Im Goldenen Käfig
Heterotopien in den Hotelromanen Vicki Baums
„Die Frage, die mich Tag und Nacht nicht in Ruhe ließ, war: Wie sieht es jetzt in Deutschland aus? Was denken, fühlen, fürchten und hoffen die Deutschen in einem Augenblick, da schon die ganze Welt das Menetekel an der Wand lesen kann? Mit anderen Worten: Was geht zu diesem Zeitpunkt in meinem ‚Grand Hotel’ vor? (…) Da es mir nicht möglich war, nach Deutschland zurückzukehren (…) versetzte ich mich im Geist dorthin.” (Vicki Baum, Hotel Berlin, aus der Einleitung der Auflage aus dem Jahr 1947)
In der Literatur, wie auch in den anderen ähnlichen Medien, gibt es bestimmte Räume, die immer wieder auftauchen. Sie werden als Handlungselemente oder Schauplätze verwendet, weil sie – in welcher Form auch immer –Einfluss auf das Verhalten der Figuren ausüben. Dieser Einfluss kann wiederum genutzt werden, um bestimmte Situationen geschehen zu lassen, die sonst nie geschehen würden.
Einer dieser Räume ist das Hotel. Als Raum, in dem Menschen unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft sich auf organische Weise treffen können, erweist sich das Hotel als interessante literarische Bühne. Und dies für jedes literarische Genre. Sei es ein Liebesroman, eine Komödie oder ein Krimiroman, alle können bei der Erzählung von den Besonderheiten dieses Raums profitieren. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Autor*innen dafür entscheiden, ihn immer wieder zu nutzen. So auch die österreichische Schriftstellerin Vicki Baum, die in ihren so genannten „Hotelromanen“ viele unterschiedliche Eigenschaften des Hotels verwendet, um die gesellschaftliche Situation widerzuspiegeln.
Vicki Baum – Autorin der Neuen Sachlichkeit
Vicki Baum, geboren unter dem Namen Hedwig Baum, war eine österreichische Journalistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin. In einer jüdischen Familie aufgewachsen, wurde Vicki Baum zuerst als Harfenistin bekannt, bevor sie sich als Schriftstellerin in Deutschland und Österreich, und dann auch international durchsetzte. So war Sie unter anderem in Darmstadt, Hannover und Mannheim musikalisch tätig, bis sie sich nach dem Ersten Weltkrieg ganz dem Schreiben widmete. Begonnen hat sie mit dem Schreiben aber schon früher; bereits als Jugendliche veröffentlichte sie ihre Texte und Gedichte in Zeitungen, aber ihr erster Roman „Der Eingang zur Bühne” erschien erst 1920. Schon ihr erster Roman wurde zum großen Erfolg, und mit dem Roman „Stud. chem. Helene Willfüer”, der 1928 – zwei Jahre nach ihrem Umzug nach Berlin – veröffentlicht wurde, begann sie, sich international einen Namen zu machen.
Ihren größten Erfolg erzielte sie kaum ein Jahr später mit ihrem ersten Hotelroman „Menschen im Hotel. Ein Kolportageroman mit Hintergründen”, mit dem sie zu einer der meistgelesenen Autor*innen der Weimar Republik wurde. Das Buch wurde nicht nur im deutschsprachigen Raum zu einem Riesenerfolg, sondern auch international. Und zwar in einem solchen Ausmaß, dass Vicki Baum bereits 1931 nach Hollywood flog, um den Roman zu verfilmen – ein Jahr nach der Uraufführung der Bühnenadaptation in Berlin. Infolge der politischen Entwicklungen in Deutschland und Österreich blieb sie nach Abschluss der Dreharbeiten in den USA und kehrte nie wieder nach Berlin zurück. Nach „Menschen im Hotel” sollte Baum noch zwei weiteren Hotelromane veröffentlichen: „Hotel Schanghai” (1939) und „Hotel Berlin” (1943), die beide ebenfalls zu einem großen Erfolg bei der Kritik wurden, insbesondere „Hotel Berlin”, der Folgeroman von „Menschen im Hotel”. Der Roman gilt als Baums Versuch, sich von Kalifornien aus die Situation in Nazideutschland vorzustellen, weswegen er als Folgeroman gelesen werden kann, auch wenn es nur ein Element gibt, das die zwei Romane miteinander verbindet: Baums imaginäres Berliner Grand Hotel.
Die Figuren sind nicht dieselben, und auch die Erzählung enthält viele Unterschiede, aber das Hotel, dieser ganz besondere Ort, bleibt gleich. Auch wenn es in einer anderen Erscheinung auftritt, denn das Hotel in „Menschen im Hotel” wird als Gipfel des Luxus dargestellt, während es in „ Hotel Berlin” nahezu dem Verfall preisgegeben ist und den Großteil seines früheren Luxus verloren hat, bleibt es noch immer der gleiche Raum. Dies knüpft an Baums Absicht an, dieses Hotel als Gesellschaftsporträt Deutschlands zu nutzen.
Aber warum entschied sich Vicki Baum wie so viele andere Autor*innen für das Hotel – ich denke beispielsweise an Lion Feuchtwangers Exilroman oder an Joseph Roths „Hotel Savoy” und nicht zuletzt an Marcel Prousts „Recherche”, insbesondere an „A l’ombre des jeunes filles en fleurs”.
Bühne des Reichtums
Das Hotel hat, wie alle ihm ähnlichen Räume (zum Beispiel das Kreuzfahrtschiff oder der Zug) die einzigartige Kapazität, Menschen unter einem Dach zusammenzubringen und miteinander interagieren zu lassen, die sich sonst nie treffen würden. Es ist aber auch wegen seiner Rolle in der Gesellschaft ein interessanter literarischer Raum. Das Hotel gehört nämlich zu diesen von Michel Foucault als Heterotopie bezeichneten Räumen. Mit Heterotopie verweist Foucault auf Räume, die die vorgegebenen gesellschaftlichen Verhaltensnormen nur teilweise umgesetzt haben oder sogar nach eigenen Verhaltensregeln funktionieren. Dadurch widerspiegeln sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer besonderen Weise, indem sie entweder bestätigt werden oder umgekehrt. Dieses Bestätigen oder Umkehren der üblichen Verhaltensregel, führen zu bestimmten Verhaltenskodizes, die diesen Heterotopien eigen sind – so auch das Hotel.
Um zu verstehen, wie diese Verhaltensregeln des Hotels funktionieren, müssen wir aber zurück zu den alten europäischen Grand Hotels aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, denn die (teilweise noch immer) etablierten Verhaltensregeln beginnen bei der alten Aristokratie.
Als mit dem wachsenden Kapitalismus und dem neuen Tourismus die Klasse der neuen Reichen beziehungsweise der Bourgeoisie entsteht, wird sie vom Adel kaum geduldet. In seinen Augen versucht die Bourgeoisie in seine kulturellen und geographischen Räume einzudringen. Um immer noch ihren Status von Exklusivität zu bewahren, zieht die Aristokratie deswegen in immer entlegenere Gebiete um, in die Hotels. Dieser Trend hält bis zum Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, dann übernimmt die Bourgeoisie den Status der europäischen Elite. Mit der zunehmenden Verarmung des Adels verschwindet die auf Herkunft basierte Ausschließung aus dem Grand Hotel.
Fortan können alle im Hotel übernachten, solange sie die Kosten tragen können. Und genau aus diesem Grund beginnt das eigentliche Schauspiel. Ebenso wie die alte Aristokratie will sich auch die Bourgeoisie vom „gemeinen” Volk unterscheiden und vermeiden, dass „Außenstehende” in ihre Kreise eindringen. Zu diesem Zweck stellt die neue Elite einen Verhaltenskodex auf, der es ihr ermöglicht, sich gegenseitig zu erkennen und sich gleichzeitig von denen abzugrenzen, die nicht zu ihren Kreisen gehören. Es ist kein Zufall, dass Mode, Sport und Kultur in dieser Zeit bei der Elite populär werden. Sich mit diesen Sachen beschäftigen zu können, erfordert Geld. Gerade weil Sportarten wie Tennis und Golf eine bestimmte Kleiderordnung vorschreiben, werden sie Teil des Lebens der Bourgeoisie. Diese Sportarten betreiben zu können, zeigt, dass die Person über die notwendigen Mittel verfügt, um sowohl die passenden Ausrüstungen zu erwerben als auch die korrekte Kleidung, die an sich keine weitere Nützlichkeit besitzt.
Die Kleiderordnung weist keinen anderen Nutzen auf als den Reichtum des Individuums zur Schau zu stellen. Und im gleichen Sinne wird die Nutzlosigkeit von Dingen zum Wert, weil nur wohlhabende Menschen sich mit solchen Sachen beschäftigen können. Es geht nur um Prestige. Der Kodex – sich mit Kunst, Sport und Mode beschäftigen zu können – dient als Mittel, um sich von anderen abzugrenzen. Gleichzeitig dient es aber auch, um zu demonstrieren, dass man selbst Teil der Elite ist, und schließlich auch noch um sich selbst zu zeigen. Vor allem um sich selbst zu zeigen. Der gesamte Kodex kann darauf zurückgeführt werden: sich und sein Geld zur Schau stellen.
Und für ein derartiges Schauspiel bietet das Hotel die perfekte Bühne.
Bereits das Übernachten im Hotel gilt als Zeichen von Reichtum, vor allem, wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit die luxuriösen Grand Hotels eher die Regel als die Ausnahme waren. Man wird von anderen Menschen gesehen – gerade in der Lobby, in der der erste direkte Kontakt mit dem Hotel stattfindet. Noch vor dem Einchecken, bevor man die eigene Rolle im Schauspiel des Hotellebens eingenommen hat, wird man von Unbekannten gesehen und – wichtiger noch – beobachtet. Im Hotel bekommt man ein größeres und vielseitigeres Publikum. Da dieser Raum Menschen unterschiedlicher Herkunft (ob sozial, wirtschaftlich oder kulturell) zusammenbringt, erleichtert er es wiederum, seine Opulenz und seines Wissens zur Schau zu stellen. Die unterschiedlichen kleineren Räume, in die die luxuriösen Grand Hotels aufgeteilt sind wie Lobby, Teesalon, Bar, Restaurant usw. bieten dabei noch weitere Möglichkeiten, um aufzutrumpfen, denn auch wenn diese Nebenräume des Hotels sind, haben sie auch jeweils ihre eigenen Verhaltenskodizes, die beachtet werden müssen.
Spiel mit Identitäten
Dies erklärt aber nur, warum die Bourgeoisie den Raum als Theaterbühne nützt, unklar bleibt noch, wie die anderen sozialen Gruppen sich in diesem Theaterspiel verwickeln. Dafür müssen wir auf die Anonymität des Hotels und den (normalerweise) kurzen Aufenthalt zurückkommen.
Zuerst bietet das Hotel den Gästen die Möglichkeit, sich als jemand anderer auszugeben – die Bourgeoisie stellt nicht die einzige Schicht dar, die sich als Teil dieser Kreise präsentieren will, für die anderen ist es jedoch keinesfalls möglich, dies im Alltag zu realisieren. Eine weitere Konsequenz der Anonymität – die allerdings wichtiger erscheint als die Möglichkeit, eine andere Identität vorzugeben –, sind die zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Gästen. Wie jeder soziale Raum fördert das Hotel menschliche Interaktionen; normalerweise reichen diese aber nicht über die oberflächliche Konversationsphase hinaus, was bedeutet, dass die Gesprächspartner*innen sich an ein bestimmtes Skript halten müssen. Werden die festgelegten Regeln dieses Skripts nicht befolgt, riskiert man, von den Konversationspartner*innen nicht akzeptiert zu werden. Die Kombination dieser unterschiedlichen Ebenen führt dazu, dass das Individuum vom Hotel und seinen kleineren Nebenräumen gezwungen wird, eine bestimmte Rolle einzunehmen. Auch wenn der Hotelgast versucht, sich selbst treu zu bleiben.
Und hier kommen wir wieder auf Vicki Baum und ihrer Entscheidung, das Hotel als wichtigen Spielort in ihren Romanen zu verwenden.
Wie aus dem Zitat am Anfang des Artikels hervorgeht, hat sie den Roman „Hotel Berlin” als Antwort auf ihre Frage nach der Situation in Deutschland bzw. in ihrem Grand Hotel zur Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Mit diesen Worten setzt sie Deutschland im wörtlichen Sinne mit ihrem imaginären Hotel in Berlin gleich, was die Rolle des Hotels als Gesellschaftsporträt hervorhebt. Für die Autorin ist das aber nichts Neues. So stellt das Berliner Grand Hotel bereits in „Menschen im Hotel” ein Gesellschaftsporträt vor, sodass wir Figuren und Themen vorfinden, die während der Weimarer Republik allgegenwärtig waren: Arbeitslosigkeit, politische Polarisierung, demokratische Freiheit und Armut.
Vom reichen Generaldirektor eines Familienbetriebs über den verarmten Aristokraten Baron Gaigern und den alten, nihilistischen Kriegsveteranen Otternschlag bis hin zur jungen Teilzeit-Sekretärin Flämmchen, die von einem Teilzeitjob zum nächsten springt, um Geld zu verdienen, womit sie versucht, ein Leben mit Stil, Mode und Luxus zu führen, das sie sich nicht leisten kann; die unterschiedlichen sozialen Gruppen der Weimarer Republik und die Schwierigkeiten des Alltags dieser Periode scheinen in den sechs Hauptfiguren klar vertreten zu sein. Und das Grand Hotel ist da, um diese Figuren miteinander interagieren zu lassen, um einen Mikrokosmos zu etablieren, in denen die Figuren sich auf organische Weise treffen können. Daher übernachten alle Figuren bis auf eine nicht nur im gleichen Hotel, sondern sogar im selben Stockwerk des Hotels; sie essen im selben Hotelrestaurant und verbringen ihre Abende in der selben Hotelbar.
Abgesehen von ein paar kurzen Ausschnitten, in denen bestimmte Figuren ein Ballett besuchen, spielt sich die gesamte Erzählung in den vier Wänden des Berliner Grand Hotels ab. So ersetzt das Hotel das Alltagsleben Deutschlands, auch wenn es dieses gleichzeitig vertritt. Dass die Figuren unter einem Dach leben, ist nicht das einzige Stilmittel, das die Autorin nutzt, um die Figuren interagieren zu lassen, und es ist auch nicht der einzige Grund, warum die sechs Figuren auf die Art und Weise miteinander interagieren, wie sie interagieren. Auch die bereits erwähnte Anonymität des Hotels sowie der Verhaltenskodex, der mit der Bourgeoisie wirklich begann, spielen hierbei eine Rolle.
So versucht der kranke Buchhalter Kringelein seine letzten Tage zu genießen und das „echte“ Leben, das heißt ein Leben von Reichtum und Luxus, zu leben. Der Mann ist aber schwerkrank und hat nur noch wenig Zeit. In seinem Eifer, das echte Leben dennoch vor seinem Tod zu genießen, nimmt er seine Ersparnisse, verlässt Freunde und Familie und beschließt im teuersten Hotel der Stadt, dem Berliner Grand Hotel, zu übernachten. Nachdem er im Hotel eingecheckt hat – was ihn mehrere Versuche und Insiderhilfe seitens Doktor Otternschlag erfordert, da seine schäbige Kleidung verrät, dass er nicht zu dem luxuriösen Hotel und seinen akzeptierten Gästen gehört – beginnt er sofort, das Verhalten eines reichen Mannes zu imitieren. Und es überrascht nicht, dass Kringeleins Imitation beziehungsweise sein Schauspiel eines reichen Mannes auf drei Hauptelemente reduziert werden kann: Mode, Kultur und Kunst. Kringelein kauft sich einen neuen teuren Anzug, geht ins Theater, probiert die teuersten Gerichte auf der Speisekarte, nur um zu zeigen, dass er es sich leisten kann. Er geht sogar so weit, dass er ein größeres, luxuriöseres Zimmer verlangt, das dem des reichen Geschäftsmannes Preysing entspricht, und dies wiederum, um seine neue Rolle als reicher Mann zu zeigen und zu fühlen. Interessant ist dabei auch, dass die wenigen Passagen der Erzählung, die nicht im Grand Hotel stattfinden, hauptsächlich mit Kringelein und seinen Versuchen, das Leben eines reichen Mannes zu führen, verbunden sind, wie das bereits erwähnte Einkaufen von neuen, teuren Anzügen.
Wie bei anderen Menschen, die die Anonymität des Zimmers und ihren kurzen Aufenthalt ausnutzen, um über ihre Verhältnisse zu leben, ist auch Kringelein nur aufgrund der ihm verbleibenden kurzen Lebenszeit in der Lage, auf diese Weise zu leben.
Kringelein mag die Figur sein, an der sich diese Überschneidung zwischen Anonymität, kurzem Zeitrahmen und Verhaltenskodex am deutlichsten zeigt, aber das bedeutet nicht, dass er der Einzige ist. Dieses Schauspiel des Prestiges, dieses sich selbst zur Schau stellen und eine Rolle einnehmen, die nicht unbedingt der Persönlichkeit des Individuums entspricht, kann auch beim reichen Geschäftsmann Preyning beobachtet werden. So stellt er seinen Reichtum exzessiv zur Schau, und das alles in der Hoffnung, als vertrauenswürdig angesehen zu werden und einen Vertrag abzuschließen, der sich für sein Unternehmen als Dealbreaker erweisen könnte.
Unfreiwillig im Hotel
In Baums drittem Hotelroman „Hotel Berlin” sehen wir eine ganz andere Art der Darstellung der Figuren, aber auf ähnliche Weise wie in „Menschen im Hotel” spielt sich auch hier der größte Teil der Erzählung innerhalb des Hotels ab. Hier werden die Ausnahmen, das heißt die meisten Ereignisse, die nicht in diesem Raum stattfinden, aber in Rückblenden dargestellt. Die Art und Weise, wie Baum das Hotel nutzt, um ihre Figuren in diesem Roman interagieren zu lassen, geschieht auch auf sehr unterschiedliche Weise. Es gibt immer ein Element der Gefahr und/oder des Verdachts, das damit verbunden ist. Neue Bekanntschaften werden in der relativen Sicherheit der Hotelzimmer gemacht, und zwar immer dadurch, dass eine Figur auf die eine oder andere Weise in das Hotelzimmer der anderen Figur eindringt.
Da Baums Hotel wieder einmal als Gesellschaftsporträt fungieren soll, sind diese Unterschiede zum ersten Roman auch nicht verwunderlich. So stehen, im Vergleich zum ersten Hotelroman, in „Hotel Berlin” Krieg, Nazideutschland und alle Grausamkeiten, die damit verbunden sind, im Vordergrund. Das Hotel hat deswegen – wie Deutschland am Ende des Krieges – viel von seinem früheren Glanz und Luxus verloren. Und alle Figuren, die über den Zustand Deutschlands Bescheid wissen, leben in Angst, während die anderen versuchen in unwissendem Glück zu leben. Interessanter und wichtiger als diese beiden Punkte ist aber, wieviel das Hotel von seiner Funktion als temporäre Unterkunft verloren hat. Das Schauspiel des Hotels wird zum Teil durch die kurze Übernachtung der Hotelgäste ermöglicht, dies ist ja, was die Anonymität schafft.
Allerdings sind in „Hotel Berlin” die meisten Hauptfiguren Dauergäste, die oft oder ständig im Hotel leben. „Menschen im Hotel” zählt nur einen Dauergast, Doktor Otternschlag, aber auch für diese Figur zeigt die Erzählung deutlich, dass er kommt und wieder geht, auch wenn die Erzählung hauptsächlich im Hotel stattfindet. In „Hotel Berlin” ist das aber nicht der Fall. Die Personen, die bereits im Hotel wohnen, kennen sich deshalb alle bis zu einem gewissen Grad, und sei es nur durch die Gerüchteküche oder weil sie sich ab und zu in der Lobby treffen. Interessanter ist jedoch, wie sie diese Eigenschaft verloren haben, denn die Erzählung macht nicht nur deutlich, dass die meisten Figuren oft oder ständig im Hotel verweilen, sondern geht noch einen Schritt weiter und zeigt, dass auch die Figuren, die es aus freiem Stücken tun wie Lisa Dorn ohne es zu wissen in einem Käfig leben – einem vergoldeten Käfig, aber dennoch in einem Käfig.
Der Unterschied zwischen freiwilligen und unfreiwillige Aufenthalt ist hier wichtig, weil zum Beispiel der englische Kriegsgefangene Geoffrey Nichols im wahrsten Sinne des Wortes ein Gefangener im Hotel ist. Ihm wurde ein ruhiges, angenehmes Hotelzimmer zur Verfügung gestellt, aber nur weil er das Hotel nicht verlassen darf. Er darf nicht einmal sein Hotelzimmer ohne Erlaubnis verlassen und niemals ohne die Begleitung eines Gestapomannes. Er stellt das offensichtlichste Beispiel dieses Verlusts der Freiheit dar. Er bezeichnet deswegen sein Zimmer als einen vergoldeten Käfig. Aber auch bei Lisa Dorn findet man diesen Verlust bis zu einem gewissen Grad: Als bekannte und beliebte Schauspielerin genießt sie ein komfortables Leben im Hotel. Sie muss sich im Unterschied zu den anderen Figuren keine Sorgen machen, ob sie etwas zum Essen haben wird oder ob sie in der Lage sein wird, neue Kleidung zu kaufen, bevor ihre alte abgenutzt ist.
Trotzdem wird ihr Telefon von der Gestapo abgehört, wird ihr Zimmer von der Polizei durchsucht und wird sie von der Gestapo bedroht als sie verdächtigt wird, einen Flüchtigen zu beherbergen. Selbst in ihrem Hotelzimmer wird sie ausspioniert, was aufzeigt, dass die scheinbare Privatsphäre, die ihr Zimmer vorgibt zu haben, nur eine Illusion ist. Dieser Mangel an echter Privatsphäre innerhalb des Hotels, und sogar auch innerhalb des Hotelzimmers, wird in „Hotel Berlin” angesichts seiner Funktion als Gesellschaftsporträt des nationalsozialistischen Deutschlands am stärksten thematisiert. Dies bedeutet aber nicht, dass er nicht auch in „Menschen im Hotel” und in den Hotels des wirklichen Lebens eine Rolle spielt. Die Hotelgäste können zu jeder Zeit vom Hotelpersonal gestört werden, auch wenn die Tür des Hotelzimmers mit dem Schlüssel geschlossen ist. Dies führt dazu, dass man sich in keinem einzigen Moment wirklich zuhause fühlen kann.
Dadurch geht auch im Hotelzimmer die Performance weiter. Sie begrenzt sich nicht auf die öffentlichen Bereiche des Hotels, sondern betrifft den ganzen Aufenthalt aufgrund dieses Mangels an echter Privatsphäre. Ein Beispiel für die Weiterführung dieses Schauspiels ist das Verhalten von Lisa Dorn, als die Polizei in ihr Zimmer eindringt, oder die bereits erwähnte Entscheidung Kringeleins, ein größeres Zimmer zu mieten, obwohl niemand außer ihm sah, in welcher Art von Zimmer er untergebracht wurde. Und diese sind bei weitem nicht die einzigen Beispiele, die in den beiden Romanen zu finden sind. Immer wieder ist der Einfluss des Hotels auf seine Figuren zu spüren, wenn auch nur subtil. Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, dass Vicki Baum beschloss, wie viele andere Schriftstellerinnen auch, das Hotel als Bühne zu nutzen, um eine Geschichte zu erzählen. Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass das Hotel wahrscheinlich einer der einzigen Räume ist, in dem diese Erzählungen so lokalisiert werden konnten, wie sie es wurden.
Maélys Vaillant, Brüssel
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2023. Das Titelbild zeigt das Grand Hotel de Rome, Ansicht von der Charlottenstraße, Fotograph unbekannt, Wikimedia Commons.)
Zum Weiterlesen:
- Der Essay beruht auf dem von Maélys Vaillant verfassten Buch „Heterotopien in den Hotelromanen Vicki Baums”, das im Jahr 2021 in der von Helga Mitterbauer und Jacques Lajarrige im Verlag Frank & Timme herausgegebenen Reihe “Forum: Österreich” veröffentlicht worden ist. Das Buch ist auch Gegenstand des Gesprächs zwischen den beiden Herausgeber*innen und Norbert Reichel auf der Leipziger Buchmesse 2023, das ebenfalls im Demokratischen Salon dokumentiert)
- Die dem Essay und dem Buch von Maélys Vaillant zugrundeliegenden Thesen von Michel Foucault sind unter anderem nachlesbar in: Michel Foucault, Die Heterotopien – Der utopische Körper – Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 2005. Die französische Fassung wurde 2004 zuerst als CD veröffentlicht. Die Vorträge entstanden im Jahr 1966.
- Die im Essay erwähnten Romane Vicki Baums sind alle im Buchhandel erhältlich.