit dem 24. Februar 2022 lässt sich dieses Thema nicht mehr ohne durchaus auch kontroverse Einschätzungen der von Putin befohlenen Invasion russischer Truppen in die Ukraine diskutieren. Was veränderte der 24. Februar?
Umwege einer deutschen Osteuropahistorikerin
Norbert Reichel: Vielleicht beginnen wir mit Ihrem wissenschaftlichen Hintergrund.
Katja Makhotina: Ich studierte zwei Jahre an der staatlichen Universität in Petersburg. Eigentlich war das kein Studium, sondern eher eine Suche nach mir selbst. Es war ein Zufall, dass ich überhaupt dort das Geschichtsstudium aufgenommen habe. Es ist wie vieles im Leben eines Menschen: eine Koinzidenz, ein Zufall. Ich wollte unbedingt etwas mit Sprachen machen. Germanistik war schon sehr beliebt und sehr elitär. Man musste schon – es war Ende der 1990er Jahre – sehr viel Schwarzgeld bezahlen. Ich habe mich dann umgeschaut und es gab noch eine nicht so elitäre Sprachrichtung: Orientalistik. Da lernt man Arabisch oder andere Sprachen aus Afrika und Asien. Das war das Unbeliebteste, aber für mich auch eine Chance. Nun habe ich trotz aller meiner Versuche die Aufnahmeprüfung nicht geschafft. Ich war nicht einverstanden, Schwarzgeld zu bezahlen, aber es war nun doch notwendig. Ich habe es nicht gemacht und bin bei der Aufnahmeprüfung glorreich gescheitert. Das Einzige, was noch übrig war, war das Historische Seminar. So kam es aus Verzweiflung dazu, dass ich mein Geschichtsstudium aufnahm.
Dort habe ich mich zwei Jahre mit Frontalunterricht abgequält, mit Geschichte, wie es gewesen ist, und bin dann nach Deutschland, weil ich in Petersburg ein deutsches Gymnasium besucht hatte, wo ich ein deutsches Sprachdiplom abgelegt hatte. Das bot mir die Möglichkeit, ein Hochschulstudium in Deutschland anzufangen. So bin ich mit diesem Sprachdiplom nach Karlsruhe, auch das ein Zufall. Dort habe ich an der Universität Technikgeschichte, Neueste Geschichte und Geschichte des Deutschen Widerstands studiert. Nun war es auch nicht das, was ich mein Leben lang machen wollte, aber es war nun einmal Deutschland. Ich habe daher zusätzlich in einem Fernstudium an der Universität Regensburg Tschechisch, Bohemistik studiert. Das war eine sehr weise Entscheidung, wie es sich später herausstellte. Es ermöglichte mir, mein Masterstudium in München zu machen. Dort wurde auf Transdisziplinarität Wert gelegt. Ich konnte sagen, ich habe sowohl Geschichte als auch Bohemistik, eine Art Slawistik studiert.
Ich habe 2006 in München den Osteuropa-Studiengang aufgenommen. Das war ein sehr arbeitsintensives Studium. Wir mussten selbstständig ein Projekt machen, Praktika, Sommerschule, alles Mögliche. Zum Glück hatte ich ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung, sodass ich mich auf das Studium konzentrieren konnte. Anders wäre es nicht gegangen. Diese Schwerpunkte, gute Lehrer, die ich in München hatte, führten mich an die Forschungsfragen, mit denen ich mich heute beschäftige. Das sind Erinnerung an Gewalt, Gewaltgeschichte in Deutschland, in der Sowjetunion und in Ostmitteleuropa, Erinnerung an den Holocaust, Museen, Gedenkstätten, Friedhöfe, Denkmale.
In meinem eigenen Projekt habe ich zusammen mit Memorial, der Organisation, die jetzt in Russland liquidiert wurde, mit Memorial Petersburg, ein Projekt zu den Erinnerungsorten des Stalinismus gemacht, ein deutsch-russisches Forschungsprojekt, es war vielleicht auch ein Begegnungsprojekt. Bereits 2008 hatte ich mit Irina Papakhova einen Film zur Erinnerung an die Stalinzeit in Karelien gemacht. Das Projekt war sehr inspirierend, aus ihm ist meine Masterarbeit zu Erinnerungsorten des Stalinismus am Weißmeerkanal entstanden. Diese Masterarbeit wurde so gut bewertet, dass sie als Buch erscheinen konnte, der Titel: „Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern – Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal“ (Frankfurt am Main 2013). Das hat mich beflügelt und ich habe mit der Promotion angefangen. Ich habe mich mit litauischer Erinnerungskultur beschäftigt, dazu die litauische Sprache gelernt, ein Buch geschrieben. 2015 wurde ich promoviert.
Norbert Reichel: Ihre Doktorarbeit wurde 2017 mit dem Titel „Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen – Litauen und der Zweite Weltkrieg“ veröffentlicht Göttingen, Vandenhoek & Rupprecht). Über Litauen werden wir gleich noch sprechen. Zu Ihren Sprachen: Sie sprechen Russisch, Deutsch, Litauisch, Tschechisch, sicherlich auch Englisch?
Katja Makhotina: Englisch klar. Und Spanisch. Das habe ich in Karlsruhe gelernt, weil es mit der Technikgeschichte so langweilig war. Ich habe dann versucht, mich durch andere Schwerpunkte zu stabilisieren, denn das Thema Holocaust und Erinnerung an den Holocaust ist nicht unbedingt ein aufbauendes oder lebensbejahendes Thema. Das ist mir schlecht gelungen. Ich werde seit Jahren auf eine Identität festgelegt. Vielleicht wegen meines russischen Hintergrunds. Ich sehe mich eigentlich als deutsche Osteuropahistorikerin und möchte auch so gesehen werden. Ich werde aber eingeladen zu Themen wie russischer Geschichtspolitik, über Erinnerung an die Belagerung Leningrads, weil ich ja nun aus Petersburg komme. Ich habe dazu geschrieben und publiziert.
Norbert Reichel: Das, was mit Ihnen geschah, höre ich auch von Migrationsforscher*innen, die den sogenannten Migrationshintergrund haben. Sie haben alles Mögliche studiert, Wirtschaft, Psychologie, Sozialwissenschaften, und werden dann immer auf die Migrationsforschung festgelegt.
Katja Makhotina: Ja, genau. Wie bei Griechen, die alle etwas zum Peleponnesischen Krieg sagen sollen.
Strafvollzug in Klöstern
Norbert Reichel: So eine Geschichte erzählt Mark Terkessidis in seinem Buch „Interkultur“ (Berlin, Suhrkamp, 2010). Er wurde in der Grundschule vom Lehrer als Perikles-Experte gefragt. Das Thema Ihrer Habilitationsschrift hat nun jedoch einen etwas anderen Schwerpunkt. Was ist das inhaltliche Thema der Arbeit?
Katja Makhotina: Klostergefängnisse als Strafpraxis im Russland des 18. Jahrhunderts. Dieser Forschungsschwerpunkt hat mit meiner Biographie gar nichts zu tun. Diese Arbeit bringt mich selbst weiter und baut mich auf: Klostergeschichte und Strafvollzug, Geschichte der Buße und der Reue, die Praxis in der frühen Neuzeit, die damit verbundenen Emotionen. Das ist der Gegenstand meiner Habilitationsschrift, ich bin gerade in den letzten Zügen.
Norbert Reichel: Sind die Quellen für eine solche Arbeit gut zugänglich?
Katja Makhotina: An die Klosterarchive kam ich gut heran. Jetzt würde ich da sicher nicht hinfahren, aber das Quellenstudium ist abgeschlossen. Die Klosterarchive sind gut erhalten, sie wurden kaum erforscht. Das ist eine Forschungslücke, das hat sich noch niemand systematisch angesehen.
Norbert Reichel: Wie stelle ich mir die Strafpraxis in Klöstern vor?
Katja Makhotina: Sie kennen sicherlich die Zuchthäuser im deutschsprachigen Raum. Die waren zum Beispiel in Sachsen, in Preußen in säkularisierten Klöstern. In Russland wurden in Klöstern Menschen gefangen gehalten, sie lebten dort gemeinsam mit Mönchen oder Nonnen. Es ging von moralischen, ethischen Verfehlungen wie Ehebruch, Unzucht, Blasphemie, Majestätsbeleidigung, Zauberei bis hin zu Kriminalfällen. Politische Opponenten wurden dort auch gerne festgehalten. Ich denke, man sollte nicht unbedingt von Klostergefängnissen sprechen, sondern von Klosterverwahrung. Es waren keine eigens gebauten Gefängnisse, es waren funktionierende Klöster mit Zellen, Refektorien, da wo eben Platz war.
Es ging um Freiheitsentzug als humanere Strafe gegenüber körperlicher Peinigung oder Hinrichtung. In Klöstern ging es zunächst einmal darum, Menschen zu zähmen, zu züchtigen, durch Nahrungsentzug. Später ging es immer mehr darum, Menschen zu bessern. Durch bestimmte Bußübungen, regelmäßige Beichte, Kirchenzucht, bestimmte Arbeit, die zu erledigen war, regelmäßiges Beten, Besuche von Kirche, Messen. Religiöse Kommunikation sollte die Seele heilen und den Menschen bessern. Sobald er gebessert war, konnte er das Kloster verlassen und in seine Welt zurückkehren.
Insofern ist es ein Zwischenwesen zwischen mittelalterlichen Orten der Einsperrung, die es in der westkirchlichen Welt auch schon in Klöstern gab, und großen Gefängnissen bis hin zu den heutigen Justizvollzugsanstalten. Es gibt auch im Westen diese Tradition bis hin zu den Nazis, die in Klöstern Geisteskranke, Behinderte einsperrten und ermordeten. Auch in Frankreich dienten die säkularisierten Klöster als Zuchthäuser. Sie werden zum Beispiel bei Victor Hugo in „Les misérables“ beschrieben. Ehemalige Klöster, die zum Teil bis heute Gefängnisse sind.
Da war Russland nichts Besonderes. Das gab es im westlichen Europa schon im 16. Jahrhundert, im Zuge der Reformation. Dieses Know-How hat man in Russland praktisch importiert, um Menschen besser zu kontrollieren, zu normen, zu regulieren, zu erziehen und so weiter.
Norbert Reichel: Die Strafpraxis in den Klöstern ist somit einer der diversen Importe Russlands aus dem Westen.
Katja Makhotina: So einiges wurde importiert. Die Klöster waren multifunktionale Institutionen. Sie waren nicht nur Gefängnisse, sie waren auch sogenannte „Tollhäuser“ für die Geisteskranken, Armenhäuser, Waisenhäuser.
Norbert Reichel: Das heißt letztlich, dass kirchliche Einrichtungen für staatliche Bedürfnisse verwendet wurden, Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen.
Katja Makhotina: Ja, das auf jeden Fall.
Norbert Reichel: Wo liegen diese Klöster in Russland, die sie untersucht haben?
Katja Makhotina: Vor allem im Norden. Es sind strenge Festungen aus den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Schweden. Und je strenger diese Festungen waren, umso eher waren sie geeignet, Gefangene festzuhalten, damit sie nicht flüchten. Deswegen waren sie meistens im Norden. Aber eigentlich waren alle Klöster in Russland Orte der Verwahrung.
Norbert Reichel: Wie ordne ich den Beginn dieser Praxis zeitlich ein?
Katja Makhotina: In die Zeit des großen Nordischen Kriegs mit Schweden (1700-1721), auch noch davor. Auch schwedische Kriegsgefangene wurden in den Klöstern verwahrt.
Vergleichende Gewaltgeschichte
Norbert Reichel: Eines ihrer Themen ist die europäische Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert. Dies ist Thema des Buches, das Sie am 28. April 2022 gemeinsam mit Ihrer Ko-Autorin Franziska Davies vorgestellt haben: „Offene Wunden Osteuropas“. Das Buch enthält neun Reiseberichte an Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs und der Shoah. In Einleitung und Epilog rahmen Sie die diversen nationalen Erinnerungskulturen mit all ihren Leerstellen und Widersprüchen mit den Entwicklungen, die nicht erst am 24. Februar 2022 begannen, sondern auch schon ihre lange Vorgeschichte haben. Vielleicht sprechen wir über die Verbindungen, Verknüpfungen, Vergleiche, die in den Debatten um Erinnerungskultur diskutiert werden. Blinde Vergleiche, in denen einfach gesagt wird, das eine ist wie das andere, halte ich für gefährlich.
Katja Makhotina: Da bin ich absolut Ihrer Meinung. Vergleichen ist nicht Gleichsetzen. Im alltäglichen nicht wissenschaftlichen Bewusstsein bedeutet es jedoch oft Gleichsetzen. Das ist das Gefährliche. Das hatten wir schon in Zeiten der Totalitarismustheorie durch die sechs Merkmale der totalitären Strukturen, mit denen im Kalten Krieg so gerne gearbeitet wurde. Ein Punkt war, dass Nationalsozialismus und Sowjetunion stalinistischer Prägung totalitäre Staaten sind. Sie wurden so beschrieben, erforscht, erklärt. Dies wurde später durch die Revisionistenschule ad acta gelegt.
Der entscheidende Punkt ist der, dass es ständig zu Vergleichen kommt, zu Erwartungshaltungen, ob und wie die deutsche Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf die sowjetische und post-sowjetische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus angewendet werden kann. Damit meine ich, dass in der deutschen Diskussion eine Haltung formuliert wird: wir haben die Nazi-Zeit aufgearbeitet, wir haben Denkmale für die Opfer aufgestellt, wir waren selbstkritisch, wir haben eine eindeutige juristische Beurteilung dieses Regimes. In Russland wäre das nicht passiert, und damit werden schon die Systeme gleichgestellt, der Stalinismus wäre das Gleiche wie der Nationalsozialismus. Die Russen sollen das Gleiche machen wie wir in Deutschland. Das war lange Zeit auch der Standpunkt von Memorial. Dies prägte sich auf der Ebene der Repräsentation aus, die Frage, warum wir nicht in Russland wie in Deutschland Denkmale und Gedenkstätten wie in Buchenwald und Dachau haben. Das hat sich auch auf die Ebene der Projektion, der Erwartungen an die russische Gesellschaft ausgewirkt, die aber natürlich einen ganz anderen Bezug zur Vergangenheit hat oder haben musste als die deutsche Gesellschaft in Bezug auf die Nazi-Vergangenheit, den Holocaust, den Zweiten Weltkrieg mit all ihren Auswirkungen auf die transatlantischen Strukturen und die sowjetischen Einflusszonen nach 1945.
Diese Reflexion fehlt komplett in Russland. Einmal gab es den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“, es gab keine Opfergruppe, die man als Russe vernichtet hatte und die vor der internationalen Gemeinschaft Russland oder die Sowjetunion hätte anklagen können. Die Russen, die Russländer, die russischen Bürger, die man auch als Opfer des Stalinismus sehen kann, haben von sich nicht als Opfer gesprochen.
Memorial hat viel für die Aufarbeitung gemacht, Quellen offengelegt, Archivforschung betrieben, sehr viele Publikationen veröffentlicht. Was aber Memorial nicht leisten kann: es kann nicht in die Köpfe der Menschen hineingehen, es kann sie nicht dazu bringen, den Stalinismus zu verurteilen. Es kann nicht diese Emotion von Wissen-wollen, von Verurteilen-wollen erzeugen. Und so blieb es in den russischen Köpfen so eine Art Naturkatastrophe. Der Onkel ist verschwunden, er wurde abgeholt, aber dank Stalin hatten wir einen starken Staat, wir hatten ein gutes Leben. Eine solche Diskussion wäre in Deutschland nicht denkbar.
Norbert Reichel: Hat sich Memorial mit seiner Botschaft in der russischen Bevölkerung verankern können?
Katja Makhotina: Die Bevölkerung in Russland ist natürlich auch sehr gespalten, desintegriert. In der Bevölkerung gibt es durchaus ähnliche Diskurse, man müsse sich am deutschen Beispiel orientieren. Der Mehrheit der Russen sind die stalinistischen Verbrechen jedoch gleichgültig. Obwohl viele in der Familie jemanden haben, der gelitten hat oder getötet wurde. Ganz profan formuliert: Menschen glauben zu wissen, dass ihre Familie nicht im Stalinismus gelitten hat. Sie sagen, das war vielleicht übertrieben mit den stalinistischen Repressionen, aber in meiner Familie gab es keine. Dann beschäftigt man sich mit den Biographien und stellt fest, es gab Opfer, es gab einen Abgeholten, aber sie wollen es nicht wissen. Sie haben sich nie damit befasst, weil sie sich nicht dafür interessiert haben. Das fehlende Interesse ist die fehlende Zündung für die Auseinandersetzung.
Norbert Reichel: Das ist ein interessanter Unterschied zu Deutschland. In Deutschland ist es inzwischen populär geworden, die eigene Familie oder bei den älteren Menschen sich selbst zu Opfern zu erklären. Diverse Forschungen belegen, dass immer mehr Deutsche – und das geht in mittlere zweistellige Prozentwerte – glauben, ihre Vorfahren wären Opfer gewesen, hätten Widerstand geleistet, hätten Juden versteckt. Keine Täter unter den Deutschen.
Katja Makhotina: Man muss dazu allerdings auch sagen, dass es in den russischen Familien sowohl Täter als auch Opfer gab. Der eine Großvater wurde abgeholt, im Lager erschossen, der andere Großvater war eben ein NKWD-Offizier, der Befragungen von Abgeholten gemacht hat. Oft wissen sie nicht, was er gemacht hat, und wollen es auch gar nicht wissen. Ich denke, natürlich gibt es da Unterschiede, aber die menschliche Psyche ist universell. Man möchte sich nicht als Opfer sehen, nicht als Täter sehen, nicht mit unangenehmen Themen beschäftigen. Schauen wir uns die westeuropäische Situation an. Diejenigen, die diese Themen aufbrachten, das waren oppositionelle Lehrer, das war die linke Bewegung, die den deutschen Staat angeklagt hat, die auch gegenwartskritisch war, die Auseinandersetzung mit Geschichte wollte. In der Sowjetunion gab es keine solche Bewegung, die den Stalinismus anklagen wollte. Es gab Dissidenten, die sich aber auf ihre humanistische Position herauszogen und eigentlich keine Gedenkstätten bauten.
Norbert Reichel: In Deutschland gab es Fritz Bauer (1903-1968). Er hat den Auschwitzprozess möglich gemacht, er gab den entscheidenden Hinweis zur Enttarnung von Eichmann, die es ohne ihn nicht gegeben hätte. Gegen große Widerstände. Gibt es vergleichbare post-sowjetische Debatten, vielleicht sogar Prozesse?
Katja Makhotina: Die gab es weder in der Sowjetunion noch in den anderen post-sozialistischen Staaten. Und wo es sie dann gab, wurde sie als Keule benutzt, um Opponenten auszustechen. Jelzin war der große Demokrat der sowjetischen Geschichte. Aber auch er war eine Persönlichkeit der sowjetischen Geschichte. Er wird ja nicht gegen sich selbst ermittelt haben.
Das einzige Gesetz, das es in Russland zum Stalinismus gab, war das Rehabilitierungsgesetz zur Rehabilitierung der Opfer. Täter wurden nicht bestraft. Insofern gibt es die Erinnerung an den Stalinismus in dieser verkürzten Form, dieser verbogenen Form, in der durchaus an Opfer erinnert wird, aber nicht gesagt wird, welche Täter es gab. Welche Strukturen gab es?
Norbert Reichel: Da gibt es wieder Ähnlichkeiten zu deutschen Diskussionen. Mit der Rehabilitierung von Opfern taten sich die Deutschen immer sehr schwer. Ich denke zum Beispiel an die nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter*innen oder an die Debatte um eine Gedenkstätte an die Leiden, die Deutsche über Polen gebracht haben.
Katja Makhotina: Es ist die Frage, wer waren diese Menschen? Das ist die Frage von Juri Dmitriew, der versucht hat, die Namen der Täter zu veröffentlichen. Er ist das Paradebeispiel. Juri Dmitriew ist Mitarbeiter von Memorial, Lokalhistoriker. Er war der erste, der die geheimen Friedhöfe des NKWD am Weißmeerkanal finden konnte. Er hat die Gräber ausgehoben, die Leichen exhumiert, geforscht. Er hat die Gräber ausgehoben, die Leichen exhumiert, geforscht. Er wollte nicht nur die Namen der Opfer publizieren, sondern auch Täterlisten. Dafür würde man in Deutschland eine ganze Forschungsinstitution beauftragen. Er macht alleine das, was man hier mit zehn Historiker*innen und sonstigen Projektstellen machen konnte. Daran können sie schon das Ausmaß vorstellen. Er wurde vor fünf Jahren vor Gericht gestellt. Ihm wurde in einer fingierten Anklage Pädophilie vorgeworfen. Das ist ein Totschlagargument in solchen Fällen, bei dem sich sogar Liberale bei der Verteidigung zurückhalten. Er wurde verurteilt und wird wohl bis an sein Lebensende in einem russischen Lager bleiben.
Mononationale Perspektiven
Norbert Reichel: Wenn wir uns den gesamten post-sowjetischen Raum anschauen, interessiert mich, ob es Gemeinsamkeiten in der Praxis der Erinnerung an die Vergangenheit gibt.
Katja Makhotina: Wenn man versucht, das zusammenzusehen, gibt es eine Dimension, die für alle diese Staaten gilt. Aus multinationalen Staaten wurden durch die deutsche Besatzung und die sowjetische Politik nationale Staaten. Die Geschichten dieser Gewalterfahrungen unter den Nazis und den Sowjets werden aus einer mononationalen Perspektive erzählt. Der multiplen Geschichte der verschiedenen Ethnien, auch der Juden, wird nicht sehr viel Platz zugemessen. Das ist eine Generallinie. Je nachdem, wo wir uns bewegen, müssen wir natürlich differenziert schauen, in welchem Verhältnis, in welchem Maße die jüdische Bevölkerung Repressionen ausgesetzt war. Das unterscheidet sich je nach Nationalstaat. Das Konzept, eigene Geschichte als Geschichte der Gewalt zu erzählen, bleibt jedoch gleich. Sie wird als Geschichte eines nationalen Traumas erzählt und nicht als Geschichte eines Traumas, das auch andere Ethnien betrifft, bei denen man nicht selbst Opfer war, allenfalls als By-Stander, Augen- und Ohrenzeuge oder sogar selbst als Täter.
Norbert Reichel: Sie haben viel über Litauen geforscht. In dem Buch „Offene Wunden Osteuropas“ beeindruckte mich das Kapitel über das Wilner Ghetto. Sie beschreiben, wie stark in Litauen pro-deutsche Einstellungen aus anti-sowjetischen und später anti-russischen Einstellungen abgeleitet werden. Mich bestürzt, wie lange sich auch eine anti-jüdische Einstellung hält, weil Juden mit den sowjetischen Besatzern identifiziert wurden, sodass litauische Gruppen, beispielsweise die sogenannten „Weißbändler“ die Deutschen bei der Ermordung der Juden so intensiv unterstützten. Im III. Reich wurden Juden als Drahtzieher des Bolschewismus, in der Sowjetunion als Agenten Hitlers verdächtigt. Und in den besetzten Staaten gab es je nach Besatzern vergleichbare Zuschreibungen.
Katja Makhotina: Bis Februar 2022 hat es sicherlich nachgewirkt und man konnte es auch sehen. Ich denke, dass jetzt die Stimmen solcher Art in Litauen weniger Forum bekommen, weil man dann sozusagen über einen litauischen Nationalismus abwertend spräche und damit Putin etwas Gutes täte. Als ich mein Buch über Litauen publiziert habe, gab es auch eine Diskussion über nützliche Idioten. Gemeint waren Historikerinnen und Historiker, die etwas Problematisches in der nationalen Erinnerungskultur herausfinden, beispielsweise die Heroisierung von Bandera oder von antisemitischen Partisanen. Wenn man dann diese Figuren mit einer zweifelhaften Reputation kritisierte, wurde man als nützliche Idioten, als Putin-Agenten, als russische Agenten bezeichnet. Das ging nicht nur Historikerinnen wie mir so, die einen russischen Nachnamen haben, sondern auch polnischen, deutschen. Es gibt schon ein ganzes Dossier von solchen Geschichten. Vielleicht kann es in 20 Jahren interessant werden, darüber zu forschen. Es ist eine so einfache Strategie, jemanden als russischen Agenten zu bezeichnen. Dann braucht man keine Argumente mehr, um sich mit jemandem auseinanderzusetzen. Eine Art Post-Politik, man schaut nicht auf Inhalte, sondern kategorisiert in Schubladen, und schließt jemanden aus der Diskussion aus.
Norbert Reichel: Geht in die andere Richtung ja genauso, alles westliche Agenten.
Katja Makhotina: Das ist nicht nur in Russland so. Wir müssen uns da nichts vormachen. Auch in unserer Demokratie gibt es solche Techniken, um unliebsame Meinungen loszuwerden. Man diffamiert, stigmatisiert, behauptet, dass das, was da gesagt wird, mit der eigenen Nation nichts zu tun hätte. Alles ausländische Agenten. So geht es auch meiner Wenigkeit. Ich gelte in Russland als deutsche hirngewaschene Agentin und stehe auf der gleichen Seite wie Hitler. In Deutschland werde ich von Nationalisten jeglicher Couleur als Putin-Agentin diffamiert.
Die traurige Erosion des Friedensbegriffs
Norbert Reichel: Sie sprachen eben von Veränderungen nach dem 24. Februar. Woran machen Sie diese Einschätzung fest? Wie massiv sind diese Veränderungen? Ich nenne ein Beispiel. Das vom Deutschen Polen-Institut in Darmstadt herausgegebene Deutsch-Polnische Barometer zeigte in einer Sonderuntersuchung nach dem 24. Februar 2022 eine deutliche Veränderung auf der Seite der Deutschen. Deren Einschätzung einer politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Bedrohung durch Russland hatte sich den polnischen Werten angeglichen. Offenbar nahm man auch die polnischen Befürchtungen jetzt ernst, nachdem man sie lange nicht ernst genommen hatte. Ob sich das in den nächsten regulären Untersuchungen bestätigen wird, müssen wir abwarten. Die nächste Untersuchung wird im Sommer 2022 veröffentlicht. Es hängt sicherlich auch vom weiteren Kriegsverlauf ab. Was ändert sich? Wir können gerne beim Beispiel Litauen bleiben.
Katja Makhotina: Ich weiß nicht, ob sich etwas ändert oder ob eine Furcht, das Gefühl, bedroht zu werden, das ohnehin schon da war, sich verstärkt. Es gibt nun auch reale Gründe, Angst zu haben, vielleicht nicht aus der Geschichte heraus als aus der Gegenwart begründet. Wir sehen seit etwa 2012, wie unberechenbar und aggressiv Russland wirkt. Was sich jedoch in Deutschland stark ändert, konnten wir am Wochenende bei den Ostermärschen sehen. Es ist heute schwierig, für Frieden zu werben. Frieden wird zu einem seltsam aufgeladenen Begriff.
Norbert Reichel: Ich denke, es spielt schon eine Rolle, dass die Deutschen die berechtigten Ängste in Polen und in den baltischen Staaten nicht ernst genommen haben. Ansonsten sind kontrafaktische Annahmen Spekulation. Putins Agenda war eigentlich schon lange klar. Ich lese zurzeit das Buch von Catherine Belton „Putin’s People“ (London, HarperCollins, 2020), das eigentlich sehr genau zeigt, was seine Agenda und die seiner KGB-Freunde von Anfang an war. Ich weiß gar nicht, wie der Autorin diese Recherche gelungen ist. Das ist Investigativjournalismus höchster Qualität. Von den nachweisbaren Visionen Putins der Wiederherstellung eines von ihm geführten russischen Weltreichs, in einer Mischung von Zarenreich und Sowjetunion, wollte in Deutschland und auch anderswo niemand hören. Wo waren schon Georgien oder die Ukraine? Weit weg. Bis zum 24. Februar 2022.
Meines Erachtens wird der Friedensbegriff zurzeit von unterschiedlichen Seiten instrumentalisiert und verbogen. Ich las jetzt in einer wohlmeinenden Zeitschrift den Vorschlag, die USA möge mit Russland verhandeln, die russischen Interessen in der Ukraine anerkennen und im Gegenzug möge Russland die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen. Das wäre ein weiterer Rückfall in eine Zeit, in der sogenannte Großmächte über die anderen entscheiden und sozusagen die Welt unter sich aufteilen. Irgendwie ähnelt das Ganze einer K-O-Situation. Aber wer hat eine Lösung? Wer wäre in der Lage, eine tatsächlich wirksame Friedensinitiative zu schaffen? Wer könnte es schaffen, Putin zu überzeugen, dass er sich mit seinem Kurs selbst schadet? Ich sehe niemanden.
Katja Makhotina: Ich auch nicht. Es geht aber auch nicht, dass hochrangige Politiker Teilnehmern der Ostermärsche vorwerfen, sie würden den Opfern von Butscha ins Gesicht spucken.
Norbert Reichel: Sie haben recht, das geht gar nicht. Auch wenn ich nicht mit allen Schildern, die auf den Ostermärschen gezeigt werden, einverstanden bin, denke ich, das muss eine Demokratie zulassen. Und solche Äußerungen wie die von Ihnen zitierte sind einer Demokratie nicht würdig. Das ist Diffamierung. Wenn das einreißt, verhalten wir uns selbst wie ein autoritärer oder totalitärer Staat.
Katja Makhotina: Mir kommt es so vor, zumindest in der deutschen Diskussion, dass es jetzt darum geht, einander zu beschimpfen und anzuprangern, einen Schuldigen festzustellen. In diesen erhitzten Debatten vermisse ich den eigentlichen Schuldigen, und das ist Putin. Das hört sich so an, als trüge Putin keine Schuld, wohl aber verschiedene deutsche Politiker. Es geht nicht darum, Menschen persönlich anzugreifen. Das ist eine Praxis, die ich aus meinen Studien über die Klostergefängnisse kenne. Da wurden Menschen auf dem Marktplatz öffentlich an den Pranger gestellt.
Norbert Reichel: Der Vergleich gefällt mir.
Katja Makhotina: Wir sehen immer nur die aufgeladenen Plakate, auch Positionen, die schräg sind. Aber die meisten, die auf den Friedensmärschen mitlaufen, haben keine Schilder, wir wissen gar nicht, was sie konkret denken. Es wäre mal interessant, eine soziologische Studie über die Motive und Positionen der Teilnehmer an Friedensmärschen zu machen.
Norbert Reichel: Vielleicht auch im Zeitvergleich.
Katja Makhotina: Auch durch die Medien haben wir eine verzerrte Wahrnehmung, denn dort werden vor allem die schrägen Plakate gezeigt. Das habe ich in meinen Forschungen zu den Praktiken zum 9. Mai in Russland, in Litauen, in Deutschland festgestellt. Man fällt selbst auf die plakative Message, auf verstörende Bilder herein und glaubt sich ein Bild machen zu können. Sobald man beginnt, mit den Menschen zu sprechen, ergibt sich ein ganz anderes Bild, eine eigene Dynamik, und diejenigen, die da mitmarschieren, haben nichts damit zu tun, was Provokateure, welcher Couleur auch immer, in den Vordergrund schieben.
Norbert Reichel: Was haben Sie bei Ihren Forschungen zum 9. Mai konkret festgestellt?
Katja Makhotina: Wir haben konkret festgestellt, dass man diese feierliche Menge nicht als Putinisten diffamieren darf. Sie sind oft auch in Opposition zu Putin, sehen sich aber in der Pflicht, an ihre Großeltern, die im Krieg gelitten haben, zu erinnern. Das waren natürlich Forschungen aus den Jahren 2014 und 2015. Seitdem hat sich einiges verändert. Es geht vielen Menschen um ihre eigentlichen Familien, nicht um die Verkündung patriotischer Botschaften.
Norbert Reichel: Damit sind wir bei dem Thema der Instrumentalisierung von Familiengeschichten durch Leute, die ihre politische Agenda durchsetzen wollen. Das ist das Gefährliche an Erinnerungskultur.
Katja Makhotina: Geschichtspolitik ist ein Teil von Erinnerungskultur. Das ist in Deutschland nicht so stark ausgeprägt wie in anderen Staaten. Sie hat eine andere Funktion in Deutschland.
Norbert Reichel: Meines Erachtens hat die deutsche Erinnerungskultur auch viel Entlastungsfunktion. Gerade an bestimmten Gedenktagen, am 27. Januar oder am 9. November. Das Leid der Opfer, das Trauma der Kinder und der Enkel*innen der Opfer, das interessiert weniger. Geschichtspolitik ist natürlich auch ein Aspekt der Debatte um die Totalitarismustheorie, in der meines Erachtens alles miteinander vermengt wird. Die Motive Stalins und Hitlers unterschieden sich deutlich. Stalin ließ bei all seinen Verbrechen kein Volk vernichten. Es gibt keine sowjetische Shoah. Ich habe den Eindruck, dass Hannah Arendt (1906-1975) und ihre Analysen totalitärer Herrschaft instrumentalisiert wurden, gerade in Deutschland, um den deutschen Vernichtungskrieg und die Shoah zu relativieren und den Sowjetkommunismus und die DDR als den eigentlichen Gegner zu identifizieren.
Katja Makhotina: Ich bin ein großer Bewunderer von Hannah Arendt und ihrer Philosophie. Ich habe neulich über das Unrecht nachgedacht, das ihr mit dem Buch „Die Banalität des Bösen“ widerfuhr. Sie sagte, das waren ganz normale Menschen, keine aus dem Weltall gelandete Monster, die diese Verbrechen verübten. Ich sehe das jetzt auch in meinem russischen Umfeld, wie schnell diese Krankheit von Faschismus, verbrecherischer Ideologie, auf der anderen Seite auch Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit sich verbreiten können. Es ist kein deutsches, kein Nazi-Phänomen, es ist ein universell-menschliches Phänomen. Jetzt sind es Russen, die das nicht wissen wollen, die versuchen, die Verbrechen zu rechtfertigen. Ich sehe hier wieder, wie recht Hannah Arendt hatte.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2022, alle Zugriffe im Internet zuletzt am 2. Mai 2022. Alle Bilder wurden mir von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt. Es handelt sich um Fotos, die sie und Franziska Davies bei den Reisen gemacht hatten, die sie in „Offene Wunden Osteuropas“ dokumentieren. Verwendung ist nur mit ihrer Genehmigung möglich. Zu einem Datum folgende Ergänzung: Katja Makhotina spricht vom 9. Mai als Tag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg. In Deutschland gilt der 8. Mai als Tag des Kriegsendes. In Moskau war wegen der Zeitverschiebung jedoch schon der 9. Mai angebrochen. Das Titelbild ist ein Ausschnitt aus dem Bild „Submissive Chain Swallowing Artist“ der Petersburger Künstlerin Arina Nâberezhneva. Es wurde mir von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt. Jede Verwendung ist nur mit ihrer Genehmigung möglich.)