Gretchenfrage – islamische Version

Fakten und Debatten zum islamischen Religionsunterricht

„Margarete: Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon. / Faust: Lass das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut; / Für meine Lieben ließ‘ ich Leib und Blut, / Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben. / Margarete: Das ist nicht recht, man muss dran glauben!“ (Johann Wolfgang Goethe, Faust – Der Tragödie Erster Teil, Szene in Marthens Garten)

Die berühmte Gretchenfrage, wie Faust es denn mit der Religion halte, ist heute, im Jahr 2021, nach wie aktuell. Sie beschäftigte manche Menschen so sehr, dass sie sich aus Gesellschaften und Gemeinschaften, die ihr Verständnis von ihrer Religion nicht teilen, ausgeschlossen fühlen, sich abschotten oder – wenn sie dies nicht tun – mehr oder weniger offen und mitunter sogar militant streiten. Aber sie alle leiden unter dem Unglauben der anderen. Religion spielt für sie eine ihre Identität prägende Rolle. Dies gilt nicht nur für manche Minderheiten, sondern auch für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Diese neigen mitunter dazu, ihr Verständnis von ihrer Religion als Kampfmittel einzusetzen, um den Angehörigen der Minderheiten klarzumachen, dass sie sich entweder anzupassen oder zu verschwinden hätten, mit dem Ergebnis, dass Menschen in der Minderheitsposition sich um so mehr in das, was sie für ihre Religion halten, hineinflüchten. Religion fungiert somit nicht nur zur Bestätigung der eigenen Identität, sondern auch als Machtmittel.

Diffuses Alltagswissen

In Debatten um Religion und Religionsunterricht kommt es nicht unbedingt darauf an, ob jemand religiös ist und nach den Buchstaben der heiligen Schriften seiner*ihrer Religion lebt. Es geht eher um das Gefühl, etwas zu besitzen, dass jemand anders streitig machen könnte. So spiegelt dieses Gefühl oft genug die eigene Unsicherheit, ob das Geglaubte nun tatsächlich Wirklichkeit und Wahrheit enthalte. Aus dieser Unsicherheit erwächst mitunter Militanz. Die vielen Erweckungs- und Bekehrungsbiographien, die von Menschen erzählen, die als Jugendliche dem Alkohol, dem Glücksspiel oder sexueller Promiskuität verfallen waren, dann aber in ihrer Religion durch welches Damaskus-Erlebnis auch immer ihre innere Stabilität gefunden haben wollen, sprechen für die Plausibilität meiner Annahme.

Immer wieder gelten bestimmte Religionen als gefährlich, andere als gefährdet. Eine Gefährdung des Christentums von außen lässt sich in Deutschland kaum erkennen, und dennoch wird diese immer wieder behauptet. Es gibt Ängste vor einem Rückgang sogenannter „christlicher Werte“. Was auch immer das sein mag, genuin freiheitlich-demokratische Werte waren es nie. Im Gegenteil: es dauerte Jahrhunderte, bis die christlichen Kirchen ihren Frieden mit den ihre Herrschaftsansprüche relativierenden Werten der Aufklärung machten. Mitunter erhält die gefühlte Angst vor dem Rückgang „christlicher Werte“ den Charakter von Verlustängsten, die gar nicht unbedingt etwas mit Religion zu tun haben müssen, zumal die meisten Menschen kaum zu beschreiben wüssten, was sie denn an religiöser Identität zu verlieren befürchten. Und weil sie das nicht wissen, brauchen sie ein Gegenbild. Dieses Gegenbild finden viele heute im Islam, dessen Zugehörigkeit zu Deutschland manche Politiker*innen betonen, während andere seine Nicht-Zugehörigkeit feststellen wollen. Etwas Drittes scheint es nicht zu geben.

Konkretes Wissen um Religionen und ihre Glaubenssätze ist eher rar. Ich wage die These, dass diejenigen, die zurzeit mit sicherlich glaubwürdigen Argumenten die Katholische Kirche kritisieren, aus der Kirche austreten oder dies vielleicht auch nicht tun, weil sie das Hochgefühl einer kirchlichen Hochzeit und die Aussicht auf die eigene kirchliche Beerdigung nicht missen wollen, nur wenig über die Glaubenssätze, geschweige denn über den Wandel von Glaubenssätzen im Verlauf der Zeiten, Bescheid wissen. Ich wage darüber hinaus die These, dass diejenigen, die den Islam kritisieren, ihre Kenntnisse über den Islam jugendlicher Karl-May-Lektüre verdanken oder falls sie Karl May nicht gelesen haben, einem Buch, das vor etwa zehn Jahren verkündete, dass sich Deutschland abschaffe. Bei Karl May war es ganz einfach: es gab das gute Christentum und es gab den bösen Islam. Karl May wirkte nicht nur in diesem Punkt: die heute gängige positive Bewertung von Kurd*innen und Jesid*innen sowie die damit einhergehende negative Bewertung von Türken und Muslimen – ich wähle bewusst ausschließlich die männliche Form – hat durchaus etwas mit den Spätfolgen dieser Lektüre zu tun.

Spiegelfechtereien

In Bayern hängte ein Ministerpräsident nach Amtsantritt demonstrativ und pressewirksam öffentlich Kreuze in öffentlichen Gebäuden auf. In Ostdeutschland wird vor allem, aber nicht nur von den rechts und sehr weit rechts orientierten Parteien ein „christliches Abendland“ beschworen, das vor einer drohenden „Islamisierung“ zu retten wäre. Höchst emotional wurde und wird immer wieder darüber gestritten, ob religiöse Symbole in der Öffentlichkeit, in Schulen, in Gerichten, getragen und gezeigt werden dürfen. Gegenstand ist bei diesem Streit in erster Linie das muslimische Kopftuch, das, wenn man*frau seiner Geschichte nachgeht, so muslimisch gar nicht ist. Kreuze und Davidsterne an Halsketten, auch eine Kippa oder ein Nonnenhabit spielen in dieser Debatte nur eine Nebenrolle. Höchst emotional wird es in manchen Regionen, wenn jemand verlangt, dass in Klassenzimmern oder Gerichten die Kreuze (wieder) abgehängt werden sollten. Mitunter lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, dass der sich Streit über die öffentliche Präsenz religiöser Symbole mit der gleichzeitigen Säkularisierung des Alltags radikalisiert.

Wenn kritisch über den Islam gesprochen wird, finden wir als gängige Themen den Gesichtsschleier, Nikab und Burka, Zwangsheirat, Gewalt gegen Frauen, Antisemitismus und den Bau von Moscheen. Das Burka-Verbot gehört zum ständigen Mantra der Islamkritik. Ein Bundesinnenminister versuchte sich mal in innovativer Grammatik und behauptete „Wir sind nicht Burka.“ Das Gegenteil hatte niemand behauptet, aber offenbar waren drastische Worte erforderlich, um das eigene Gefühl der Bedrohung zu bekämpfen. Spiegelfechterei. Ein Islam, wie ihn beispielsweise der Münsteraner Professor Mouhanad Khorchide in seinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion“ (Freiburg i.B., Herder, 2012) vertritt, schafft es leider nur selten in die öffentlichen Debatten um den Islam. Abgesehen davon hat er auch unter Muslim*innen einen schweren Stand.

Ebenso schwierig ist es mit Textfragmenten aus den heiligen Schriften. Koranzitate werden aus dem Zusammenhang gerissen, sodass der Eindruck entsteht, als gebe es lediglich Schwert- und Schlagvers (Koran 9:5 und 4:34). Kaum jemand, der den Islam auf diese Verse reduziert, weiß, dass es vergleichbare Verse auch in den heiligen Schriften von Judentum und Christentum gibt. Kaum jemand weiß, dass sich das arabische Wort für „schlagen“ – je nach Vokalisierung – auch als „sich trennen“ übersetzt werden könnte. Im Zweifel gilt den selbst ernannten Kritiker*innen des Islam die härteste Version der Interpretation als die einzig richtige. Muslim*innen, vor allem Frauen*, die in den Chor derjenigen einstimmen, die den Islam als rückständige, frauenfeindliche und gewalttätige Religion verstehen wollen, werden von den Medien gerne zur Stellungnahme eingeladen. Heftig diskutiert werden gelegentlich leider nicht satirisch gemeinte Äußerungen einzelner sich als Linke verstehender Politiker*innen, die das Martinsfest in ein „Lichterfest“ oder das „Osterfest“ in ein „Hasenfest“ verwandeln wollen, um – so sagen sie – die muslimischen Kinder nicht auszuschließen, obwohl diese an diesen Festen ihren Spaß haben und ihre Eltern bedrängen, unbedingt einen Weihnachtsbaum aufzustellen.

Ob dann, wenn Menschen als „Muslim*innen“ adressiert werden, auch immer Muslim*innen gemeint sind, ist schwer zu sagen. Harry Harun Behr konstatiert in seinem gemeinsam mit Meltem Kulaçatan herausgegebenen Buch „Migration, Religion, Gender und Bildung“ (Bielefeld, transcript, 2020) eine „unselige Verschmelzung von Migrations- und Islamfragen“ sowie eine „Verdinglichung von Muslim*innen zur sozialen Entität“. Menschen, die als arabisch- oder türkischstämmig gelesen werden, werden grundsätzlich als „Muslim*innen“ verstanden und bezeichnet und ohne Rücksicht auf die Vielfalt des Islam abgelehnt. Mantra: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“

Besonders fatal wird dieser Diskurs, wenn sich Kritiker*innen von rechtsaußen auf Kritiker*innen von der liberalen oder linken Seite berufen können, wie im Juni 2021 vor allem in Nordrhein-Westfalen anlässlich einer eigentlich von CDU, SPD, FDP und Grünen im Einvernehmen beschlossenen Gesetzesänderung geschehen. Von der Seite der integrationspolitischen Sprecherin der Grünen im Landtag Nordrhein-Westfalen wurde die Beteiligung von DITIB an der für den Islamischen Religionsunterricht zuständigen Kommission in einer Form kritisiert, als drohe jetzt der unmittelbare Zugriff des türkischen Staatspräsidenten auf jedes einzelne Klassenzimmer. Erdoğan ante portas! Es gab auch entsprechende Schlagzeilen einiger Zeitungen, der WDR berichtete entsprechend.

Das Kind „Islamischer Religionsunterricht“ wurde geradezu mit dem Bade ausgeschüttet. Es galt die Argumentationskette Erdoğan = türkische Religionsbehörde = DITIB = Islam = Islamischer Religionsunterricht. Im Zentrum der Debatte steht DITIB, die Organisation, die mit Abstand Trägerin der meisten Moscheegemeinden in Deutschland ist. Jede Kenntnis der Bedingungen des Religionsunterrichts in deutschen Schulen fehlte. Hauptsache, es gab die Möglichkeit, den türkischen Staatspräsidenten anzugreifen. Für solche Angriffe gibt es in der Tat viele gute Gründe, doch eignet sich der Islamische Religionsunterricht nicht als Schlachtfeld. Dass mit einer solchen fundamentalen Kritik junge Muslim*innen in Deutschland diesem Staatspräsidenten geradezu in die Arme getrieben werden, wird ignoriert. Zur fachlichen Inkompetenz gesellt sich psychologische Ignoranz. Ebenso wenig spielte eine Rolle, dass Grüne die FDP-Schulministerin mit denselben Argumenten angriffen, die diese – damals noch in der Opposition – im Herbst 2016 gegen ihre grüne Amtsvorgängerin vorgebracht hatte.

Wie hielt man*frau es in Deutschland mit der Religion?

Die mit Religion verbundenen Gefühle haben eine lange Geschichte. Bis in die 1970er Jahre war Religionszugehörigkeit in der frühen Bundesrepublik ein entscheidendes Kriterium für die Wahl einer Schule. In Westdeutschland stritt man*frau sich lange darüber, ob katholische und evangelische Kinder gemeinsam unterrichtet werden sollten. Sogenannte „Gemeinschaftsschulen“ waren in christlich orientierten Familien verpönt, ebenso Ehen zwischen Protestant*innen und Katholik*innen. Diese wurden als „Mischehen“ abgewertet. Die religiösen Feste strukturierten das Jahr. Im Rheinland erinnerten sich die Katholik*innen noch immer sehr gut an den Bismarck’schen „Kulturkampf“. Sie wählten CDU, weil sie andere Parteien mit dem Preußen Bismarcks oder – auch dies in völliger historischer Unkenntnis – mit der sich atheistisch inszenierenden DDR identifizierten. Dies änderte sich erst langsam seit der Wahl des Sozialdemokraten Heinz Kühn (1912-1992) im Jahr 1996 zum nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten. Seine Koalition mit der FDP war die Blaupause der ab 1969 in Bonn regierenden sozialliberalen Koalition.

In der DDR war Religion verpönt und wer außerhalb der Schule an Religionsunterricht teilnahm, machte sich staatsfeindlicher Umtriebe verdächtig. Unter diesen Umständen prägten die Evangelischen Pfarrhäuser maßgeblich den Widerstand gegen die SED-Diktatur, Kirchen waren Zufluchtsorte für Oppositionelle. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Menschen in der damaligen DDR vorwiegend religiös orientiert gewesen wären als sie sich über den Fall der SED-Diktatur und ihrer größten architektonischen Leistung freuten. Die Zahl der Menschen, die einer der beiden großen christlichen Konfessionen angehören, war in Ostdeutschland damals niedrig und ist es auch heute. Ihr Anteil an der Bevölkerung liegt weitestgehend unter 50 %, in großen Städten um die 30 %.

Das, was in den 1960er Jahren in Westdeutschland noch selbstverständlich erschien, verlor dort mit der Zeit an Akzeptanz. In Westdeutschland lockerte sich die religiöse Praxis im Alltag. Dies lag in der Katholischen Kirche auch an Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dazu gehörten die Messe in deutscher Sprache, die Zuwendung des Priesters zur Gemeinde, Hand- statt Mundkommunion, die Reduzierung langer Fastenzeiten auf zwei Tage. Vor allem in städtisch geprägten Regionen verschwand die enge Verknüpfung von Kirchen und Vereinskultur. Auf dem Land hielt sich noch für einige Zeit die Praxis, nach dem Besuch der Hhiligen Messe ins Wahllokal zu gehen und dort seine Stimme – in der Regel – einer christlichen Partei zu geben. In den „Hirtenbriefen“ der Bischöfe gab es mehr oder weniger deutliche Wahlaufrufe, aber auch dies veränderte sich mit der Zeit: katholische und evangelische Organisationen, in der evangelischen Kirche auch Pfarrer*innen, engagierten sich in Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung. Es entstanden Gruppen wie Pax Christi und Christ*innen bei den Grünen (damals noch ohne Sternchen geschrieben), attraktiv war die von Rom verurteilte südamerikanische Theologie der Befreiung. Heute lassen sich Sympathien für bestimmte Parteien kaum noch aus der Religionszugehörigkeit ableiten. Die Zeit der Wahlaufrufe von Seiten der Kirchen ist vorbei.

Erste Schritte zur Vielfalt

Aber es wandelte sich in Westdeutschland noch einiges mehr. Die FDP beschloss 1974 das sogenannte „Kirchenpapier“, Titel „Freie Kirche in Freiem Staat“. Das Papier erfuhr heftigen Widerspruch von den Kirchen sowie von der mit den Kirchen nach wie vor eng verbundenen damaligen Oppositionspartei CDU, aber auch aus den Reihen des Koalitionspartners, der SPD. Es ging natürlich nicht zuletzt um finanzielle Fragen. Die FDP forderte: „Soweit Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber anderen gemeinnützigen Institutionen steuer- und gebührenrechtliche Sondervorteile besitzen, sind diese aufzuheben.“

Die FDP befasste sich auch mit dem schulischen Religionsunterricht, plädierte aber keineswegs – wie sich vielleicht vermuten ließe – für dessen Abschaffung. Eine Änderung des Grundgesetzes wurde nicht gefordert: „Die religiös und weltanschaulich neutrale Gemeinschaftsschule soll im gesamten Bundesgebiet die staatliche Regelschule sein. Der Religionsunterricht ist nach der Verfassungslage ordentliches Lehrfach. Alternativ wird ein Religionskundeunterricht angeboten. Zwischen beiden Fächern besteht freie Wahlmöglichkeit. Das Recht, private Schulen zu errichten und zu unterhalten, bleibt unberührt.“ Die FDP sah nach wie vor Religion als für viele Menschen wichtiges Thema, über das alle Menschen, nicht nur die Religiösen, Bescheid wissen sollten.

Als 1966 Heinz Kühn als erster Sozialdemokrat zum Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen gewählt wurde, wusste er, dass seine Partei nur dann eine Chance auf eine langjährige Führung der nordrhein-westfälischen Landesregierung hätte, wenn er sich mit den Kirchen verständigte. Dies tat er. Sein Nachfolger Johannes Rau pflegte sogar eine ausdrücklich konservativ-christlich geprägte Politik. Er verhinderte beispielsweise im Jahr 1995 die Einführung des Faches „Praktische Philosophie“ als sogenanntes „Ersatzfach“ zum Religionsunterricht, weil er befürchtete, dass dies ihm angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen schade. Das Fach wurde später dann doch eingeführt, allerdings vorerst nur in den weiterführenden Schulen, nicht in den Grundschulen. Dort wird es erst schrittweise ab dem Schuljahr 2021/2022 eingeführt. Vier der fünf Sätze des FDP-Kirchenpapiers sind damit umgesetzt. Nur die „religiös und weltanschaulich neutrale Gemeinschaftsschule“ harrt noch der flächendeckenden Umsetzung. In Nordrhein-Westfalen gibt es auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen CDU und KPD (!) aus der unmittelbaren Nachkriegszeit nach wie vor die Hybrid-Variante öffentlicher katholischer und evangelischer Schulen. Ihre Umwandlung in Gemeinschaftsschulen ist aufgrund der gesetzlichen Grundlagen und der diese bedingenden Stimmung in den jeweiligen Elternschaften ein fast aussichtsloses Unterfangen.

Heinz Kühn wurde 1978 der erste „Ausländerbeauftragte“ der Bundesregierung. Heute wird dieses Amt als „Integrationsbeauftragte*r“ bezeichnet. Das Amt veröffentlichte 1979 das sogenannte „Kühn-Memorandum“, mit vollem Titel: „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland“. Punkt 5.10 befasst sich mit dem Religionsunterricht: „Neben der Frage des muttersprachlichen Unterrichts muss auch die des Religionsunterrichts, namentlich für die große Gruppe der muslimischen Kinder, befriedigend gelöst werden. Zur Vermeidung problematischer Selbsthilfeversuche (z.B. in „Koranschulen“) erscheint es notwendig, die religiöse Unterweisung analog dem entsprechenden Unterricht der deutschen Schüler in den schulischen Bereich zu übernehmen, inhaltlich in der Übereinstimmung mit den zuständigen religiösen Autoritäten.“

Die Einführung Islamischen Religionsunterrichts erfolgte in den 2010er Jahren in eigenen Ländern, spät und schrittweise, in manchen blieb es bei dem bereits seit den 1990er Jahren erteilten islamkundlichem Unterricht, in etwa der Hälfte der Länder gibt es nach wie vor kein entsprechendes Angebot für muslimische Kinder. Eine Zahl mag zeigen, wie sehr das Fehlen eines flächendeckenden Angebots Islamischen Religionsunterrichts die Integration von Muslim*innen in Deutschland behindert: 2021 jährt sich das Anwerbeabkommen mit der Türkei zum 60. Mal! Und so lange es in Deutschland keine der Ausbildung von katholischen und evangelischen Priestern beziehungsweise Pfarrer*innen analoge Ausbildung gibt, sind die meisten Moscheegemeinden auf Imame aus der Türkei oder aus arabischen Ländern angewiesen, von denen viele kaum mit der deutschen Situation vertraut sind und auch oft genug die deutsche Sprache kaum beherrschen. Dass dies so ist, wird von interessierten Seiten natürlich dem Islam vorgeworfen, nicht der Bundesregierung, nicht den Landesregierungen. Erst im Jahr 2021 konnte Bülent Uçar in Osnabrück mit Unterstützung des Landes Niedersachsen und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine deutsche Imam-Ausbildung auf den Weg bringen. Für etwa 30 Personen.

Staatskirchenrecht heißt nicht Staatskirche

Das Grundgesetz garantiert Religionsfreiheit. Der Staat ist weltanschaulich neutral, garantiert jedoch die Ausübung der Religion im Sinne der jeweiligen Religionsgemeinschaften. Eine Staatskirche gibt es ebenso wenig wie eine staatlich sanktionierte Auffassung über die Rechtmäßigkeit von Inhalt, Glaubenssätzen und Praxis einer Religion. Grundlage ist Artikel 140 GG, der die weitere Geltung der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Verfassung bestimmt. Eine der besten und klarsten Beschreibungen habe ich in einem Essay von Horst Dreier in der vom Bayerischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst herausgegebenen Zeitschrift „AVISO“ (Zwischenruf: das ist die beste und anspruchvollste Zeitschrift eines Ministeriums, die ich kenne, bundesweit) gefunden: „Der moderne freiheitliche Staat überwindet die kollidierenden Wahrheitsansprüche der religiösen Gruppen nicht durch konfessionelle Homogenität, sondern durch Zulassung von Glaubensvielfalt bei gleichzeitiger Distanzierung von den unterschiedlichen Antworten auf die Wahrheitsfrage. Dabei spricht er der Religion nicht das Wahrheitspotenzial ab – er spricht es nur keiner bestimmten Religion zu. Der Clou der Entwicklung liegt darin, dass die Ausdifferenzierung der Sphären die Religion nicht etwa schwächt, sondern zu ihrer Stärkung als Glaubensmacht führen kann.“ (Aviso-Ausgabe 4/2017, zum Weiterlesen: Horst Dreier, Staat ohne Gott – Die Religion in der säkularen Moderne, München, C.H.Beck, 2018).

Dies lässt sich auf die Debatten um den Islam in Deutschland anwenden. Horst Dreier vertritt im Gegensatz zu Paul Kirchhof die Auffassung, dass der Staat kein Recht habe zu „unterscheiden, welche kirchlichen Lehren und Lebensformen seine Kultur historisch entfaltet haben und gegenwärtig stützen, welche Religionen ihn anregen und bereichern, aber auch welche Lehren ihn in seiner Verfasstheit verändern wollen.“ Er weist dieses Petitum Paul Kirchhofs zurück: „Der Sache nach wird hier mit deutlichen Blick auf den Islam einer rechtlich folgenreichen Differenzierung zwischen kulturadäquaten und kulturfremden Religionen das Wort geredet.“

Es fällt geneigten Leser*innen sicherlich auf, dass diese Debatte so gut wie ausschließlich über den Islam geführt wird, nicht jedoch über durchaus im Sinne der freiheitlichen Demokratie problematische Bewegungen wie „Opus Dei“ und die „Priesterbruderschaft Pius X.“, die auch eigene Schulen betreiben, oder in der evangelischen Kirche diverse evangelikale Gruppen oder auch „Jehovas Zeugen“, die immerhin eine Körperschaft öffentlichen Rechts sind und Religionsunterricht beantragen könnten, wenn sie dies denn wollten.

Horst Dreier betont den Wert des „Neutralitätsgebots“. Wenn wir Paul Kirchhofs Vorschlag und der voraussichtlich folgenden Praxis folgten, „geschähe genau das, wovor das Identifikationsverbot schützen soll. Religionen sähen sich einer Bewertung durch den Staat ausgesetzt. Vor einer solchen Revolution unseres Religionsverfassungsrechts sollten wir uns hüten.“

Religionsunterricht im religionsneutralen Staat

An der von Horst Dreier beschriebenen Verfassungslage orientiert sich der Religionsunterricht. Dessen Rechtsgrundlage ist Artikel 7 Abs. 3 Grundgesetz: „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden.“ In Zusammenhang mit diesem Artikel gilt Artikel 141: „Artikel 7 Abs. 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand.“ Diese sogenannte „Bremer Klausel“ gilt auch für das Land Berlin. Eine Initiative, die in Berlin ein Wahlpflichtfach Religion einführen wollten, scheiterte am 26. September 2009 in einem Volksbegehren. In Brandenburg, das sich ebenfalls auf die „Bremer Klausel“ beruft, gibt es die Wahlmöglichkeit zwischen bekenntnisorientiertem Religionsunterricht und Lebenskundeunterricht.

Das Staatskirchenrecht in Deutschland ist – so ließe es sich untechnisch formulieren – ein Hybridmodell, Religionsunterricht ist eine gemeinsame Angelegenheit von Kirche beziehungsweise Religionsgemeinschaft und Staat. Kirchen und Religionsgemeinschaften haben ein umfassendes Mitspracherecht, wer unterrichten darf, sie verleihen die religiöse Lehrerlaubnis, dürfen eine Lehrkraft nur aus religiösen Gründen ablehnen. Alle Lehrkräfte sind Staatsbedienstete, sie unterrichten unter der Aufsicht des Staates nach staatlichen Lehrplänen.

Auf dieser Grundlage gibt es zurzeit in Nordrhein-Westfalen Religionsunterricht in acht Bekenntnissen: katholisch, evangelisch, orthodox, syrisch-orthodox, jüdisch, islamisch, alevetisch, Bekenntnis der Mennonitischen Brüdergemeinden. Voraussetzung ist, dass mindestens zwölf Schüler*innen eines Bekenntnisses teilnehmen. Dann muss der Religionsunterricht eingerichtet werden. Als Besonderheit mag der Alevitische Religionsunterricht gelten, der wenige Jahre vor dem Islamischen Religionsunterricht eingeführt wurde. An ihm nehmen erheblich weniger Schüler*innen teil als nach den Statistiken der Alevitischen Gemeinde Deutschland teilnehmen könnten. Manche zählen die Alevit*innen zu den Muslimen, manche nicht. Die Alevitische Gemeinde war bisher an allen islamischen Dialogrunden, so auch an der bundesweiten Islamkonferenz beteiligt. Darüber hinaus spielen innertürkische Konflikte eine Rolle.

Über den Sachstand des Islamischen Religionsunterrichts informiert ein Bericht des Ministeriums für Schule und Bildung vom 8.6.2021. Etwa 13 % der Schüler*innen sind Muslime, von denen etwa 6 % bereits in allen Schulstufen einschließlich der Berufskollegs am Islamischen Religionsunterricht teilnehmen. Islamischer Religionsunterricht wird an etwa 5 % der Schulen angeboten. Eine weitere Ausweitung hat Grenze. Viele muslimische Eltern wissen nicht, dass sie das Recht haben, Islamischen Religionsunterricht einzufordern. Außerdem muss die Ausbildung von Lehrkräften für dieses Fach noch ausgeweitet werden. In Nordrhein-Westfalen werden sie an der Universität Münster ausgebildet. Einige Absolvent*innen haben inzwischen ihr Referendariat aufgenommen und zum Teil sogar abgeschlossen. Über einen weiteren Standort für die Ausbildung, möglicherweise in Paderborn, wird verhandelt. Es wird sicherlich noch einige Zeit dauern, bis der Islamische Religionsunterricht zu einem selbstverständlichen Angebot geworden ist wie es der katholische oder der evangelische oder der jüdische Religionsunterricht sind.

Islamisches Dilemma – der Status als Religionsgemeinschaft

Als das Grundgesetz geschrieben wurde, konnten seine Mütter und Väter sich nur das System der beiden großen christlichen Kirchen vorstellen. Es gab die Katholische Kirche und die Evangelischen Kirchen, die sich aber auch unter einem Dach zusammenfinden konnten, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Für alle Bekenntnisse, die mit der zunehmenden Vielfalt der deutschen Gesellschaft Religionsunterricht anbieten wollten, war es nicht einfach, weil sie keine vergleichbare Struktur hatten. Für den Islamischen Religionsunterricht wäre entweder eine Anerkennung als Religionsgemeinschaft erforderlich gewesen oder es müsste – falls diese nicht zustande käme – nach einer Alternative gesucht werden.

Doch wozu brauchen wir Religionsgemeinschaften? Es geht im Grunde um zwei Aufgaben: die Erteilung der Lehrbefugnis und die Mitwirkung bei der Ausgestaltung der Unterrichtsinhalte über die Lehrpläne. In der katholischen Kirche erfolgt die Erteilung der Lehrbefugnis über die „Missio Canonica“, in den evangelischen Kirchen über die „Evocatio“. Sie kann auch entzogen werden, was in der Katholischen Kirche gelegentlich bei wiederverheirateten Geschiedenen geschieht. Für den Islamischen Religionsunterricht wurde ein Träger gesucht, der diese Lehrbefugnis, die „Idjaza“ erteilen und bei der Konzeption der Lehrpläne beteiligt werden konnte.

Die islamischen Verbände in Deutschland wurden bisher nur in Ausnahmefällen als Religionsgemeinschaften anerkannt. In Hessen beispielsweise ist dies für DITIB und Ahmadiyya der Fall. Ein Problem bei der Beantwortung ist die Frage, wer eigentlich Mitglied einer Moscheegemeinde beziehungsweise eines Verbandes ist. Die Struktur der Kirchen sieht bereits durch die Taufe eine Registrierung der Mitgliedschaft vor. Die Taufe gibt sozusagen das Recht, Kirchensteuer zu zahlen. Eine vergleichbare Form der Mitgliedschaft gibt es im Islam nicht. So wurde es notwendig, Verbände, die den Anspruch auf Anerkennung als „Religionsgemeinschaft“ erhoben, daraufhin zu begutachten, ob in ihrem Verbandszweck die Förderung der religiösen Identität der Mitglieder gegeben ist, beispielsweise durch die Verantwortung für Moscheen, die Beschäftigung von Imamen, durch Seelsorge im weitesten Sinne wie Alten- und Sterbebegleitung.

Die Verbände, die für eine solche Anerkennung als „Religionsgemeinschaft“ in Frage kamen, waren zunächst die DITIB als der türkischen Religionsbehörde Diyanet in Ankara zugehörige Organisation, der Islamrat, zu dem als größte Teilorganisation Milli Görüs gehört, der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und der Zentralrat der Muslime (ZMD). Diese vier Verbände hatten sich bundes- und landesweit im Koordinierungsrat der Muslime (KRM) zusammengefasst. Andere Verbände blieben außen vor oder hatten sich unter das Dach einer der genannten Organisationen begeben, einige waren sogar Mitglied mehrerer Verbände. Keine Anbindung an den KRM hatten die Ahmadiyya und der Liberal-Islamische Bund.

Die Zahl der von diesen vier Verbänden vertretenen Moscheegemeinden ist nach wie vor mangels Mitgliederlisten nicht ermittelbar. Sie liegt – je nach Interesse der Zählenden an Legitimierung oder De-Legitimierung des KRM – zwischen 20 und 90 Prozent. Die DITIB ist unter den Verbänden der mit Abstand größte Träger von Moscheegemeinden. Zum Verständnis der Struktur der Verbände ist es wichtig zu wissen, dass die Verbände weitgehend sunnitisch orientiert sind, Schiiten jedoch nicht ausschließen, der VIKZ hat eine sufische Tradition. Keiner der Verbände bildet eine der diversen sunnitischen Rechtsschulen ab. Rechtsschulen und Verbände sind nicht deckungsgleich, auch dies ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem Christentum.

Die Deutsche Islamkonferenz schlug vor, bis zur Anerkennung von Verbänden als Religionsgemeinschaften zur Überbrückung einen Beirat zu bilden. Nordrhein-Westfalen tat dies – unbeschadet der Besonderheit des Alevitischen Religionsunterrichts – mit dem Ziel, einen einheitlichen Islamischen Religionsunterricht anzubieten und schuf im Jahr 2011 in § 132 a Schulgesetz NRW die rechtlichen Grundlagen, dass ein solcher Beirat durch vier Vertreter*innen der im KRM organisierten Verbände sowie durch vier staatliche im Einvernehmen mit den Verbänden benannte Vertreter*innen gebildet werden sollte. Der Unterricht sollte so gestaltet werden, dass sich möglichst alle Formen des Islam wiederfinden, gleichviel ob sunnitisch, schiitisch, sufistisch oder wie auch immer. Die Gesetzesänderung wurde von SPD, CDU und Grünen unterstützt. Der Beirat hat am 4. Mai 2021 dem Landtag Nordrhein-Westfalen einen Abschlussbericht vorgelegt.

Parallel zur Installation des Beirats begann in Nordrhein-Westfalen ein Prozess, der zur Anerkennung der Verbände als „Religionsgemeinschaft“ hätte führen können, der aber nach dem 15. Juli 2016 unterbrochen und schließlich abgebrochen wurde. Der Putsch gegen den türkischen Staatspräsidenten am 15. Juli 2016 änderte die Stimmungslage. Zunächst gerieten Imame in Verdacht, sie hätten aus dem Beirat für den Islamischen Religionsgemeinschaft Daten von oppositionellen Lehrkräften erhalten, die sie dann an die türkischen Sicherheitsbehörden weitergegeben hätten. Der Verdacht erwies sich als gegenstandslos, die Bundesanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Der Verdacht führte dazu, dass die DITIB freiwillig ihren Sitz im Beirat ruhen ließ. Der Staat hätte die DITIB dazu nicht zwingen können, sodass dies als Entgegenkommen der DITIB gewertet werden kann.

Der damaligen Landesregierung wurde von der Opposition vorgeworfen, sie unterstütze mit einem von der DITIB beeinflussbaren Islamischen Religionsunterricht unmittelbar den türkischen Staat und billige mittelbar die in der Türkei nach dem 15. Juli 2016 erfolgten großflächigen Verhaftungen von oppositionellen Politiker*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und anderen Bürger*innen.

Es wurde immer weniger über Sinn und Zweck Islamischen Religionsunterrichts diskutiert, sondern in Ignoranz der rechtlichen Grundlagen von Religionsunterricht pauschal vorausgesetzt, dass dort im Sinne des türkischen Staates indoktriniert werde und Lehrkräfte entweder die Politik Erdoğans umsetzten oder unter Druck gesetzt würden, wenn sie eine andere Ansicht verträten oder in der Vergangenheit vertreten hätten als Erdoğan und seine Regierung. Als besonders gefährdet wurden Vertreter*innen der Hizmet-Bewegung des in den USA lebenden Fetullah Gülen identifiziert, die die türkische Regierung für den Putsch verantwortlich machte. Mit der Zeit wurden aber auch andere Gruppen, die der Opposition zugerechnet werden konnten, als ebenso gefährdet eingeschätzt, beispielsweise Alevit*innen und Kurd*innen, sodass sich schließlich politische und religiöse Sachverhalte und Nicht-Sachverhalte bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander vermengten.

Vom Beirat zur Kommission sowie ein paar hessische Spitzfindigkeiten

Der Beirat geriet in die Kritik, die im Mai 2017 gewählte neue nordrhein-westfälische Landesregierung kündigte sämtliche Dialogformen mit islamischen Verbänden, die die Vorgängerregierung eingegangen hatte. Die Kontakte zu den Islamischen Verbänden wurden eingefroren. Die neue Schulministerin traf sich mit dem Beirat ein einziges Mal. Der Beirat setzte seine Arbeit mehr oder weniger im Verborgenen fort, der Unterricht wurde jedoch mit Unterstützung des Ministeriums ausgebaut. Alternativen zum Dialog mit den islamischen Verbänden ließen auf sich warten. Im Jahr 2021 entschied dann der Landtag mit den Stimmen von CDU, SPD, FDP und Grünen, den Beirat durch eine Kommission zu ersetzen. Voraussetzung für eine Beteiligung ist eine verlässliche Organisationsstruktur als Landesverband der Verbände in Nordrhein-Westfalen. Grundlage ist eine Neufassung von § 132 a Schulgesetz NRW.

Es konnten Vereinbarungen mit folgenden Verbänden abgeschlossen werden: Bündnis Marokkanische Gemeinde (BMG), Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD), Islamische Religionsgemeinschaft NRW (IRG NRW = Landesverband des Islamrats in NRW), Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland (UIAZD), Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Gespräche mit weiteren Verbänden sind noch nicht abgeschlossen, unter anderem mit dem Zentralrat der Muslime und dem Liberal-Islamischen Bund. Für die Verhandlungen wurde Vertraulichkeit vereinbart. In der neuen Kommission gibt es keine staatlichen Vertreter*innen. An den Aufgaben hat sich nichts geändert. Die Mitglieder der Kommission sind zur Geheimhaltung personenbezogener Daten verpflichtet.

Andere Länder hatten andere Wege gewählt als Nordrhein-Westfalen. Einen interessanten Fall finden wir in Hessen: Hessen schloss Verträge mit DITIB und Ahmadiyya, die jedoch nach jeweilig eigenen Lehrplänen unterrichten. Ein einheitlicher Islamischer Religionsunterricht findet nicht statt. Inzwischen hat Hessen den Vertrag mit der DITIB gekündigt, die jedoch vor Gericht gegen diese Kündigung vorgeht. Zurzeit findet nach wie vor der Unterricht der Ahmadiyya statt. Der Islamische Religionsunterricht wird als islamkundlicher Unterricht fortgeführt, mit denselben Lehrkräften, lediglich der Staat hat sich aus dem Unterricht verabschiedet. Anders gesagt: die hessische Landesregierung hat den Dialog mit DITIB beendet und die Lehrkräfte in eine absurde Situation gebracht. Sie müssten im islamkundlichen Unterricht lehren, dass die Muslim*innen – in der dritten Person – bestimmte Glaubensinhalte vertreten, während sie vorher im Religionsunterricht noch sagen konnten, dass „wir, die Muslime“ diese Inhalte vertreten.

In Niedersachsen bilden SCHURA und DITIB einen Beirat für den islamischen Religionsunterricht, In Hamburg gibt es einen Staatsvertrag mit Schura und DITIB über den „Religionsunterrichts für alle“ (RUfa). Gegen dieses Modell gibt es diverse verfassungsrechtliche Bedenken. In Rheinland-Pfalz erfolgt die Zusammenarbeit mit muslimischen Ansprechpartnern vor Ort, es gibt aber eine Zielvereinbarung mit DITIB bezüglich der Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Alles in allem ein ausgesprochen heterogenes Bild.

Lernziel Religionsmündigkeit

Menschen glauben, nicht nur Erwachsene, auch Kinder stellen Sinnfragen, auf die Religionen Antworten geben. Das sind einfache ethische Fragen zum Verhalten im Alltag, aber auch grundlegende Fragen nach Geburt und Tod, Gut und Böse, Lohn und Strafe, dem Sinn des Lebens, der Beziehung zwischen Weltlichkeit und Transzendenz bis hin zu Fragen der Theodizee, wie es sein kann, dass ein allmächtiger und barmherziger Gott das Böse zulässt. Schule hat die Aufgabe, junge Menschen zu unterstützen, ihre eigene religiöse Identität herauszubilden, ihren Glauben zu reflektieren, mit ihrem Zweifel umzugehen, auch im Vergleich mit dem Glauben in anderen Religionen und mit denen, die keine Religion die ihre nennen.

Grundlage jedes Religionsunterrichts sind die Lehrpläne. Die Regelungen der Länder unterscheiden sich in dem Maße, in dem Kirchen und Religionsgemeinschaften Einfluss nehmen können. In Nordrhein-Westfalen handelt es sich um eindeutig staatliche Lehrpläne. Die Lehrpläne für den Religionsunterricht werden zunächst, wie in allen anderen Fächern, von staatlichen Lehrplankommissionen ohne Beteiligung der Kirchen und Religionsgemeinschaften erstellt. Im Anschluss daran erfolgt die Verbändeanhörung, in deren Rahmen es eine erste Möglichkeit zur Stellungnahme auch seitens der Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt. Im Anschluss erfolgt dann bei den Religionslehren – im Unterschied zu anderen Fächern – die Herstellung eines religiösen Einvernehmens. Bei Meinungsverschiedenheiten wird im Gespräch nach Lösungen gesucht, am Ende ist und bleibt es ein staatlich verantworteter Lehrplan, über dessen Einhaltung die staatliche Schulaufsicht wacht. Der Unterricht wird in deutscher Sprache erteilt.

Religionsunterricht ist bewusst nicht als Religionssachkundeunterricht angelegt, sondern bekenntnisorientiert. Der Dialog zwischen den Religionen ergibt sich aus den Lehrplänen und der Praxis des Unterrichts. Die Schüler*innen sollen das erforderliche Fachvokabular erwerben können, um ihren eigenen Glauben besser kennenzulernen und darüber nachzudenken. Gleichzeitig gilt das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses. Dieses Grundprinzip, das nicht nur für die politische Bildung in der Schule gilt, sondern generell für alles, was in Schule geschieht, soll Indoktrination, Fehlentwicklungen, Hoffnungslosigkeit und Radikalisierung von jungen Menschen präventiv entgegenwirken. Im Mittelpunkt stehen die jungen Menschen, die Orientierung an den Schüler*innen ist als Unterrichtsprinzip ebenfalls Bestandteil des Beutelsbacher Konsenses. Antidemokratische Inhalte sind im Religionsunterricht ausgeschlossen. Dies widerspricht nicht dem staatlichen Neutralitätsgebot gegenüber Religionen, im Gegenteil: es anerkennt die Einzigartigkeit und Gleichberechtigung aller Bekenntnisse und Religionen, erfüllt aber in der Schule die Vorgaben von Artikel 7 Abs.3 Grundgesetz.

Von einer einseitigen Indoktrination kann in keinem Lehrplan die Rede sein. Ein Beispiel aus einem der Lehrpläne für den Islamischen Religionsunterricht, das den Geist des gesamten Lehrplanwerks gut wiedergibt: „Innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben trägt der Religionsunterricht im Rahmen der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Wertereflexion, zur Empathie und Solidarität, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung bei. Darüber hinaus leistet er einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung sowie zur Vorbereitung auf Ausbildung, Studium, Arbeit und Beruf.“

Über die konkrete Praxis habe ich mit Bernd Ridwan Bauknecht gesprochen. Das Motto unseres Gesprächs: „Interreligiös und dialogisch“. Dort ist auch ein beispielhaftes Konzept dialogisch und interreligiös angelegten Religionsunterrichts in einer Bonner Gesamtschule nachzulesen. In dieser wie in vielen anderen Schulen bilden alle Religionslehrkräfte eine gemeinsame Fachschaft. Zunächst – dies ist die Grundannahme – ist es erforderlich, dass alle Schüler*innen die Möglichkeit haben, das, was sie glauben, das, was sie aus ihren Familien als ihren Glauben in die Schule mitbringen, zu reflektieren. Es ist nicht das Ziel der Schule, dass die Schüler*innen eine Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Bekenntnis treffen. Sie sollen jedoch lernen, eine solche Entscheidung zu treffen und zu reflektieren. Schule hilft auf dem Weg zur Religionsmündigkeit. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang die Frage, ob es sinnvoll ist, im Religionsunterricht Noten zu erteilen. Ich bezweifele das.

Fallen und Konflikte

Zum Vergleich lohnt sich ein Blick nach Frankreich. Dort gilt strikte „Laïcité“. Religion findet in den Schulen ebenso wie in allen anderen staatlichen Einrichtungen nicht statt. In der Schule ist es nicht möglich, sich zu einer Religion zu bekennen. In Frankreich ist das Tragen eines Kopftuchs oder einer anderen Form der Verschleierung („le voile“) verboten. Deutsche Schüler*innen, die ein Kopftuch tragen, müssen dies bei einem Austauschprogramm in der französischen Schule ablegen. Es gibt zwar für alle Schüler*innen ein Angebot der „éducation civique“, einer Art Staatsbürgerkunde oder Politikunterricht, doch ist das Ergebnis des fehlenden Religionsunterrichts eindeutig. Es fehlt jede Möglichkeit, dass Schüler*innen mit ihren Lehrer*innen über Religion sprechen können. Dieser Aspekt ihrer Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung fehlt in der französischen Schule völlig. Das Ergebnis sehen wir nicht nur in den französischen Vorstädten: die Radikalisierung junger – sich ausgegrenzt erlebender – Muslime hat in Frankreich eine erheblich höhere Brisanz als in Deutschland.

Jetzt ließe sich schließen, dass Islamischer Religionsunterricht vor allem präventiv gegen Radikalisierung und Kriminalität eingesetzt werden sollte. Diese unzulässige Verkürzung durchzieht immer wieder die Verlautbarungen diverser Ministerien, gibt aber dem Islam somit eine kriminalisierende konnotative Bedeutung. Religionsunterricht hat seinen Sinn in der Religion, in allen ihren Ausprägungen, und das Lernziel heißt Reflektion, So wie sich die letzten Fragen auch von einer Religion nie abschließend beantworten lassen, geht es im Religionsunterricht um die Vorläufigkeit und die Grenzen menschlichen Denkens und Handelns.

In den öffentlichen Debatten wird diese Offenheit von Religionsunterricht in der Regel ignoriert. Die aktuelle Debatte begann im Juni 2021 mit einem Artikel in der WELT, auf den ich nicht verlinke, weil er seine Kritik an der DITIB als türkischer Regierungsinstitution mit der Kritik an einem konkreten Vermittler zwischen Ministerien und islamischen Verbände verband, die meines Erachtens alle Tatbestände von Rufmord und Verleumdung erfüllt. Die Politiker*innen aus den Reihen der Grünen, die diese Kritik befeuerten und in Medien und Landtag unter dem fixenden Beifall der AfD intensivierten, kommen vorwiegend aus alevitischen, säkularen und kurdischen Kreisen. Sie wussten und wissen nicht was sie tun. Bei aller legitimen Kritik an DITIB oder an anderen Verbänden lässt ihre Art und Weise, diese Kritik vorzutragen, jede Bereitschaft zum Dialog vermissen. Sie spalten die muslimischen Gemeinschaften und sorgen dafür, dass manche bereitwillig das Identifikationsangebot des türkischen Staatspräsidenten annehmen und damit die Konflikte zwischen seinen Anhänger*innen und seinen Gegner*innen weiter verschärfen. Der Islamische Religionsunterricht wird so geradezu zum Schlachtfeld innertürkischer Konflikte.

Nicht, dass sich die nordrhein-westfälische Landesregierung geschickter verhielte. Als die von der DITIB betriebene große Kölner Moschee am 29. September 2018 eröffnet wurde, reisten der türkische Staatspräsident und der Präsident der Diyanet an. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und die Kölner Oberbürgermeisterin sagten ihre Teilnahme darauf ab und trafen den türkischen Staatspräsidenten nur am militärischen Teil des Köln-Bonner Flughafens. Ich habe mich gefragt, warum in einem solche Fall die Bundesregierung beziehungsweise die Landesregierung – wenn sie die Kompetenz dazu hätte – nicht die Einreise verboten haben. Es ging um die Eröffnung einer Moschee in Deutschland, nicht in der Türkei. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Eröffnung einer christlichen Kirche in der Türkei in der ausschließlichen Anwesenheit des deutschen Bundespräsidenten oder der deutschen Bundeskanzlerin möglich gewesen wäre. Erdoğan mag über deutsch-türkische Verständigung sprechen, aber sein Auftritt signalisierte, dass es sich bei der Kölner Moschee offenbar um extraterritoriales, kurz um türkisches Staatsgebiet handeln musste.

Dem Bedürfnis junger Menschen, im Religionsunterricht die eigene Religion kennenzulernen und zu reflektieren, erweisen die Beteiligten einen Bärendienst (ich entschuldige mich bei allen Bär*innen für diese Metapher). In der Bevölkerung wird der Islam als extraterritoriale fremden Macht inszeniert, die offenbar nicht zu Deutschland gehört. Ungesunde Vorurteile dominieren die Debatte. Es ist kaum möglich über die Fakten nachzudenken, auch wenn wir sie ständig wiederholen: Der Islamische Religionsunterricht steht wie jeder andere Religionsunterricht auch, unter staatlicher Aufsicht, die Religionsgemeinschaften beziehungsweise die ihre Rolle übernehmenden Verbände werden beteiligt, aber sie dominieren die Inhalte nicht, denn es sind staatliche Lehrpläne. Antidemokratische Inhalte des Religionsunterrichts sind ausgeschlossen. Ich wiederhole dies, auch auf die Gefahr hin, dass es in diesem Text diverse Redundanzen gibt. Aber ich erlebe zu oft, dass viele nicht von ihren Vorurteilen ablassen wollen, weil sie doch so bequem sind. Mit kultureller Vielfalt haben diese Vorurteile nun wirklich nichts zu tun, aber vielleicht wollen die selbsternannten Kritiker*innen diese auch gar nicht, sondern setzten darauf, dass sie zu 150 Prozent ihre Sicht der Dinge durchsetzen und somit alle, die sie nicht teilen, vom Diskurs ausschließen.

Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, berichtete mir in unserem Gespräch von seinen Erfahrungen bei den Integrationsgipfeln bei der Bundeskanzlerin. Wenn migrantische Verbände sich mehr untereinander bekämpfen als sich im Interesse einer Integrationspolitik zu verständigen, die ihren Namen verdient, gefährden sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt und überstrapazieren die Geduld der Mehrheitsgesellschaft.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Ersteinstellung im Juli 2021, Internetzugriffe zuletzt am 27. Juni 2021.)