Heimlicher Lehrplan Diskriminierung
Gespräche mit Haci Halil Uslucan, Teil III
„Die Gruppe, die ihr Bild der sozialen Welt in den Massenmedien durchgesetzt hat (oder gar die Schulbücher erobert), hat ihr Gesellschaftsbild legitimiert, d.h. sie hat ihm den Anschein von Objektivität verliehen.“ (Werner Schiffauer, Fremde in der Stadt, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1997)
Potenziale oder Defizite?
Norbert Reichel: In öffentlichen und medialen Debatten wird immer wieder von den Defiziten gesprochen, die Kinder mit „Migrationshintergrund“ hätten. Andere betonen, wie bereichernd kulturelle Vielfalt ist. Die erste Gruppe verweist in der Regel auf fehlende Deutschkenntnisse, die andere wird selten konkret. Beide vereinfachen meines Erachtens im Übermaß. Wie sieht es in der Forschung aus?
Haci Halil Uslucan: Vor allem zu den Defiziten von Zugewanderten im Bildungssektor ist bereits viel geforscht worden. Diese Ergebnisse werden immer wieder öffentlich politisiert und skandalisiert. Doch wie steht es um die Potenziale, um Begabungen, um Hochbegabungen von Zuwanderern? Wie kommt es, dass dieser Diskurs schwach ausgeprägt ist? Woher kommt es, dass diese Begabungen selten identifiziert, gewürdigt und auch zu wenig ausgebaut werden? Was sind also die kulturellen Barrieren der Wahrnehmung dieser Potenziale? Und im Hinblick auf den Bildungssektor: Was sind die schulischen und curricularen Barrieren der Identifikation dieser Potenziale?
Wird der Blick auf die Bildungslandschaft in den letzten Jahrzehnten gerichtet, so wird deutlich, dass Schüler*innen mit Zuwanderungsgeschichte in Schulen, die früher – und oft heute noch – Sonderschulen oder Förderschulen hießen, überrepräsentiert sind. Sie haben oft nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Die Wiederholerrate bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte ist doppelt oder viermal Mal so hoch. Nach wie vor scheinen Übergangssituationen kritisch zu sein. Einheimische Kinder schaffen, je nach Bundesland, drei Mal häufiger den Übergang auf ein Gymnasium. Das zeigt, dass Entscheidungen über Bildungswege auch ein Stück weit von den örtlichen Bildungsgegebenheiten und von dem Bildungskontext abhängen und nicht allein den Merkmalen einer Zuwanderungsgeschichte geschuldet ist.
Norbert Reichel: Die Konzentration auf Defizite dürfte dem Selbstbewusstsein deutlichen Schaden zufügen. Selbstwirksamkeit wird geradezu verhindert.
Haci Halil Uslucan: Auch wenn die Schüler*innen gegenwärtig selbst keine aktive Zuwanderungsgeschichte mehr haben, so können unter Umständen die Art und Weise des Umgangs mit Stress und Hilflosigkeit über die Elterngeneration vermittelt werden, denn nachweisbar erstrecken sich Folgen von Migrationsprozessen in der Regel noch auf die nachfolgende Generation. Die betroffenen Schüler*innen können – wenn sie negativ stereotypisierend behandelt werden – ihre Aufmerksamkeit nicht ausschließlich dem Lernstoff widmen. Ein Teil ihrer mentalen Energie wird abgezweigt zur Bekämpfung des Stereotyps, für die „Reparatur des geschädigten Selbst“. Während die kurzfristige Wirkung die kognitiven Kapazitäten betrifft, kann die langfristige Wirkung in der Verhinderung erfolgreicher Bildungsteilhabe liegen.
Ungleiche Erfolge im Bildungssektor gelten im Übrigen natürlich nicht für alle Zuwanderergruppen gleichermaßen. So sind beispielsweise Schüler*innen aus Vietnam, aus der Ukraine oder aus dem Iran in etwa genauso erfolgreich oder erfolgreicher als Einheimische sind.
Norbert Reichel: Manche Studien zeigen, dass Lehrkräfte Kinder mit. „Migrationshintergrund“ und dabei vor allem türkische Kinder schlechter als andere behandeln, legen ihnen auch seltener einen Übergang auf das Gymnasium nahe, weil sie davon ausgehen, dass die Eltern ihnen eh nicht helfen könnten.
Haci Halil Uslucan: Bei der Verkennung beziehungsweise beim Übersehen von Potenzialen und Talenten lassen sich vier zentrale Quellen ausfindig machen:
- Kulturell-gesellschaftliche Konzeptionen von Begabungen und Talenten: Was finden wir in dieser Kultur als bedeutsam, als schätzenswert? Meistens sind es sprachliche, mathematische, logische Fähigkeiten. Das ist aber nicht in allen Kulturen so. Es gibt Gesellschaften, in denen soziale Intelligenz wichtiger ist als beispielsweise naturwissenschaftliches Wissen. Dies gilt für eine eher kollektivistisch organisierte Gesellschaft, in der die Menschen abhängiger voneinander sind und gesichtswahrende Formen des Umgangs, auch der Kritik miteinander pflegen, Kritik, ohne die anderen zu verletzen. Das gilt beispielsweise für China, auch in gewissem Maße für die Türkei. Weiter in der Ferne denk Beispielsweise müssten sie am Amazonas ganz andere Begabungen und Fähigkeiten haben, um zu überleben, so etwa giftige von ungiftigen Pflanzen auseinanderhalten; Spuren deuten können etc.
- Testdiagnostische Verzerrungen: Die Tests sind vielfach sprachlastig und in deutscher Sprache gehalten. Kinder, die die Landessprache nicht gut beherrschen, können manchmal mit der Aufgabenstellung nichts anfangen. Es sind also nicht mangende kognitive Fähigkeiten, sondern ungleiche sprachliche Voraussetzungen. Es geht auch um bestimmte Bezeichnungen. Ich nenne Ihnen das Beispiel „Giebel“ in einer Berechnung für Dreiecke. „Giebel“ wird so im Alltag türkischer Kinder selten verwendet, sodass Kinder bei einer mathematischen Aufgabe, die dieses Wort enthält, Schwierigkeiten haben können. Das gilt ebenso für mittelschichtorientierte Begrifflichkeiten, die nicht alle nachvollziehen können, auch viele deutsche Kinder nicht.
- Verzerrungen in der Wahrnehmung durch die Lehrkräfte: Welche Haltung haben Lehrkräfte zu Kindern mit Zuwanderungsgeschichte? Einige Studien, so etwa beispielsweise die des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) mit dem Titel „Vielfalt im Klassenzimmer“ (2017) zeigt, dass Lehrkräfte türkischen und arabischen Kindern einfach weniger zutrauen; und dies auch bei gleichem Notendurchschnitt.
- Verzerrungen in der Selbstwahrnehmung von Ein- und Zugewanderten: Manchmal trauen auch Eltern ihren Kindern nicht zu, höhere Berufsziele zu verwirklichen oder sie orientieren sich statt an den Begabungen ihrer Kinder an Berufen, die eher eine soziale Aufwärtsmobilität versprechen; etwa als Ärzt*in, Anwält*in oder Ingenieur*in, gleichwohl vielleicht aus dem Kind ein*e hervorragende*r Künstler*in, Literat*in, Maler*in etc. geworden wäre. Aber Unsicherheit (mit diesem Berufsziel) können sich Zugewanderte weniger leisten, also werden vorhandene Begabungen eher unterdrückt beziehungsweise nicht ausgebaut.
Norbert Reichel: Würden mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund helfen? In mehreren Bundesländern gibt es Netzwerke von Lehrkräften mit Zuwanderungsgeschichte, das größte meines Wissens seit über zehn Jahren in Nordrhein-Westfalen.
Haci Halil Uslucan: Ja, ich glaube, das wäre ein richtiger Schritt; sowohl aus der lebensweltlichen Nähe, aber auch aus dem Faktum, dass diese die Erstsprache der Kinder auch besser verstehen, und dadurch einen guten Zugang zu den Eltern haben könnten.
Noch wichtiger wäre es jedoch, wenn diese nicht nur Lehrkräfte, sondern beispielsweise auch Schulleiter*innen oder Direktor*innen einer Bildungseinrichtung sind. Dadurch steigen auch die (positiven) Verpflichtungsgefühle gegenüber dieser Einrichtung enorm.
Selbst- und Fremdbilder
Norbert Reichel: Selbstbilder passen sich Fremdbildern an. Mechthild Gomolla hat ein Buch über „Institutionelle Diskriminierung“ geschrieben, Untertitel: „Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule“ (Opladen, Leske & Budrich, 2002). Das Buch schaffte mehrere Auflagen.
Haci Halil Uslucan: Will man die soziale Integration von Minderheiten verstehen, so ist einer der probaten Wege, diese über ihre Diskriminierungserfahrungen zu analysieren. Denn gerade Umfang, Ausmaß und die Nachhaltigkeit von Diskriminierungen sind essenziell für ein Verständnis dessen, ob bestimmte Gruppen dazu gehören oder ausgeschlossen sind. Denn sowohl die Identifikation als auch die Bereitschaft, mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft im Alltag und in der Freizeit Kontakte einzugehen, sind davon bestimmt, welche Signale und Gesten die Aufnahmegesellschaft sendet.
Unzweifelhaft wird ein Leben voller Kränkungen durch Alltagsdiskriminierung sowohl die Integrationsbemühung von neuen Zuwanderern torpedieren als auch bei den schon lange hier ansässigen, eigentlich schon „gut integrierten“ das Gefühl freisetzen, dass ihnen trotz ihrer beachtlichen Integrationsleistungen die Zugehörigkeit verweigert wird, was zu kognitiven und emotionalen Verunsicherungen führt. Zwar sind subjektive Diskriminierungswahrnehmungen nicht immer ein direktes Abbild objektiver Tatsachen, gleichwohl sind diese jedoch – trotz der Verzerrung – für den Einzelnen handlungsleitend und relevant für die Deutung der jeweiligen Situation.
Norbert Reichel: Die Medien berichten immer recht ausführlich, wenn sich Ein- und Zugewanderte eines Verbrechens schuldig machen. Eigentlich dürfte die Herkunft nicht thematisiert werden, sie wird aber oft so thematisiert, als wäre sie ein zureichender Grund, eine Straftat zu begehen.
Haci Halil Uslucan: Eine Vielzahl von Inhaltsanalysen zeigt, dass Ein- und Zugewanderte in den deutschen Medien überwiegend negativ oder zumindest recht verzerrt dargestellt werden. Deutlich häufiger tauchen sie in eher belasteten als in positiven Kontexten auf, so etwa als Kriminelle, als Fundamentalisten, als Problemgruppen etc. Das hat fatale Folgen für das Zusammenleben, weil solche Vorurteile und Stereotypen nicht unmittelbar durch Gegenbeispiele und Korrekturen zu revidieren sind. Denn Stereotype sind selten als „Allaussagen“ formuliert; die Behauptung ist nicht: „Alle Muslime sind…“, sondern vielmehr: „Die meisten Muslime sind…“. Dadurch wird auch das Nichtzutreffen der Behauptung nicht als eine Widerlegung des Vorurteils begriffen, aber eben als Ausnahme.
Norbert Reichel: Das hat einen Hauch von Infamie. Und irgendwann verhalten sich die Mitglieder der sogenannten „Parallelgesellschaft“ auch wie eine solche. Psychologisch gesehen ein klassischer Fall von Priming und Self-fulfilling Prophecy. Meines Erachtens verhelfen aber auch die Verteidiger*innen der Diskriminierten nicht unbedingt zu mehr Toleranz, wenn sie die Diskriminierten ausnahmslos als Opfer verstehen, denen sie Hilfe zuteil kommen lassen möchten und müssen. Das klingt recht pater- oder maternalistisch. Sie alle sitzen – wie man*frau so sagt – auf hohem Ross.
Haci Halil Uslucan: Die Befunde zeigen, dass die Rede von einer „Parallelgesellschaft“ überzogen ist, weil es eine große Zahl von Überlappungen in zentralen Wertedimensionen gibt. Natürlich gibt es auch in einigen Wertauffassungen auffällige Unterschiede. Als überraschender Befund ist jedoch festzuhalten, dass jüngere Migrant*innen in Deutschland deutlich konservativere Wertauffassungen als ihre deutsche Altersgruppe haben.
Die Übernahme neuer Werte, als notwendiger Teil einer gelingenden Integration, erfolgt selten in der Form, dass die bisherigen Orientierungen, das eigenkulturelle Erbe, dem man angehört, einfach über Bord geworfen, die frühere Identität einfach wie eine alte Haut abgestreift und das Neue angenommen wird. Eher ist davon auszugehen, dass sukzessiv eine Überlagerung der Herkunftsmerkmale der „alten“ Identität durch das „Neue“ stattfindet.
In der Migrationsforschung herrscht Einigkeit darüber, dass die unterstellte allmähliche Assimilation der Zuwanderer an die Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft als ein unumgänglicher Prozess in dieser Form nicht haltbar ist; Migrant*innen zeigen sowohl innerhalb ihrer eigenen Gruppe als auch im Vergleich der verschiedenen Migrant*innengruppen miteinander unterschiedliche Strategien der Akkulturation.
Eindimensionales Denken
Norbert Reichel: Lineares eindimensionales Denken reduziert Komplexität.
Haci Halil Uslucan: Auch wenn zur Kennzeichnung kultureller Unterschiede in der Regel auf unterschiedliche Werthaltungen rekurriert wird, so ist daran zu erinnern, dass Werte nichts Statisches bzw. unveränderliche Entitäten einer Kultur bilden, sondern selbst einer dynamischen Veränderung unterliegen; diese Veränderung ist in den letzten 25 Jahren insbesondere in Industriegesellschaften besonders rapide.
Deshalb ist zu unterstreichen, dass die homogenisierende Redeweise von der „türkischen Kultur“ bzw. „den Türken“ im strengen Sinne kaum zulässig ist. Nicht nur wird die Identität in erheblichem Maße von Faktoren wie sozialem und familialem Hintergrund, der individuelle Weltanschauung und Wertvorstellung bestimmt, auch ist die intrakulturelle Varianz innerhalb der türkischen Community vielfach größer als in der deutschen Gesellschaft.
Des Weiteren decken sich nicht immer Fremd- und Selbstzuschreibungen. Türkische Migrant*innen können von der Mehrheitsgesellschaft als „Türk*innen“ wahrgenommen werden, während sie sich selbst möglicherweise aus der Innenperspektive nicht mit dieser Kollektivzuschreibung definieren. Und wenn sie in die Türkei fahren, gelten sie als „Deutschländer*innen“.
Norbert Reichel: Diese Dilemmata hat beispielsweise Dilek Güngör in ihren Büchern und Kolumnen, auch mit einem Hauch von Ironie, beschrieben, zuletzt in „Ich bin Özlem“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2018). Ich kann ihre Bücher nur empfehlen, auch im Hinblick auf das wenig sensible Verhalten gebildeter Menschen gegenüber der „türkischen Frau“, die eigentlich gar nicht so türkisch ist, aber von ihnen geradezu zur Türkin gemacht wird. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?
Haci Halil Uslucan: Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern fallen deutlich moderater aus als die Unterschiede zwischen den herkunftskulturellen Kontexten, was also zunächst den kulturellen Einfluss auf die Wertausprägung der Geschlechter gering erscheinen lässt. Allenfalls sind in der deutschen Stichprobe bei der Bedeutsamkeit eines anregenden Lebens mittelstarke Effekte zu verzeichnen.
Höflichkeit, nationale wie familiäre Sicherheit und Freundschaft werden in beiden Gruppen von Frauen höher wertgeschätzt, Autorität dagegen in beiden Gruppen eher von Männern favorisiert, was den erwähnten allgemeinen kulturvergleichenden Befunden entspricht.
Bedeutsame gegenläufige Befunde lassen sich dagegen bei den Werten Achtung vor Tradition und Freiheit feststellen. Traditionalität wird in der deutschen Stichprobe von Frauen eher geringer geschätzt, in der türkischen Stichprobe dagegen von Frauen – im Vergleich zu Männern – eher favorisiert. Dagegen ist im Geschlechtervergleich der Wert der Freiheit in der deutschen Stichprobe für Frauen größer, in der türkischen Stichprobe wird dieser eher von Männern favorisiert. Während sich deutsche Frauen offenbar eher an dem Ideal der „modernen“, „emanzipierten“ Frau orientieren und traditionelle Bezüge ablehnen, scheint eine Orientierung an traditionalen Geschlechterstereotypen für türkische Migrantinnen, die ihre Lebenswelt deutlich stärker verunsichert wahrnehmen, als haltgebende Stütze bedeutsamer zu sein.
Norbert Reichel: Amartya Sen sprach von einem „pluralen Monokulturalismus“, im Gegensatz zum „Kampf der Kulturen“, dem „Clash of Civilisations“ von Samuel Huntington. Es entsteht ein Nebeneinander, aber keine Gemeinsamkeit, also doch Parallelgesellschaft, auch wenn eigentlich niemand die will?
Haci Halil Uslucan: Die Rede von einer „Parallelgesellschaft“ der Migrant*innen erscheint deutlich überzogen. Dazu gibt es eine zu große Anzahl an positiven Werteübereinstimmungen wie aber auch gemeinsamer Negationen. Für die befragten türkischen Migrant*innen wie auch für die Deutschen sind von den vorgegebenen Werten Familie, Freundschaft und Freiheit am wichtigsten.
Dennoch muss das Augenmerk daraufgelegt werden, dass Migrant*innen, insbesondere aber Migrantenjugendliche, weitaus stärker als ihre deutsche Vergleichsgruppe in einer „konservativen Wertewelt“ leben. Erwartungen, dass gerade jüngere Migrant*innen – durch den stärkeren Kontakt mit Deutschen – sich in ihren Wertauffassungen an ihre deutschen Altersgenossen angleichen würden, lassen sich mit unseren Daten nicht bestätigen.
Als Erklärungsfigur ist anzunehmen, dass jüngere Migrant*innen deutlich stärkeren lebensweltlichen Verunsicherungen ausgesetzt sind und deshalb eher Sicherheit und Halt versprechende Orientierungen präferieren, wie etwa Achtung von Tradition, Höflichkeit, Autorität, nationale Sicherheit der Türkei. Ferner kann auch die Überlegung nicht von der Hand gewiesen werden, dass jüngere Migrant*innen eher das Bedürfnis verspüren, sich von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, offensiver die Differenzen zu betonen und im Sinne eines „ethnic revivals“ die als „typisch“ für die „türkische Kultur“ unterstellten traditionalen Werte verteidigen oder zumindest wertschätzen zu müssen.
Zugleich kann aus der Perspektive türkischer Eltern kaum von einem „Werteverfall“ der türkischen Jugend und von einer befürchteten Assimilation an die Werte der Mehrheitsgesellschaft gesprochen werden. Darüber hinaus erscheint die Rede von einem Werteverfall ohnehin etwas irreführend; denn Werte können nicht von selbst verfallen bzw. individuell abgeschafft werden. Es sind nicht die Werte, die verfallen, sondern das Bewusstsein ihrer Geltung lässt eventuell nach.
Self-fulfilling Prophecy
Norbert Reichel: Das hat etwas von Self-fulfilling Prophecy. Die Stereotypisierung in öffentlichen Debatten führt zur Annahme der Stereotype als identitätsbildend. Auf der anderen Seite ist man*frau auch in der eigenen, der türkischen Community nicht mehr zuhause. Es gab in den 1990er Jahren einmal einen Film der damaligen RAA Düsseldorf mit dem schönen Titel: „So mittendrin dazwischen“. 2014 hat die Junge Islamkonferenz diesen Titel etwas variiert: „Mittendrin! Dazwischen?“.
Haci Halil Uslucan: Stereotypen bilden nicht nur die kognitive Dimension von sozialer Diskriminierung – denn dann könnte man aus einem liberalen Gestus heraus sagen, dem Einzelnen sei gleichgültig, was andere Gruppen über ihn*sie denken – sondern sie bestimmen oft auch das Verhalten gegenüber dieser Gruppe; d.h. sie werden verhaltenswirksam und tangieren wichtige Lebensbereiche.
Die soziale Brisanz liegt jedoch darin, dass soziale Diskriminierung u. a. auch durch Prozesse ausgelöst wird, die sich der direkten subjektiven Kontrolle entziehen, indem durch eine einseitige, überakzentuierende Berichterstattung bestimmte Bilder über den Anderen erzeugt beziehungsweise unwillkürlich assoziiert werden. Die wahrgenommenen Diskriminierungen beeinflussen dann auch die Reaktionen der betroffenen Gruppen: Die Folgen sind vermehrter Rückzug, Re-Ethnisierungsprozesse und eine Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft als undurchlässig. Dies belegen Studien über türkische Jugendliche ebenso wie solche über jugendliche Aussiedler*innen.
Norbert Reichel: Da wird Integration gefordert und gleichzeitig verweigert. Oder anders gesagt: Der Korb mit den leckeren Kirschen wird immer höher gehängt. Letztlich eine deutliche Überforderung.
Haci Halil Uslucan: Die Grundanforderungen an eine psychisch-stabile Identität, eine Balance zwischen dem Eigenem und dem Fremden zu halten, sind heutzutage vor allem für muslimische Familien und Kinder wesentlich höher als für Einheimische. Für sie gilt: Zuviel Wandel und Aufgeben des Eigenen führt zu Chaos, zu wenig Wandel zu Rigidität. Sie müssen, einerseits über die Differenz zum Anderen eigene Identität bewahren, andererseits aber auch sich um Partizipation bemühen sowie das für sie zunächst Fremde übernehmen. Integration nach innen und Öffnung nach außen stellen sich als notwendige, aber in sich oft widersprüchliche Anforderungen dar. Diese Belastungen führen zu Stress und Verunsicherung, die sich insbesondere in der Eltern-Kind-Beziehung bemerkbar machen.
Ergebnisse sind dann beispielsweise ein höherer Grad an Disziplinierung von Kindern durch ihre Eltern oder eine höhere Bedeutung von Religion und rigider religiöser Praxis in den Familien. Gerade in der Diaspora erlangt der Islam möglicherweise gegenüber migrationsbedingten erlittenen Kränkungen eine Überhöhung im Hinblick auf die Identitätsbildung. Er wird stärker identitätsrelevant als in der Herkunftskultur. Dadurch wird Religiosität bewusster erlebt.
In diesem Kontext hat Religion dann eine bedeutsame Ordnungsfunktion. Die Orientierung am Islam hilft mit Blick auf den Erziehungskontext, die in der Moderne – übrigens auch für deutsche Eltern – immer schwerer gewordene Frage nach angemessenen Erziehungsstilen zu vermeiden oder zu umgehen. Positiv formuliert: der Islam gibt klare Regeln und eine Orientierung vor, er reduziert dadurch eine die verunsichernde Komplexität.
Re-Ethnisierung und Selbstsegregation
Norbert Reichel: Sie zitieren Studien von Werner Schiffauer aus dem Jahr 1991, mit eben diesen Ergebnissen, und es änderte sich wenig. Im Gegenteil: Waren es zunächst nur die Zugewanderten, sind sie heute auch noch Muslime.
Haci Halil Uslucan: Ich nenne Ihnen mal eine Entwicklung der 2000er Jahre. Unsere Ergebnisse zeigten, dass rund 81 % der Befragten angaben, im alltäglichen Leben die Erfahrung ungleicher Behandlung von Zugewanderten und ethnischen Deutschen gemacht zu haben. Im Zeitverlauf wird deutlich, dass die Erfahrung mit Ungleichbehandlung von 1999 bis etwa 2003 stetig ansteigt, aber von zwischen 2004/2005 bis etwa 2009 langsam zurückgeht und im Jahre 2009 mit 67 % einen Tiefststand erreicht. Im Jahre 2010 – der Hochphase der Sarrazin-Debatte – erreichen die Diskriminierungen allerdings den bisherigen Höchststand, und stagniert seitdem auf diesem hohen Niveau.
Norbert Reichel: In den USA gibt es dazu eine Menge an Forschung, die vielleicht auch uns helfen könnte.
Haci Halil Uslucan: Die Befürchtung, dass man durch das Verhalten negative Gruppenstereotype bestätigen könnte, wirkte sich sogar auf Mathematikleistungen aus. Die Bedrohung durch Stereotype (stereotype threat) wirkt sich zwar kurzfristig nur auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit aus, langfristig kann sie jedoch auch jede erfolgreiche Bildungsteilhabe verhindern. Als Erklärung hierfür lässt sich anführen, dass bei Schüler*innen die Identifikation mit Bildung bzw. Bildungsinhalten abnimmt und es zu einer Verschiebung der selbstwertrelevanten Domänen kommt.
Um den Selbstwert, der durch eine negative Beurteilung im schulischen Erfolg beeinträchtigt wird, zu schützen, entwickeln Betroffene ein Selbstkonzept, das immun gegen Stigmatisierung aufgrund negativer schulischer Leistungen ist. Die Bewertung im schulischen Bereich verliert dadurch ihre Bedeutung für den Selbstwert und die Identität. Die geringere Identifikation mit schulrelevanten Bereichen ist somit eine Reaktion auf den Druck, der durch die Bedrohung durch Stereotype entsteht.
Norbert Reichel: Und in Deutschland entsprechend?
Haci Halil Uslucan: Sie können in ihrer subjektiven Identifikation ihre Gruppen verlassen und emotional bzw. in der Selbstidentifikation Mitglied einer anderen Gruppe werden, die einen höheren Status einnimmt. So sehen wir im Alltagsdiskurs gelegentlich Minderheiten, die exponierte Positionen der Vertreter*innen der Mehrheit übernehmen und auf „Minderheiten“ herabblicken; dies findet z.B. statt durch die Übernahme von „Argumenten“ der Islamkritik oder „Multikulti-Kritik“. Dieser Perspektiv- und Gruppenwechsel führt dazu, dass sie ihren eigenen Status erhöhen. Darüber hinaus kann auch eine Re-Ethnisierung, also der Rückbezug auf eine imaginierte und möglicherweise stilisierte überhöhte eigene Gruppe, insbesondere für Zugewanderte, die Opfer von Diskriminierungen werden, eine geeignete Strategie sein, um den Selbstwert zu schützen.
Norbert Reichel: Wer sich der Re-Ethnisierung nicht fügt oder gar Kritik übt, läuft Gefahr, von den eigenen Leuten als Verräter*in beschimpft zu werden. Und diejenigen, die sich in dieser Re-Ethnisierung einrichten, werden von der Mehrheitsgesellschaft als Beleg für das Scheitern aller Integrationsbemühungen zitiert. Das ist doch ein Teufelskreis, der interne Debatten innerhalb der Minderheit genauso be- wenn nicht verhindert wie eine gesamtgesellschaftliche Debatte.
Haci Halil Uslucan: Und es wird – wir sprachen schon darüber – mit doppelten Standards gemessen. Vergleiche zwischen Muslimen und Deutschen basieren häufig auf ungleichen Voraussetzungen und schüren – ob gewollt oder ungewollt – Vorurteile: So wird vielfach die „emanzipierte“ deutsche Frau mit der eher „traditionellen“ muslimischen Frau verglichen und es wird gezeigt, welche Modernitätsdefizite die Muslimin aufgrund ihres Glaubens aufweist. Dabei sind verschleierte Ordensfrauen oder Diakonissen für ihren besonders christlichen Lebensstil kaum den vergleichbaren Diskriminierungen ausgesetzt wie etwa verschleierte muslimische Frauen.
Norbert Reichel: Bikini oder Kopftuch – das ist eigentlich so absurd, dass sich eine solche Alternative von selbst verbieten müsste. Aber genau das geschieht. Eine rechtsradikale Partei klebte letztens Plakate mit der Gegenüberstellung von „Burgunder“ und „Burka“. Wie die drei Weinköniginnen, die den „Burgunder“ präsentierten, aussahen, muss ich nicht erzählen. Ebenso absurd ist die Debatte über den Burkini im Schwimmunterricht. Anstatt sich zu freuen, dass muslimische Mädchen schwimmen lernen, werden sie mit Kleidungsvorschriften schikaniert.
Haci Halil Uslucan: Wahrgenommene soziale Diskriminierungen lösen nicht nur Ärger und Frustration über die Mehrheitsgesellschaft aus, sie führen auch zu einer Festigung der sozialen Identifikation mit der Herkunftsgesellschaft und zu einer stärkeren Selbstsegregation. Insofern kommt einer wirkungsvollen Bekämpfung sozialer Diskriminierung von Minderheiten eine eminente Bedeutung bei deren Integration zu.
Gerade Medien haben durch ihre Meinungs- und Deutungshoheit eine starke einbindende bzw. ausgrenzende Wirkung. Sie können zur Vermeidung von Stereotypen beitragen, indem sie in ihrer Berichterstattung auf pauschale Zuschreibungen verzichten. Wichtig ist hier, die explizite Betonung von „Deutschen“ und „Ausländer*innen“, „Zugewanderten“ und „Zuwandernden“ infrage zu stellen. Langfristig sollten auch die Mitarbeitenden in den Redaktionen die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln. Deshalb gilt es, viel mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in die Belegschaft aufzunehmen und auf ihre Expertise und Sensibilität in der medialen Darstellung der Gesellschaft zurück zu greifen. Dazu gehört auch der Abbau von ungleichen Standards in der Entlohnung und der damit verbundenen Wertschätzung bestimmter Berufe.
Norbert Reichel: Ein Ausblick?
Haci Halil Uslucan: Im Hinblick auf die Integrationspotenziale und Integrationsfähigkeit von (türkischen) Migrant*innen hat sich in der Migrationsforschung der letzten zwanzig Jahre die Einsicht etabliert, dass der Integrationserfolg von Migrant*innen nicht allein von ihnen abhängt, sondern in gleicher Weise von der Haltung der Mehrheitsgesellschaft, der Offenheit gegenüber Ein- und Zugewanderten und der Durchlässigkeit der sozialen Institutionen der Mehrheitsgesellschaft mitbestimmt wird. Deshalb ist für die weitere Forschung die Frage zu klären, inwieweit veränderte Umgangsweisen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu den „typischen“ migrantischen Lebensentwürfen und Werthaltungen beigetragen haben.
Von einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Hans-Georg Gadamer, stammt die Einsicht: „In den Dialog treten heißt, eingestehen, dass auch der Andere Recht haben kann“. Diese Maxime sollte – als selbstkritische Prüfung – die Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens bilden.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)