Identitärer Frieden

Realitätsverluste in der deutschen Friedensbewegung

„Ein paar Meter weiter steht ein Mann Ende dreißig in einem Hoodie. Er ist Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegnerinnen (DFG-VK), einer antimilitaristischen Gruppe, die sich allerdings von der Friedensdemo distanziert, unter anderem, weil jede Kritik an Russland fehlt. Er ist hier, um die aus seiner Sicht schlimmsten Transparente zu fotografieren. ‚Plakatkritik‘ nennt er das. Er kommt, sagt er, aus dem Osten. Sein Vater sei wegen Kriegsdienstverweigerung im Gefängnis gelandet. Jetzt schaut er bitter auf die Transparente vor ihm. ‚Frieden‘, sagt er, ‚geht halt nicht ohne Antifaschismus.‘ Aber es sei selbst innerhalb der DFG-VK schwer, gegen die alten, vor allem westdeutschen Friedensanhänger und ihre Feindbilder von Nato und USA durchzukommen.“ (Christian Bangel, Buhen für den Frieden, in: Die ZEIT, 3. Oktober 2024.)

Ob es überhaupt noch eine deutsche „Friedensbewegung“ gibt, ließe sich kontrovers diskutieren. Über die „Ostermärsche“ wird sogar in der Tagesschau regelmäßig berichtet, auch wenn diese Kundgebungen eher Familientreffen ähneln mögen. Es treffen sich Menschen, die sich differenziert mit den bewaffneten Konflikten dieser Welt auseinandersetzen, mit ergrauten Veteranen, die seit 40 oder 50 Jahren dasselbe alte Schild mit der Forderung vor sich hertragen, Deutschland möge die NATO verlassen.

Und dann gibt es diejenigen, die nicht in der „Friedensbewegung“ sozialisiert wurden, aber die Gelegenheit des Kriegs um die Ukraine ergriffen haben, sich selbst zu promoten, bei Demonstrationen, in Talkshows, in den sozialen Medien. Katja Berlin witzelte in ihrer ZEIT-Kolumne „Torten der Wahrheit“, Frauen über 50 seien im Fernsehen als „verlassene Ehefrau“, „verbitterte Kommissarin“, „liebende Großmutter“ (jeweils etwa zu 10 Prozent) oder als „Sahra Wagenknecht“ (etwa zu 70 Prozent) zu sehen. Die deutsche „Friedensbewegung“ ist zu einer Gruppierung im Interesse einer Politikerin mutiert, die es geschafft hat, eine Partei mit ihrem Namen zu gründen und auf Plakaten den Eindruck zu erwecken, als wäre sie das einzige relevante Mitglied. Was sie wahrscheinlich auch selbst glaubt (In der FAZ sprach Berthold Kohler von „Egopazifismus“.) Der gefühlte Zuspruch ist jedoch erheblich höher als der reale. Selbst wenn man die von den Veranstaltern behauptete Zahl von 30.000 Teilnehmenden der Berliner Demonstration vom 3. Oktober 2024 glauben möchte, war die Beteiligung deutlich niedriger als bei den legendären Hofgarten-Demonstrationen 1981 bis 1983 gegen die Stationierung der US-Pershing-Raketen, an denen jeweils rund 300.000 Menschen teilnahmen, oder bei den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg Ende der 1960er Jahre.

Hartnäckig antiamerikanisch und antiwestlich

Interesse an Bündnissen mit Friedensbewegten in anderen Ländern gab es unter den Demonstrierenden eher nicht. Es war eine rein deutsche Veranstaltung. Ukraine, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Israel? Kein Interesse. Schon gar nicht an Solidarität mit Russ:innen, die sich gegen Putins Krieg aussprechen und sich, wenn sie sich noch in Russland befinden, sehr schnell in einem Gefängnis oder einem Straflager wiederfinden. In Russland wirkt die ständige Beschallung der Bevölkerung mit der Putin’schen Behauptung von der „Spezialoperation“, die gar kein Krieg wäre, sondern nur der „Entnazifizierung der Ukraine“ diene. Auch diese Verdrehung aller Tatsachen schien die am 3. Oktober Versammelten nicht zu interessieren. Angeprangert wurden ausschließlich Waffenlieferungen an die Ukraine. Nach wie vor auch von deutschen Firmen gelieferte Waffen und Waffenbauteile an Russland (siehe dazu eine Correctiv-Recherche, weitere Correctiv-Recherchen zu Thema in: Markus Bensmann / David Schraven, Europas Brandstifter: Putins Krieg gegen den Westen, Correctiv, 2024). wurden ebenso wenig erwähnt wie die iranischen und nordkoreanischen Lieferungen an Russland. Und was ist mit den angekündigten nordkoreanischen Soldaten zur Unterstützung Russlands? Die Rede ist von etwa 12.000. Kein Thema waren die bewaffneten Konflikte und Kriege in Myanmar, im Sudan (zurzeit der Konflikt mit der höchsten Zahl an ermordeten Menschen weltweit), in Syrien, in den kurdischen Gebieten, in Kaschmir. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Vor allem aber ist die Frage berechtigt, warum sich die Demonstration nicht gegen Putins Russland richtete, sondern gegen die Unterstützung der Ukraine. Russland hat bereits 2014 das Völkerrecht verletzt, die Krim und Teile des Donbass besetzt, Deutschland hingegen unterstützte weiterhin zumindest mittelbar Russland, indem es gegen den Widerstand aus USA und EU an Nord Stream 2 festhielt, billiges russisches Gas importierte und keine einzige Beschränkung des Exports von Gütern erließ, die auch zur Produktion von Waffen genutzt werden konnten („dual use“). Dies änderte sich erst – zunächst halbherzig, dann dennoch weitgehend konsequent – nach dem 24. Februar 2022 im Rahmen der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“.

Das passte vielen Friedensbewegten alter Schule und anderen Putin freundlich gesonnenen Menschen nicht. Immer wieder waren Stimmen zu hören, die Ukraine wäre korrupt und verdiene keine Unterstützung. Korruption in der Ukraine ist durchaus ein ernst zu nehmendes Thema. Aber inzwischen gibt es zahlreiche Maßnahmen, mit denen die Ukraine Korruption bekämpft und versucht, den EU-Kriterien zu entsprechen, doch hält sich nach wie vor ein verächtlicher Blick auf eine vor- beziehungsweise undemokratische Ukraine. Eigentlich hätte man auch auf den Gedanken kommen können, dass es sich beim Wechselspiel zwischen pro-russischen und pro-europäischen Kräften in der Ukraine um Kämpfe handelt, wie er sich auch in anderen Ländern in Umbruchsphasen auf dem Weg zu einer Demokratie zeigt. Putin hingegen war vor allem daran gelegen, diese Bemühungen der Ukraine zu torpedieren, im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie letztlich – zumindest empfand er das wohl so – auch seine Herrschaft gefährden könnten. Und manche unter den Friedensbewegten scheinen mehr daran interessiert zu sein, mit ihrer Beziehungspflege zu Putin und seinen Proxys – zum Beispiel nach Recherchen von Correctiv und der ZEIT in Serbien oder in Aserbeidschan – die politische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine in Deutschland zu torpedieren.

Gesine Dornblüth und Thomas Franke belegen in ihrem Buch „Putins Gift“ (Freiburg, Herder, 2024), wie Putin in Armenien, Moldawien und in Georgien vorgeht, um Demokratie-Bewegungen und eine Annäherung an die EU zu delegitimieren. Das funktioniert ganz einfach, mit Einfuhrbeschränkungen für armenische Aprikosen oder moldawischen und georgischen Weit, die auf einmal von Ungeziefer befallen sein sollen. Die Bilder gleichen sich, auch im Hinblick auf die militärischen Interventionen beziehungsweise im Bruch der Unterstützungsversprechen für Armenien. Putin lieferte Armenien Aserbeidschan aus. Gegenüber Deutschland hatte er Ähnliches mit dem Stopp der Gas-Lieferungen durch Nord Stream I versucht, aber offenbar nicht damit gerechnet, dass die Bundesregierung verlässliche Wege fand, die Energieversorgung in Deutschland auf anderen Wegen zu sichern. Es versteht sich, dass billiges russisches Gas in Deutschland heute zu den Wahlversprechen von AfD und BSW gehört, die sich gegen jede weitere Unterstützung der Ukraine aussprechen und letztlich deren bedingungslose Kapitulation betreiben.

In Deutschland sind neue Querfronten entstanden. Volker Weiß beschrieb in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung mit dem Titel „Treffen sich drei Antisemiten“, wie sich „Antiimperialisten, Islamisten und Impfgegner“ verbünden und damit das Spiel der Rechten einschließlich der AfD erleichtern, die ohnehin schon ihre Sympathien für Putins Russland, sein Eurasien-Projekt sowie Xis China kaum verbergen wollen. Lucas Brang konkretisierte die ideologischen Grundlagen dieser Querfront in einem Essay über „Die neue Rechte in China“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober 2024). Er stellte fest, „dass wir es weniger mit einer homogenen neurechten Phalanx zu haben als mit einer Vielzahl nationaler Querfronten, die Ideen der Multipolarität, des Antiamerikanismus und der Globalisierungsskepsis aufsaugen, zugleich aber in sich fragmentiert bleiben.“

Der gemeinsame Feind ist der „Westen“ mit seiner Führungsmacht „USA“. Hier treffen sich Aleksandr Dugin, Putin, Donald Trump und Maximilian Krah. Das große Vorbild: Carl Schmitt. Krah veröffentlicht regelmäßig in chinesischen Medien und trifft dort chinesische Gleichgesinnte. Sahra Wagenknecht befeuert dieses Spiel, auch wenn sie immer wieder erklärt, dass sie mit der AfD nichts zu tun haben wolle. Gegenüber den Opfern der russländischen Invasion, der Massaker in Butscha und Irpin herrscht eine erschreckende Empathiesperre, ein Begriff, den die Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan angesichts des Massakers der Hamas vom 7. Oktober 2023 in die Debatte einbrachte, der aber auch hier passt.

Die drei deutschen Ministerpräsidenten, die sich – aus bekannt durchsichtigen Gründen – für „eine aktivere diplomatische Rolle Deutschlands“ aussprachen, teilen diese Ansichten mit Sicherheit nicht. Bei der Verleihung des Robert-Blum-Preises für Demokratie an Maia Sandu, die Präsidentin der Republik Moldau, durch die Stadt Leipzig sagte Michael Kretschmer: „Wir werden auf diesem Kontinent nur in Frieden leben können, auch in Sicherheit, wenn wir uns so stark machen, dass wir auch mit so einem gefährlichen Nachbarn wie Russland leben können.“ (zitiert nach: Dornblüth und Franke

Die am 3. Oktober teilnehmenden Sozialdemokrat:innen warben dafür, sich als Teil der Friedensbewegung verstehen zu dürfen. Ralf Stegner, der nun wirklich nicht zu den Freunden der von Boris Pistorius vertretenen Politik gehört, wurde niedergebrüllt, als er das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine hervorhob und sagte: „Wir erleben in der Ukraine einen russischen Angriffskrieg, der jeden Tag Tod und Zerstörung bringt.“ Ähnlich ergeht es immer wieder denjenigen, die sich gegen Hamas, Hisbollah und Iran positionieren. Täter-Opfer-Umkehr nach bekanntem Muster.

Der alte, uralte Anti-Amerikanismus feiert sich. Christian Bangel referiert die Ansichten einer Teilnehmerin der Wagenknecht-Demonstration vom 3. Oktober 2024: „Und Putin? Vor dem habe sie jetzt keine Angst. Sie habe sich neulich seine Rede zur Lage der Nation angeschaut, der wolle ja auch das, was deutsche Politiker wollten: Infrastruktur, Bildung.“ Ein anderer Teilnehmer: „Auf die Frage, ob er Angst vor Putin hat, reagiert er entgeistert: ‚Wieso sollte ich Angst vor dem haben? Haben Sie nicht Angst, unter der Fuchtel der USA zu leben?‘“ Wie würden die beiden antworten, wenn man sie fragte, ob sie die familien- und frauenpolitischen Vorstellungen Putins und seiner Proxys teilten? Und welche „Bildung“ fördert Putin? Alles nachlesbar, beispielsweise in „Putins Krieg gegen die Frauen“ von Sofi Oksanen (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023) und in „Putins Gift“ von Gesine Dornblüth und Thomas Franke.

Die sexistische, Frauen verachtende Motivation der Mörder der Hamas hat in der Jüdischen Allgemeinen Jehoschua Sobol explizit beschrieben: „Die Mörder, die Vergewaltiger, die Schlächter der Babys und die Geiselnehmer waren alles junge Männer – mehr oder weniger (jung).“ Mitglieder der Hamas ebenso wie „unorganisierter Pöbel aus Gaza“. Die Anführer, diejenigen, die die Befehle gegeben hatten, waren mittelalte und alte Männer. Warum junge deutsche oder US-amerikanische Frauen die Hamas oder auch Putin unterstützen, bleibt ein unlösbares Rätsel.

Mit all denjenigen, die die USA für das eigentliche Übel dieser Welt halten, die Hamas für eine Befreiungsbewegung (ja, leider auch Wissenschaftler:innen wie Judith Butler) und Putin für einen zu Unrecht verfolgten Friedensengel, die jede Kritik an islamistischem Terror oder sexistischem Verhalten junger arabischer und türkischer Männer für rassistisch erklären, dürfte kaum ein Dialog möglich sein, auch nicht mit der unheiligen Allianz von Peter Gauweiler, Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht, ungeachtet mitunter eingestreuter Zwischentöne, mit denen sie sich aus der Verantwortung stehlen, die aber im demagogischen anti-amerikanischen Jargon untergehen und wohl auch nur zu hören sind, um vielleicht anwesende Pressevertreter:innen zu sedieren.

Putin ist sich mit den iranischen Mullahs einig, auch wenn sie nicht dieselben Worte wählen. Diese nennen die USA den „großen Satan“, Israel den „kleinen Satan“. So ähnlich klingt es bei manchen Aktivist:innen, die über BDS und andere Organisationen das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 und heutige iranische Raketenangriffe (die sogar der UN-Generalsekretär verurteilte) als Widerstandsakt bezeichnen und Israel das vorwerfen, was Hamas, Hisbollah und Iran betreiben: Völkermord. In Teheran läuft eine Uhr, die die Zeit bis zur im Jahr 2040 vorgesehene Vernichtung Israels herunterzählt.

Niemand aus der friedensaktivistischen Szene kommt auf die Idee, dass das, was Russland gegenüber der Ukraine, Iran und seine Proxys gegen Israel betreiben, exakt den Kriterien der UN-Völkermordskonvention entspricht. Israel und der Ukraine wird schlichtweg das im UN-Völkerrecht garantierte Recht auf Verteidigung abgesprochen. Die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ dokumentierten in ihrer Ausgabe vom Juni 2024 einen Beitrag von Dmitri Medwedew mit dem Titel „Russlands historische Mission“. Dmitri Medwedew profiliert sich immer wieder als Scharfmacher, der Putins ohnehin schon deutliche Worte noch einmal zuspitzt. Mal droht er mit Atomschlägen, mal mit der Zerstörung europäischer Metropolen einschließlich Berlin. Alle Gegner Russlands subsummiert er unter dem Begriff „Neonazismus“. Zunächst gehe es um „die Entnazifizierung des erfundenen Gebiets, das sich ‚ukrainischer Staat‘ nennt.“ Aber dabei könne es nicht bleiben. Schon Hitler wäre von den USA und Großbritannien unterstützt worden, die Verantwortlichen des heutigen „Neonazismus“ müssten in einem „Nürnberg 2.0“ vor Gericht gestellt werden. Das Ergebnis „wird der endgültige Untergang des verlogenen Wertesystems der angelsächsischen Welt sein.“

Vieles in Medwedews Text erinnert an Stalins Sozialfaschismus-These, der (nicht nur) die deutschen Kommunisten bis in die 1930er Jahre gläubig folgten. Aleksandr Dugin lässt grüßen, der ein eurasisches Reich bis nach Portugal forderte (siehe hierzu Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit – Russland – Europa – Amerika, München, C.H: Beck, 2018). Dugin hat es zu einem der Chefideologen der russischen Staatsführung gebracht. Russische Kinder lernen all dies dank der Putin’schen Bildungsreformen in der Schule. Prorussische Netzwerke haben es geschafft, sogar Brüsseler Kreise für sich einzunehmen, so dokumentierte es zuletzt ein Team von sechs Journalist:innen für die ZEIT: „Freundschaft gegen Cash“. In anderen Worten: Wenn ihr euch wohlverhaltet, tun wir euch nichts. Aber wehe wenn nicht! Durchaus vergleichbar mit dem Vorgehen von Schulhofschlägern und Mafia-Bossen.

Ängste, Schuldgefühle und verdrehte Geschichte

Friedensverhandlungen wären selbstverständlich eine gute Sache, aber diejenigen, die diese fordern, sollten auch die Frage beantworten, wer mit wem über was verhandeln sollte und könnte. Richtig ist, dass weder die EU, einschließlich der deutschen Bundesregierung, noch die NATO eine Strategie erahnen lassen, wie solche Verhandlungen erreicht und möglichst erfolgreich abgeschlossen werden sollten. Aber vielleicht ist eine solche Strategie zurzeit auch gar nicht denkbar, solange Putin jede Verhandlung ablehnt. Putin wiederholt ständig, dass sich die Ziele seiner sogenannten „Spezialoperation“ nicht verändert hätten, sprich: Absetzung der ukrainischen Regierung, Anschluss ukrainischer Landesteile, wenn nicht der ganzen Ukraine an Russland, Entwaffnung der Ukraine, letztlich bedingungslose Kapitulation der Ukraine, Rückabwicklung der NATO-Mitgliedschaften der baltischen Staaten und Polens. Rumänien, Bulgarien und Ungarn, Tschechien und die Slowakei spielen in den Reden Putins keine Rolle, sind aber mitgemeint. Es ließe sich sogar darüber spekulieren, ob er auch die ehemalige DDR meint. Moldawien und Georgien dürften nach einer Kapitulation der Ukraine ein ähnliches Schicksal erwarten. Der aktuellen georgischen Regierung, die sich anschickt, sich wieder von der EU zu entfernen und Russland zuzuwenden, hat Putin bereits angeboten, das Verhältnis Georgiens zu den abtrünnigen, bisher nur von Russland anerkannten Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien zu verbessern.

Putin profitiert von Ängsten: „Seine Macht währt, solange andere Angst haben.“ So eine zentrale These des Buches „Putins Gift“ von Dornblüth und Franke. In der Tat lebt Putins Macht davon, dass es ihm immer wieder gelingt, „den Leuten Angst zu machen“. Seine ständige Drohung, gegebenenfalls sein Atomarsenal zu aktivieren, lässt viele Friedensbewegte – und nicht nur diese – geradezu panisch reagieren. Die leidige Taurus-Debatte wird sich vielleicht eines Tages als Lehrbeispiel im Psychologie-Studium eignen.

Verstärkt wird die Angst-Debatte in Deutschland von einem Schuldgefühl, das durchaus einen berechtigten Anlass hat, aber – so Dornblüth und Franke – einen wesentlichen Aspekt unterschlägt: „Immer wieder ist zu hören, nie wieder dürften ‚deutsche Panzer gegen Russland rollen‘. Wer so argumentiert, unterschlägt, dass die Deutschen nicht nur in Russland, sondern vor allem auf dem Gebiet des heutigen Belarus und der heutigen Ukraine wüteten.“ Es bleibt das, was es ist: „Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer, und es führt einen Schattenkrieg gegen gefestigte Demokratien. Die Mächtigen in Moskau wollen Nachbarstaaten unterwerfen, sie wollen verhindern, dass junge Demokratien sich dem Griff Russlands entziehen. Sie wollen Gesellschaften unterwandern, zersetzen, zerstören, kolonialisieren.“

All dies wird mit panslawistischer Rhetorik unterfüttert, mit einer sehr eigenen Geschichtsinterpretation, auch in Berufung auf Texte von Puschkin oder Dostojewski, mit der Beschwörung der einigenden russischen Sprache: „‚Die russische Sprache ist die einende Kraft. Sie festigt den geeinten Zivilisationsraum auf dem Gebiet der GUS‘, so Putin.“ Es versteht sich, dass andere Sprachen unterdrückt werden, das Ukrainische, das Belarusische (beide Sprachen wären nur Dialekte des Russischen), das Kirgisische und so fort.

Auch die religiöse Beschwörung seines Tuns ist Putin nicht fremd. Dornblüth und Franke nennen den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, der „Putin als ‚Wunder Gottes‘“ preist. „Kyrill predigt Hass auf den Westen und segnet Soldaten, die gegen die Ukraine kämpfen. Er vergleicht ihr Sterben mit dem Opfer, das Jesus Christus gebracht habe, ihr Opfer wasche sie von allen Sünden rein.“ Das unterscheidet sich nicht einmal in Nuancen von dschihadistischen Heilsversprechen für sterbende „Märtyrer“, die unmittelbar ins „Paradies“ einziehen dürften.

Eine kurze historische Einordnung

Die Ukraine und Israel, denen pro-russische und pro-palästinensische Gruppierungen unter dem Deckmantel des „Friedens“ das Selbstverteidigungsrecht absprechen, sind die einzigen Staaten dieser Welt, denen das nicht zugestanden wird, was das Völkerrecht vorsieht: die Garantie der territorialen Integrität jeden Staates. Dabei geht es nicht darum, ob die Grenzen, in denen diese Staaten existieren, historisch immer gleich verliefen, es geht um ihre aktuelle und völkerrechtlich garantierte Staatlichkeit.

Die Grenzen der Ukraine wurden inklusive der Krim im Budapester Memorandum vom 30. November 1994 auch von Russland anerkannt. Russland verpflichtete sich zum Schutz der territorialen Integrität der Ukraine, von Belarus und Kasachstan, dies als Gegenleistung für den Verzicht der drei Staaten auf die auf ihrem Gebiet liegenden Atomwaffen. Diesen Vertrag hat Putin bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem Überfall auf den Donbass gebrochen. Das war eigentlich nichts Neues, denn Putin hatte Völkerrecht bereits 2008 in Georgien gebrochen, er hält einen Teil Moldawiens (Transnistrien) besetzt, auch wenn er das nicht so nennt. Im Jahr 2014 schickte er seine Soldaten ohne Abzeichen auf die Krim und erzählte treuherzig, dass die dort Urlaub machten. Die folgende Annexion der Krim und von Teilen des Donbass konnten Angela Merkel und François Hollande nicht verhindern, aber sie akzeptierten sie, weil sie Putin glaubten, er beließe es dabei. Die beiden Minsker Abkommen sind heute Makulatur. Wer Putins Reden in den vergangenen 25 Jahren aufmerksam verfolgte, hätte es eigentlich besser wissen müssen. Aber man sollte schon hinhören wollen.

Die Grenzen der Ukraine veränderten sich im Lauf der Zeiten. Martin Schulze Wessel hat in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums – Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ (München, C.H. Beck, 2023) ausführlich beschrieben, wie die osteuropäischen Staaten in den vergangenen über 300 Jahren immer wieder zwischen preußischen und deutschen Interessen auf der einen Seite und russischen Interessen auf der anderen Seite zerrieben wurden. Im Zarenreich und in der Sowjetunion gab es keine ukrainische Staatlichkeit. Die ukrainische Sprache war lange verboten, die ukrainische Kultur wurde unterdrückt. Teile des Westens der heutigen Ukraine gehörten in früheren Zeiten zum kakanischen Kaiserreich oder zu Polen. Dies ändert jedoch nichts an der im Völkerrecht garantierten Unverletzlichkeit der heutigen Grenzen.

Man könnte Putins Vorhaben, die Ukraine „heim ins Reich zu holen“, durchaus mit einer Absicht Deutschlands – wenn es sie denn gäbe – vergleichen, Elsass und Lothringen, Schlesien, Pommern und Ostpreußen oder gar das heute südliche Dänemark als Nordholstein wieder in sein Staatsgebiet zu integrieren. Oder einer Absicht Österreichs, Südtirol zu besetzen, einer Absicht Ungarns, Gebiete der Ukraine oder der Slowakei zurückzuholen, einer Absicht Rumäniens, sich Teile Moldawiens einzuverleiben. Die NATO hat niemals Russland bedroht. Im Gegenteil: Polen, die baltischen Staaten und andere osteuropäische Staaten traten der NATO bei, weil sie sich von Russland bedroht sahen. Das wollten USA, Deutschland und Frankreich zunächst nie so recht verstehen, sodass sich die (falsche) Erzählung, die NATO habe sich ausdehnen wollen, in den Köpfen verstetigte.

Israel verdankt seine staatliche Existenz einem Beschluss der Vereinten Nationen vom 29. November 1947, der maßgeblich von der Sowjetunion unterstützt wurde. Damals erhoffte sich Stalin einen sozialistischen Verbündeten im Nahen Osten und ließ Israel nach der Unabhängigkeitserklärung im Kampf gegen die arabischen Legionen mit über die Tschechoslowakei gelieferten Waffen unterstützen. Er rückte erst von dieser Unterstützung ab, als er sich in seiner Paranoia von Juden in der Sowjetunion bedroht sah. Der Moskauer Ärzteprozess ging einher mit einer Abkehr der Sowjetunion und der von ihr beherrschten osteuropäischen Staaten von Israel: Antisemitismus wurde als Antizionismus getarnt und Israel zum Feind und zum Kolonialstaat erklärt, der es nicht ist. Auf dem Gebiet des zuvor vom Osmanischen Reich, dann vom British Empire beherrschten Gebiet „Palästina“ lebten immer schon Juden und Araber. Es gab allerdings eine jüdische Zuwanderung, etwa seit den 1880er Jahren, vor allem aus dem Zarenreich. Juden flohen vor dem dortigen, später vor dem nationalsozialistischen Terror – nur wenige durften aufgrund der britischen Beschränkungen einreisen. Mit der Staatsgründung kamen aus den arabischen Staaten vertriebene Juden hinzu. Es gab nicht nur die Nakba mit etwa 900.000 Palästinenser:innen, die ihre Wohnungen verloren, sondern auch die Vertreibung von etwa ebenso vielen Jüdinnen:Juden, ausführlich belegt von Nathan Weinstock (in: „Der zerrissene Faden – Wie die arabische Welt ihre Juden verlor – 1947-1967“, Freiburg / Wien, ça ira-Verlag, 2019)“, aber immer wieder von denjenigen ignoriert, die Israelis ausschließlich als „weiße Siedler“ betrachten wollen.

Ein zentraler Wendepunkt war das Jahr 1967, als es Israel gelang, einen bereits vorbereiteten Angriff Ägyptens, Jordaniens und Syriens abzuwehren. Tom Segev hat eines seiner lesenswerten Bücher über die israelische und palästinensische Geschichte mit der Jahreszahl 1967 („1967 – Israels zweite Geburt“, München, Siedler, 2007) betitelt. Die Besetzung der Golanhöhen, von denen aus sich Israel einfach beschießen lässt, des Westjordanlands, des Sinai und Gazas war die Folge. Der Sinai wurde 1979 nach dem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag an Ägypten zurückgegeben, die Golanhöhen wurden 1981 von Israel annektiert, Gaza wurde von der israelischen Regierung 2005 gegen den Protest der dortigen „Siedler“ geräumt, das Westjordanland hingegen unterliegt dem Terror dortiger „Siedler“, die inzwischen über von ihnen gegründete eindeutig rechtsextremistische Parteien in der israelischen Regierung sitzen und bisher alle Bemühungen um einen Waffenstillstand torpediert haben. Netanjahu ist von ihnen abhängig. Eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie in den Sonntagsreden des Westens immer gefordert wird, ist nicht absehbar, Alternativen wie sie beispielsweise Omri Boehm mit dem Modell einer „Republik Haifa“ in seinem Buch „Israel – eine Utopie“ (Berlin, Ullstein, 2020) vorschlägt, wohl erst recht nicht.

Aber das ist noch nicht alles: Nach den Friedensschlüssen mit Ägypten und Jordanien, die palästinensische Terrororganisationen genauso ablehnen und fürchten wie Israel, wiesen die Abraham-Abkommen – der einzige außenpolitisch begrüßenswerte Akt der Trump-Präsidentschaft – einen Weg zur Aussöhnung der arabischen (sunnitischen) Staaten mit Israel. Ein Abkommen mit Saudi-Arabien stand kurz vor dem Abschluss, sodass es nicht abwegig ist zu vermuten, dass die Hamas am 7. Oktober 2023 zuschlug, um dieses und weitere Abkommen zu verhindern. Ganz im Sinne des Iran, dessen Bestrebungen nach atomarer Bewaffnung Israel und Saudi-Arabien gleichermaßen fürchten. Ein gemeinsamer Feind vereint auch hier.

Außerdem würde eine Stärkung der Hamas, die aus der Muslimbrüderschaft hervorgegangen ist, die Autokratien in Ägypten (der Islamische Staat war auf dem Sinai präsent) und in Jordanien (mit seinen nicht integrierten nach wie vor in Flüchtlingslagern lebenden Palästinensern) bedrohen. Syrien ist ein etwas anders gelagerter Fall, da sich hier Iran und Russland mit Assad verbündeten und dafür sorgten, dass Syrien ebenso wie die von den Huthi besetzten Landesteile des Jemen und die palästinensischen Terrororganisationen Hamas, Islamischer Dschihad, Hisbollah und weitere Splittergruppen als iranische Proxys betrachtet werden können. Der Libanon wird in großen Teilen von der Hisbollah beherrscht und kann mit Fug und Recht in seiner derzeitigen Verfassung als Failed State betrachtet werden, dies nicht erst im Oktober 2024 angesichts der israelischen Angriffe auf die Stellungen der Hisbollah. Die UN-Truppen an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon sind hilf- und wirkungslos. Die Hisbollah ignorierte sie, die UN-Truppen schauten zu.

Magische Identitäten

Man muss nicht jeden Winkelzug, jede Militäroperation Israels, der Ukraine oder jedes Statement der USA befürworten oder gar bejubeln. Im Gegenteil: Es gibt genügend Kritik, aber die formulieren Israelis und US-Bürger:innen schon regelmäßig selbst, auch Ukrainer:innen. Aber es sollte eigentlich offensichtlich sein und dennoch muss man es wohl immer wieder deutlich wiederholen: Niemand wird in Israel, in der Ukraine oder in den USA eingesperrt, gefoltert oder ermordet, weil er eine der jeweiligen Regierung widersprechende Meinung vertritt, öffentlich gegen diese demonstriert oder einfach anders lebt, als sich die Regierungen das vorstellen, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft zum Beispiel. Das sieht in Russland unter Putin, in Gaza unter der Herrschaft der Hamas, im Syrien Assads und im Iran anders aus. Aber warum demonstrieren Feminist:innen, Queers und andere für die Hamas, für Putins Russland?

Die Verharmlosung von Putin, Hamas, Hisbollah, Iran, die Ignoranz gegenüber Nordkorea, die von Friedensbewegten in Deutschland und anderswo gepflegte Täter-Opfer-Umkehr – all das scheint grundlegend die eigene Identität der Friedensbewegten vom 3. Oktober 2024 zu definieren. Und Sahra Wagenknecht gibt diesen Stimmen dank der von ihr in den Medien erregten Aufmerksamkeit eine Relevanz, die die Zahl der auf ihren Kundgebungen anwesenden Unterstützer:innen deutlich übersteigt. Offenbar gehört es so sehr zur Identität der Friedensbewegten, der Israel- und Ukraine-Gegner:innen, sodass man letztlich von einem identitär vergifteten Friedensbegriff sprechen könnte. Ebenso identitätsstiftend ist offenbar die Behauptung, die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine verhinderten einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine. Wer für Waffenlieferungen an die Ukraine eintritt, wird selbst von eigentlich differenziert denkenden Menschen immer wieder als „Kriegstreiber“ markiert. Vielleicht aber wäre es besser gewesen, im Jahr 2021 den Vorschlag Robert Habecks aufzugreifen, die Ukraine mit Verteidigungswaffen, nicht zuletzt mit einem effektiven Luftabwehrsystem, auszustatten? Damals wurde Robert Habeck von seinen eigenen Leuten zurückgepfiffen. Und nach wie vor fehlt in der Ukraine auf eine flächendeckende und effektive Luftabwehr.

Vielleicht erleben manche Friedensbewegte, die nach den Flötentönen der Sahra Wagenknecht tanzen, den von ihnen gewünschten „Frieden“ als ihren ganz persönlichen „Frieden“, als ihre Identität, und glauben an die Magie eines bloßen Wortes, das nur ausgesprochen werden müsste, um die Welt zu verändern. Allerdings adressieren sie nur den Westen, nicht Putin. Sie sehen nicht, dass sie so wie sie das magische Wort „Frieden“ verwenden das Gegenteil bewirken, gesellschaftlichen Unfrieden, Unterdrückung und Terror gegen die eigenen Bürger:innen, wie es Putin, Khamenei und all ihre Proxys Schritt für Schritt durchsetzen, bis nur noch der „Frieden“ eines Friedhofs bleibt. Sie fördern nicht zuletzt das Spiel der rechtsextremistischen Putin-Freunde, die nicht müde werden, jeden Euro, der für die Ukraine ausgegeben wird, mit den Euros aufzurechnen, die zur Instandsetzung und Sicherung deutscher Infrastruktur fehlen.

Dieses Spiel ist gefährlich, denn inzwischen hat es die unausgesprochene Querfront von BSW und AfD geschafft, das Wort „Frieden“ zu kapern. „Frieden“ wird „Krieg“, das Unwort, das auszusprechen Putin unter Strafe gestellt hat, „Frieden schaffen ohne Waffen“ zur Aufforderung an den Angegriffenen, sich dem Aggressor zu unterwerfen. Dies ist der „Frieden“ auch der Identitären Bewegung, eine Welt, in der es nur noch eine Sorte Mensch gibt, die den Fantasien eines Martin Sellner, eines Maximilian Krah, eines Vladimir Vladimirowitsch Putin, eines Ajatollah Khamenei entspricht, die in jedem Bürger nur Klone ihrer selbst und in den Frauen diesen hörige Objekte erkennen wollen. Auch viele Friedensbewegte dürften in einem solchen Reich kein friedliches Leben mehr führen können. Noch einmal: Andersdenkende werden in einem solchen Reich eingesperrt, vertrieben, deportiert, gefoltert, ermordet. Oder sie passen sich an und verfallen mehr oder weniger kollektivem Realitätsverlust, begeben sich sozusagen auf einen ewig währenden Ostermarsch, auf dem sie nur noch wahrnehmen, was sie auf ihre Plakate geschrieben haben.

Am 19. Oktober 2024 wurde Anne Applebaum der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Sie hat in ihrem Buch „Autocracy Inc.“ die Vernetzung und Vorgehensweisen autoritärer Regierungen in dieser Welt analysiert. Im Gespräch mit Jochen Bittner für die ZEIT sagte sie: „Was morgen passiert, entscheiden wir heute“. Sie nannte auf Jochen Bittners Frage, „was sie den Deutschen in ihrer Rede zum Friedenspreis mitgeben“ wolle, die Fragen, die beantwortet werden müssten, wenn man wirklich an „Frieden“ interessiert wäre: „Ich würde gerne darüber reden, was Frieden wirklich bedeutet. Wie stellen wir ihn her? Wann wissen wir, dass wir ihn haben? Und: Ist Frieden das Gleiche wie Pazifismus?“ Jochen Bittner fragt nach: „Oder wie Appeasement?“ Ihre Antwort: „Das ist wieder etwas anderes. Vielleicht eher: Braucht es, um Frieden zu sichern, nicht auch eine gewisse Wachsamkeit?

Marina Chernivsky hat im Demokratischen Salon unter dem Titel „Identitärer Antisemitismus“ eine ähnliche Perspektive formuliert: „Es gibt keine andere Möglichkeit, sich reflektiv zu diesem Thema in Beziehung zu setzen, als das Thema zu entdramatisieren. ‚Die richtige Seite der Geschichte‘? Das muss alles auf den Tisch. Dafür eignen sich offene Gespräche besser als jede komplizierte Ersatzhandlung.“ Aber dazu müsste man erst einmal damit aufhören, andere niederzubrüllen und stattdessen darüber nachdenken, wer mit wem und wie überhaupt qualifiziert über Frieden verhandeln könnte. Wer jedoch – wie die von Christian Bangel zitierte Friedensaktivistin – glaubt, Putin wolle „Bildung“, sollte vielleicht auch darüber nachdenken, welche Bildung er meint und ob das die Bildung ist, die tatsächlich zum Frieden führen könnte.

Nicht nur zur Weihnachtszeit

Vielleicht zum Abschluss eine Parabel? Heinrich Böll beschreibt in der mit René Deltgen und Edith Herdegen verfilmten Satire „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ (1952, im Folgenden zitiert nach der von Jochen Schubert herausgegebenen Ausgabe der Erzählungen, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2006)) eine gut bürgerliche Familie, die täglich Weihnachten feiern muss, um Tante Milla bei Laune zu halten. Den Weihnachtsbaum schmücken gläserne Zwerge und ein Engel, der ständig „Frieden, Frieden, Frieden“ ruft, „der Krieg wurde von meiner Tante Milla nur registriert als eine Macht, die schon Weihnachten 1939 anfing, ihren Weihnachtsbaum zu gefährden. Allerdings war ihr Weihnachtsbaum von einer besonderen Sensibilität“. „Frieden“ wird zur Parole eines totalitären Systems, das den alltäglichen Frieden zerstört. „Frieden“ wird zum „Newspeak“ im Sinne von George Orwell. Die Familie zerbricht, ein Teil der Familie wandert schließlich auf die Weihnachtsinseln aus, weil man dort kein Weihnachten feiert, ein Familienmitglied wird Kommunist, ein anderes Laienbruder in einem Kloster, mit der Zeit werden die Familienmitglieder durch Schauspieler, die Kinder durch Wachspuppen ersetzt. Musste es so kommen? So sieht es aus. Der Erzähler beginnt – rückblickend – mit einem Hinweis auf die „Verfallserscheinungen“ in der Familie sowie den drohenden „Zusammenbruch“, auch wenn er dieses böse Wort eigentlich nicht verwenden möchte. „Jedenfalls: Die Feier wird fortgesetzt.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2024, Internetzugriffe zuletzt am 21. Oktober 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer, aus der Serie „Deciphering Photographs“.)