In der Falle der Safe Spaces
Für eine Repolitisierung der Politik
Safe Spaces lassen sich unterschiedlich definieren. Ich beginne diesen Text daher mit einem Hinweis auf die Safe Spaces, um die es hier nicht geht. Es geht nicht um das Völkerrecht, es geht nicht um Israel, nicht um die Ukraine, obwohl die Sicherheit dieser beiden Länder eine unverzichtbare Grundlage für die Zukunft freiheitlicher Demokratien in Europa und in der Welt ist. Es geht auch nicht um Orte, die Menschen Schutz vor körperlicher und psychischer Gewalt bieten, beispielsweise Frauenhäuser. Es geht um Safe Spaces im Alltag der politischen Auseinandersetzung, auf Straßen, in Sälen, in Schulen und Hochschulen, schlechthin: Safe Spaces im öffentlichen Raum, die – so die Hoffnung – vor kontroversen Debatten schützen sollen, Orte, in denen aber – und dies ist das Problem – die gesellschaftlich gegebene Vielfalt außen vor bleibt.
Igel, Schnecken, Lagerfeuer
Igeln und Schnecken sagt man nach, dass sie es verstünden, sich gegen Feinde zu verteidigen, indem sie dem Feind ein Bild der Unangreifbarkeit vermitteln. Igel igeln sich ein und werden zur stachligen Kugel, die manche Hunde zwar vor sich herkugeln mögen, an der sei aber letztlich dann doch ihr Interesse verlieren. Schnecken ziehen sich in ihr hartes Schneckenhaus zurück, das ihre Fressfeinde nicht zu knacken und nicht einmal zu verschleppen vermögen. Igel und Schnecken überleben.
Eine menschliche Strategie des Einigelns, des Rückzugs ins eigene Schneckenhaus hat Zygmunt Baumann in seinem Buch „Retrotopia“ beschrieben (die deutsche Ausgabe erschien 2017 in der edition suhrkamp). Er verwendet die Metapher des „Lagerfeuers“, um das sich Gleichgesinnte scharen, die sich gegenseitig bestätigen, dass die Welt so ist, wie sie sie sehen. Jürgen Wiebicke hat diesen Gedanken in seinem Buch „Emotionale Gleichgewichtsstörung – Kleine Philosophie für verrückte Zeiten“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023) aufgegriffen: „Krisenzeiten begünstigen das Zwanghafte in uns, sie stellen eine Versuchung dar, die eigenen Kreise enger zu ziehen. Unser Umgang mit der Pandemie, geprägt von überschießenden Bedürfnissen nach Sicherheit, hat diese ohnehin bereits vorhandene Tendenz, sich in einer kleinen Welt abzusondern und zu verpanzern, noch einmal deutlich verstärkt. Viele finden nun nicht mehr zurück ins Offene.“ Jürgen Wiebicke kommt zu dem Schluss: „Je unübersichtlicher die Welt, desto härter der eigene Standpunkt.“
Metaphern der Sicherheit dominieren den politischen Diskurs unserer Zeit. Eine solche Metapher sind auch die immer wieder beschworenen Safe Spaces. Als Steffen Mau in Berlin bei der Stiftung Mercator seine gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasste Studie „Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (Berlin, edition suhrkamp, 2023) vorstellte, wurde er nach der Methodik gefragt. Diese ähnelte dem Vorgehen von Bürgerräten und Planungszellen. Eine Gruppe von Menschen wurde nach möglichst repräsentativen Kriterien ausgewählt und konnte an einem Wochenende über verschiedene kontroverse Themen diskutieren. Es beteiligten sich alte, junge, arme, reiche, selbstständige, angestellte Personen, angemessen divers nach Geschlecht, Hautfarbe, migrantischer Familiengeschichte, Parteipräferenzen und so fort. Aus dem Publikum meldete sich eine junge Frau (sic?) und stellte sich als „marginalisierte Person“ vor. Sie fragte, wie bei einer solchen Methode gesichert werde, dass Menschen wie sie nicht verletzt würden. Steffen Mau antwortete, einen Safe Space könne man bei dieser Methodik nicht garantieren. Es gehe eben um das offene Gespräch, da gebe es in einem Raum eben beispielsweise auf People of Color und Leute, die zehn Mal am Tag das N-Wort verwenden.
Bürgerräte, Planungszellen, Studien wie die von Steffen Mau und seinen Kollegen sind auf das „Offene“ angewiesen, von dem Jürgen Wiebicke spricht. Wer sich „marginalisiert“ fühlt, braucht selbstverständlich Gelegenheiten, sich unter Gleichgesinnten auszutauschen, auch über Strategien, wie man sich schützen oder wie man die eigenen Bedarfe und Bedürfnisse in der Öffentlichkeit platzieren könnte. Aber wenn es dabei bleibt, dass eine sich als „marginalisiert“ verstehende Gruppe nur noch unter ihresgleichen verständigt, verpassen ihre Mitglieder die Chance, den politischen Diskurs mit Leben zu erfüllen. Sie präsentieren sich mit ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit als Opfer, machtlos, ohnmächtig. Dies kann jedoch alle, die sie in ihrer „marginalisierten“ Verfasstheit nicht akzeptieren, nur ermutigen, sie noch mehr als ohnehin schon zu drangsalieren. Jürgen Wiebicke formuliert es wie folgt: „Genau genommen wird im Grundgesetz keine Wohlfühlgesellschaft beschrieben, sondern eine, die mir etwas abverlangt, sofern ich mich überhaupt dafür zu interessieren bereit bin, wie andere Menschen auf die gleiche Welt blicken. Heute fehlt vielen das Vorstellungsvermögen, dass das, was dort auf dem Papier des Grundgesetzes mit einer Ewigkeitsgarantie versehen wurde, schon morgen in der Praxis zerstört werden kann.“
Eine Welt (nur) nach ihrem Bilde
Diejenigen, die den im Grundgesetz verbrieften freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zerstören wollen, haben jedoch auch ihre eigenen Safe Spaces geschaffen. Es gibt beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern inzwischen Dorfgemeinschaften, in denen Rechtsextreme unter sich sind. Es gibt das Institut für Staatspolitik von Götz Kubitschek in Schnellroda, den Buchladen von Susanne Dagen in Dresden-Loschwitz und andere Räume, in denen sich rechtsextrem und rechtspopulistisch gesinnte Menschen einander ihre Verschwörungserzählungen bestätigen und in die sich kaum jemals jemand verirrt, der diese Erzählungen nicht teilt. Es gibt ebenso Orte wie das Islamische Zentrum Hamburg, einen Ort, den der Verfassungsschutz schon lange als verlängerten Arm des iranischen Staates betrachtet und an dem sich diejenigen unter den Muslim:innen treffen, die eine Art islamistische Weltrevolution vertreten wie sie der Gründer der Islamischen Republik Iran, Ajatollah Khomeini, im Iran durchsetzte und für die Zukunft der Welt propagierte. In Deutschland hatten auch Gruppierungen wie die Hamas und Samidoun ihren Safe Space, weil der Staat sie gewähren ließ, im Grunde nicht ernst nahm, was diese Gruppen propagierten, und sie erst verbot, als der antisemitische Furor zu offensichtlich wurde.
Wenn extremistische Gruppen für sich einen Safe Space einrichten, schützen sie sich vor allem davor, dass die Organe des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats genauer hinschauen. Das, was sie mit der Zeit durchsetzen wollen, ist eine Welt nach ihrem Bilde, die sie nach jeweils nach ihrer Ideologie, vorzugsweise völkisch oder dschihadistisch, definieren. Ein solcher Safe Space trägt in sich den Keim des Totalitären. An der Macht würden sie die Spielräume derjenigen, die ihrem Bilde nicht entsprechen, immer weiter einengen, bis letztlich nur noch Gefängniszelle und Straflager bleiben. Dies lässt sich im Iran und in Putins Russland, aber auch in manch anderen totalitären Ländern, besichtigen. Am Umgang des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats mit potenziell totalitär ausgerichteten Safe Spaces ließe sich messen, wie wehrhaft er tatsächlich ist.
Die iranischen Mullahs und ihre Freund:innen in Deutschland und anderen europäischen Staaten sind sich mit Rechtsextremist:innen und den Vertreter:innen der Neuer Rechten ganz einig: Sie wollen eine Welt nur nach ihrem Bilde. Sie zerstören zuerst die Politik, dann die Demokratie. Aber auch scheinbare Mischformen wie die von Viktor Orbán vertretene „Illiberale Demokratie“ setzen auf Exklusion. Die Zäune, die Viktor Orbán rund um Ungarn baut, sind nicht nur real, sondern auch Metapher seines Drangs zur quasi-totalitären, anti-liberalen und anti-demokratischen Exklusion. Die Exklusion von Menschen, die dem Bild des von Orbán vertretenen Ungarns nicht entsprechen, vollzieht sich allerdings eher im Verborgenen, sozusagen soft. In Ungarn wird niemand ins Straflager geschickt, aber sicher ist der öffentliche Raum für Minderheiten nicht. Im Grunde ist „Illiberale Demokratie“ ein Widerspruch in sich, denn der Kern der Demokratie ist eben nicht nur das Mehrheitsprinzip, untrennbar dazu gehört der Minderheitenschutz.
Zum Safe Space gehört die Selbst-Inszenierung als Opfer, beispielsweise nach dem Muster, man dürfe ja nichts Kritisches mehr gegen die Regierung sagen. Ideologen, die nichts lieber erreichen wollen, als Andersdenkende und Anderslebende, als Angehörige einer anderen „Kultur“ was auch immer das sein soll aus ihrem zukünftigen Reich auszuschließen, inszenieren sich als Opfer. Doch wie ist es mit denjenigen, die tatsächlich oft genug Opfer sind, „marginalisiert“ und diskriminiert werden. Zunächst schützt sie der selbst gewählte Safe Space, aber als Rückzugsort verringert er auch ihre Möglichkeiten, sich in der Gesellschaft zu zeigen.
Das Gegenbild ihrer Safe Spaces ist die No-Go-Area. Die „Marginalisierten“ spielen im Grunde das Spiel der Mächtigen. Der Reduzierung ihres Bewegungsspielraums auf immer kleinere Räume lässt sich jedoch nur entgegenwirken, wenn ein Safe Space nur als temporärer Ort der Selbstverständigung dient, nicht jedoch als permanenter Rückzugsort, zu dem nur Menschen der eigenen Gruppe Zugang erhalten. Es gibt hier einen grundlegenden Unterschied zu den Safe Spaces extremistischer Gruppen. Diese denken expansionistisch, kolonialistisch, imperialistisch und drangsalieren alle Menschen, die nicht zu ihrem Weltbild passen, auch mit Gewalt. Ihr Safe Space ist ihr Kommandozentrum. Minderheiten jedoch agieren nur in Ausnahmefällen gewalttätig, sondern versuchen sich schon vor der bloßen Präsenz als bedrohlich erlebter Gruppen der Außenwelt zu schützen. Sie definieren sich als „marginalisiert“, als Opfer und agieren – wenn sie agieren – durchweg defensiv. Dies eben ist auch der Kern der sogenannten „Identitätspolitik“.
Jeder dauerhafte Rückzug in „Identitätspolitik“ ist letztlich apolitisch, antipolitisch, potenziell totalitär, auch wenn sie die Mittel nicht hat, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Manche jedoch haben diese Mittel. Die von einem Politiker wie Ron De Santis in Florida betriebene Cancel Culture gegen liberale und die Diversität, die Vielfalt der Gesellschaft gerecht werdende Ideen und Bücher (das sogenannte „Don’t Say Gay-Gesetz“) ist die eine Seite, die Cancel Culture von links (beziehungsweise von sich scheinbar „links“ verortenden Vertreter:innen) die andere. Adrian Daub hat in seinem Buch „Cancel Culture Transfer – Wie eine moralische Panik die Welt erfasst“ (Berlin, edition suhrkamp, 2022) sehr deutlich nachgewiesen, dass die Hauptgefahr von rechts kommt.
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Adorno)
Meron Mendel hat mit seinem Team und den von ihm gewonnenen Autor:innen in den Bänden „Triggerwarnung“ (mit Saba-Nur Cheema und Eva Berendsen als Co-Herausgeberinnen, Berlin, Verbrecher Verlag) und „Frenemies“ (2022 im Verbrecher Verlag erschienen, gemeinsam mit Saba-Nur Cheema und Sina Arnold herausgegeben, wird jetzt neu aufgelegt) die Tücken und Risiken der „Identitätspolitik“ beschrieben. Diese lassen sich wiederum mit einem Satz von Jürgen Wiebicke erfassen: „Die Freiheit verdanken wir der Demokratie, ihr Ort ist das Politische, dort fällt die Entscheidung, auf welche Art wir leben wollen.“ Es geht um Grundsätzliches, mit einer bloßen „Ingenieursperspektive“ entpolitisieren wir Politik. In dieser ist „die Hybris der Naturbeherrschung von vornherein mit angelegt“, es ließe sich ergänzen, auch die Hybris der Politikbeherrschung. Eine Illusion.
In der Süddeutschen Zeitung verband Gerhart Baum dies im April 2023 bereits mit der Frage, ob sich Frieden ohne Waffen schaffen ließe. Er kritisierte die „Skepsis nicht weniger Deutscher, die Freiheit notfalls mit Waffen zu verteidigen. Unverständlich – sind wir doch selbst mit Waffen von der Nazibarbarei befreit worden.“ Es fuhr fort: „‚Frieden schaffen‘ – das reicht nicht. ‚Frieden und Freiheit schaffen‘ – das ist die Aufgabe.“ Wer dies nicht begreift und seine politische Fantasie auf die Verfügbarkeit von billigem Benzin reduziert, kommt einer anderen Strategie des Versuchs nahe, einen scheinbaren Safe Space zu schaffen, die eigentlich jede:r als untauglich begreifen müsste: es ist die Vogel-Strauß-Strategie, bei Gefahr den Kopf in den Sand zu stecken, und es ist ein Verständnis der Politik als Handwerksbetrieb oder Ingenieurbüro, letztlich un- wenn nicht gar apolitisch.
Es ist nun aber nicht so, dass es in Diktaturen keine Safe Spaces für Minderheiten gäbe. Natürlich gab und gibt es die Privatwohnungen in der DDR, im Iran und anderswo, in denen Parties stattfinden, auch mit Alkohol und ohne Kopftuch, in denen Zimmertheater gespielt wird, über Literatur diskutiert, die Diktatur kritisiert wird oder sogar darüber nachgedacht wird, wie sie gestürzt werden könnte. Wie das aussieht, zeigt beispielsweise der Film „The Salesman“ von Asghar Farhadi oder das Buch „Reading Lolita in Tehran“ von Azar Nafisi. Aber wie „safe“ ein solcher Safe Space tatsächlich ist, weiß man letztlich nicht. In der DDR war die Stasi oft dabei wie die erst nach ihrem Zusammenbruch beispielsweise angesichts der Biographien von Sascha Anderson und Manfred „Ibrahim“ Böhme sichtbar wurde. In diesen scheinbaren Safe Spaces regiert ein Klima der Denunziation. Es gibt eben nun einmal „kein richtiges Leben im falschen“.
Minderheiten können sich nur schützen, wenn sie sich nicht einigeln und in ihren Safe Space zurückziehen, sondern wenn sie sich untereinander, aber auch mit wohlgesinnten Vertreter:innen der Mehrheitsgesellschaft verbünden. Wenn sie sich in ihren Safe Spaces vereinzeln, werden sie leichte Beute derjenigen, die eigentlich nichts anders wollen als nur ihr eigenes Verständnis von einem Safe Space durchzusetzen, sodass letztlich der ganze Staat ein solcher Raum wird. Der Vorsitzende der AFD in Thüringen sagt es sehr deutlich, wenn er „Remigration“ fordert, darauf verweist, dass es dabei auch „zu unschönen Szenen“ kommen werde und man sich von denjenigen „trennen“ müsse, die eine andere Auffassung von der Zukunft Deutschlands hätten als er und seine Parteifreund:innen. Die sogenannte „Erinnerungswende um 180°“ indiziert letztlich eine wohlwollende Neubewertung auch des Nationalsozialismus, durchaus vergleichbar der wohlwollenden Neubewertung Stalins durch Putin. In dem von der AfD bewunderten Russland, in dessen Eurasisches Projekt die Partei Deutschland eingliedern will, lässt sich das Ergebnis besichtigen. Es entsteht – wie es mir Karlheinz Steinmüller in einem unserer Gespräche sagte – „ein kollektiver Putin“.
Viktor Orbán ist es durch Manipulationen des Wahlrechts gelungen, die Opposition zur ständigen Minderheit zu machen. Die polnischen Wahlen waren ein Hoffnungszeichen, die Wahlen in den Niederlanden sind wiederum ein Warnzeichen. 23,5 Prozent für die Partei des Geert Wilders sind nicht sehr viel, aber gefährlich sind sie allemal, denn es wird immer schwerer, gegen ein Viertel der Wähler:innenschaft zu regieren. Die österreichischen Wahlen stehen vor der Tür, die Europawahlen, drei Landtagswahlen. Aber warum nehmen wir das alles hin und ergehen uns in gegenseitigen Beschuldigungen, der andere habe den Aufstieg der Rechtsextremist:innen zu verantworten, die Putinisierung der Außen- und Sicherheitspolitik, die genozidalen Fantasien und Taten von Hisbollah und Hamas?
Die größte Gefahr ist unsere „Gleichgültigkeit“. Gerhart R Baum hat es mehrfach deutlich gesagt. Bei Sandra Maischberger sagte er am 22. November 2023: „Wenn die Gleichgültigen das Grundgesetz nicht verteidigen, dann wird es ganz schlimm.“ In der Tat: wenn „die Gleichgültigen“ sich in Sicherheit wiegen, ist es bald mit dieser Sicherheit vorbei. So sieht es auch Michel Friedman in seinem Buch „Schlaraffenland abgebrannt“ (Berlin Verlag 2023): „Wahrscheinlich ist nicht Mut das Gegenteil von Angst, sondern Gleichgültigkeit. Wer gleichgültig ist, Menschen oder Inhalten gegenüber, streitet nicht. Der lebt nach dem Ich-habe-damit-nichts-zu-tun-Prinzip, dem Ich-mische-mich-nicht-ein-Prinzip, dem Ich-Prinzip.“
Menschen, die sich nicht in der Öffentlichkeit politisch streiten wollen, bleiben Objekt, sie werden niemals Subjekt der Politik oder überlassen die Subjekt-Rolle anderen, die nicht mutiger, aber gewalttätiger vorgehen. In diesem Dilemma befinden sich heute viele Jüdinnen:Juden. Weiterer Rückzug in einen Safe Space, gesichert von der Polizei? So nachvollziehbar und notwendig dies ist, ist dies nur die eine Seite der Medaille. Josef Joffe formulierte den Gedanken in seinem Editorial der Jüdischen Allgemeinen vom 23. November 2023: „Fürsorglich die Stimmen der Angst zu sammeln, ist wie ein Trostpflaster, das wie ein echtes nicht lange hält, und wer Schutz braucht, ist Objekt, nicht Subjekt.“ Josef Joffe spricht in diesem Text über Juden. Seine Schlussfolgerung: „Juden sollten sich nicht als Schutzbefohlene fühlen, sondern als Gleiche unter Gleichen.“ Doch dies gilt im Grunde für alle Minderheiten.
Was wir brauchen, ist das Bündnis der Minderheiten untereinander und das Bündnis von Minderheiten und all den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die ihre Anliegen teilen und bereit sind, diese offensiv zu vertreten. Bündnisse sind keine Safe Spaces, aber sie können dafür sorgen, dass kein Safe Space mehr in eine No-Go-Area mutiert. Jürgen Wiebickes Appell: „Wir müssen es aushalten, dass andere ganz anders denken, anders leben, anders auf die Welt blicken als man selbst. Ich habe keinen Anspruch darauf, davon verschont zu werden, dass andere Überzeugungen und Lebensstile, die mir möglicherweise nicht passen, mit dem gleichen Recht vertreten werden und sogar Respekt verdienen in einer Gesellschaft der Verschiedenen. Das Ziel kann nicht sein, dass eines Tages alle gleich ticken werden.“ Schutz vor Gewalt sollte eine Selbstverständlichkeit sein, aber im politischen Streit gibt es kein Recht auf Safe Spaces und als politisches Programm taugen sie ohnehin nichts.
Anders gesagt: Das, was wir dringend brauchen, ist eine Repolitisierung der Politik! Und das heißt: Streit! Zum Abschluss noch einmal Michel Friedman: „Wir müssen streiten. Streiten ist Lust, ein Vergnügen. Herausforderung. Eine Chance zum Lernen, zum Dazulernen. Streiten ist eine Technik, nicht ein Inhalt. Streit ist ein Regelwerk, das dazu befähigt, Inhalte in ihrer Pluralität, in ihrer Widersprüchlichkeit, Argumente in ihrer Logik, in ihrer Stringenz in einem freien Raum zu verhandeln und sich dabei einig zu sein, dass in diesem Streit bereits die nächsten Streitigkeiten stecken. Streit ist unendlich, unerschöpflich, manchmal erschöpfend.“ Aber im Bündnis dürfte die Erschöpfung vergehen.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 26. November 2023.)