Immer wieder dieser Hass

Zur Psychologie des Antisemitismus

„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ (Fritz Bauer, zitiert nach Monika Schwarz-Friesel, Judenhass im Internet – Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl“, Berlin / Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2019, auch als Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung erschienen, Bonn 2020)

Antisemitismus ist „wieder blutige Realität“. Dies konstatiert Samuel Salzborn in seinem Buch „Globaler Antisemitismus – Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne“ (Weinheim / Basel, BeltzJuventa, 2018). Die Zahlen der Kriminalitätsstatistik belegen, dass er recht hat: „Im Jahr 2019 sind in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik 2032 antisemitische Straftaten aufgeführt, davon 1896 von rechts. Im Vergleich zum Vorjahr stellt dies einen Anstieg um 13 Prozent dar, ein Negativtrend, dem dringend eine nachhaltige Strategie gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus entgegengestellt werden muss.“ (Quelle: der Newsletter von Irene Mihalic MdB vom April 2020). Allerdings sind Straftaten nur die Spitze des Eisbergs. All die Beleidigungen, Über- und Angriffe im Alltag, von denen Jüdinnen und Juden berichten, werden von keiner Statistik erfasst.

Doppelmoral

Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, zitiert im Vorwort des Buches von Samuel Salzborn den Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus. Es “empfinden etwa 90 Prozent der jüdischen Befragten Antisemitismus als großes oder sehr großes Problem und als starke Belastung. Etwa 60 Prozent vermeiden aus Sicherheitsgründen bestimmte Stadtteile und genauso viele haben über Auswanderung nachgedacht. 70 Prozent vermeiden das Tragen äußerlich erkennbarer jüdischer Symbolik.“ Josef Schuster fragt, wie es sein könne, dass trotz Aufklärung und trotz Shoah der Antisemitismus weite Kreise demokratischer Gesellschaften erreiche. Ein großes Problem sei „die Negierung des Problems an sich“, die eine Beantwortung der Frage erschwert, wenn nicht sogar verhindert.

Samuel Salzborn nennt die aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus: Unter dem „Banner des Antisemitismus“ „sammeln“ sich die „Kräfte der Gegenaufklärung“. „Rechte“, „linke“ oder sich als „links“ verstehende ebenso wie muslimisch motivierte Antisemit*innen greifen gleichermaßen gerne auf antifaschistische, antiimperialistische, antikolonialistische und antikapitalistische Klischees zurück. „Verschwörungsphantasien als totales Weltbild“, verbunden mit einem „Heilsversprechen“ bestimmen den Diskurs. Antisemitismus ist die grundlegende „Gegnerschaft, die Aufklärung und Moderne nicht für ihr antiemanzipatives Potenzial kritisiert, sondern für ihr emanzipatives Potenzial hasst.“ Andererseits will niemand Antisemit*in sein. Immer wieder wird Antisemitismus verharmlost oder gar geleugnet, indem auf angeblich viel größere Gefahren hingewiesen wird, vorzugsweise den Islam oder die israelische Politik in den besetzten Gebieten.

Es mag vielleicht etwas weit hergeholt erscheinen, sich zur Beantwortung der Frage von Josef Schuster mit dem Antisemitismus vergangener Zeiten bis hin in Zeiten vor Beginn unserer Zeitrechnung zu befassen. Belegbar ist jedoch eine erschreckende Kontinuität der antisemitischen Argumentationsmuster. Solche Argumentationsmuster finden sich bereits im Buch „Ester“, den ersten dokumentierten Planungen eines Genozids an den Juden, dessen Verhinderung Jüdinnen und Juden jährlich an Purim feiern.

Der Hass der Antisemit*innen galt und gilt nie einzelnen Jüdinnen oder Juden, sondern allen Jüdinnen und Juden, dem gesamten jüdischen Volk. Die Definition des Antisemitismus von Theodor W. Adorno, er sei „das Gerücht über die Juden“ traf immer zu. Auf der einen Seite dieser verhängnisvollen Polarisierung standen die Juden, auf der anderen Seite stand die gesamte Menschheit. Als Beleg dienten – so könnten wir das heute vielleicht nennen – „alternative Fakten“, in anderen Worten: Lügen und haltlose Verdächtigungen. Und aus dem „Gerücht“ wird zuverlässig Hass.

Christlicher Antisemitismus

Das Christentum popularisierte den Hass auf die Juden. Eine zentrale Quelle ist der erste Brief des Paulus an die Thessaloniker (2,15): „Diese (die Juden, NR) haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen.“ Eine Anklage mit nachhaltiger Wirkung, denn auch Voltaire, der an einen Gott, aber nicht an Jesus als Sohn Gottes glaubte, bezeichnete die „Juden“ als „natürliche Feinde dieser Nationen und schließlich der Menschheit“ (1861), und heute gibt es bei „anti-israelischen Demonstrationen regelmäßig Plakate mit dem Slogan ‚Israel – der wahre Menschenfeind‘“ (alle Zitate nach Monika-Schwarz-Friesel, Judenhass im Internet).

Micha Brumlik nennt in seinem in der 100-Seiten-Reihe von Reclam erschienenen Überblick über den Antisemitismus (Stuttgart 2020) auch andere Stellen der Briefe des Paulus, die das Judentum als „Ursprung und Wurzel auch des (christlichen) Glaubens an Jesus von Nazareth als Messias und Erlöser“ würdigen (u.a. Römerbrief 11,18). Es gab nicht nur Antisemitismus im frühen Christentum, aber er setzte sich Schritt für Schritt, von Jahrhundert zu Jahrhundert durch.

Micha Brumlik zitiert die „US-amerikanische Judaistin Talya Fishman“, die „in ihrem bahnbrechenden Werk Becoming the People of the Talmud (2011) nachgewiesen (habe), dass die Juden im Westen erst dann verfolgt – und Opfer von Bücherverbrennungen – wurden, als sie (…) neben der Bibel ein weiteres Buch als ‚heilig‘ annahmen“, den Talmud. Talya Fishman datiert diese Entwicklung auf das frühe 13. Jahrhundert, doch dürfte es auch Zusammenhänge mit den Kreuzzügen gegeben haben, die seit Ende des 11. Jahrhunderts mit Pogromen gegen Juden einhergingen. Die Pogrome der Kreuzzüge ordnet Micha Brumlik in die durch Christen erfolgte Verpflichtung der Juden zum „Geldverleih gegen Zinsen“ und den damit einhergehenden „Ärger über Schulden und Zinsen“ ein, die dann durch Beschuldigung der Juden als Gottesmörder nichtig werden sollten. In dieser Zeit wurde „das Kruzifix zum alles überschattenden Symbol“ des Christentums, die Juden wurden zu Gottesmördern.

Ein Ahnvater des christlichen Antisemitismus ist Luther, der zunächst hoffte, „Konvertiten unter den Juden“ zu gewinnen, dann aber in seinem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) ein Programm formulierte, das mehr oder weniger alle Verbrechen der Nationalsozialisten vorwegnahm. Micha Brumlik zitiert aus dieser Schrift Luthers, der die „Ausgrenzung der Juden aus der Rechtsgemeinschaft der Territorialstaaten“ forderte. Seine weiteren Forderungen: Verbrennen der Synagogen, Zerstörung der Häuser, Wegnahme der Bücher, Verbot der Lehre durch Rabbiner, Verbot, sich außerhalb ihrer Häuser aufzuhalten (im Grunde die Ghettoisierung), Verbot des Wuchers, Konfiskation von Geld und Schmuck, Zuweisung harter körperlicher Arbeit, Vertreibung.

Auf dieses Programm berief sich vor dem Nürnberger Tribunal Julius Streicher. Er berief sich auf Luther als Zeugen, der der eigentlich Verantwortliche für seine – Streichers – Taten wäre. Micha Brumlik zitiert den Bischof Martin Sasse, der den „Deutschen Christen“ angehörte: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen (…)“. Bischof Sasse lobte Luther, der „der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes vor den Juden.“

Wie schwer sich katholische und evangelische Kirchen mit ihrem antisemitischen Erbe taten, belegen die immer wiederkehrenden Debatten um die sogenannte „Judenmission“. Es gibt zwar diverse mehr oder weniger eindeutige Beschlüsse der katholischen wie der evangelischen Kirche, in denen einer „Judenmission“ abgeschworen wird, doch erscheint das Thema immer wieder auf der Tagesordnung, beispielsweise zuletzt durch die im Juli 2018 vom emeritierten Papst Benedikt XVI. angestoßene Debatte um die „Substitutionstheologie“. (den Streit hat die Jüdische Allgemeine dokumentiert, u.a. mit dem Briefwechsel zwischen Rabbiner Arie Folger und Benedikt XVI).

Ebenso dürfte die Debatte um christlichen Antisemitismus wieder eine wichtige Rolle spielen, wenn nach und nach die jetzt offen zugänglichen Dokumente der Amtszeit von Papst Pius XII. ausgewertet und seine Rolle angesichts der im Vatikan vorliegenden Informationen über Charakter und Ausmaß des Holocaust bewertet werden können. Unter anderen fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit mehreren Stiftungen die Auswertung dieser Akten. Es gibt Anzeichen, dass Informationen nicht nur sehr weitgehend vorlagen, sondern auch, dass sie mehr oder weniger systematisch ignoriert, angezweifelt oder für übertrieben gehalten wurden. Erste Informationen bietet die ZEIT, die mit dem an der Auswertung maßgeblich beteiligten Kirchenhistoriker Hubert Wolf gesprochen und ein ausführliches von ihm und seinen Kolleg*innen gestaltetes Dossier veröffentlicht hat. Ein Interview von Evelyn Finger mit Hubert Wolf ergänzt das Dossier. Es ist sicherlich in diesem frühen Stadium der Auswertungen der Archive nicht angebracht, Papst Pius XII. pauschal Antisemitismus vorzuwerfen, doch dürfte die antisemitische Tradition der katholischen Kirche die Art und Weise, wie er und der Vatikan sich zum Mord an den Juden verhielten, wesentlich beeinflusst haben.

Antisemitismus als „kulturelle Kategorie“

Ketzerei, Gottesmord, Geldverleih – dies sind die Elemente des Antisemitismus, die im Christentum eine tragende Rolle spielten und die Antisemitismen späterer Zeiten prägten, auch im 19. und 20. Jahrhundert, als rassistische Versionen des Antisemitismus und diverse Verschwörungstheorien sowie seit dessen Gründung der Hass auf den Staat Israel hinzutraten. Monika Schwarz-Friesel fordert daher mit Recht ein Verständnis der Geschichte, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet und die Quellen benennt. Zurück ad fontes, denn nur dann wird das Ausmaß des Antisemitismus erkennbar: „Dass Antisemitismus heute oft nicht erkannt oder als solcher klassifiziert und juristisch nicht geahndet wird, hängt oft mit einer zu engen Definition zusammen, die nur die zwölf Jahre NS-Zeit als typisch für Judenhass ansieht. Alle Analysen zeigen, dass der aktuelle Antisemitismus letztlich die Tradition des christlichen Anti-Judaismus fortführt.“

Das Internet, das Monika Schwarz-Friesel in ihrem Buch „Judenhass im Internet“ untersucht, ist nicht der einzige Ort, an dem wir heute antisemitischen Pamphleten, Beleidigungen sowie Aufrufen zu Mord und Genozid begegnen. Im Internet tummeln sich nicht nur „Extremisten, sondern die ganz normalen Alltagsuser“ (…). Auch hoch gebildete Personen können Antisemiten sein und / oder trotz des Wissens um die Gefahren einer Hassrhetorik Antisemitismen in die Gesellschaft tragen.“ Das Internet macht das Ausmaß dieses Hasses sichtbar(er). Die „Netzkommunikation“ funktioniert als „wichtiges Spiegelbild der Gedanken und Gefühle unserer gesamten Gesellschaft.“ Wir begegnen „Hass wohin man blickt. Hass von einer Intensität und mit einer Gewalttätigkeit verbunden, einem Vernichtungswillen, der nach dem Zivilisationsbruch von Auschwitz und den Jahren der Aufklärung so nicht mehr möglich schien.“

Allerdings passen Antisemit*innen die Schwerpunkte ihrer Argumentationsmuster an jeweilige allgemeine gesellschaftliche Stimmungen an. Man könnte allerdings auch sagen: Der Antisemitismus wird vielfältiger, er erweitert sich, wird ständig durch neue Elemente ergänzt, damit anschlussfähiger für andere Argumentationslinien. Der Antisemitismus wuchert in seinen Erscheinungsformen und in seinen Argumenten. Monika Schwarz-Friesel: „Antisemitismusleugnung und -umdeutung (‚Das ist nur Kritik‘) gehören heute untrennbar zum Antisemitismus“ und so „ist der israelbezogene Judenhass heute die primäre Manifestationsform und fast schon Normalität, da ausgerechnet dieser weit verbreiteten Form des Antisemitismus immer noch am wenigsten entgegengesetzt wird.“

Mit dem Nahost-Konflikt hat Antisemitismus zunächst nichts zu tun, er liefert aber einen weiteren Vorwand: „Basis für Israelhass ist der klassische Judenhass.“ Und offenbar ist Antisemitismus auch ohne bekennende Antisemit*innen möglich: „Neu ist nach 1945 aber das massiv auftretende Phänomen der Antisemitismusleugnung (…). Hierzu gehören aggressive Abwehr, Umdeutung und Relativierung ebenso wie die Diskreditierung von empirischer Antisemitismusforschung.“ Monika Schwarz-Friesel belegt ihre Analyse mit einer Vielzahl an Zahlen, die sie über „qualitative und quantitative Korpusanalysen“ gewonnen hat. Dabei überrascht die hohe Kontinuität traditioneller „Stereotype“, auch unabhängig von ihrem jeweiligen konkreten Zusammenhang.

Fakten, „Stimmen aus der Forschung“, helfen als „Therapie“ kaum, denn das „Glaubenssystem (NR: der Antisemit*innen) ist faktenresistent.“ Auch die immer beschworene Bildung, möglichst umfassend und frühzeitig schon in der Schule, reicht nicht aus, Erinnerungskultur erschöpft sich in routinierter „Floskelkultur“. „Der Antisemitismus muss – angesichts seiner Genese – heraus aus der allgemeinen Vorurteilsforschung und als Ressentiment, als kulturelle Kategorie (Hervorhebung NR) erklärt und bekämpft werden.“

Ähnlich argumentiert Micha Brumlik: „Der Antisemitismus war, wie die israelische Historikerin Shulamit Volkov treffend bemerkt, ein kultureller Code (Shulamit Volkov, „Antisemitismus als kultureller Code“, München, C.H. Beck, 1990, Hervorhebung im Zitat NR), der sich aus politischen Leidenschaften zum tragenden Bestandteil einer ganzen Kultur entwickelt hatte – und zwar so, dass aus dem einst glühenden Hass eine auch mit geringerem emotionalen Engagement vorgetragene kulturelle Selbstverständlichkeit im Widerstand gegen die bürgerliche Emanzipation einer stigmatisierten Minderheit geworden war.“

Der Antisemitismus als Alltagskultur? Genau dies ist die Gefahr, die droht, wenn Antisemitismus in bürgerlichen Kreisen, die in vielen Studien gerne als die „Mitte“ bezeichnet werden, anschlussfähig wird. Ein Vergleich judenfeindlicher Karikaturen über die Jahrhunderte belegt, was mit „kultureller Code“ beziehungsweise „kulturelle Kategorie“ gemeint ist. Jüngstes Beispiel für die Anschlussfähigkeit in bürgerliche Kreise war ein Karnevalswagen in Aalst (Belgien).

Paranoia

Walter Laqueur bietet in seinem 2006 im englischen Original erschienenen Buch „Gesichter des Antisemitismus – Von den Anfängen bis heute“ (Berlin, Ullstein, 2008, Originaltitel von 2006: „The Changing Face of Anti-Semitism“) ein „Who is Who“ des Antisemitismus der vergangenen 2.000 Jahre. Er dokumentiert religiöse Begründungen unter Christen und Muslimen, Rassen- und Verschwörungstheorien, den immer wieder gängigen Vorwurf, Juden beherrschten den Finanzsektor. Zum Gesamtbild gehört auch die auf jüdischer Seite immer wieder neu entstehende und sich jeweils verstärkende Skepsis über die Erfolgsaussichten von Assimilation und Emanzipation, die schließlich in dem mit der Gründung des Staates Israel erfüllten Wunsch nach einer eigenen Nation mündete.

Das Besondere am Antisemitismus: er funktioniert auch dort, wo es kaum oder gar keine Jüdinnen und Juden gibt. 1933 waren im Deutschen Reich 0,9 % der Bevölkerung Jüdinnen und Juden und dennoch gelang es dem Nationalsozialismus, den Eindruck zu erwecken, als beherrschten Juden die Welt und damit auch Deutschland. Dass dies heute noch wirkt, wissen Pädagog*innen in Gedenkstätten zu berichten. Wenn sie fragen, wie viele Juden es in Deutschland 1933 gegeben habe, liegen die von den Besucher*innen geschätzten Zahlen nur sehr selten unter 15 %. Ein angenommener jüdischer Einfluss hat sich zu einem Stereotyp entwickelt, das jedem Faktencheck standzuhalten scheint.

Walter Laqueur: „In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Verschwörungstheorien eine wahre Modeerscheinung. Ein typisches Beispiel ist die scheinbar authentische Rede eines Großrabbis in einem Roman mit dem Titel Biarritz (1868). Geschrieben hat ihn der deutsche Journalist Hermann Goedsche, der unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlichte. Seinem Roman zufolge trifft sich der Sanhedrin, das angeblich oberste jüdische Gremium, dem Vertreter der zwölf ursprünglichen Stämme Israels angehören, alle hundert Jahre an einem bestimmten Grab auf dem jüdischen Friedhof in Prag. Auf dem im Roman geschilderten Treffen wird der Plan einer Weltrevolution besprochen mit dem Ziel, eine globale Diktatur zu errichten. Erreicht werden soll dies mittels internationaler Finanztricks sowie durch Revolutionen, in denen Kirche, Monarchie und Armee zugrunde gerichtet werden, und zwar zuerst in Preußen und Russland.“

Ebenso wie die unter anderem auf diesem Roman beruhenden „Protokolle der Weisen von Zion“, die 1903 erstmals veröffentlicht wurden, mischt der Roman „Biarritz“ Elemente des historischen Romans, des Horror- und Schauerromans und der Science Fiction mit politischen und religiösen Traktaten, alles literarische Gattungen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert viele Leser*innen fanden und heute noch finden. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit werden bewusst verwischt. Zitiert werden heimliche Beobachter (in „Biarritz“ „ein Deutscher namens Dr. Faustus und ein italienischer konvertierter Jude namens Lasali“), die Textsorte erhält eine quasi-amtliche Autorität („Protokolle“). Hinzu kommt, dass es sich bei den handelnden Personen nicht wie bei Dracula und Frankenstein um irreale Gestalten handelt, sondern um Menschen, wie man sie auch auf der Straße treffen könnte. Schauerromane konnten auf überlieferte Stereotype des Hasses auf Juden zurückgreifen, ihre Popularität erleichterte dessen Popularisierung, die Berufung auf einen getauften Juden erhöhte die Glaubwürdigkeit, in etwa nach dem Motto: Der muss es ja wissen.

Der Antisemitismus – eine christliche Tradition

Um den christlichen Kern des Antisemitismus geht es in einem Buch, das der Verlag Hentrich & Hentrich (Berlin, Leipzig) 2020 neu aufgelegt hat: Hyam Maccoby, „Der Antisemitismus und die Moderne – Die Wiederkehr des alten Hasses“ (erstmals erschienen 2006 in New York City bei Routledge unter dem Titel „Antisemitism and Modernity“). Peter Gorenflos, der Herausgeber, fasst in seinem Vorwort die Hauptthese zusammen: „Wie war es überhaupt möglich, dass der Antisemitismus die Aufklärung überdauern und trotz Französischer Revolution und ihrer Ideale ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ überleben konnte? Nach der Lektüre dieses Buches kommt man zu dem Schluss, dass dies nur möglich war, weil auch das Christentum, die Kirche – wenn auch geschwächt – überlebt hat.“

Der letzte Satz ist eine Antwort auf die von Josef Schuster gestellte Frage. Der Inhalt der Antwort ist – so Peter Gorenflos – vielleicht der Grund, warum Hyam Maccoby außerhalb Großbritanniens „so wenig bekannt ist. Er sägt sozusagen an dem mythologischen Ast, auf dem die Kirchen sitzen, und zeigt, dass der Antisemitismus in der christlichen – und weniger zentral in der muslimischen – DNA verankert ist.“

Hyam Maccoby schreibt in seinem im März 2004 kurz vor seinem Tod niedergeschriebenen Vorwort, er wolle „die paranoide Macht des antisemitischen Mythos“ mit psychoanalytischen Methoden begreifen: „Antisemitismus entsteht gerade aus der Tatsache, dass die zwei großen Religionen, Christentum und Islam, aus dem Judentum abgeleitet sind und deshalb eine ödipale Beziehung zum Judentum haben.“

Auf dieser Grundlage konnte sich Hitler als „moderner triumphierender Christus“ inszenieren, „der die tausendjährige Herrschaft einleitete, die ein wörtliches Echo der chiliastischen christlichen Erwartung der Niederlage des Antichristen war. Der Nazismus war eine säkulare, blasphemische Version des christlichen Mythos, in dem Juden ihre antike Rolle der satanischen Widersacher spielten.“ Hitler selbst, dessen Antisemitismus Hyam Maccoby in einem eigenen Kapitel analysiert, hatte ein Bild „von dem exemplarischen Juden, (…) in dem ein charmanter, eleganter Herr in seiner wahren Natur als Teufel mit Hörnern und gespaltenem Schwanz bloßgestellt wird. Der wahre Feind des Antisemiten ist der religiöse mittelalterliche Jude, weil der eigentliche Ursprung des Antisemitismus nicht in der Moderne liegt, sondern im mittelalterlichen christlich-jüdischen Konflikt.“

Der Antisemit ist davon überzeugt, dass der in die Gesellschaft integrierte, assimilierte und emanzipierte Jude enttarnt werden muss. Dies geschieht, indem Juden ihrer Menschlichkeit beraubt werden. Die Täter*innen sahen in ihren Opfern keine Menschen. Sie sorgten dafür, dass die Wirklichkeit dem Bild entsprach, das sie von Juden in sich pflegten: „Der Aufseher eines Konzentrationslagers wurde befragt, warum es notwendig war, die Juden durch Hunger, Demütigung und Entzug der Hygiene zu erniedrigen, bevor man sie tötete. Seine Antwort lautete, dass es schwierig gewesen wäre, die Morde an normal aussehenden Menschen durchzuführen. Übersetzt heißt das, dass die Juden auf ihr eigentliches Aussehen gemäß der antisemitischen Vorstellung erniedrigt werden mussten, bevor sie getötet werden konnten: Sie mussten aussehen wie das Ungeziefer, als das sie in der rassistischen Theorie dargestellt wurden, und dies wurde erreicht, in dem man ihnen jegliche Menschenwürde nahm. So wie die Konzentrationslager ein Abbild der christlichen Hölle waren, so war das Opfer des Konzentrationslagers in seiner ganzen Verzweiflung und seinem Schmutz ein Abbild aller Dämonen und verlorenen Seelen, die sie bewohnen.“

Das Christentum universalisierte die Bedeutung messianischer Heilserwartung. Jesus verlor mit der Zeit seine Aura als „jüdischer Rebell“ gegen die römische Unterdrückung. Hyam Maccoby spricht von einer „Entpolitisierung der Erzählung“, in der Jesus nun „nicht mehr im Konflikt mit Rom war“, sondern universalistisch als Befreier im Kampf gegen satanische Mächte wirkte, deren Apologeten auf Erden diejenigen waren, die sich der Christianisierung widersetzten, und dies waren in erster Linie „die Juden“, denen das Verbrechen des Gottesmordes angehängt wurde. Die frühen Kirchenväter okkupierten – ganz im Sinne des Paulus – „die jüdischen Propheten als Proto-Christen, die von den Juden missverstanden und verfolgt worden waren“ und bezogen sämtliche messianisch interpretierbaren Textstellen auf Jesus, betrachteten sie als Allegorie und Prophezeiung zugleich, ex eventu legitimiert durch das Auftreten, Wirken und Streben ihres zum Gründer und Gott erhobenen Propheten Jesus.

Politische Kämpfe

Die politischen Kämpfe zu Beginn des 4. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung begünstigten den Wandel des Christentums von einer antirömischen zu einer prorömischen Weltanschauung, mit dem Ergebnis, dass das Christentum mit der Zeit das Römische Reich übernahm. Die Aufteilung der katholischen Verwaltungsbezirke in Diözesen beruht heute noch in weiten Teilen auf der diokletianischen Verwaltungsreform und der Sitz des Staatschefs, des Papstes, ist nach wie vor Rom, die „ewige Stadt“. Das 2021 anstehende 1.700 jährige Jubiläum des Ediktes Kaiser Konstantins von 321, das gerne als Gründungsdatum jüdischen Lebens in Deutschland oder wie man korrekt formulieren müsste, da es 321 noch kein Deutschland gab, auf dem heute Deutschland genannten Gebiet verstanden wird, muss allerdings auch im Kontext weiterer Edikte bewertet werden, die eindeutig antijüdisch ausgerichtet waren.

Hyam Maccoby: „Die Thronbesteigung Konstantins 312 führte zum Edikt von Mailand (313), in dem das Christentum gesetzliche Anerkennung erhielt. Die Bekehrung Konstantins schließlich machte das Christentum zur offiziellen Religion des Römischen Reiches, eine Entscheidung, die vom Konzil von Nicäa (325) besiegelt wurde. Unter dem Einfluss von Sylvester, Bischof von Rom, Paulus, Bischof von Konstantinopel, und dem Historiker Eusebius von Caesarea hatte Konstantin 315 ein Edikt erlassen, das Juden die Missionierung verbot – das erste von vielen christlichen Edikten, die sich gegen die Juden richteten.“

Es folgten weitere Edikte und schließlich Verfolgungen von Juden, so unter dem Nachfolger Konstantins, Constantius (327-330), „als die Lehre des Judentums verboten wurde, auf Mischehe und Bekehrung die Todesstrafe stand und den Juden Palästinas eine unmögliche Steuerlast aufgebürdet wurde, was eine Revolte auslöste, die mit einem schonungslosen Massaker niedergeschlagen wurde. Von da an schwand die jüdische Kultur in Palästina, und Babylonien, außerhalb des christlichen Einflusses, wurde zum jüdischen kulturellen Zentrum.“

Nur unter Julian Apostata (360-363), der seinen Beinamen „der Abtrünnige“, „der Ketzer“ von Christen erhielt, weil er die alte römische Religion wieder einführen wollte, entstand „eine Atempause für die Juden“, die etwa 40 Jahre anhielt, „sehr zur Entrüstung der antisemitischen Kirchenlehrer Chrysostomos und Ambrosius“. Den führenden Vertretern des Christentums, Päpsten und Kirchenvätern, gelang es aber abgesehen von dieser „Atempause“, sich nachhaltig mit Rom zu arrangieren und sich mit staatlicher Hilfe ihres Hauptkonkurrenten, der einzigen alternativen monotheistischen Religion, des Judentums, zu entledigen.

Aus diesem Arrangement mit Rom als weltlicher Zentralmacht wird meines Erachtens auch die Popularität der unter anderem von Martin Luther vertretenen Zwei-Reiche-Lehre erklärbar. Die Zwei-Reiche-Lehre könnte erklären, warum sich christliche Kirchen bis ins 21. Jahrhundert hinein immer wieder mit gewalttätigen Diktaturen arrangieren, beispielsweise die katholische Kirche mit den Militärdiktaturen in lateinamerikanischen Ländern oder die evangelischen Kirchen als „Deutsche Christen“ mit der NSDAP.

Natürlich gab es Ups and Downs. So entstand in Spanien unter der muslimischen Herrschaft eine weitgehende Toleranz der Religionen, während die Kreuzzüge seit 1096 mit Pogromen gegen Juden einhergingen. Andererseits hatte der rassistische Antisemitismus mit der „limpieza de sangre“, der „Reinheit des Blutes“, seine Ursprünge im christlichen Spanien des 16. Jahrhunderts. Ein traumatisches Datum war die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492. Vertrieben wurden auch die Muslime, allerdings durfte wenigstens der vorhandene Experte des Brunnenbaus vorerst bleiben. Sephardische Juden und Muslime teilen in Bezug auf Spanien das, was von Historiker*innen, die sich mit der Geschichte muslimischer Länder befassen, oft als „Andalusien-Syndrom“ bezeichnet wird.

Hyam Maccoby verfolgt über die Jahrhunderte diese verschiedenen Entwicklungen, auch verschiedene Strategien jüdischer Gemeinden, sich der Diskriminierung und Verfolgung zu erwehren, durch Flucht, Übertritt zum Christentum, Martyrium oder das bloße passive Erdulden. „Es war der Niedergang des christlichen Glaubens, der dazu führte, dass die Juden aus ihrer mittelalterlichen Unterdrückung befreit wurden. Die erste Person, die die Emanzipation der Juden vorschlug, war 1714 der Freidenker John Toland. Ihm folgten andere Freidenker und Deisten, namentlich Montesquieu, Lessing und Rousseau.“

Immer wieder Ödipus

Hyam Maccoby präsentiert verschiedene Beispiele von Philosophen, Theologen und Literaten des 19. und des 20. Jahrhunderts, die die aus der christlichen Überlieferung ererbten antisemitischen Muster in ihren Werken verarbeiteten, in der Regel in Unkenntnis originaler jüdischer Quellen. Es gibt eigene Kapitel zu Luther, Voltaire, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, T.S. Eliot und Ezra Pound. Analysiert werden mythologisch anmutende Motive der Literatur wie beispielsweise die „reizende Tochter“ und Shakespeares „Shylock“.

Ein interessanter Fall ist Nietzsche. Nietzsche verachtete Antisemiten. Der psychoanalytisch inspirierte Ansatz Hyam Maccobys entdeckt jedoch gerade in der Überhöhung der Juden durch Nietzsche eine gefährliche Tendenz, die eines überzogenen Philosemitismus. Nietzsche „betrachtete jüdisches Blut wie eine Art wirkmächtige Arznei, die in kleinen Dosen ausgezeichnete Ergebnisse hervorbringen konnte“. An anderer Stelle: „Er fand, dass er Juden mochte, die er zufällig kennenlernte, während er die Antisemiten hasste. Er fand, dass die Juden Jasager und lebensbejahend sind, die Antisemiten dagegen Neinsager und lebensverleugnend, Menschen, die im Judenhass Trost für ihre eigenen Minderwertigkeitsgefühle suchen.“ Hyam Maccoby belegt dies mit Textstellen aus „Jenseits von Gut und Böse“ und „Der Antichrist“.

Nietzsche polarisiert. Entscheidend für das Verständnis Nietzsches ist seine antichristliche Motivation, „weil das Neue Testament eine Sklavenmoral verkörperte, im Gegensatz zum aristokratischen Ideal des Alten.“ Es gibt in dieser Argumentation Parallelen zum Wandel in Nietzsches Einschätzung Richard Wagners, den er zunächst bewunderte und später verdammte. Anstelle von Wagner lobte er dann Georges Bizet und Heinrich Heine. Die Juden übernehmen bei Nietzsche mit der Zeit eine ähnliche Funktion wie in seinem Frühwerk „Die Geburt der Tragödie“ die von ihm dionysisch verstandenen Griechen, Zeugen für Lebensbejahung, „Energie und Vitalität“.

Ebenso widersprüchlich wirkt das Motiv der „schönen Jüdin“, das Hyam Maccoby im Kapitel „Die reizende Tochter“ analysiert. Das Motiv berührt verschiedene Figuren, die auch in anderen Mythen eine Rolle spielen, darunter neben der umwerbenswerten jungen Frau die ihres Vaters, der in der Regel Macht über seine Tochter ausübt, ihren jungen Liebhaber schikaniert und vor allem über große Finanzmittel verfügt. „Wir können uns nun der Geschichte der Erzählung von der Zeit an zuwenden, als sie ein Element im christlichen Konflikt wurde, der Vater nämlich als Jude identifiziert wurde, der Liebhaber als Christ. Es ist keineswegs überraschend, dass dies eintrat, denn zu einem großen Teil war der Hass, den Christen gegenüber Juden empfanden, ödipaler Natur (…).“

Hier kommt „die Jungfrau Maria“ ins Spiel: „Maria als Göttin erfüllte genau die Funktion, die Christen vor dem Zorn des Vaters zu schützen (und inzwischen war sogar Jesus eine Vaterfigur geworden, ebenso furchteinflößend in seiner Erscheinung als Richter beim Jüngsten Gericht wie der ursprüngliche Vatergott selbst).“ Maria als Variante einer nicht unbedingt immer hilfreichen „Mutterfigur“, die durchaus auch „ihre strengere Seite“ hat, vor allem denjenigen gegenüber, die ihr nicht „vollständig treu ergeben“ sind, und als „die grausame Göttin selbst, Lilith, Kybele, Astarte oder Kali“ erscheint.

Hyam Maccoby springt von dort zu Jason und Medea, Theseus und Ariadne, Mythen, die gemeinsam haben, dass die Tochter den aus der Fremde gekommenen Liebhaber gegen ihren Vater unterstützt und rettet, dann aber vom Geretteten verlassen wird. „Aber der exogame Aspekt ist eigentlich nur eine andere Facette der ödipalen Situation. Es ist die Entfremdung zwischen Vater und Sohn, die den Sohn zum Fremdling macht. Der landlose Fremde, wie zum Beispiel Jason oder Theseus, ist einfach der Sohn in seiner Schwäche und Entbehrung, der seine kümmerliche Stärke gegen den privilegierten Vater ausspielt. Man wird aus dem vorangegangenen Bericht von der Geschichte von des Juden Tochter sehen, dass ihre Entwicklung weit von einem kontinuierlichen moralischen Fortschritt entfernt gewesen ist.“

Antisemitismus im Islam

Wer mit Muslimen über den Antisemitismus diskutiert, hört gelegentlich, dass vor allem arabische und türkische Muslime keine Antisemiten sein könnten. Sie seien selbst Semiten. Hyam Maccoby zitiert den malaysischen Premierminister Mohammad Mahathir, der am 16. Oktober 2003 in Putraya auf einer Konferenz der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), an der Vertreter aus 57 Ländern teilnahmen, sagte: „1,3 Milliarden Muslime können nicht von wenigen Millionen Juden besiegt werden. (…) Die Europäer (sic!) töteten 6 Millionen von 12 Millionen Juden. Auch heute lenken die Juden die Welt durch Stellvertreter. Sie lassen andere für sich kämpfen und sterben. (…) Sie erfanden und förderten erfolgreich Sozialismus, Kommunismus, Menschenrechte und Demokratie, sodass ihre Verfolgung als Unrecht erscheinen würde, sodass sie gleiche Rechte mit anderen genießen können. Mit diesen haben sie nun Kontrolle über die mächtigsten Länder erreicht, und sie, diese winzige Gemeinschaft, sind eine Weltmacht geworden.“

Hyam Maccoby findet in dieser Rede „die klassischen antisemitischen Motive und die Verwischung jeder Unterscheidung zwischen Antizionismus und Antisemitismus.“ Doch es ist mehr als das: Mahathir und diejenigen, die ihm beipflichten, sind nicht nur Antizionisten, sie sind Antidemokraten, Illiberale und bekämpfen jede Form von Menschenrechten. Sie behaupten, dass die Errungenschaften der Aufklärung keinem anderen Zweck dienten als der Sicherung der Machtposition derer, die die Werte der Aufklärung „erfunden“ hätten. Der „Zionismus“ ist in dieser Gemengelage zum Schimpfwort geworden, zum Symbol des globalen Kapitalismus und „Imperialismus“ schlechthin und besitzt „in vielen Kreisen die gleiche satanische Aura, die in der christlichen Tradition die Juden umgeben hatte.“

Das Christentum dürfte in diesem islamischen Antisemitismus eigentlich keine Rolle spielen. So könnte man meinen, doch teilt das Christentum mit dem Islam das Judentum als Vaterreligion. Gehasst wird im Judentum die eigene Vergangenheit, die als Fremdheit erscheinen mag, aber letztlich darüber entscheidet, wie weit das eigene Selbstbewusstsein legitimiert werden kann. Hyam Maccoby: „Die Terminologie des Juden als ‚der Andere‘ ist somit irreführend, da sie Antisemitismus an bloßem Fremdenhass angleicht und auslässt, was besonders an ihm ist, nämlich seine einzigartige mythologische Eigenschaft, die aus der Rolle der Juden im christlichen Mythos hervorgeht.“

Auf der anderen Seite gibt es im Islam auch andere antisemitische Traditionen. Micha Brumlik gibt einen kurzen Überblick: „In Baschar-al Assads Syrien sowie in Ägypten liefen im staatlich kontrollierten Fernsehen unbeanstandet politische Soaps über die Protokolle der Weisen von Zion sowie über jüdische Ritualmorde, während terroristische Ideologen wie der Hamas-Führer Abd al-Aziz ar-Rantisi (1947-2004) zustimmend den französischen Holocaustleugner Roger Garaudy (1913-2012) zitierte – die Hamas-Charta zitiert ihrerseits zustimmend aus den Protokollen der Weisen von Zion.“ In arabischen und in anderen muslimisch geprägten Ländern verbinden sich religiöse Traditionen mit politischen Interessen, in denen Israel die Rolle des Bösen, des Kolonisators und Besatzers zugewiesen wird, während die Palästinenser*innen als die Opfer einer jüdisch-kolonisatorischen Verschwörung instrumentalisiert werden, die es durch die Vernichtung Israels zu befreien gelte. In diesem Sinne erhält „der Israel / Palästina-Konflikt“ – so Micha Brumlik – „eine alles überschattende Rolle“.

Muslime, die in westlichen Demokratien leben, leiden oft genug darunter, dass ihre Gastländer keine neuen Heimatländer geworden sind, weil es keine nachhaltig wirkende Ein- und Zuwanderungspolitik gab und gibt. Sie erleben Benachteiligung, Diskriminierung und Exklusion. Attraktiv werden alternative Modelle der Identifikation. Mischa Brumlik zitiert eine Studie aus dem Jahr 2013, die feststellen musste, dass „Muslime bei der Zustimmung zur Äußerung ‚Juden darf man nicht trauen‘ deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung lagen. Während etwa in Deutschland 10,5 Prozent aller Befragten dem Satz zustimmen, sind es unter Muslimen fast dreimal so viele: 28,0 Prozent.“ Ähnliche Ergebnisse wurden aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Schweden berichtet (Micha Brumlik zitiert eine Studie von Günther Jikeli, veröffentlicht in dem 2019 von Marc Grimm und Bodo Kahnmann herausgegebenen Buch „Antisemitismus im 21. Jahrhundert – Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror“.)

In westlichen bürgerlichen Kreisen erlebt der Antisemitismus aus vergleichbaren Gründen eine Renaissance. Während manche eine Restauration des Christentums wünschen, das die Liberalisierung der Aufklärung wieder rückgängig macht, suchen andere ihr Heil in einer nationalen oder im Islam begründeten Zukunft. Hyam Maccoby zitiert Paul Lawrence Rose, der in einem 1990 erschienenen Buch (German Question / Jewish Question: Revolutionary Antisemitism from Kant to Wagner, Princeton, NJ, 1990) „zeigte, wie eng der Antisemitismus mit den Versuchen deutscher Intellektueller verbunden war, ihren Verlust des christlichen Glaubens und den Austausch gegen einen Glauben an das edle Schicksal des deutschen Volkes zu bewältigen.“

Hyam Maccoby besteht darauf, dass Antisemitismus selbst dort, wo dies auf den ersten Blick nicht erscheint, letztlich einen Vater-Sohn-Konflikt signalisiert. „Antisemitismus tritt in Regionen auf, wo die beherrschende Religion aus dem Judentum hervorgegangen ist (d.h. Christentum und Islam) und deshalb darum kämpft, das Judentum zu ersetzen.“ Möglicherweise ist auch der muslimische Antisemitismus mit seinen anti-israelischen Elementen eine Art Auflehnung gegen einen Vater, der versagte, was man eigentlich von ihm erwartete. Anstatt die Kinder der ein- und zugewanderten Menschen auch als seine Kinder zu verstehen, verweigerte er deren Integration, sodass sich bei jungen Muslimen möglicherweise sogar die Ansicht durchsetzt, dass es sich eh nicht lohne, sich zu „integrieren“ und in dem Land, in dem sie leben, einzurichten. Antisemitismus fungiert dann als der Vorwurf schlechthin für den abweisend erlebten Vater. Menschenrechte, Pluralismus und Demokratie sind die Menschenrechte, der Pluralismus und die Demokratie der anderen.

Das folgende Fazit von Hyam Maccoby gilt nicht nur für Osteuropa und islamische Länder, sondern auch für den sich demokratisch nennenden Westen: „Wo Demokratie und Pluralismus keine sichere Tradition entwickelt haben (d.h. in Osteuropa und in islamischen Ländern), bleiben die Möglichkeiten für einen Holocaust bestehen.“ Die Analyse des Antisemitismus nach dem Holocaust bedarf daher „einer Art Psychoanalyse, in der die unbewussten Wurzeln in Mythos, Folklore und Kunst freigelegt werden und ein rationales Verstehen der langen Geschichte des Hasses ermöglicht wird.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)