Die Welt des Wladimir Wladimirowitsch

Von Identitätskränkungen und Weltordnungskonflikten

„What is most striking about Putin’s essay is the underlying uncertainty about Russian identity. When you claim that your neighbors are your brothers you are having an identity crisis. There is a nice German saying about this: “Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich Dir den Schädel ein”: if you won’t be my brother, I’ll beat your skull in. That is Putin’s posture. In his essay, what Russia lacks is a future, and the nation is much more about the future than it is about the past. “ (Timothy Snyder: How to Think About War in Ukraine. Start With Ukrainians, Blogartikel vom 18. Januar 2022)

In dem oben angeführten Zitat nimmt der prominente amerikanische Historiker Timothy Snyder Bezug auf ein Dokument, das im Sommer letzten Jahres vom Kreml publiziert wurde und nach seiner Veröffentlichung in aller Welt hohe Wellen geschlagen hat. Es handelt sich um ein ca. 7000 Wörter langes Traktat mit dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern, das der russische Präsident am 12. Juli 2021 auf der Website des Kremls veröffentlichen ließ. Die hier erstmals Schwarz auf Weiß dargelegte „großrussische Vision“ Putins wurde von ihm ebenfalls in seiner verstörenden Ansprache zur Anerkennung der selbsternannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk wiederholt und bekräftigt. Der Text gewährt einen tiefen Blick in Putins Geschichtsverständnis, in seine Verständnisse russischer und ukrainischer Identität und ermöglicht so Einblicke in die wesentlichen ideellen Koordinaten der furchtbaren Eskalation des Konfliktes, deren Zeugen wir momentan werden müssen. Wenn wir bei seinen Aussagen jedoch genau zwischen den Zeilen lesen, sehen wir, dass es dabei nicht nur um die Ukraine im engeren Sinne geht. Es geht in breiterer Perspektive um eine russische Identitätskrise und einen tiefgehenden Konflikt konkurrierender Weltordnungsbilder auf globaler Ebene. Diese Dimension ist in der öffentlichen Diskussion vergleichsweise unterbelichtet geblieben, dabei ist sie jedoch zum Verständnis der tieferen Ursachen des Konflikts meines Erachtens kaum zu überschätzen.

Weltordnungsbilder

Ein vom Kreml lanciertes Dokument, das ähnlich tiefe Einblicke in seine historische Programmatik gewährt, ist der Gastbeitrag Wladimir Putins in der ZEIT vom 22. Juni 2021. Dieser Beitrag stellt in jeglicher Hinsicht ein typisches Dokument für die diskursive Strategie der russischen Führung dar. Typisch insofern, als dass der Beitrag zunächst als unerwartetes Kooperationsangebot inmitten des kakophonen Feldrauschens sich ständig verschlechternder Beziehungen daherzukommen schien, um danach die volle Härte der Ideologie Putins zu entblößen. Der Text lässt sich zudem als taktisch ausgeklügeltes, für Augen und Ohren der deutschen Öffentlichkeit maßgeschneidertes Meisterwerk des Geschichtsrevisionismus lesen. Aus der Perspektive einer Politikwissenschaftlerin, die sich intensiv mit dem Zusammenhang zwischen Identität und internationaler Politik beschäftigt hat, unterstreicht der Artikel jedoch in erster Linie zwei Umstände: zum einen, wie sehr unsere Verständnisse von Weltordnung in Wechselbeziehung zu unserem Verständnis von uns selbst und unserem Gegenüber stehen, zum anderen: wie wirkmächtig Identitätskränkungen in der internationalen Politik sein können. Beides wird meines Erachtens im öffentlichen Diskurs um einen richtigen und angemessenen Umgang mit dem Konflikt und mit Russland vergleichsweise wenig beachtet.

Die Grundproblematik des Konflikts mit Russland wird häufig auf eine Inkompatibilität der politischen Systeme und Kulturen heruntergebrochen. Das russische Umgarnen europäischer Autokraten und Vertreter einer sogenannten „illiberalen“ Demokratieform deutet in diese Richtung. Putin und die Vertreter seiner Partei „Einiges Russland“ lassen bekanntermaßen keine Gelegenheit verstreichen, ihre Ablehnung der „verdorbenen“ Grundlagen liberaler europäischer Gesellschaften kundzutun. Diese wird in bestimmten Mediennarrativen immer wieder und durchaus taktisch in Umlauf gesetzt – etwa die in Russland bereits zum kulturellen Topos geronnene Erzählung vom „Gayropa“. Es ist somit nicht abwegig zu behaupten, dass sich das Regime Putin nicht militärisch, sondern in erster Linie ideell durch den Westen und seine normative Strahlkraft (im politikwissenschaftlichen Jargon „Soft Power“) bedroht sieht und diese Bedrohung durch medial lancierte alternative Deutungsangebote abzuwehren versucht.

Diese Inkompatibilität der Werte ist sicherlich bedeutsam, allerdings erschöpft sich der Konflikt nicht allein in dieser Dimension. Neben den kollidierenden politischen Kulturen und Führungsstilen, stoßen hier auch historische Narrative und Weltordnungsbilder aufeinander, die eine explosive Reibungsenergie freigesetzt haben. Als Weltordnungsbild bezeichne ich hier die Art und Weise, die das Funktionieren internationaler Beziehungen im Ganzen beschreibt. Diese Bilder sind alles andere als banal, denn sie definieren unser Verständnis von Teilbereichen internationaler Politik – etwa Diplomatie, Multilateralismus und nicht zuletzt: Kriegsführung. Den Stellenwert, den wir diesen Praktiken zuschreiben, hat einen fundamentalen Einfluss auf unser Handeln im Feld der internationalen Politik und den von uns hier abgesteckten Möglichkeitsraum.

Putins Weltordnungsbild ist eindeutig und altbekannt: es lässt sich letztlich auf ein Netz von Machtzentren herunterbrechen, die legitimerweise Anspruch auf spezifische geopolitische Einflusssphären erheben und in diesen quasi als politisch-kulturelle Gravitationszentren fungieren. Das Ausgleichen der Machtbalance zwischen diesen Machtzentren stellt in diesem Weltordnungsbild konsequenterweise die einzig mögliche Friedenspolitik dar. Eine moderne Version des klassischen Balance of Power Denkens des 19. Jahrhunderts also, mit dem die meisten Europäer*innen jedoch (zumindest jene, die nicht der „illiberalen“ Schule angehören) erheblich fremdeln, denn das gesamte europäische Projekt basiert ja gerade auf der Überwindung eben jener Weltordnungsbilder. Die Entscheidung europäischer Staaten, Hoheitsrechte auf eine supranationale Instanz zu übertragen und so Interdependenzen zu schaffen, die eine ungezügelte Machtkonkurrenz unter ihnen unterbindet, stellt hier das friedensbedingende Moment dar, für das die EU – es sei daran erinnert – sogar den Friedensnobelpreis erhalten hat. Es könnte wohl kaum in einem größeren Kontrast zu Putins Weltordnungsbild stehen.

Der Mythos der Machtzentren

Vor diesem ideellen Hintergrund machen die Ausführungen in Putins Gastbeitrag auf ihre ganz eigene Art und Weise Sinn. Alle historischen Ereignisse lassen sich in diesem Verständnis als eine bewusste Handlung bzw. Anordnung eines dieser Machtzentren darstellen – wie etwa die groteske Vorstellung, die Maidan-Revolution in der Ukraine sei ein von den USA organisierter und von der EU als deren Helfershelfer willenlos unterstützter Staatsstreich gewesen. Wie sonst sollten die Ukrainer aus dem Gravitationsfeld ihres „natürlichen“ politisch-kulturellen Machtzentrums entrissen worden sein? Natürlich nur durch „Verführung“ bzw. Zwang seitens eines konkurrierenden Machtzentrums. Diese Logik findet sich in Putins Formulierung wieder, die Ukraine sei vor eine „künstliche Wahl“ gestellt worden „entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen“. Eine gezielte machtpolitische Provokation, die in diesem Verständnis natürlich nicht folgenlos bleiben darf. Die russische Aggression in der Ukraine erscheint so also nur als logische Konsequenz, an der der Westen letztlich selbst schuld sein muss.

Die hier zitierten Texte aus der Feder des Kremls zeigen eindeutig, dass wir seit geraumer Zeit von der Gedankenwelt wissen, in die sich Putin immer mehr und immer tiefer verflochten hat. Dass Putin jedoch mit seiner aggressiven Nachbarschaftspolitik – wie es der langjährige Leiter des Ukraine-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung Winfried Schneider-Deters formuliert hat – gewissermaßen als Geburtshelfer einer bis dahin wenig konturierten ukrainischen nationalen Identität verstanden werden kann, gehört zu den Ironien dieser Geschichte. Im Angesicht wiederholter Aggressionen durch Russland rücken die Ukrainer identitär immer näher zusammen – ein Phänomen, dass in der Politikwissenschaft als „Rally Around the FlagEffekt“ bekannt ist. Die Ikonographie der heldenhaften Verteidigung Kyjiws durch Volodymyr Zelenskiy und mutige Zivilisten, die sich unbewaffnet vor Panzerkolonnen stellen, dürfte in dieser Hinsicht das Ihrige dazu beigetragen haben.

Das zentrale völkerrechtliche Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker hat in Putins Weltordnungsbild keinen Platz, auch wenn er sich durchaus darauf bezogen hat – etwa zur Legitimation des „Austritts“ (a.k.a. Annexion) der Krim. Das oft bemühte Narrativ der NATO-Osterweiterung als Verrat durch den Westen – für Putin eines der wesentlichen Elemente im Konflikt des Westens mit Russland – folgt ebenfalls der grundlegenden Logik dieses Denkens. Die USA und Europa haben demnach Russland in einem schwachen Moment gewissermaßen „über den Tisch gezogen“ und ihre Einflusssphäre illegitimerweise nach Osten verschoben. Die Tatsache, dass der NATO-Beitritt der ehemaligen Sowjetrepubliken eine souveräne Entscheidung freier Staaten war und deren Ersuchen bei der NATO überdies nicht unbedingt auf Begeisterung stieß – wie uns Radoslaw Sikorski, polnischer Verteidigungs- und Außenminister in der Zeit von 2005 bis 2014, in seiner Antwort auf Putins Gastbeitrag in der ZEIT klar macht – kann in dieser Denkweise nicht zutreffen. Auch der nicht unbedeutende Umstand, dass die historische Erfahrung ostmitteleuropäischer Staaten und die latent aggressive russische Haltung diese Staaten zu dieser Entscheidung ja erst bewogen haben, passt ebenso wenig ins Bild und muss ausgeblendet bleiben. Und dass überdies der Mythos vom gebrochenen Versprechen durch die NATO-Osterweiterung einer eingehenden historischen Analyse nicht standhält, wie uns etwa Kristina Spohr – Professorin für Internationale Geschichte an der London School of Economics – in einem exzellenten Beitrag vor Augen führt, sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt.

Im Zentrum des Problems steht eine Identitätskränkung, deren Ursache – natürlich – auf das Konto fremder Mächte gehen muss. Den umliegenden Staaten Russlands wird damit im Grunde jeder eigene Wille, jede eigene Identität und somit jede Berechtigung zur Eigenständigkeit abgestritten. Auch dies machen die vom Kreml veröffentlichten Texte unmissverständlich klar: das Absprechen der Legitimität einer ukrainischen nationalen Identität und Souveränität. In diesem Text behauptet Putin explizit, es hätte in der Ukraine einen vom Westen „erzwungenen Identitätswandel“ gegeben, der die Ukrainer dazu verleitet habe, sich aggressiv gegen Russland zu wenden. Wie die Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses und des Europa-Ausschusses im ukrainischen Parlament Ivanna Klympusch-Tsintsadze und Oleksandr Merezhenko in einem Gastbeitrag in der ZEIT kommentierten, geht es in Putins Ausführungen offensichtlich weniger um ukrainische, als vielmehr um russische nationale Identität. Oder vielmehr um die „Selbstidentifikation“ Putins, der „lieber in der Vergangenheit“ als in der Zukunft leben möchte.

Tatsächlich liegt hier des Pudels Kern – eine von Putin auf die russische nationale Identität projizierte Kränkung, deren Wurzeln er in einer Historie der Demütigung durch den Westen verortet. In diesem Denkhorizont wurde und wird Russland wieder und wieder ein als legitim erachteter Status als Großmacht in der internationalen Politik verwehrt. Alle Bemühungen – aggressive wie eher konziliante – zielen letztlich nur darauf, diese Entwürdigung zu revidieren. Im Juni 2020 identifizierte Putin etwa in einem Gastbeitrag für eine US-amerikanische Denkfabrik anlässlich des 75. Jahrestages des Zweiten Weltkrieges die nationale Demütigung der Deutschen durch die „Versailler Weltordnung“ als eine der zentralen Ursachen des Krieges. Das ist ein Motiv, das er versteht.

Wenn wir die tiefere Dimension des von Putin bedienten Motivs der russischen Identitätskränkung verstehen, erkennen wir, dass die Konflikte in der Ukraine und in Syrien für ihn wesentlich mehr sind als nur ein Ringen um die Durchsetzung nüchterner strategischer Interessen. Sie sind Pfründe im Ringen um internationale Anerkennung als Supermacht. Sie senden die Botschaft: „wenn ihr das Weltpolitik-Spiel spielen wollt, geht an uns kein Weg vorbei“. Diese Grundkonstellation belastet diplomatische Prozesse schwer und lässt sich nicht einfach „wegverhandeln“. Der Erfolg diplomatischer Prozesse setzt jedoch aufrichtigen Verhandlungswillen voraus, somit werden Bemühungen zur Konfliktlösung voraussichtlich wieder und wieder ins Leere laufen.

Emotionale Selbst- und Fremdbilder

Wie ich in meiner eigenen Forschung argumentiert habe, basieren Identitäten auf spezifischen Kombinationen von Narrativen, die gleichermaßen Bilder von uns selbst, unserem Gegenüber und der sozialen Struktur (in diesem Fall: „Welt“) produzieren, in der wir uns in bestimmten Situationen befinden. Sie sind jedoch nicht nur nüchterne „Erzählungen“, sondern emotional hoch aufgeladene Selbst- und Fremdbilder, die unsere Interaktion mit Anderen – also unsere Bereitschaft zu Konflikt und Kooperation – ganz wesentlich bestimmen. Aufgrund der Tatsache, dass Menschen ein Grundbedürfnis nach positiv erfahrener Identität haben, führen Erfahrungen von Identitätskränkungen zu Kompensationshandlungen, die sehr häufig konfliktiv sind. Im Falle kollektiver Identitäten wie der nationalen Identität sind dies auch kollektive Erfahrungen, die sich zu einer kulturellen Bedeutungsstruktur sedimentieren, auf das sich Politiker sehr erfolgreich berufen können.

Somit ist es auch völlig irrelevant, ob Putin tatsächlich diese Dinge empfindet oder sie lediglich strategisch für seinen persönlichen Nutzen bespielt. Angesichts Putins innenpolitischer Notwendigkeit, von seinen politischen Versäumnissen der letzten Jahrzehnte und der entsprechend desolaten Entwicklungslage des Landes insgesamt abzulenken, lassen sich einige Argumente bemühen, die Letztes nahelegen. Entscheidend ist jedoch, dass er mit seinen argumentativen Schachzügen Erfolg hat, weil er einen wunden Punkt in der kollektiven Erfahrungswelt seiner Landsleute trifft. In der erfolgreichen US-amerikanisch-britischen Fernsehserie „Chernobyl“ warnt der aus Moskau entsandte Regierungsbeamte Boris Schtscherbina den Nuklearphysiker Valery Legasov, er sei durch seine Enthüllungen zur Reaktorhavarie gerade im Begriff „eine Nation zu erniedrigen, die davon besessen ist, nicht erniedrigt zu werden“. Treffender kann man es kaum ausdrücken. Der weltweite Erfolg der Serie veranlasste russische Medien indes dazu – so Andrew Roth in „The Guardian“ im Juni 2019 – eine eigene patriotisch orientierte Version der Geschichte zu planen, in der das sinistre Wirken eines CIA-Agenten in den Mittelpunkt der Geschehnisse gestellt wird. Es sind diese fast schon lächerlich erscheinenden Scharmützel, die uns doch so viel über die von Putin vielbeschworene, gekränkte „russische Seele“ erzählen.

Wie die dänische Politikwissenschaftlerin Rebecca Adler-Nissen in ihrer Forschung argumentiert hat, entwickeln Staaten mit stigmatisierten Identitäten in der internationalen Politik unterschiedliche Strategien, mit diesen Stigmatisierungen umzugehen. Eine dieser Strategien ist die Anfechtung (und letztlich Veränderung) identitätsbestimmender dominanter Narrative bzw. Geschichtsdeutungen. Dafür sind die hier zitierten Texte Putins Lehrbuchbeispiele. Sein Ziel ist klar: die Wiederherstellung russischer Großmachtidentität und das Werben um Verbündete in diesem Prozess. Die Platzierung von Gastbeiträgen in hochkarätigen westlichen Medien funktionierte dabei als ein Mittel in diesem Ringen um historische Deutungshoheit. Der in Putins Gastbeitrag in der ZEIT durchscheinende Appell an die deutsche Öffentlichkeit über den Bezug auf die mit dem Namen von Willy Brandt verbundene deutsche Ostpolitik und den Pioniercharaker deutscher Unternehmen im „Wandel durch Annäherung“ ist in dieser Hinsicht absolut durchschaubar, verkehrt aber die ursprüngliche Absicht dieser Formeln und Politikansätze in ihr Gegenteil. Denn zu den Grundpfeilern der Brandt’schen Ostpolitik gehörte neben aufrichtigen diplomatischen Bemühungen eben auch die Anerkennung bestehender Grenzen in Europa – für beides lässt sich derzeit im Kreml nicht der Hauch einer Bereitschaft erkennen.

Die Formel vom „Wandel durch Annäherung“ setzt voraus, dass zunehmende wirtschaftliche Interdependenz irgendwann quasi automatisch einen politischen bzw. gesellschaftlichen Wandel in unserem Gegenüber auslöst. Dass Egon Bahr diese politische Komponente in seiner Politik nie angestrebt hatte, (in seinem Worten: Ich bin nicht nach Moskau gefahren, um aus Kommunisten Demokraten zu machen“) bleibt in entsprechenden außenpolitischen Diskussionen in der Regel bemerkenswert unerwähnt. Dass sich dieser Automatismus eines Wandels autoritärer in liberale politische Systeme zudem einfach nicht einstellen will, können wir seit geraumer Zeit auch am Beispiel China beobachten. Der wiederholte und – insbesondere in sozialdemokratischen Kreisen beliebte – Bezug auf die Ostpolitik als erfolgreiche Schablone deutscher Außenpolitik überschätzt die Hebelwirkung einer vielzitierten „besonderen Beziehung Deutschlands zu Russland“ maßlos und verkennt neben den Grundprinzipien Brandt’scher Ostpolitik auch die Tatsache, dass wir es im Kreml nunmehr mit ganz anderen Gesprächspartnern zu tun haben als seinerzeit Egon Bahr und Willy Brandt. So ethisch erstrebenswert Entspannungspolitik auch sein mag: eine unilaterale Version von Entspannungspolitik wird immer auf „Appeasement“ hinauslaufen – mit allen bekannten Konsequenzen, die wir im Moment sehen können.

Pflege der Vergangenheit – welche Vergangenheit?

Ein großer Denkfehler, den man nach meinem Dafürhalten auf der Suche nach dem richtigen Umgang mit Russland machen kann, ist anzunehmen, dass die westliche Haltung gegenüber Russland tatsächlich verhaltensverändernde Wirkung entfalten könnte. Rebecca Adler-Nissen zeigt unter anderem, dass etwa Sanktionen über ihren symbolischen Charakter hinaus wenig Wirkung entfalten, im Gegenteil, von Stigmatisierten sogar in der eigenen Öffentlichkeit identitätsverstärkend eingesetzt werden können. Die kürzlich vom russischen Botschafter in Schweden recht unverblümt formulierte Aussage, dass man doch auf westliche Sanktionsandrohungen  in Russland „scheiße“ (sic!), verdeutlicht diesen Zusammenhang. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass es ungeachtet – auch schwerwiegender – Sanktionen, dem Ende von NordStream 2, dem Ausschluss russischer Banken von SWIFT und anderen Maßnahmen auf kurz oder lang keine Änderung der russischen Haltung geben wird. Das Beharren auf der Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung ist sicherlich richtig und wichtig, gerät aber vor diesem Hintergrund zum wenig weltbewegenden Allgemeinplatz.

Das Problem liegt wesentlich tiefer als nur an mangelnder Interdependenz, Diplomatie- oder Dialogbereitschaft. Es liegt letztlich bei Russland selbst und basiert zum großen Teil auf einer mangelnden Aufarbeitung nationaler Traumata – allen voran den kulturellen Relikten stalinistischer Tyrannei und dem Zerfall der Sowjetunion. So argumentierte auch im Juni 2021 in Reaktion auf Putins ZEIT-Artikel Judy Dempsey, dass die wesentlichen Probleme des „Putinismus“ eben genau in der mangelnden Bereitschaft liegen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das im Dezember 2021 vollzogene Verbot der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial International“ sowie die Schließung ihres Moskauer Zentrums ist für diesen Zusammenhang sicherlich das eindrücklichste Beispiel. Memorial hat sich im Laufe der Zeit neben der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen gegen das eigene Volk zunehmend mit der sich immer weiter verschlechternden Menschenrechtslage in Russland im Allgemeinen beschäftigt – was Putins sorgfältig orchestrierte und inszenierte historische Narration einer ruhmreichen und gefürchteten Supermacht natürlich konterkarierte. Kontrolle über die russische Erinnerungspolitik bedeutet für Putin gleichermaßen eine Kontrolle über die Deutungshoheit russischer nationaler Identität.

Was tun?

Angesichts der Tiefe der hier nachgezeichneten Problemlage tun wir gut daran, zu verstehen, dass die Ukraine eigentlich nur ein Schauplatz in einem wesentlich größeren Konfliktfeld Russlands mit dem Westen als Ganzes ist. Ein zentraler Schauplatz, zweifellos, aber eben nur einer von vielen. Der Krieg gegen den Westen hat längst begonnen und er wird seit geraumer Zeit auf mehreren Ebenen geführt – sei es in koordinierten Cyberattacken auf europäische Parlamente und Parlamentarier, Einflussnahme auf Wahlen und allgemeine Destabilisierungs- und Spaltungsversuche westlicher Gesellschaften. Von Anschlägen auf Dissidenten auf der ganzen Welt ganz zu schweigen. Unsere Solidarität gegenüber der Ukraine ist also nicht lediglich eine ethisch gebotene Wohltätigkeit. Sie ist eine Investition in die Stärkung unserer europäischen Friedensordnung und in die Bewahrung der Fundamente völkerrechtlicher Regelwerke.

Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Putin mit seinem brutalen Krieg einen jahrelangen Friedensprozess mit einem Streich vom Tisch gefegt hat, müssen in Deutschland und Europa nun auch wieder alle Optionen auf selbigen kommen – und zwar ausnahmslos alle. So verrückt es klingen mag: letztlich müssen wir uns auch auf die Möglichkeit einer direkten Konfrontation der NATO mit Russland einstellen. Bislang scheint es zu einem solchen – vormals undenkbaren, aber im Zuge der zunehmenden Zuspitzung der Lage durchaus möglichen – Szenario keinerlei Strategie zu geben. Wenn Putin jedoch in der gegenwärtigen Situation kein Einhalt geboten wird, gäbe es nach meinem Dafürhalten keinen Grund anzunehmen, dass sich seine Aggression nur auf die Ukraine beschränken wird. Georgien und die Republik Moldau scheinen ähnlich zu denken, denn auch diese Staaten haben bei der EU nunmehr ein Beitrittsgesuch eingereicht.

Angesichts der Tatsache, dass die Wurzel des Problems zu großen Teilen im komplexen gesellschaftlichen Prozess der Vergangenheitsbewältigung begraben liegt, kann dessen Lösung natürlich nur in Russland und von den Russ*innen selbst herbeigeführt werden. Wir können in Bezug auf die russische Öffentlichkeit nur auf einen langfristigen Generationenwechsel in der russischen Politik und in der politischen Kultur Russlands hoffen. Bis dahin sollten wir jedoch kurz- und mittelfristig eine mehrdimensionale Strategie verfolgen: Aufrechterhaltung diplomatischer Dialoge bei gleichzeitiger, unmissverständlicher politischer Positionierung und unbedingter Solidarität mit der Ukraine. Wir müssen alte Denkwelten verlassen und mutige Entscheidungen treffen, durch die wir über uns hinauswachsen können. Die langfristige Perspektive einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine gehört für mich ebenso dazu wie ein militärischer Beistand bei ihrer Verteidigung – der letztlich ein Beistand bei der Ausübung des in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen verbrieften Rechts auf Selbstverteidigung wäre.

Die gegenwärtige Situation bietet die große Chance, in einer konzertierten europäischen Antwort Putin vor Augen zu führen, dass die Europäische Union eben nicht schwach ist, sondern sich im Angesicht seiner Aggression geschlossen vor seine Partner stellt. Das sind wir nicht nur jenen Ukrainern schuldig, die ihr Leben auf dem sogenannten „Euromaidan“ und in diesem Krieg gelassen haben, sondern uns Europäer*innen selbst. Daria Navalnaya, die Tochter Alexei Navalnys, hat in ihrer Rede zur Annahme des Sacharow-Preises im Namen ihres Vaters folgende Nachricht an die Europäer gerichtet: „sag, dass niemand es wagen kann, Russland mit dem Regime von Putin gleichzusetzen. Russland ist ein Teil von Europa, und wir streben danach, ein Teil davon zu werden. Aber wir wollen auch, dass Europa selbst danach strebt, nach diesen großartigen Ideen, die den Kern Europas ausmachen. Wir streben nach einem Europa der Ideen, das die Menschenrechte, die Demokratie und die Integrität feiert.“ Es bleibt zu sehen, ob und in welcher Form wir Europäer*innen diesem Anspruch gerecht werden können.

Man kann es nicht oft genug betonen: es geht bei unserer Haltung nicht nur um die Ukraine, unseren Nachbarstaat und seine tapfere Bevölkerung, die sich mit bloßen Händen gegen russische Panzer stellt. Es geht um die Fundamente unserer globalen Friedensarchitektur, die wir bewahren müssen. Um die ganz grundlegenden Regeln der Koexistenz in der internationalen Politik. Wenn wir weiterhin Außenpolitik „von der Seitenlinie“ betreiben wollen – wie es Frank-Walter Steinmeier es einst in einem anderen Kontext formuliert hat – verspielen wir diese Grundlagen und unsere außenpolitische Glaubwürdigkeit. Die Gedenkstätte Babyn Yar, eine Schlucht in einem Außenbezirk der ukrainischen Hauptstadt, in der 34.000 ukrainische Juden durch die Nazis in einer der größten Massenhinrichtungen in Osteuropa brutal ermordet wurden, wurde durch einen schweren Raketenbeschuss zerstört. „Was ist der Sinn“ twitterte Volodymyr Zelenskiy kurz darauf, dass „wir 80 Jahre lang ‚nie wieder‘ sagen, die Welt jedoch schweigt, wenn Bomben auf Babyn Yar niedergehen?“. Wenn wir es tatsächlich ernst meinen mit einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ müssen wir darauf Antworten finden.

Ursula Stark Urrestarazu, Bonn. Die Autorin ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie hat an der Goethe Universität Frankfurt zu Identitätsfragen in der (Internationalen) Politik gelehrt und geforscht. Mit ihrer Familie hat sie von 2018-2020 in der Ukraine gelebt und an der Nationalen Universität Kyjiv-Mohyla-Akademie in Kyjiw als Gastdozentin Identität und Politik gelehrt.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im März 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 4. März 2022.)