Gott liebt die Anderen

Über Wege der Wahrheit in Religion und Religionsunterricht

„Wenn jemand, wie man es heutzutage oft hört, verkündet: ‚Religion löst Gewalt aus‘, und jemand anders antwortet darauf: ‚Sie irren sich, Religion bringt immer Frieden‘, dann wäre die richtige Reaktion, darauf zu antworten, dass man auch dann, wenn beide Ansichten teilweise wahr sind, sehr viel Energie aufwenden müsste, um zu beweisen, dass beide Sätze hundertprozentig wahr sind. Doch würde man auf diese Weise nicht besser verstehen, was Religion ist.“ (Charles Taylor, Was ist Religion? Über die Vieldeutigkeit eines umkämpften Begriffs, Stuttgart, Reclam, 2021)

Charles Taylor (*1931) formulierte diese irritierende These zu Beginn eines Vortrags, den er am 17. Mai 2018 am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien hielt. In diesem Vortrag spricht er von der „Komplexität“ der Beschäftigung mit Religion, durchaus im Einklang mit dem von Thomas Bauer in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams“ (Berlin, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2011) ausführlich begründeten Begriff der „Ambiguitätstoleranz“. Um eine solche „Ambiguitätstoleranz“ zu verstehen und im Gegenzug zu ergründen, was Religionen zum Frieden beziehungsweise zu Unfrieden beitragen, wäre es wichtig zu klären, worum es eigentlich geht, wenn wir von oder über Religion sprechen.

Religionsunterricht – Indikator für den Zustand einer Gesellschaft

Charles Taylor beschreibt die Ambivalenz der Diskurse rund um Religion. In arabischen Ländern werde „Religion auch als eine entscheidende Waffe im Kampf gegen den Kolonialismus (…) eingesetzt“, eine Strategie, die auch in Deutschland und anderen „westlichen“ Ländern zu funktionieren scheint. Auch dort wird die in diesen Ländern mehrheitlich vertretene Religion, das Christentum, unabhängig von seinen diversen Ausformungen, durchaus als „Waffe“ eingesetzt, in der Vergangenheit gegen das Judentum, heutzutage auch gegen den Islam.

Es muss nicht immer direkt so gewaltsam zugehen wie es das Bild der „Waffe“ nahelegen könnte. Friedrich Wilhelm Graf stellt in seinem Buch „Missbrauchte Götter“ (Untertitel „Zum Menschenbilderstreit in der Moderne“, 2009 in München bei C.H. Beck erschienen) „Deitätenkonjunktur“ fest. „Analog zum ‚Postulatengott‘ der Kantianer führen Verfassungs- und Staatsrechtslehrer gemeinsam mit Theologen gelehrte Debatten über die Frage, ob denn die ‚Präambelgötter‘ diverser europäischer und gerade auch deutscher Verfassungen noch mehr und anderes sind als nur deifizierte Staatsnotare im Bundespräsidentenformat. Sind diese Verfassungsgötter wirklich weltanschaulich neutral, oder werden mit ihrer autoritätssuggestiven Bindungsmacht bestimmte ‚Werte‘ oder gar ‚Grundwerte‘ als für alle Bürger bindend gesetzt?“ In Parteiprogrammen und Koalitionsverträgen lesen wir gelegentlich geschichtsvergessen von der „christlichen“ Prägung „unserer Werte“ – in hoc signo vinces –, mitunter mit verschämter Tarnung der wahren Absichten von der „christlich-jüdischen“ Prägung.

Wie gläubig oder wie religiös die mehr oder weniger offiziellen Vertreter*innen der „Verfassungsgötter“ selbst wirklich sind, lässt sich schwer bewerten. Wie diejenigen, die als Pfarrer*in, als Priester, als Rabbiner*in, als Imam*in, als Religionslehrer*in ihre „Gottesbilder“ und „Menschenbilder“ in Liturgie oder im Religionsunterricht vorstellen, darüber debattieren lassen oder sie mehr oder weniger als verbindlich behaupten, ist ein Indikator für gesellschaftliche Konflikte und dürfte die Art und Weise, in der in einer Gesellschaft über Religion, über „Werte“, über „Frieden“, „Gewalt“ und vor allem über das Weltverständnis und die Religionen der anderen gesprochen wird, entscheidend beeinflussen. Dann werden diese Anderen als „Fremde“ markiert und „Fremde“ als „Feinde“ definiert. Dies gilt vor allem für Religionen von Minderheiten.

Religion von Minderheiten wird in öffentlichen Diskursen oft kulturalisiert und migrantisiert. Charles Taylor verweist darauf, dass in den Zeiten, in denen noch offen und mit den besten Absichten der meisten Beteiligten über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union verhandelt wurde, „der Verweis auf das Christentum in vielen Fällen von säkular eingestellten Politikern gemacht wurde, und zwar mit explizit anti-islamischer Absicht, und dass mit diesem Verweis bloß eine oberflächliche Zugehörigkeit zu einer besonderen Zivilisation oder historischen Kultur signalisiert wurde.“ Das funktioniert durchaus in alle Richtungen der Argumentation, und so stehen Verfechter*innen einer bestimmten Religion oft den Verfechter*innen einer anderen Religion oder Weltanschauung unversöhnlich einander gegenüber. Die Komplexität der Zugehörigkeit zu kulturellen und politischen Räumen wird schnell auf eine Diskussion über Gültigkeit und Tragweite von religiösen Dogmen reduziert. Deren historische, soziologische und kulturelle Genese bleibt außer Acht. Eine bestimmte Religionszugehörigkeit wird zum Machtinstrument. Ein offener Diskurs, eine Auseinandersetzung mit eigenen und mit anderen Positionen erstickt im Vor-Urteil.

Wozu Religionsunterricht?

Solche Zusammenhänge sind der Hintergrund, der bei der Lektüre von Texten zur religiösen Praxis, zu der auch der Religionsunterricht gehört, zu berücksichtigen wäre. Der bei Frank & Thimme 2021 erschienene Sammelband „Zukunftsfähiger Religionsunterricht zwischen tradierter Lernkultur, jugendlicher Lebenswelt und religiöser Positionalität“ eignet sich sehr gut, um diverse Positionen, Widersprüche, Dilemmata bei der Aufnahme dieses Hintergrund zu illustrieren und zu debattieren.

Der Sammelband ist der siebte Band der Reihe „Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen“, er enthält acht Beiträge von fünf Autor*innen, von denen vier als Herausgeber*innen des Bandes firmieren. Der Band besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um „religiöse Traditionen“, im zweiten um die „Gegenwart“ im Hinblick auf die Bedeutung der Religion für junge Menschen. Harry Harun Behr, Bruno Landthaler und Bernd Schröder haben jeweils einen Beitrag für beide Teile geschrieben, Katja Böhme schrieb einen Text für den zweiten, Daniel Krochmalnik für den ersten Teil. Ausgangspunkt für Bruno Landthaler und Daniel Krochmalnik ist das Judentum, für Harry Harun Behr der Islam, für Bernd Schröder das evangelische Christentum, für Katja Böhme der Katholizismus.

Der Titel des Buches klingt komplex und irgendwie auch verwirrend gestelzt. Es geht in allen Texten jedoch um die letztlich einfache Frage der Beziehung zwischen unterschiedlichen Interpretationen und Praktiken einer Religion. Katja Böhme bezieht zu Beginn ihres Textes diese Grundsatzfrage auf Voraussetzungen und Ziele des Religionsunterrichts: „Inwieweit ist es heutzutage überhaupt noch berechtigt, in religionspädagogischen Zusammenhängen bei Schülerinnen und Schülern von einer ‚katholischen‘ Identität zu sprechen?“ Es ließe sich dieselbe Frage auch für alle anderen mit einem religiösen Bekenntnis verbundene „Identitäten“ stellen.

Doch wozu Religionsunterricht? Religionsunterricht kann sehr unterschiedlich ausgestaltet werden, mal eher liberal, mal eher dogmatisch oder auch geradezu identitär. Die Frage, wie weit Religionsunterricht den Anforderungen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats entspricht, ob er möglicherweise dogmatisch die Überlegenheit einer bestimmten Religion beziehungsweise eines bestimmten Bekenntnisses oder gegebenenfalls sogar den Vorrang einer Religion vor staatlicher Verfassung behauptet, treibt alle um, die sich für den Ausbau oder für die Abschaffung dieses Fachs einsetzen. Die damit verbindbare Frage, ob es angemessen ist, in einem Fach Noten zu erteilen, das nicht nur objektivierbares Fachwissen, sondern auch Einstellungen betrifft und diese – zumindest in Deutschland – möglichst kontrovers – im Sinne des Beutelsbacher Konsenses – präsentieren und diskutieren sollte oder könnte, möchte ich dabei gar nicht ansprechen. Sie ist auch nicht Gegenstand des Sammelbandes.

Aber wie auch immer Religionsunterricht ausgestaltet wird, ist er ein Indikator für das Ausmaß der Konflikte, die in einer Gesellschaft diverse Gruppen austragen, um sich gegenüber anderen Gruppen als überlegen zu erweisen, ihre eigene Macht zu behaupten und diese zu konsolidieren. Wovon wird gesprochen, wenn von Religion gesprochen wird? Und eben diese Frage stellt sich auch im Religionsunterricht, denn Schule ist nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaft, in der sie stattfindet. Insofern lässt sich leicht begründen, warum Religionsunterricht dazu führen könnte, Konflikte in einer Gesellschaft besser zu verstehen. Unter dieser Perspektive empfehle ich die Lektüre des genannten Sammelbandes. Die Literaturhinweise mögen anregen, die Lektüre zu vertiefen.

Die identitäre Versuchung

Zuletzt hat die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in mehreren Bundesländern dazu geführt, dass das Fach grundsätzlich und unabhängig von den jeweiligen Bekenntnissen in Begründungsnöte geriet, nicht zuletzt angesichts der Befürchtungen, der islamische Religionsunterricht fungiere als Einfallstor für als fremd empfundene Weltanschauungen und Mächte. Auch das Bemühen einiger Bundesländer, wie beispielsweise in Hamburg, Religionen und Bekenntnisse in einem eher religionswissenschaftlich ausgerichteten Fach zu betrachten, oder wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, den beiden großen christlichen Gemeinschaften Kooperation nahezulegen, sorgt für hoch emotionalisierte Auseinandersetzungen. Was bedeutet es, wenn ein*e Religionslehrer*in sagt: „Ich als Christ*in, als Jüdin*Jude, als Muslim*in“, was, wenn er*sie sagt: „Das Christentum / das Judentum / der Islam sagen“?

Wer über Religion spricht, spricht über „Identität“. Als Markus Söder in Behörden Kruzifixe aufhängen ließ, war dies ein Versuch, die christliche „Identität“ Bayerns zu behaupten. Die Kruzifixe hingen nun in Bayern ebenso an für Besucher*innen gut sichtbaren Wänden wie die Bilder des Bundespräsidenten oder in anderen Staaten die der jeweilig dort herrschenden höchsten Repräsentant*innen. Umstrittener, aber mindestens genauso präsent, war die Errichtung des Kreuzes auf der Kuppel des neu gebauten Berliner Stadtschlosses. In einem Entwurf des Koalitionsvertrags der sogenannten „Ampel-Koalition“ war vorgesehen, das Kreuz wieder zu entfernen. In der Schlussredaktion verschwand diese Absicht. Sichtbarkeit suggeriert Vorrang, die öffentliche Behauptung des Vorrangs einer bestimmten „Identität“ bedeutet Exklusion und Abwertung aller anderen „Identitäten“. Zumindest lässt sich dies so verstehen, und oft genug ist es auch so gemeint.

Harry Harun Behr erinnert in einem seiner beiden Beiträge an eine Debatte vom Frühsommer 1999 innerhalb der CSU. Eine Gruppe um Alois Glück, den späteren Vorsitzenden des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, setzte sich für die Einrichtung islamischen Religionsunterrichts in Bayern ein, eine andere Gruppe, angeführt von Monika Hohlmeier, der damaligen Schulministerin Bayerns, dagegen. Es ging um „die Frage, ob die Bestimmungen zu Religion und zum Religionsunterricht im Grundgesetz nicht unter Kulturvorbehalt stünden“. Die Gegner*innen islamischen Religionsunterrichts behaupteten, „Religion beziehe sich auf ihre europäische, ihre abendländische, ihre christliche Rahmung“: Harry Harun Behr sieht die Gründe einer solchen Haltung in einer „kulturellen Essenzialisierung, der Migrantisierung des Islambildes und der Islamisierung der eigenen Vorstellungen von Migration“. Dieser Streit bestimmt auch die sich gegenseitig ausschließenden Anmerkungen zur Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Die Pro-Seite prägten als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und als Bundespräsident Christian Wulff, die Contra-Seite vertrat prominent Horst Seehofer, zuletzt bei seinem Amtsantritt als Bundesinnenminister im Jahr 2018. Dazwischen lag die Aufnahme Geflüchteter aus mehrheitlich islamischen Ländern.

Mit einer solchen Argumentation wird nicht nur der Islam kulturalisiert, auch das Christentum und letztlich auch das Judentum, alle drei Religionen jeweils mit bestimmtem Artikel gedacht. Harry Harun Behr: „Deshalb oszillieren ihre religionsbezogenen Theorien zwischen islamfeindlicher und antisemitischer Diktion, das Christentum wird in diesem Zusammenhang eher im Sinne der kulturellen Zusammengehörigkeit eingelesen und gar nicht so sehr als praktizierte Religion.“ Geradezu unappetitlich wird bei denjenigen, die diesen Mythos pflegen, die Rede von der angeblich „christlich-jüdischen“ Prägung Europas, obwohl das christlich-jüdische Verhältnis Jahrhunderte lang vor allem darin bestand, dass Christ*innen Juden*Jüdinnen ausgrenzten, verfolgten, vertrieben und ermordeten, angetrieben und legitimiert durch die jeweiligen herrschenden Regime. Das Judentum wird in der Bindestrichformel vereinnahmt, der Gegner, der ausgeschlossen werden soll, ist der Islam. Es ist nicht zuletzt von Bedeutung, ob Vertreter*innen einer Religion aus einer Position der Mehrheit in ihrer Gesellschaft oder aus der Situation einer Minderheit heraus argumentieren. Die Mehrheit spricht sich selbst frei von jeder Sünde, so auch von der Sünde der Gewalt gegen andere, die Minderheit hingegen wird entweder als Opfergemeinschaft – das Judentum – oder als gewalttätige „Kultur“ – der Islam – markiert.

Streitkultur im Judentum

Bruno Landthaler sieht in der Arbeit mit den Texten der Tora die Grundlage der „Lernkulturen“ des Judentums: „Die Konzentration auf den Heiligen Text – zunächst Tora und Bibel, sodann die verschriftete Mündlichkeit in Mischna und Gemara – hat sich als Zentrum herausgestellt, um das sich jedes jüdische Lernen drehen muss.“ Im Christentum wären Theologie und Religionslehre „keine Literaturwissenschaft“, sondern bezögen sich „in der Begriffsdefinition stets auf existenzielle Grunderfahrungen des einzelnen“. Diese Einschränkung teile das Judentum nicht.

Bruno Landthaler bezieht sich ausdrücklich auf Methoden der „Rezeptionsästhetik“ und damit auf Grundlagen hermeneutischer Zugänge zu den genannten Texten. Entscheidend ist die „Lesegemeinschaft, die in der Lage ist, den unveränderlichen Text in die eigene Jetzt-Zeit zu überführen und eine Bedeutsamkeit für den Text in einer konkreten, vom textlichen Inhalt verschiedenen Situation zu generieren.“ Damit ist Gott nicht aus dem Spiel, im Gegenteil, denn es „ist Gott, der den Text verantwortet, weshalb er dem Zugriff des Menschen entrissen ist (Gott steht über der Lesegemeinschaft).“

Dieses scheinbare Paradox bedarf der Lösung, und daraus entsteht das enge Verhältnis von Lehrer und Schüler, zumindest im traditionellen Verhältnis, im modernen Verständnis zwischen Lehrer*in und Schüler*in. Die Tora entsteht in den Hörenden, in den Lesenden, sie realisiert sich in der Gemeinschaft der Hörenden und Lesenden und konstituiert in diesem Akt „jüdische Identität“. „Jüdisches Leben ist eben nicht nur die Ausgestaltung religiösen Lebens eines Individuums und damit der individuellen Wahl des einzelnen anheimgestellt, sondern ist die grundsätzliche Voraussetzung für jüdisches Leben in Deutschland insgesamt und damit das Aufrechterhalten von (religiösen und anderen) Lebenswelten einer kleinen Minorität, das grundsätzlich nicht selbstverständlich ist.“ Den Text kann jedoch nur verstehen, wer seine Fremdheit zulässt. Vertrautheit – und damit Identität – entsteht erst mit der Erfahrung dieser Fremdheit.

Dies bedeutet für den „schulischen Religionsunterricht“, und nicht nur für diesen, „Möglichkeiten der Aneignung aufzuzeigen, wie sie die jüdische Tradition und die Auseinandersetzung mit ihr bis heute insgesamt bereithalten, ohne sich auf eine einzige Möglichkeit zur religiösen Realisierung als die einzig mögliche festzulegen.“ Bruno Landthaler bezieht sich mehrfach auf Samson Raphael Hirsch (1808-1888), aber auch auf für den ersten Blick so unterschiedlich argumentierende Wissenschaftler*innen wie Volker Gerhard mit seinem Begriff von „Öffentlichkeit als die Voraussetzung für die Subjektivität des Bewusstseins“ (Volker Gerhard, Öffentlichkeit – Die politische Form des Bewusstseins, München 2021) und Judith Butler, die „das Individuum in seiner Körperlichkeit in der Mehrdimensionalität des In-der-Welt-Seins“ verstehe (Judith Butler, Gefährdetes Leben – Politische Essays, Berlin 2005).

Die Art und Weise, in der ich versuche, mich selbst zu verstehen und mein Leben zu gestalten, hängt in hohem Maße eben von der Materialität meines Körpers, meines Umfelds, meiner Umwelt, all dessen, zu dem ich mich in irgendeiner Form verhalte und verhalten muss, ab. „Identität“ definiert sich somit mehr oder weniger aktiv durch „Zugehörigkeit“, passiv durch „Zuschreibung“. Eine der Formen dieser „Zuschreibungen“ ist der von Edward Said beschriebene „Orientalismus“, ein Akt der Konstruktion von „Zugehörigkeit“ das Aufhängen von religiösen Symbolen wie Kruzifixen in öffentlichen Räumen.

Religionsunterricht hätte als mehr oder weniger offizielle, staatlich geschützte Beschäftigung mit Religion demnach die Aufgabe, auch mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Methoden, „Zugehörigkeiten“ und „Zuschreibungen“ zu dekonstruieren und damit unterschiedliche Schlussfolgerungen zuzulassen: „Hier hat sich die jüdische Religionspädagogik des Sachverhalts klarzuwerden, dass, obwohl sie Religionspädagogik sein soll, gerade auch für nicht religiöse Verortungen der Jugendlichen offenbleiben muss (…), um nicht selbst den Begriff des Judentums vorschnell auf einen Religionsbegriff zu reduzieren, der von der Mehrheitsgesellschaft vorgegeben wird.“

Daniel Krochmalnik konkretisiert diesen Gedanken. Er spricht von einer „Streitgemeinschaft“, die die Gemeinschaft der Lernenden und der Lehrenden sein müsse. „Lehren heißt demnach nicht nur, die Lehren autoritär von oben nach unten weiterreichen, der Lehrer muss sich vielmehr selber auf dieser Senkrechten zum Schüler herablassen und, wie man heute sagt, sich einbringen.“ Gott offenbare sich im Streit, so sei „der Streit geradezu ein Lebenszeichen Gottes (…), während Einmütigkeit ein sicheres Zeichen seines Todes wäre.“ Religionsunterricht ließe sich nicht mit der Metapher des „Trichters“, sondern eher mit der des „Filters“ beschreiben. Es komme darauf an, „Streit“ und Torawissen“ aufeinander zu beziehen, denn „Dialektik, Kasuistik und Logik ohne Stoff laufen ins Leere.“ Kenntnis der Religion ist die eine Seite der Medaille, die Freiheit, aus dieser Kenntnis unterschiedliche Schlüsse zu ziehen, die andere. Religionsunterricht vermittelt die Methodik, diese Freiheit zu leben.

Die Tora übernimmt in dieser Konstellation die Funktion des Tempels. Bruno Landthaler zitiert den provokanten Titel eines Essays von Stefan Schreiner: „Wo man Tora lernt, braucht man keinen Tempel“ (1999 in einem in Tübingen erschienenen Sammelband von Beate Ego, Armin Lange und Peter Pilhofer mit dem Titel „Gemeinde ohne Tempel“). Und hier wird die Beziehung zwischen Gemeinde in der Diaspora und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft deutlich. Wenn es in diversen Texten der hebräischen Bibel, beispielsweise bei Nehemia oder bei Esra, immer wieder darum geht, „Israel als Kultgemeinde nach dem Exil wieder zu restituieren und Jerusalem als Stadt zu beleben“, wird die Rückkehr, die Alija, nach Israel zu einem Gegenstand von Kontroversen in der jüdischen „Streitgemeinschaft“ schlechthin, zumal Israel das einzige Land ist, in dem Jüdinnen*Juden die Mehrheitsgesellschaft bilden und eben nicht in der Minderheitssituation der Diaspora leben. Eine kritische Frage: ist die Alija, die übersetzt „Aufstieg“ bedeutet, tatsächlich der Weg zu einer höheren Daseinsform? Es wäre ebenso denkbar, aus den Analysen Bruno Landthalers und Daniel Krochmalniks die Auffassung abzuleiten, dass der Weg das Ziel wäre. Nicht auf das Ziel der Alija, sondern auf die Auseinandersetzung mit dem Akt der Alija käme es an. Angesichts der Unvollkommenheit des Menschen wäre schon alleine die intensive Beschäftigung mit der Tora und anderen kanonischen Schriften des Judentums das Ziel jüdischer Identität.

Teleologische Bildung im Christentum

Die Texte von Bernd Schröder und Katja Böhme befassen sich mit dem christlichen Bildungsbegriff. Zunächst ließe sich annehmen, dass es sich im Christentum nicht anders verhalte als im Judentum. Bernd Schröder spricht von der „Vorstellung des Unterwegs-Sein als physischer und intellektueller Grundform des Glaubenslebens“, die das Christentum dem Judentum verdanke. Diese Begrifflichkeit ließe sich aus dem Begriff des „wandernden Gottesvolks“ ableiten, den Ernst Käsemann 1939 mit seiner Analyse des Hebräerbriefs in die Debatte einführte. Dieses „Unterwegs-Sein“ bewirke auch eine „Pluralität der Selbstverständnisse“ der Texte, die das Christentum in der Sprache der Substitutionstheologie, wie sie zuletzt noch Joseph Ratzinger entgegen den Botschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils wiederzubeleben suchte, „das Neue Testament“ nennt.

Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zum Judentum. Im Christentum erscheint das Ziel eindeutig definierbar. Religionsunterricht hätte dann stets zu bestätigen, dass das Ziel in sich stimmig und unabweisbar eindeutig definiert ist. Bernd Schröder: „Die Lebensdeutung und -führung unter Inanspruchnahme des Christlichen bedarf, obschon sie nicht anders als im Glauben zuteilwerden kann, der lebenslangen Aneignung durch die Getauften.“ Ziel ist die Realisierung der „theologische(n) Überzeugung vom Priestertum aller Getauften“. Das zentrale Referenzdokument des evangelischen Christentums sind die Texte Martin Luthers: „Auf Seiten der Adressaten soll und kann der Katechismus das für das Glaubenswissen und die Lebensführung (!) Unverzichtbare vor Augen halten – er gilt als ‚der Laien Bibel, darin alles begriffen (ist) was (…) einem Christenmenschen zu seiner Seligkeit zu wissen vonnöten ist‘“ (Luther, Kleiner Katechismus, 1520, zitiert nach Bernd Schröder). „Luther entwirft somit in seinem Kleinen Katechismus eine evangelische Lernkultur und damit zugleich eine Lebensweise, die er für alle Getauften für angemessen hält.“

Daraus leiten sich „Gemeinde“ und „Familie“ als Zentren des Christentums ab, für die die „Pfarrfamilie“ das grundlegende Modell bildet. Dort erfüllt sich die religiös geschaffene und begründete „Identität“. Mit dieser Wendung erklärt Bernd Schröder den Gedanken des „Unterwegs-Seins“ – anders als bei Ernst Käsemanns „Wanderndem Gottesvolk“ gedacht – zu einem klar definierten Weg. Es mag Umwege geben, daher der Gedanke der „Pluralität der Selbstverständnisse“, aber es gibt offenbar nur ein einziges Ziel. Ihm geht es um „den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Glauben und Lernen“ und somit um „die glaubenwissensbasierte Entscheidung des Einzelnen: Lernen, was es heißt, evangelisch zu sein, wurde ebenso zur sachlichen Notwendigkeit wie zur kirchlich eingeforderten Pflicht“.

Der Modellcharakter der „Pfarrfamilie“ verweist auf ein hierarchisches Gemeinschafts- beziehungsweise Gemeindeverständnis. Letztlich geht es um Folgsamkeit, „das ‚Einstimmen‘ in die gemeinsame Antwort der Gemeinde auf Gottes Wort“, das sich in der „Feier“ konstituiere. Zumindest verstehen viele evangelische Christ*innen ihre Religion in dieser Form hierarchisch und letztlich teleologisch: „Christliche Religion evangelischer Prägung scheint vielen Menschen eine Sache zu sein, die formale Bildung, Intellektualität, kurz: einen bürgerlichen Habitus voraussetzt – sicher einer der Gründe für die Abwendung breiter sozialer Schichten, der Arbeiter und der vom Pauperismus Bedrohten, von Kirche und Religion.“

Bernd Schröder verkennt nicht das daraus folgende „Dilemma“, denn „Bildung“ kann auch zu „Religionskritik“ bis hin zur „Lossagung“ führen. Die in der modellhaften „Pfarrfamilie“ gepflegte „Bildung“ ist letztlich dogmatisch definiert. Bildung und Pädagogik folgen – so Bernd Schröder – sokratischer Mäeutik. Der Bildungsbegriff der heutigen Pädagogik wurzelt in den Gedanken evangelisch geprägter Philosophen und Theologen wie Johann Amos Comenius (1592-1670), Friedrich Schleiermacher (1768-1834), Johann Friedrich Herbart (1776-1841). Die Lehrenden sind die Wissenden, die nicht nur ihren Glauben, sondern auch ihre Lebensweise transferieren.

Was bedeutet das für junge Menschen im Religionsunterricht? Bernd Schröder verweist auf die Entstehung von „Kindertheologie“ im frühen 21. Jahrhundert: „Inspiriert von Aufklärung und Reformpädagogik, Entwicklungspsychologie und Konstruktivismus, Kinderrechtsdiskurs und Kinderphilosophie hat sich in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts das religionspädagogische Programm der ‚Kindertheologie‘ – und bald darauf einer ‚Jugendtheologie‘ – formiert (…).“ Ob damit den Kindern zugetraut wird, ein eigenes religiöses Verständnis zu entwickeln, ist eine andere Frage. Bernd Schröder ist skeptisch: „Vorausgesetzt ist dabei zum einen, dass Kinder eigenständig und kreativ über Religion, insbesondere über Gott nachdenken und diesem Nachdenken vielgestaltig Ausdruck geben, und zum anderen, dass diesem kindlichen (bzw. jugendlichen) Reflektieren eine Dignität für den Entwicklungsweg jedes einzelnen Kindes und für die Theologie als Reflexion auf Gottes Spuren in der Welt zukommt, die es lohnen lässt sich damit im Unterricht wie in der religionsdidaktischen Theoriebildung zu befassen.“

Kindern fehlen die Erfahrungen der Erwachsenen. Die im Pfarrhaus aufwachsenden Kinder sind privilegiert, da sie die unmittelbare Leitung der exemplarisch und vorbildlich Wissenden, personifiziert in Vater und Mutter, genießen. Grundsätzlich fehle Kindern „die Fähigkeit zur sogenannten ‚Mittelreflexion‘ (…), zu einer Meta-Reflexion über ihr religiöses Denken“. Das, was Kinder zu und über Religion denken und aussprechen, erfülle die Anforderungen der Theologie nicht. Andererseits fordert Bernd Schröder: „Nicht belächeln, nicht vorschnell korrigieren, vielmehr Entdeckungen zulassen und die zum Ausdruck kommenden Erfahrungen als theologisch relevant identifizieren – so könnten Imperative des entsprechenden unterrichtlichen Handelns lauten.“ Religionspädagogik erfüllt aber selbst in dieser Differenzierung primär den Auftrag einer auf Vervollkommnung kindlichen Denkens und Handelns ausgerichteten Bildung, Religionsunterricht wäre somit in erster Linie Verkündigung, damit Kinder das Ziel erreichen, das Erwachsene, beispielhaft die „Pfarrfamilie“, schon erreicht haben.

Geschichten erzählen

Katja Böhme sieht das „Konflikt“potenzial, das sich für Religionspädagog*innen ergibt: „Wie ist es zu begründen, Schülerinnen und Schüler einerseits selbstverständlich die Freiheit zur Selbstkonstruktion ihrer Identität zuzugestehen, und andererseits in einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht eine religiöse Orientierung, wie sie in einer Bekenntnisgemeinschaft zu Ausdruck kommt, vorzugeben?“ Anders gesagt: Gibt es vielleicht doch unterschiedliche Ansätze in „Erziehungswissenschaften“ und „Theologie“?

Katja Böhme spricht – offenbar bewusst – nicht von „Pädagogik“, sondern von „Erziehungswissenschaften“, sie referiert Ergebnisse einer 2020 erschienenen Tübinger Studie, die feststellte, dass junge Menschen zwischen „gläubig“ und „religiös“ unterschieden (Golde Wissner, Revecca Nowack, Friedrich Schweitzer, Reinhold Boschki und Matthias Gronover, Hg., Jugend – Glaube – Religion II – Neue Befunde – vertiefende Analysen – didaktische Konsequenzen, Münster, Waxmann, 2020). So „beschreiben Jugendliche hier mit dem Adjektiv ‚gläubig‘ ihren ungebundenen, von familiären Bezügen eher freien und weniger kirchlich gebundenen Glauben, der sich zwar durchaus als vertrauensvolle Beziehung zu Gott artikulieren kann, sich aber von institutionalisierten Formen der Religion abgrenzt.“ Dies mag auch junge Menschen in evangelischen Pfarrhäusern betreffen, in katholischen Pfarrhäusern fehlt aufgrund des Zölibats die Familie, was nicht bedeutet, dass diese Konflikte nicht in allen christlichen Familien ausgetragen werden können, zumal Jugendliche immer schon dazu neigten, sich von ihnen nur als formale Gewohnheit erscheinenden Ritualen abzusetzen.

Katja Böhme spricht daher von „Konstruktivismus im Religionsunterricht“, durchaus in Anerkennung der Ansätze der „Kindertheologie“: „In einem solchen Religionsunterricht ist Gott nicht mehr Gegenstand der Belehrung, sondern wird es zu einer Herausforderung, über Gott zu reflektieren.“ Im „Hamburger Religionsunterricht für alle“ sieht Katja Böhme die Möglichkeit, „auch aus anderen Religionen und religiösen Erzähltraditionen Erzählbausteine für die Selbstkonstitution einer ‚religiösen Identität‘“ zu nutzen. „Erzählungen bahnen Kompetenzen der Empathie und des Perspektivenwechsels an, weil sei affektive und kognitive Prozesse eines emphatischen Nacherlebens und Nachvollziehens der jeweiligen Gedanken und Gefühle der erzählenden Person ermöglichen.“

Die Texte der grundlegenden, „heilig“ genannten Schriften rücken damit in den Hintergrund, es sei denn, es gelänge, bestimmte dort enthaltene Erzählungen – so wie auch von Bruno Landthaler und Daniel Krochmalnik für das Judentum formuliert – auf den Alltag zu beziehen. Eine denkbare Methode wäre die Methode des Bibliodrama, das Katja Böhme nicht explizit anspricht, das sich aber aus ihrem Plädoyer für eine narrative Theologie, wie sie sich im von ihr genannten story-Konzept“ zeigt, ableiten ließe. Katja Böhme beruft sich auf Paul Ricoeurs Gedanken der „narrativen Identität“ (u.a. in Paul Ricoeur, Narrative Identität, in: Heidelberger Jahrbücher XXXI, Berlin / Heidelberg, Springer, 1987). Sie plädiert für „eine zeitgemäße Korrelationsdidaktik“: „Auch bieten sich regulative Sätze einer Religionsgemeinschaft dazu an, scheinbar sichere Plausibilitäten in der Lebenswelt von Heranwachsenden kritisch zu hinterfragen. Eine solche konfrontative Korrelation nutzt im Sinne einer Alteritätsdidaktik die Fremdheit der Kernaussagen einer Religion und überspielt ihre Differenz zur heutigen Lebenswelt nicht.“

Mit dieser Methodik entstehen Möglichkeiten, „Konflikte“, die nicht nur junge Menschen bei der Suche nach Selbstdefinition und „Identität“ erleben, zu thematisieren. So kann es gelingen, „scheinbar sichere Plausibilitäten in der Lebenswelt (…) kritisch zu hinterfragen.“ Die narrative Methode könnte durchaus als Variation eines literaturwissenschaftlichen Zugangs zu den die Religion konstituierenden Texten verstanden werden. Allerdings bedeutet dies nicht, dass offene Fragen unterschiedliche, gegebenenfalls einander sogar widersprechende Antworten legitimieren. Denn letztlich bleibt nur die Lehrende in ihrem eigenen Rollenverständnis bestätigende Annahme, es könne gelingen, „Kinder und Jugendliche mit der performativen Kraft der in den biblischen Erzählungen überlieferten Zusage der Treue Gottes in eine Beziehung zu bringen, wie sie in Jesus Christus Person geworden ist.“

Statt „Jesus Christus“ ließe sich – übertragen auf andere Religionen – ein anderer Name einsetzen, aber dies ändert nichts daran, dass Religionsunterricht ebenso wie jedes Denken und Sprechen über Religion den eigentlichen Konflikt nicht auflösen kann, die Frage nach dem Bösen in der Welt, die Frage nach der Theodizee. Wie „treu“ ist Gott gegenüber dem Menschen denn nun tatsächlich, oder ist „Treue“ vielleicht nur ein rein menschliches Konzept, das sich so definiert, wie gerade aktuelle philosophische oder soziologische Theorien beziehungsweise jeweils aktuelle gesellschaftliche und politische Debatten dies nahelegen? Lehrkräfte des Religionsunterrichts müsste sich meines Erachtens eigentlich fragen, ob und wie weit sie eine bewusste Entscheidung gegen das von ihnen vertretene Bekenntnis als Ergebnis ihres Unterrichts akzeptieren können. In einem Satz: geht es ihnen um Verkündigung oder geht es um ein besseres Verständnis der Welt und der eigenen „Identität“ durch kreative Auseinandersetzung mit Religion?

Ohne Migration keine Erkenntnis – der Islam in der Diaspora

Harry Harun Behr formuliert für den Islam ein ähnliches Verständnis der Streitkultur in und um Religion wie dies Bruno Landthaler und Daniel Krochmalnik für das Judentum tun. Dies bedeutet nicht, dass die drei Autoren damit für den Islam beziehungsweise das Judentum sprächen, sie beschreiben lediglich eine Methodik, wie sich unterschiedliche Auffassungen in der jeweiligen Religion aufeinander beziehen ließen.

Harry Harun Behr betont den universalistischen Ansatz des Islam als Wahrheitssuche. Er bezieht sich auf die zweite Sure des Koran: „Die Welt wird als ein Ort der vorübergehenden Externalisierung einer ursprünglichen Heimat aufgespannt, an die der Mensch sich erinnert und in die er zurückkehren möchte.“ Dies erinnert ein wenig an die Parabel Heinrich von Kleists vom „Marionettentheater“, in dem die Rückkehr zur ursprünglichen Wahrheit als eine „Reise um die Welt“ beschrieben wird, nur mit dem Unterschied, dass das Bewusstwerden der eigenen Unvollkommenheit, des Verlustes der eigenen Integrität und Identität nicht als Negativum verstanden werden muss. Das, was Heinrich von Kleist als unerreichbar darstellt, ist eine letztlich vielleicht doch sinnvolle Perspektive, gerade weil es auf das Erreichen des Ziels eigentlich gar nicht ankommt.

Harry Harun Behr formuliert eine geradezu existenzialistisch anmutende Perspektive: „Der prototypische Mensch sieht sich aus der Einheit und dem Einssein mit Gott geworfen, er sieht sich einem mitmenschlichen Ich ausgesetzt, das ihm nun in Form eines Du gegenübertritt, und das göttliche Ich tritt seinerseits beiden als ein göttliches Du gegenüber – eine spannende Drittwirkungskonstellation, die offenbar die Funktion eines didaktischen Szenarios erfüllt, ganz ähnlich wie später in der Sure 31, dem Kapitel mit dem weisen Luqmān und seinem Sohn (…), aber auch in den Vaterkonflikten in der koranischen Abrahams- und Moseserzählung.“

Die Väter der Religionen des sogenannten „Nahen Osten“ waren alle Migranten. Sie fanden ihr persönliches Verhältnis zu Gott, das dann auch das Verhältnis ihres gesamten Stammes, ihrer Gesellschaft zu Gott wurde, über ihre Migrationserfahrung. Harry Harun Behr parallelisiert die „islamischen Traditionen etwa ab dem 9. Jh.“ mit der „Idee der Mobilität als Zustand des Menschen im Schillerschen Sinne“. Es gehe um „die Kunst, Wahrheit in der Verhandlung zu halten“. Es geht um „das Fahren oder Reisen“, im doppelten Wortsinn um „das Erfahren der Welt“. „Damit unterstreicht der Koran die Bedeutung der Bewegungsfreiheit im Sinne der horizontalen Mobilität als wichtige Voraussetzung für andere Vektoren der Mobilität, etwa die vertikale, die intellektuelle, die spirituelle, die soziale, die ökonomische, die diskursive. Eine andere Richtung, die der Koran als Narrativ des Erfahrens entwickelt, sind die Erzählungen berühmter Wanderer.“ Harry Harun Behr nennt neben „Ībrāhīm, der im Koran gleichsam als Inbegriff des bewegten Menschen inszeniert wird“ ausdrücklich „die Geschichten von „Yūsuf, Nūḥ,Yūnus oder Mūsā“.

Hier treffen sich die Ursprünge von Islam, Judentum und Christentum und so entsteht „die Frage nach der anderen Religion“, die möglicherweise in vielen Elementen und aus der historischen und geographischen Perspektive der gegenseitigen Beeinflussung dieser drei Religionen gar keine so andere Religion ist. Natürlich dürfen die Unterschiede nicht verkannt werden, so vor allem die Bewertung der Kreuzigung von Jesus, der nach dem Koran nicht am Kreuz gestorben ist, eine im frühen Christentum – darauf verweist Harry Harun Behr mit Recht – „weit verbreitete Auffassung“. Denkbar wäre übrigens auch, dass die Lanze des römischen Soldaten wie ein „Intubationsschlauch“ gewirkt habe, sodass Jesus überlebte, zumindest für einige Wochen. Eine solche Relativierung der Grundaussagen und des Gründungsmythos des Christentums ist spätestens seit dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 für gläubige Christ*innen nicht mehr diskutabel. Hier findet der interreligiöse Dialog mit dem Christentum seine Grenzen, nicht jedoch der Dialog zwischen Islam und Judentum. Andererseits geht es auch nicht darum, jemandem seine religiösen Grundüberzeugungen zu nehmen, im Gegenteil: es geht um gegenseitigen Respekt, um „Ambiguitätstoleranz“.

Religionen im Kreuzfeuer der Migrationsdebatten

Für Muslim*innen in Deutschland, nicht zuletzt für junge Muslim*innen bedeutet Migration jedoch etwas anderes. Sie erleben ihren Status als Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund in der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft als bedrohlich und diskriminierend. In der Tat kennt die Geschichte der Migration zwei Richtungen. Es gab seit der Zeit der Kreuzzüge eine Migration von Nord nach Süd, bis in das kolonialistische 19. Jahrhundert hinein. Von islamischer Seite gab es eine Migration von Süd nach Nord bis hin zur Eroberung des heutigen Spaniens sowie bis zur türkischen Belagerung Wiens. Die heutige Migration erfolgt von Süd nach Nord und hat viel damit zu tun, dass die südlich des Mittelmeers liegenden Länder nicht an dem Wohlstand der nördlichen Länder partizipieren, abgesehen von dem durch die dort weitgehend herrschenden Diktaturen verursachten Leid.

Die Klimakrise wird weitere Migration von Süd nach Nord mit sich bringen, wahrscheinlich in Ausmaßen, die wir uns heute noch nicht vorstellen können. Die in Folge einer nicht unwahrscheinlichen Erwärmung der Erde um 4 Grad folgende Migration hat Parag Khanna in seinem Buch „Move“ (Berlin, Rowohlt, 2021) beschrieben. Die Markierung als Migrant*innen ist nun im heutigen Europa so negativ besetzt, dass junge Muslim*innen sich kaum für eine Beschreibung der Migration als Voraussetzung der Wahrheitssuche begeistern lassen dürften. Für sie ist ihr eigener sogenannter „Migrationshintergrund“ fast schon ein Stigma. Kulturalisierung, Migrantisierung und Orientalismus prägen viel zu oft das von der Mehrheitsgesellschaft vermittelte Grundgefühl. Andererseits werden sich unter den Migrant*innen der Zukunft auch viele Christ*innen befinden, katholische, evangelische, evangelikale, deren Vorstellungen von Christentum sicherlich nicht immer mit denen europäischer Christ*innen übereinstimmen dürften. In den Worten von Charles Taylor: „Das Gleichgewicht innerhalb der religiösen Praktiken wird, so mein Argument, von der Vorstellung beeinträchtigt, dass wir uns gegen andere Menschen verteidigen müssen, die etwas an unserem Selbstverständnis verändern wollen.“

Der Koran – so Harry Harun Behr mit Bezug auf Vers 97 der vierten und Vers 40 der 22. Sure – warne ausdrücklich „vor dem zwischen Migration, Religion und Gesellschaft ruhenden Gewaltpotential“. Ich denke, Religionen könnten mit dem von Harry Harun Behr angesprochenen Konzept der Migration als Wahrheitssuche ihren Beitrag für Religion als belebendes Element in einer stabilen freiheitlichen Demokratie leisten, mit Wirkung für die in der Mehrheitsgesellschaft wie die in einer Diaspora-Situation lebenden Menschen. Harry Harun Behr zitiert Vers 41 der 30. Sure: „Das Unheil wird sichtbar auf dem Land und im Meer wegen dem, was die Hände der Menschen erwerben. Er lässt sie damit etwas von dem kosten, was sie anrichten, damit sie vielleicht umkehren.“

Vielleicht entstehen dann – so Harry Harun Behr – neue „Allianzen und Solidarpartnerschaften mit anderen gesellschaftlichen Gruppen – religiös oder nicht (…)“. Er erinnert an den Friedensnobelpreis des Jahres 2015 an „das tunesische Dialogquartett“. Seine Konzeption von Religion ist hoch politisch, denn Religion in der Gesellschaft existiert eben gerade nicht unabhängig von dem, was politisch in einer Gesellschaft geschieht: „Dieser Ansatz der Solidarisierung über religiöse Systemgrenzen hinweg hat in der islamischen Tradition seit langem seinen festen Platz. Es wird Zeit, ihn in neuen zivilgesellschaftlichen Allianzen wieder zu aktivieren.“ Und hier hätte dann auch eine Debatte über Theodizee ihren Platz, bevor Gruppierungen ihn besetzen, die glauben, mit Gewalt ihre eigene Version einer alle Andersdenkenden und Andersfühlenden ausschließenden Religion durchsetzen zu können.

Empowerment durch Dekonstruktion

Religionen dürfen nicht der Versuchung einer binär ausgestalteten Weltformel erliegen. Dies gilt auch für die Versuchung einer „Differenzmarkierung“ der Religion der Anderen, in einer Variante des Spiels gegen den ausgeschlossenen Dritten, beispielsweise des Islams in der Formel von der christlich-jüdischen Tradition oder des Judentums in diversen Verschwörungserzählungen aus muslimischer wie aus christlicher Sicht. Bei allen Unterschieden in der Genese ähneln sich Antisemitismus und anti-muslimische beziehungsweise anti-islamische Denkmuster. Harry Harun Behr: „Es darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden, wie sehr Konstellationen der Herablassung, so wie sie in den Quellen berichtet werden, auf heutige Imaginationen und Modi zwischen Viktimisierung und Empowerment übertragen werden können.“

Zu diesem Empowerment gehört eine intensive Auseinandersetzung mit alternativen dem jeweiligen Mainstream widersprechenden Konzepten. Dazu gehören Bewegungen und Gruppierungen wie die Theologie der Befreiung, die feministische Theologie, die Kirche von unten. Solange Religionen jedoch identitär diskutiert werden und Politiker*innen dieser identitären Versuchung erliegen, wird es nicht möglich sein, Religion als Kraftquelle zu verstehen. Dabei wäre es relativ einfach, nach einem profiliert orthodoxen Verständnis der eigenen Religion zu leben, gleichzeitig jedoch sich in einer wie auch immer gearteten Mehrheitsgesellschaft selbstbewusst zu behaupten.

Als Beispiel für eine solche Haltung möchte ich Catharina J.M. Halkes (1920-2011) zitieren, vielleicht eine der wichtigsten Stimmen der feministischen Theologie. Sie schrieb in „Wenn Frauen ans Wort kommen – Stimmen zur feministischen Theologie“ (Reinbek, Rowohlt, 1987): „Israels Gott ist ein dynamischer Gott, der das Volk immer in Bewegung hält; es aus der Reserve lockt und auf die Beine stellt, wenn es dabei ist zu sitzen, der Verwirrung, Unruhe und Unordnung stiftet, wenn Naturiertheit und Sicherheitsbedürfnis es festzuhalten drohen.“ Mit dieser Dynamik verändert sich auch das Bild von Jesus, der dann „nicht als ein Modell, das fest umrissen und bloß nachzuahmen ist, sondern als (…) Modell-Zerbrecher“. Dazu gehört auch die Zerstörung der in der Praxis überlieferten, nicht jedoch aus den Schriften ableitbaren Dominanz von Männern in den Religionen.

Catharina Halkes formuliert diesen Anspruch in Bezug auf das Christentum: „Die ‚Väter‘ der Kirchengeschichte haben immer über, aber ohne uns gesprochen, entschieden und geurteilt: Kirchenväter Konzilsväter, Beichtväter, heilige Väter. Ihr Sprechen ist nicht ohne Wirkung geblieben. Auch hier gilt: zurück zu den Quellen, in der Hoffnung, dass sie uns überraschen mit ihrem frischen klaren und durchsichtigen Wasser.“ Ähnlich ließe sich im evangelischen Christentum die „Pfarrfamilie“ nicht mehr als „Modell“ der Nachfolge betrachten, sondern als Anlass, über Beziehungen zwischen Menschen beziehungsweise der Menschen zu einem Gott – sofern sie an einen glauben – neu nachzudenken. In der Sprache von Catharina Halkes durchaus mit einem gewissen revolutionären Impetus! Es geht nicht darum, Gott grundsätzlich in Frage zu stellen, wohl aber die Vorstellungen, die Menschen von Gott haben, letztlich menschengemachte Gottesbilder zu dekonstruieren.

Orthodoxie in Vielfalt – das Vorbild Moses Mendelssohn

Vorbild für eine solche Haltung ist Moses Mendelssohn. Christoph Schulte schreibt über ihn in seinem Essay „Drei Sorten Judentum – Zur Charakteristik von Mendelssohns Philosophie des Judentums“ (Erstveröffentlichung in: Christoph Schulte, Von Moses bis Moses … Der jüdische Mendelssohn – Studien, Hannover, Wehrhahn Verlag, 2020): „Mit seinem Verständnis der schriftlichen Tora als ‚geoffenbarte Gesetzgebung‘ definiert er Judentum essentiell über die Halacha: Lieber würden und sollten Juden auf die bürgerliche Gleichstellung mit den Christen verzichten als das Gesetz und die halachische Tradition der Väter zu verändern, schreibt er an einer berühmten Schlüsselstelle des Werks, und besteht damit auf der Halacha als dem spezifisch und partikular Jüdischen im Allgemeinen und Universalen der europäischen Aufklärung: Religiös-praktisch bleibt das Judentum und bleiben die Juden, bleibt auch ein ansonsten universal aufgeklärter und gebildeter Jude wie Moses Mendelssohn, partikular. Religiös-praktisch bleiben Judentum und Juden für Mendelssohn partikular, nicht epistemologisch und nicht in Hinsicht auf ihr allgemeines Vernunftvermögen, nicht hinsichtlich Kultur und Bildung, nicht in Hinsicht auf ihre angeborenen und unveräußerlichen Rechte, denn diese alle sind universal. Nur religiös-praktisch, in Hinsicht auf die Observanz gegenüber den Geboten der Tora und der rabbinischen Tradition, sind und bleiben Juden – so Mendelssohn in Jerusalem – von Christen und allen anderen Menschen verschieden. Und sie bestehen auf Differenz und Partikularität.“ Das zitierte Werk Moses Mendelssohns ist sein Hauptwerk: „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“, das 1783 erschien.

In einem weiteren in dem zitierten Band ebenfalls erstmals veröffentlichten Essay mit dem Titel „Gott liebt den Fremden – Mendelssohns Verständnis der Noachidischen Gebote“ personalisiert Christoph Schulte die Grundlagen des religiösen Selbstbewusstseins in einer vielfältigen Gesellschaft: „Gott liebe nicht nur sein Volk Israel. Vielmehr heißt es dort im Buch Deuteronomium von Gott auch: ohev ger – er liebt den Fremden (Dtn. 10,18).“ Dies gilt im Lande Israel wie in der Diaspora: „Dass Gott den Fremden liebt, galt nicht nur für die biblischen Zeiten, als das Volk Israel in einem eigenen Staat und auf eigenem Territorium zusammenlebte, sondern auch in der Zerstreuung.“ Integration hat ihre Grenzen, Assimilation ist der falsche Weg, denn stets gilt: „Der Fremde bleibt fremd.“ Aus welcher Perspektive auch immer. Aber der Gedanke der Ambivalenz des Sprechens und der Inanspruchnahme von Religion lässt sich in die von Thomas Bauer geforderte „Ambiguitätstoleranz“ überführen, ohne eigene Identität aufzugeben.

Das Göttliche ist dann nicht mehr Ziel des Weges, Religion und Religionsunterricht unterliegen keinem teleologischen Dogma, im Gegenteil: das Göttliche ist der Ausgangspunkt einer langen Reise, die nicht jeder Mensch für sich, sondern – dies belegen vor allem die beiden jüdischen Autoren des Sammelbandes „Zukunftsfähiger Religionsunterricht“ – sondern jeder Mensch in einer ihm*ihr zugänglichen Gemeinschaft gehen darf.

Die Beschäftigung mit den Texten, die den jeweiligen Religionen zugrunde liegen, gibt den materiellen Grund der Reise. Diesen Gedanken hat Harry Harun Behr in seinem zweiten Beitrag zum Sammelband operationalisiert. Die von ihm in seinem zweiten Beitrag zu diesem Band vorgelegten Prolegomena eines religionsdidaktischen Curriculums ließen sich durchaus für alle Religionen und Bekenntnisse ausformulieren. Bruno Landthaler und Dieter Krochmalnik entfalten die literaturwissenschaftlichen Grundlagen: „Rituelles Lesen hat also die Funktion, eine Gemeinschaft zu konstituieren, die allein auf der Autorität eines Textes begründet und nicht durch das Zutun Einzelner innerhalb der Gemeinschaft geformt worden ist. Es ist der Text selbst der die Lesegemeinschaft überhaupt erst ermöglicht.“ Der literaturwissenschaftliche Zugang ermöglicht Orthodoxie in Vielfalt, jenseits aller kämpferisch-identitären Versuchungen. Fremd ist dabei nicht nur der Fremde, sondern auch die Fremdheit, in der, das Fremde, als das der Text jederzeit erscheint. Die von Katja Böhme vorgestellte „narrative Theologie“ ist ein weiterer Beitrag zu einer solchen Sichtweise. Harry Harun Behr ergänzt: „Aus soziologischer Sicht können Religionen als Formen von Erinnerungsgemeinschaft verstanden werden, was einer doppelten Semantik unterliegt: religiöse Erinnerung ist geschichtlich geprägt, und religiöses Erinnern reformuliert Geschichte.“

Der Band „Zukünftiger Religionsunterricht“ zeigt jedoch auch, welchen grundsätzlichen Unterschied wir zwischen dem Christentum auf der einen Seite und dem Judentum und dem Islam auf der anderen Seite vorfinden und diskutieren sollten. Der Band präsentiert das Christentum als Religion eines teleologisch gefassten Begriffs der Bildung, deren Ort Familie und Kirche konstituieren, während der im Judentum und im Islam das Erlebnis von Fremdheit und Migration in den Vordergrund stellt. Die von Charles Taylor angesprochenen Fragen lassen sich meines Erachtens nur beantworten, wenn Religionsunterricht sich an dem zweiten Modell orientiert. Dann lassen sich die Dilemmata zwischen Verkündigung und freier Entscheidung auflösen. Theologie und Religionswissenschaft sollten sich daher auf literaturwissenschaftliche Methoden und eine lebenslange Reise einlassen, die sich aus schriftlicher wie mündlicher Überlieferung ergibt.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Ich darf Dr. Beate Blatz, Köln, für ihre kritische Lektüre verschiedener Entwürfe dieses Textes sowie für ihre Hinweise und Ergänzungen danken. Ohne diese hätte ich diesen Text nicht schreiben können. Unabhängig davon: Erstveröffentlichung im Dezember 2021, alle Internetzugriffe am 22.11.2021.)