Immer nur reaktiv – nie proaktiv

Gespräche mit Michael Szentei-Heise – Teil II

„In der Politik sucht man nach schnellen Lösungen und findet Schnellbeton. Bildung hingegen erfordert Geduld und Ausdauer.“ (Meron Mendel, in: Jüdische Allgemeine vom 12. Dezember 2019)

Die Verlässlichkeit der Zahlen

Norbert Reichel: Konstantin von Notz, stellvertretender Vorsitzender der Grünen Bundestagsfraktion, hat eine verbesserte Dokumentation der Fakten gefordert: „Dass die Bundesregierung keine Zahlen zum antisemitischen Personenpotenzial in Deutschland führt und antisemitische Vorfälle in Bundesbehörden nicht einmal systematisch erfasst, ist schlicht nicht nachvollziehbar.“ Die Frage, ob es ein Meldeverfahren, auch über antisemitische Vorfälle in Schulen, geben sollte, ist nach wie vor strittig.

Michael Szentei-Heise: Der zunehmende und im Besonderen der zunehmend gewalttätige Antisemitismus der vergangenen Jahre hat in der Politik zu einem gewissen Umdenken und dazu geführt, dass sowohl der Bund als auch inzwischen fast alle Bundesländer mit der Implementierung eines Antisemitismusbeauftragten die negative Entwicklung stoppen oder zumindest in den Griff bekommen wollen. Gleichzeitig gibt es in jedem Bundesland Antidiskriminierungsstellen, die auch Angriffe und Diskriminierungen gegenüber Juden aufgreifen sollen.

So ist in Düsseldorf SABRA entstanden, eine vom Land finanzierte Antidiskriminierungsstelle, angesiedelt bei der jüdischen Gemeinde Düsseldorf, weitere in NRW werden folgen. In Berlin gibt es schon länger die RIAS, die derzeit für diese Stellen und Aufgaben bundesweit eine gewisse zentrale Koordinierung übernimmt. Darüber hinaus gibt es zunehmend Kooperationen zwischen den Schulministerien und den anderen Schulbehörden mit den jüdischen Gemeinden und mit diesen Antidiskriminierungsstellen mit dem Ziel, antisemitische Vorfälle in Schulen ebenfalls zu erfassen und einer zentralen zahlenmäßigen Auswertung zuzuführen. Die Hoffnung ist, in einiger Zeit ein flächendeckendes Netzwerk zu schaffen, um die tatsächliche Dimension dessen, was im Bereich Antisemitismus in Deutschland passiert, tatsächlich zu erfassen und entsprechende Gegenmaßnahmen, sei es in Schulen oder anderswo, planen zu können.

Glaubwürdigkeit und Respekt

Norbert Reichel: Eine zentrale Frage bei allen Bemühungen, Antisemitismus zu bekämpfen, ist immer wieder: Was lernen die Kinder? Und ergänzend: Wie schaffen wir es, dass sie nicht nur nachbeten, was die Lehrkräfte sagen, sondern dass sich das auch in den Einstellungen wiederfindet?

Michael Szentei-Heise: Das entscheidende Transportmittel ist die Sprache. Die Gesellschaft ist in der psychologisch schlechten Situation, dass sie in der Vergangenheit nichts getan hat, um konsequent gegen antisemitische Einstellungen vorzugehen. Und heute wollen wir belehren. Wir sind damit für niemanden glaubwürdig.

Norbert Reichel: Ich wundere mich immer, wenn jemand sagt: „Der jüdische Unternehmer“, „der jüdische Schriftsteller“. Niemand sagt jedoch der „christliche“, „muslimische“, „buddhistische“, „hinduistische“ Schriftsteller. Da fängt es meines Erachtens schon an. Was könnten wir tun, damit Antisemitismus auch erkannt wird? Ich erlebe immer wieder, dass Schulleiter*innen, Lehrer*innen, Sozialpädagog*innen sehr unsicher sind, wenn es darum geht, Antisemitismus zu erkennen. Viele haben Angst, jemanden falsch zu beschuldigen, und gleichzeitig, dass sie etwas übersehen. Ergebnis: es geschieht nichts.

Michael Szentei-Heise: Ich vermisse vor allem den Respekt im Umgang mit anderen. Verloren gegangen ist einfach der Respekt vor den anderen, und verloren gegangen ist eine gewisse Nonchalance, eine gewisse Leichtigkeit im Umgang miteinander. Ich erlebe derzeit eine alte Form des Antisemitismus von rechts. Dies zeigt sich in unflätigen Zuschriften, die bisweilen promovierte Leute unter Angabe ihres vollen Namens an die Gemeinde schickten. Daran hat auch die AfD ihren Anteil, denn sie gebraucht Vokabular, durch das sich die Grenze dessen verschiebt, was man sagen darf oder was man sagen kann. Die AfD ist in diesem Sinne ein geistiger Brandstifter und sorgt mit ihrem Auftreten und mit ihren Parteitagen und Aussagen dafür, dass die Gesellschaft insgesamt verroht.

Norbert Reichel: Wie wäre es möglich, die von dir geforderte Glaubwürdigkeit wiederherzustellen?

Michael Szentei-Heise: Dazu habe ich kein Rezept. Im Hinblick auf den muslimischen Antisemitismus haben wir unter anderem viel zu lange geleugnet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Zumindest bräuchten wir ein Einwanderungsgesetz nach amerikanischem, israelischem oder kanadischem Vorbild. Wir müssen zeigen, dass wir die Menschen, die ein- und zugewandert sind, ihre Kinder, ihre Enkel, wollen. Vor 50 Jahren hätten wir damit anfangen sollen. Und den rechten Antisemitismus haben wir aus anderen Gründen ignoriert. Antisemitismus bei ihren Vorfahren – davon wollen viele Deutsche nichts wissen. Antisemitismus – das gibt es in Polen, auf dem Balkan, aber doch nicht hier – das ist die allgemein verbreitete Ansicht.

Norbert Reichel: Das Thema Einwanderungsland wird schon im sogenannten Kühn-Memorandum von 1979 benannt (Heinz Kühn war seit 1978 der erste „Ausländerbeauftragte“ auf Bundesebene, vormalig nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, Sozialdemokrat). Eine der zentralen Aussagen war die, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.

In den 1990er Jahren kamen viele Jüdinnen und Juden aus der untergegangenen Sowjetunion nach Deutschland, wir nannten sie „Kontingentflüchtlinge“, was auch immer das bedeuten sollte. Heute stellen sie und ihre Kinder einen großen Anteil der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Russisch ist als Sprache in den Gemeinden sehr verbreitet. Doch was hat Deutschland getan, um sie aufzunehmen und zu integrieren? Oder blieb die Integrationsarbeit den hiesigen Gemeinden überlassen?

Michael Szentei-Heise: Die Düsseldorfer Gemeinde ist durch die Zuwanderung der 1990er Jahre von etwa 1.500 auf über 7.500 Mitglieder gewachsen. In diesen Jahren der Zuwanderung haben die Regierungen und die sonstigen öffentlichen Stellen große Anstrengung unternommen, diese vergleichsweise kleine Anzahl von Flüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion bei der Integration zu unterstützen. So wurden Sprachkurse finanziert, die Unterbringung und vieles andere mehr. Der Integrationsprozess an sich wurde – zumindest bei den großen jüdischen Gemeinden – von diesen koordiniert und von der Politik finanziert. Diese Integrationsarbeit ab 1990 ist weitgehend geräuschlos verlaufen und kann heute als eine außerordentlich erfolgreiche Integration einer Zuwanderergruppe bezeichnet werden.

Norbert Reichel: Es gab und gibt nach wie vor Streit um die Anerkennung der Leistungen, die Jüdinnen und Juden vor ihrer Ankunft in Deutschland erbracht haben. Dazu kommt der Streit um die Rentenfrage für diese Zuwanderer und einiges mehr, letztlich alles auch eine Frage von Glaubwürdigkeit und Respekt.

Jüdinnen und Juden sind schlechter gestellt als die sogenannten „Aussiedler“ mit deutscher Familiengeschichte, die ebenfalls in den 1990er Jahren nach Deutschland kamen. Jemand, der sich sehr um die jüdischen Ansprüche verdient gemacht hat, ist der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck, aber wir erleben nach wie vor viele Ungerechtigkeiten. Wie erlebst du das Problem in den jüdischen Gemeinden und wie bewertest du die Chancen für eine möglichst baldige Lösung dieses Problems?

Michael Szentei-Heise: Dieses Problem liegt nunmehr seit über 30 Jahren auf dem Tisch. Es gab ganz viele Versuche von jüdischer Seite für die betroffenen Menschen eine Lösung zu erreichen, die aber bislang ständig an den befürchteten Kosten gescheitert sind. Ich selbst habe diesbezüglich eine ausführliche Korrespondenz mit der derzeitigen Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, Kerstin Griese, geführt. Jetzt allmählich beginnt sich aber doch eine Lösung abzuzeichnen, mit der die Betroffenen wahrscheinlich werden leben können. Es wird keine rentenrechtliche Lösung sein wie bei den deutschstämmigen Aussiedlern sondern es sieht nach einer Fondslösung aus, an der derzeit gearbeitet wird; sehr viel mehr Details wissen wir noch nicht. Federführend von jüdischer Seite ist die Berliner Vertretung der Zentralen Wohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST).

…und was wissen die Lehrer*innen?

Norbert Reichel: Wie schätzt du die Wirkung der gemeinsamen Erklärung der KMK und des Zentralrats der Juden in Deutschland aus dem Jahr 2016 ein?

Michael Szentei-Heise: Die Erklärung halte ich durchaus für zielführend und sie beinhaltet auf jeden Fall eine richtige Bestandsaufnahme. Wenn Schule in der Lage sein wird, den Rahmen der Erklärung mit Inhalt zu füllen, wäre das sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung; allerdings muss man abwarten, ob das auch gelingt und ob sich die zuständigen Lehrkräfte dem gemeinsamen Ziel der Erklärung verpflichten.

Norbert Reichel: Die Erklärung hebt die „besondere Verantwortung“ der „Fächer und Projekte der historisch-politischen Bildung“ hervor, in denen „die Leistungen von Jüdinnen und Juden in Unternehmertum, Wissenschaft, Politik und Kultur“ ebenso dargestellt werden sollen wie die unbeschadet dieser Leistungen immer wieder vorhandene „mehr oder weniger subtile Exklusion.“ „Antisemitismus“ soll „mit seinen verschiedenen Komponenten (Antijudaismus, Antiisraelismus, Antizionismus) reflektiert werden“, doch gilt es ebenso, zwischen dem heutigen jüdischen Leben und „Entwicklungen in und um den Staat Israel“ zu unterscheiden. Das ist ein hoher Anspruch.

Michael Szentei-Heise: Deshalb wird es umso mehr darauf ankommen, inwieweit sich Lehrkräfte engagieren, die schön formulierten Ziele zu verwirklichen. Wobei das Engagement lediglich der erste Schritt sein wird; um den Schülern die jüdische Wirklichkeit – auch im politischen Bereich – nahezubringen wird es auch erforderlich sein, dass sich die Lehrkräfte zu diesem Thema intensiv fortbilden. Da waren wir schon in den 1960-er und 1970-er Jahren deutlich weiter, als es einen regen Schüleraustausch zwischen Deutschland und Israel gegeben hat und als viele deutsche Schülerinnen und Schüler eine gewisse Zeit z.B. in einem Kibbuz in Israel verbracht haben.

Norbert Reichel: Die KMK-Erklärung analysiert auch den aktuellen Zustand, meines Erachtens ein Offenbarungseid: „Das Judentum ist seit vielen Jahrhunderten integraler Bestandteil der deutschen und europäischen Kultur, Geschichte und Gesellschaft. Jüdisches Leben ist indes in vielen gesellschaftlichen Bereichen kaum sichtbar und wird, beispielsweise in Schulbüchern und anderen Bildungsmedien, vielfach nur auf einzelne Elemente oder auf einige wenige Epochen der Geschichte verkürzt, zum Teil verzerrt und undifferenziert dargestellt. Darüber hinaus geben judenfeindliche Einstellungen, die sich in unterschiedlichen Erscheinungsformen, auch im schulischen Raum, immer wieder manifestieren, Anlass zu Besorgnis.“

Michael Szentei-Heise: Nicht erst seit der Nazizeit wird in Europa, aber besonders in Deutschland versucht, Errungenschaften – auf welchem Gebiet auch immer – die von Juden erzielt worden sind, zu verschweigen oder zumindest kleinzureden. Nehmen wir zum Beispiel die jüdisch-deutsche Schauspielerin Luise Rainer, die einzige deutsche Oscarpreisträgerin in der Geschichte der Oscar-Verleihung.

Norbert Reichel: Eine Düsseldorferin, sie ist 2014 in London im Alter von 104 Jahren in London gestorben. Den Oscar erhielt sie zwei Mal, 1936 für ihre Rolle der Anna Held in „Der große Ziegfeld“, 1937 für ihre Rolle der O-Lan in „Die gute Erde“. Zwei Mal hintereinander, das gelang in der Geschichte dieser Auszeichnung neben ihr nur Spencer Tracy und Tom Hanks.

Michael Szentei-Heise: Luise Rainer ist schlichtweg aus der Geschichte der deutschen Schauspielerei verschwunden, weil sie Jüdin war. Dies ist zwar ein banales Beispiel und hat auch nichts mit Bildung zu tun, aber das Beispiel ist symptomatisch.

Norbert Reichel: Vielleicht hat das mehr mit „Bildung“ zu tun als wir denken, nämlich mit dem Ignorieren der Leistungen von Künstler*innen, die nach 1933 ins Exil fliehen mussten. In Deutschland kennt man von diesen Künstler*innen eigentlich nur Marlene Dietrich, und es dauerte lange genug, bis in Berlin ein Platz nach ihr benannt wurde. Bei vielen anderen weiß kaum noch jemand, dass sie aus Deutschland fliehen mussten. Viele halten selbst Billy Wilder oder Peter Lorre für geborene Amerikaner.

Erkennen Lehrkräfte, Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Einrichtungen der offenen Jugendarbeit Antisemitismus? Mein Eindruck: eher nicht. Abgesehen davon, dass es auch in diesen Berufsgruppen Menschen gibt, die wenig über das Judentum, so gut wie nichts über Israel wissen und allgemeinen Verschwörungstheorien Glauben schenken.

Michael Szentei-Heise: Das ist leider korrekt und bei der Frage für die Ursachen dieses Missstandes landen wir wieder bei den Schulen der vergangenen Jahrzehnte. Wobei das ganze mindestens zwei Stufen hat: zum einen erkennen viele einen antisemitischen Vorfall überhaupt nicht, aber zum anderen – selbst wenn sie ihn erkennen sollten – werden sie versuchen, abzuwiegeln, denn in ihren Bereichen „darf“ so etwas ja gar nicht vorkommen.

Norbert Reichel: Ein trauriges Kapitel sind die Schulbücher. Die KMK hat in Zusammenarbeit mit dem Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung (GEI) in Braunschweig und der deutsch-israelischen Schulbuchkommission viele Defizite festgestellt. Nur vier Bücher aus Bayern genügten den Kriterien. Ist das nicht eher eine Sisyphos-Arbeit?

Michael Szentei-Heise: Das ist es in der Tat. Der kleinen Schar von Fachleuten, die an einer Korrektur der Schulbücher interessiert sind, um antisemitische Missstände aus ihnen zu entfernen, steht eine riesige Schar von Pädagogen gegenüber, denen das Vorhaben bestenfalls gleichgültig ist. Mit zunehmendem Rechtsruck in Deutschland wächst allerdings auch der Anteil, auch der von Lehrkräften und anderen Pädagogen, die die dort formulierten Vorurteile als solche nicht anerkennen und eigentlich bestehen lassen wollen.

Antidiskriminierungsarbeit, Bildung, Ausbildung

Norbert Reichel: Inzwischen gibt es in allen Bundesländern außer Bremen Antisemitismusbeauftragte, in der Regel mit schmalem Budget. Es gibt jedoch auch zahlreiche Initiativen gegen Antisemitismus in anderen Ressorts der Landesregierungen. Du hast eben im Hinblick auf die Erfassung antisemitischer Vorfälle schon auf SABRA hingewiesen. In Nordrhein-Westfalen hat das Schulministerium SABRA eine landesweit agierende Beratungsstelle in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf eine zusätzliche Lehrerstelle zur Verfügung gestellt. Wie bewertest du die Arbeit und Reichweite von SABRA?

Michael Szentei-Heise: SABRA ist seit dem ersten Tag der Entstehung eine Erfolgsstory. Innerhalb kürzester Zeit wurden die Angebote von SABRA massiv nachgefragt und bereits nach zwei Jahren Tätigkeit musste SABRA das Personal massiv aufstocken und neue größere Büroräumlichkeiten anmieten. SABRA wird auch Teil des Warnsystems, das derzeit flächendeckend in Deutschland zum Thema antisemitische Vorfälle aufgebaut wird und liefert heute schon Erkenntnisse nach Berlin zur RIAS. Die Zurverfügungstellung einer pädagogischen Lehrkraft für die Mitarbeit bei SABRA wird hoffentlich die Möglichkeit einer intensiveren Kommunikation in die Schulen bieten, dadurch dass die Kommunikation direkt über das Schulministerium in die Schulen geführt werden kann.

Norbert Reichel: Kann SABRA die Nachfrage bedienen oder ist die Aktivität eher ein Tropfen auf den heißen Stein?

Michael Szentei-Heise: Solange es gelingt, mit der Nachfrage nach Angeboten von SABRA durch Schulen und andere Organisationen zu wachsen und Personal zur Verfügung zu stellen, glaube ich, dass die Arbeit dieser Antidiskriminierungstellen, sofern sie dereinst bundesweit installiert sind und arbeiten können – einen wichtigen Beitrag zur Bestandsaufnahme von Antisemitismus in Deutschland werden leisten können. Und die entsprechende Analyse halte ich für eine wichtige Grundlage für die Formulierung eines daran anschließenden Handlungsbedarfs.

Norbert Reichel: Katharina von Schnurbein betonte auf dem letzten Gemeindetag, es sei wichtig, die Staatsanwälte und Richter auf Basis der Antisemitismus-Definition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) zu schulen. Daraufhin entgegnet BKA-Chef Holger Münch, ein Programm für die Sensibilisierung von Richtern einzuführen, wäre schwierig, da die Justiz in Deutschland unabhängig sei. Katharina von Schnurbein konterte dies mit dem Satz: „Wenn man sie nicht mehr sensibilisieren kann, sobald sie Richter sind, muss man sie in der Ausbildung sensibilisieren.“ Realistisch?

Michael Szentei-Heise: Da ich ja selbst die komplette juristische Ausbildung durchgemacht habe – auch wenn das schon einige Jahrzehnte zurückliegt – bin ich der Auffassung, dass es grundsätzlich möglich wäre, Bestandteile der juristischen Ausbildung neu zu strukturieren und auch „staatstragende und demokratiefördernde“ Elemente aufzunehmen. Im Gegensatz dazu gibt es inzwischen durchaus einige Elemente in der Ausbildung, auf die man wahrscheinlich verzichten könnte. Allerdings gehören wir Juristen zu dem konservativeren Teil der Gesellschaft und insofern brauchen solche Reformen, selbst wenn sie nur „Reförmchen“ sind, eine ganze Weile.

Norbert Reichel: Und wie sieht es mit dem Personal im Polizeidienst, in den Strafverfolgungsbehörden und im Justizvollzugsdienst aus? Du hast einmal Holger Münch darauf hingewiesen, dass in den Sicherheitsbehörden Teile der Mitarbeiter ziemlich rechts stehen und sich als „Feinde der Demokratie“ profilieren. Holger Münch hat dies zurückgewiesen, man suche sich die Mitarbeiter*innen gut aus.

Michael Szentei-Heise: Eine richtige Zurückweisung meiner These war das eigentlich nicht, es war eher der hilflose Hinweis, dass man doch versuche, die Mitarbeiter*innen der Sicherheitsbehörden gut auszusuchen. Nein, ein massiver Widerspruch zu dieser These kam von Holger Münch nicht.

Norbert Reichel: Louis Lewitan hat am 9. November 2018 in der ZEIT geschrieben, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmer der Wannsee-Konferenz einen Doktortitel führten. Wo sind die Grenzen der Bildung, wo ihre Chancen?

Michael Szentei-Heise: Die Frage von Bildung korrespondiert nicht unbedingt mit Fragen von Charakter, politischen, gesellschaftlichen oder finanziellen Interessen. Mit unserem Charakter werden wir geboren, die anderen Interessen entstehen im Laufe des Lebens und Bildung vermag in manchen Fällen negative Auswüchse zu verhindern oder abzumildern aber eben nicht immer. Ein geborener Egoist wird durch Bildung nicht unbedingt zum Heiligen und zum Wohltäter der Menschheit. Dazu kamen im „Dritten Reich“ die ohnehin schon länger vorhandenen starken Vorurteile der Gesellschaft gegenüber Juden sowie eine massive Gehirnwäsche durch das Regime. Zudem stellt sich die Frage, wann die Promovierten ihre Doktortitel überhaupt erlangt haben, schließlich war zur Zeit der Wannseekonferenz das „Dritte Reich“ schon über acht Jahre alt und Promotionen in der Zeit seit 1933 waren sicherlich einfacher, wenn sie antisemitische Thesen vertraten.

Deutsche „Erinnerungskultur“ – eine Erfolgsgeschichte?

Norbert Reichel: Deutschland ist stolz auf seine „Erinnerungskultur“. Es gab zwar immer wieder Schlussstrich-Debatten, nicht nur von rechter Seite – ich erinnere an Willy Brandt 1965. Und in letzter Zeit dominieren die ausgesprochen unappetitlichen Äußerungen der AfD, Stichworte: „Fliegenschiss“, „Denkmal der Schande“. In den letzten Jahren stelle ich auf der anderen Seite bei Jugendlichen großes Interesse an dem Besuch von Gedenkstätten fest. In Nordrhein-Westfalen mussten der aufgrund eines interfraktionellen Antrags (ohne die AfD, aber mit den Oppositionsparteien SPD und Grüne) eingerichtete Fonds zur Finanzierung von Gedenkstättenfahrten der Schulen mehrfach aufgestockt werden. Auch die Gedenkstätten berichten von zunehmendem Interesse. Wie passt dies mit dem gleichzeitig ansteigenden Antisemitismus zusammen?

Michael Szentei-Heise: An dieser Stelle sollte man nicht den Fehler begehen, Aktion und Reaktion miteinander zu verwechseln. Die Aktion ist nicht die Erhöhung der Mittel für Gedenkstättenfahrten, sondern die Aktion ist der steigende Antisemitismus, worauf unser Staat mit einer kleinen Erhöhung der Mittel für Gedenkstättenfahrten reagiert. Bei diesem Thema habe ich in den letzten Jahrzehnten nicht erlebt, dass der Staat proaktiv tätig geworden wäre, ich kenne nur Reaktionen auf entsprechende negative Vorgänge in der Gesellschaft.

Norbert Reichel: Zur deutschen Erinnerungskultur gehörte auch der „Zug der Erinnerung“ aus dem Jahr 2008, mit dem die Deutsche Bahn an die Transporte von jüdischen Kindern in Konzentrationslager erinnern wollte. Absurd fand ich allerdings, dass die Deutsche Bahn Gebühren für die Gleisnutzung sowie die Standzeiten in Bahnhöfen in Deutschland erhob. Das ist für mich ein Unding angesichts der Mittäterschaft der damaligen Reichsbahn. Ich bin froh, dass dies in den Medien ausführlich diskutiert wurde.

Michael Szentei-Heise: Dem kann ich nur uneingeschränkt zustimmen; ich habe es genauso empfunden und habe dies in meiner Rede im März 2008 auch entsprechend skandalisiert. Der Zug der Erinnerung ist durch mehrere europäische Länder gefahren und in den Städten, in denen er Halt gemacht hat, hat er die Geschichte der lokalen Deportationen von jüdischen Kindern in die Vernichtungslager thematisiert. Nirgendwo in Europa wurden für die Benutzung der Gleise oder der Bahnhöfe Gebühren erhoben, nur in Deutschland durch die Deutsche Bahn, deren Chef damals Hartmut Mehdorn hieß. Hartmut Mehdorn ist 1944 in Warschau geboren. Was hat eine deutsche Familie 1944 in Warschau gemacht? Natürlich ist der Neugeborene nicht für die Taten oder Ansichten seiner Eltern verantwortlich zu machen, allerdings kann man eine Ahnung haben, in welchem Geist Hartmut Mehdorn aufgewachsen ist.

Norbert Reichel: Hilfreich sind aus meiner Sicht Filme und Bücher. Mich hat die Biographie von Ronen Steinke über Fritz Bauer ebenso überzeugt wie der Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“.

Michael Szentei-Heise: Fritz Bauer halte ich für einen der wichtigsten Menschen der Nachkriegsgeschichte in Deutschland. Mich ärgert, dass die Biographie von Ronen Steinke und der Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ sich in übertriebenem Maße damit beschäftigen, dass Fritz Bauer homosexuell gewesen sein soll. Abgesehen davon, dass das gar nicht feststeht, ob es so war, ist es für die Bewertung seiner Leistung irrelevant. Die Aktion Mensch hat eine Veranstaltungsreihe zu verschiedenen Oberbegriffen, im Jahr 2010 zum Begriff Mut. Vorgeführt werden mit verschiedenen Partnern Filme, die dann auch in den Kommunen gezeigt werden. Damals fragte mich in Düsseldorf eine junge Brasilianerin, ob die Jüdische Gemeinde Patin sein wolle. Wir haben zugesagt.

Ich kannte damals den Namen Fritz Bauer nicht. Durch den Film kam ich dann zu meiner Einschätzung, wie bedeutend er war. Es handelt sich um den Film „Tod auf Raten“ von Ilona Ziok (Trailer auf youtube). Wir hatten nachher eine Podiumsdiskussion mit ihr und Ralph Giordano, die ich moderiert habe. Beteiligt war auch Ricarda Brandts, damals Präsidentin des Landessozialgerichts, seit 2013 Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs in Münster. Sie hat Dutzende von Kopien dieses Films für die Ausbildung junger Jurist*innen bestellt.

Toleranz wagen

Norbert Reichel: Wir haben viel über muslimischen Antisemitismus gesprochen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine gute Zusammenarbeit zwischen der jüdischen Gemeinde Düsseldorf und dem Kreis der Düsseldorfer Muslime. Demnächst soll es in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt einen Rat der Religionen geben. Die liberale Muslima Lamya Kaddor und dein Nachfolger im Amt des Verwaltungschefs, Michael Rubinstein, haben 2013 das wunderbare Buch „So fremd und doch so nah – Juden und Muslime in Deutschland“ (Patmos Verlag) veröffentlicht. Sind das Einzelfälle aus Düsseldorf oder stellst du ähnliche Entwicklungen auch in anderen Städten fest?

Michael Szentei-Heise: Noch sehe ich diese positive und gegenseitige Zusammenarbeit weitgehend auf die tolerante Rheinschiene beschränkt. Allerdings habe ich über andere Städte und Kommunen wenig Übersicht, sodass sich nicht wirklich sagen könnte, ob es etwas Vergleichbares gibt. Allerdings würde ich es mir sehr wünschen, dass solche positiven Entwicklungen anderswo kopiert bzw. übernommen würden, damit alle Seiten aus ihrer „Sprachlosigkeit“ herauskämen.

Norbert Reichel: Mir gefiel gut, dass Muslime und Juden sich gemeinsam in der Beschneidungsdebatte positionierten. Ein weiteres gemeinsames Thema ist die vorgeschriebene Schlachtung. Bei manchen Kritiker*innen von Beschneidung und Schächten hatte ich immer den Eindruck, als würden Muslime angegriffen und Juden mitgemeint. Wie viel Antisemitismus ist hinter diesen Kampagnen gegen Beschneidung und Schächten? Und wie weit reichen die Gemeinsamkeiten von Juden und Muslimen in solchen Debatten?

Michael Szentei-Heise: Die Zusammenarbeit zwischen Juden und Muslimen in Düsseldorf hat vor einer Weile angefangen und entwickelt sich langsam in die richtige Richtung und wird auch zunehmend belastbarer. Allerdings haben wir in Düsseldorf eine besonders positive Situation, dass wir mit dem KdDM (Kreis der Düsseldorfer Muslime) einen muslimischen Dachverband als Gesprächspartner haben; den gibt es zum großen Teil anderswo nicht. Im KdDM sind 32 der 34 Moscheegemeinden in Düsseldorf zusammengefasst, d. h. fast alle muslimischen Gruppen sind dort vertreten. Die frühere Zusammenarbeit zwischen Juden und Muslimen zum Beispiel zum Thema Beschneidung und Schächten waren punktueller Art und waren auch relativ schnell beendet.

Norbert Reichel: Ein besonderes Ereignis war der Toleranzwagen im Düsseldorfer Karneval.

Michael Szentei-Heise: Düsseldorf ist neben Köln und Mainz eine der großen Hochburgen des Straßenkarnevals. Das kann am jüdischen Leben nicht vorbeigehen. Ich habe mich sehr gefreut, dass hier Christen und Muslime mit an Bord waren, beim letzten Mal auch der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp. Ich darf Ataman Yildirim, Vorsitzender des Orient-Okzident Express, zitieren: „Karneval bedeutet für uns gelebte Vielfalt. Wir als Muslime wollen nicht nur das Angebot annehmen, sondern aktiv mitgestalten. Mir geht es darum, gemeinsam jeck zu sein.“

Norbert Reichel: Wie seid ihr auf die Idee gekommen?

Michael Szentei-Heise: Beim Karneval 2017 war ich als Gast des Oberbürgermeisters im Rathaus und habe mir den Zug angeschaut. Da habe ich einen Wagen der evangelischen Kirche gesehen, der Bezug auf 500 Jahre Reformation nahm, was ich sehr gut fand. Dann kam einer der Diakonie, des evangelischen Hilfswerks. Und dann kam noch einer, der sich mit Heinrich Heine beschäftigte. Da dachte ich mir: Der ist doch einer von uns, warum okkupieren die den? So war die Idee in der Welt. Dann habe ich mich mit Jacques Tilly getroffen, der die Wagen mit den politischen Themen baut. Der war sofort begeistert. Jacques Tilly ist überzeugter Antifaschist. Bei Veranstaltungen gegen Rechtsextremismus habe ich ihn schon häufiger getroffen, und wir haben zusammengefunden. Auch das Festkomitee war begeistert. Ebenso die Mitglieder in der Gemeinde. Vielleicht gab es etwas Unverständnis bei den russischsprachigen Zuwanderern, die mit Karneval nichts am Hut haben, aber das kann ich auch verstehen. Im Jahr darauf haben wir den Heinrich Heine Wagen zum Toleranzwagen und zum gemeinsamen Auftritt der Religionen weiterentwickelt.

Norbert Reichel: Vielleicht brauchen wir viele Toleranzwagen, um dafür zu sorgen, dass Jüdinnen und Juden sich in Deutschland sicher und wohl fühlen können und dass sie in Deutschland bleiben wollen und können.

Michael Szentei-Heise: In den vergangenen zwei Jahren gab es den „Toleranzwagen“ im Düsseldorfer Karneval; einen Wagen, organisiert von den vier monotheistischen Religionen: Katholiken, Protestanten, Muslime und Juden. Ich denke sehr viel mehr in Richtung Toleranz und Zusammenarbeit kann man kaum noch tun, trotzdem wächst der Antisemitismus. Insofern bin ich sehr skeptisch, ob noch viele Toleranzwagen den gewünschten Effekt bringen würden.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)