Der optimistische Skeptiker

Ein Gespräch mit Karlheinz Steinmüller über Zukunftsforschung

„Wir wollen nichts abschaffen. Wir wollen lediglich, dass alle Bürger erfahren, wie es um ihre Stadt steht. Wir wollen, dass die Last der Entscheidung auf viele Schultern verteilt wird. Wir wollen, dass alle mitdenken und mithelfen – aus Einsicht, nicht von Träumen gelenkt.“ (Angela und Karlheinz Steinmüller, Der Traummeister – Ein Spera-Roman)

Die Handlung des Romans „Der Traummeister“ spielt auf dem Planeten Spera. Geschrieben wurde der Roman in den letzten Tagen der DDR, veröffentlicht erstmals 1990. Ein wenig erinnert der Roman an einen anderen Traum-Roman, „Die andere Seite“ von Alfred Kubin, der etwa 80 Jahre früher geschrieben wurde. Träume sind gefährlich, andererseits spiegeln sie Wünsche. Aber was geschieht mit Menschen, die nicht träumen können, nicht träumen dürfen? In einem Turm der Stadt Miscara residiert ein Mensch, der stellvertretend für alle Bürger*innen träumt, die diese Träume körperlich erleben. Der Traummeister wird gleichzeitig ersehnt und angefeindet. Er gehört im Grunde nicht zu der Gesellschaft, die er beträumt, und ist dennoch eine Art Repräsentant. Der Roman darf durchaus als Parabel auf eine Diktatur gelesen werden, die die DDR nun einmal war. Auf jeden Fall zeigt der Roman, wie nah sich wissenschaftliche Debatten und Science-Fiction sein können, in Mathematik und Naturwissenschaften, in Gesellschaftswissenschaften und Philosophie.

Karlheinz Steinmüller, Foto: privat

Angela und Karlheinz Steinmüller zählen zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der DDR. Angela (*1941) ist Diplom-Mathematikerin, Karlheinz (*1950) Diplomphysiker und promovierter Philosoph, seit den 1990er Jahren auch als Zukunftsforscher aktiv, er arbeitete ab 1990 etwa ein Jahrzehnt an dem zuvor von Christoph Zöpel (*1943) in seiner Zeit als nordrheinwestfälischer Minister für Stadtentwicklung (1980-1990) eingerichteten Sekretariat für Zukunftsforschung in Gelsenkirchen (heute in Berlin). Die Steinmüllers erhielten viermal den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste deutschsprachige Erzählung, einmal Angela allein für die Erzählung „Der Kerzenmacher“, zweimal beide zusammen und einmal zu dritt mit Erik Simon. Gemeinsam betreiben sie eine Internetseite zur Zukunftsforschung. Ihr berühmtester Roman heißt „Andymon“. Nach ihm hat sich ein Club von Science-Fiction-Interessierten im Berliner Osten benannt. Ihre Bücher sind im Memoranda-Verlag erhältlich. In der Maiausgabe 2023 des Demokratischen Salons hat Karlheinz Steinmüller eine „sehr kurze Geschichte der ostdeutschen Science-Fiction“ veröffentlicht (dort gibt es auch eine Liste der Veröffentlichungen von Angela und Karlheinz Steinmüller). Zur Zukunftsforschung veröffentlichte er im Frühjahr 2023 in der US-amerikanischen Zeitschrift „The Sociologist“ den Essay „The Rise and Decline of Prognostics“, in dem er sich mit der Geschichte der Prognostik, d.h. der Zukunftsstudien in der DDR in den 1960er Jahren auseinandersetzte, ein Thema, das auch in diesem Gespräch eine Rolle spielt. Er ist Co-Herausgeber des 2022 bei VS Springer erschienenen Bandes „Gefühlte Zukunft“.

Zeit und Zukunft

Norbert Reichel: Sie sind Science-Fiction-Autor und Sie sind Zukunftsforscher.

Karlheinz Steinmüller: Das hat einen großen Vorteil und einen kleinen Nachteil. Der Nachteil liegt darin, dass man in den Rollen verwechselt werden kann. Manches klingt dann für einige nach Science-Fiction, ist aber Zukunftsforschung, und umgekehrt. Wenn man diese beiden Funktionen hat, ist man gezwungen zu unterscheiden. Ich muss einen scharfen Blick dafür entwickeln, was überbordende Fantasie ist und was plausible Annahme für die Zukunft sein könnte. Beispielsweise bei Zeitskalen oder bei Diskussionen um Künstliche Intelligenz. Als Zukunftsforscher fühle ich mich bei solchen Themen getrieben, eher skeptische Positionen zu vertreten.

Norbert Reichel: Warum skeptisch?

Karlheinz Steinmüller: Wenn ich Aussagen von berühmten Zukunftsforscher-Kollegen lese oder höre, versuche ich zu hinterfragen, wie plausibel und wie realistisch diese Aussagen sind. Ich übernehme keinesfalls alles, was mir aus der amerikanischen Zukunftsszene angeboten wird. Dort finden sich immer wieder übertriebene Visionen aus dem Bereich des Transhumanismus oder zu künftigen Anwendungen der Quantentechnologie. Mir kommt zugute, dass ich vor langer, langer Zeit theoretische Physik studiert und mich auch mit Philosophie befasst habe. Beides trägt dazu bei, dass ich als Zukunftsforscher, die Dinge immer aus mehreren Perspektiven betrachte.

Norbert Reichel: Das Verständnis von Zeit ist meines Erachtens ein entscheidender Faktor für das Verständnis von Zukunft.

Karlheinz Steinmüller: Darüber, was Zeit sei und ob sich unser Verständnis von Zeit ändere, werden spannende Diskussionen geführt, etwa zum Problemkreis von Beschleunigung oder Verlangsamung von gesellschaftlichen Prozessen. Für mich als Zukunftsforscher sind Zeitskalen wichtig, denn sie erfassen, wie dynamisch sich ein Trend entwickelt oder welche Pläne bis wann durchgesetzt werden könnten. Das ist die praktische Seite. Die theoretische Seite: seit Augustinus wissen wir eigentlich nicht mehr was Zeit ist. Wir versuchen uns Bilder zu machen, meist räumliche Bilder: die Zukunft kommt auf uns zu oder wir gehen auf die Zukunft zu. Diese räumlichen Metaphern erschweren es uns oft, zeitliche Entwicklungen im Plural zu denken. Wir reden in der deutschen wie in der internationalen Zukunftsforschung generell von Zukünften, aufbauend auf der Überzeugung, dass Zukunft offen ist, noch nicht beschrieben, noch nicht geschehen.

Entwicklungen können in unterschiedliche Richtungen laufen, aber nicht in beliebig unterschiedliche Richtungen, auch nicht beliebig schnell. Und stets öffnen sich komplex strukturierte Möglichkeitsräume. Viel zu wenig werden grundlegende philosophische Konzepte wie Latenz, Potenzialität, Akzidenz in der Zukunftsforschung genutzt. Diese feinen Unterscheidungen braucht man in der Zukunftsforschung vielleicht nicht immer. Aber es ist ein wunderbares philosophisches Feld, über Zeit und Zukunft nachzudenken. Und hier existiert Nachholbedarf. In philosophischen Lexika wird man beispielsweise zum Begriff „Zukunft“ kaum fündig.

Norbert Reichel: Ein interessanter Begriff, der zeigt, wie Raum und Zeit in der Sprache vermischt oder gar verwechselt werden, ist das „Lichtjahr“. Das hat vielleicht auch etwas mit unserem Vorstellungsvermögen zu tun, das uns immer wieder Streiche spielt.

Karlheinz Steinmüller: Für mich ist „Lichtjahr“ ein rein räumlicher Begriff, vergleichbar dem Kilometer. Dass man die Raummessung durch Geschwindigkeit, hier die Geschwindigkeit des Lichts, und nicht durch Anlegen eines Maßstabs, etwa eines Zollstabs vornimmt, verknüpft Raum und Zeit. Aber unser Vorstellungsvermögen ist ohnehin begrenzt. Schon große Zahlen wie Millionen oder Milliarden können wir uns kaum vorstellen. Und wenn heute die kleinste Recheneinheit der „Doppel-Wumms“ wird, verliert sich das Vorstellungsvermögen schon ganz. Da wird Lautstärke zur Maßeinheit.

Wald bei Königswinter-Heisterbacherrott (Siebengebirge). Aus der Serie „Komorebi – das Licht, das durch die Bäume fällt“ von Hans Peter Schaefer.

Die Zukunftsforschung kann im Grunde nur relativ nahe Zukünfte untersuchen. Unser zeitlicher Horizont beträgt in der Regel 20, bisweilen 30, selten 50 und nur als extreme Ausnahme einmal 100 Jahre. Ich hatte ein einziges Mal in meinen drei Jahrzehnten Tätigkeit als Zukunftsforscher ein Projekt, in dem ein zeitlicher Horizont von 100 Jahren gesetzt war. Das Projekt hieß „Waldvisionen“. Es ging um die Frage, wie sich der Wald in Deutschland bis etwa zum Jahr 2100 entwickeln könnte. Der Zeitraum orientierte sich am Wachstum von Bäumen. In der Gesellschaft laufen die meisten Prozesse viel rascher ab.

Fast jedes Projekt startet mit der Frage nach dem Zeithorizont. Wie weit müssen und können wir bei der vorgegebenen Aufgabenstellung in die Zukunft vorgreifen? Wir operieren ja im strategischen langfristigen Bereich, der in der Regel bei etwa 20 bis 30 Jahren liegt.

Norbert Reichel: Wald ist ein schönes Beispiel, man könnte auch andere Parameter der Natur beziehungsweise der Interaktion zwischen Menschen und Natur nehmen: Boden, Berge, Flüsse und Seen, Luft, Eis und Gletscher. Wir lesen und hören zurzeit oft, wie sich diese Parameter bis etwa 2100 verändern, Temperaturanstieg, Abschmelzen der Polkappen, Ansteigen des Meeresspiegels, Häufung von Extremwetterereignissen. Es gibt unzählig viele Faktoren – so scheint es –, die darauf einwirken, dass sich etwas so oder so entwickelt, viele Faktoren, die man vielleicht zu Beginn einer solchen Projektion gar nicht kennt.

Karlheinz Steinmüller: Zu Beginn eines Projekts versuchen wir zu bestimmen, welche Faktoren zu berücksichtigen sind und wie die zeitlichen Dynamiken beschaffen sind: Mit welchen zeitlichen Horizonten können wir bei den unterschiedlichen Faktoren rechnen? Immer dabei ist die Demographie. Diese betrachte ich meist als einen relativ „harmlosen“, also gut bestimmbaren Faktor, weil demographische Prozesse einigermaßen langsam ablaufen. Hier können wir uns auf die Hochrechnungen einschlägiger Institute stützen, die Voraussagen mit geringen Margen an Unsicherheit über 20 bis 30 Jahre machen. Für die meisten Projekte, wenn auch nicht für alle, sind dann beispielsweise für ein Land wie Deutschland Abweichungen etwa in der Höhe von plus oder minus einer Million Einwohner nicht ausschlaggebend.

Norbert Reichel: Politisch bewirkt die Zahl eine Million mitunter schon Panik, wie wir zuletzt beim Thema „Flüchtlinge“ erlebten. Aber auf eine Gesamtschau sowie auf die lange Sicht hin bezogen haben Sie natürlich recht. Eine Million „Geflüchtete“ im Libanon sind auch eine andere Zahl als eine Million in Deutschland, wo fast zwölfmal so viel Menschen leben. Es ist eben auch der Kontext, der zählt.

Karlheinz Steinmüller: Ein anderer Faktor: Innovationsprozesse mit neuen Technologien können rasend schnell ganze Branchen umwälzen. Da ist ein Zeithorizont von etwa zehn Jahren schon sehr weit gesetzt. Wir müssen daher bei Projekten stets große Aufmerksamkeit darauf richten, wie wir die zeitlichen Hierarchien einordnen. Sehr langsam ablaufende Prozesse können wir als relativ konstanten Hintergrund nehmen und uns auf schnell ablaufende Prozesse mit ihren Unwägbarkeiten und Unsicherheiten konzentrieren.

Wir gehen also auf eine sehr differenzierte Weise mit dem Faktor Zeit um. Bei jedem Faktor analysieren wir, ob er beeinflussbar ist und wenn ja von wem? Und kann er von den Akteuren, die im Mittelpunkt einer Studie stehen, beeinflusst werden? Nehmen wir als Beispiel die möglichen Zukünfte der Energieversorgung: Von den privaten und gewerblichen Energieverbrauchern über die Betreiber der Infrastrukturen, die Energieerzeuger und die Entscheidungsträger in der Politik haben wir hier ein weit gefächertes, hoch differenziertes Feld von Akteuren mit sehr unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten. Fast in jeder Studie müssen wir neben Trends und Faktoren auch eine Akteursanalyse anfertigen.

Jedwedes Projekt der Zukunftsforschung ist eine komplexe Aufgabe. Manchmal höre ich, unser Thema – gemeint ist das gerade neu aufgegriffene Thema der Studie – sei doch das allerkomplexeste, das es überhaupt geben kann. Ich antworte, dass dies auf jedes Projekt, jedes Thema zutrifft, wenn man sich nur in hinreichender analytischer Tiefe damit befasst. Auf eine Formel gebracht: Die Komplexität liegt im Auge des Betrachters. Und wir müssen sehr genau schauen.

Skepsis zweiter Ordnung

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass das Thema Klima in seiner Komplexität ein schönes Beispiel bietet, wie sich Zukunftsforschung und Science-Fiction in der politischen Debatte vermischen. Bernd Ulrich hat in der ZEIT in einem seiner wunderbaren Artikel die E-Fuels „Zauberbenzin“ genannt. Und jedes Mal, wenn irgendwo gemeldet wird, dass die Kernfusion einen kleinen Schritt vorangekommen wäre, gibt es schon politische Erklärungen, dass doch jetzt die Frage der Energieversorgung gelöst wäre, Einsparungen, Umrüstungen – all das, was so kontrovers diskutiert wird, wäre überhaupt nicht mehr erforderlich. Wie geht man in der Zukunftsforschung mit solchen irrealen Erwartungen um?

Das CERN in Genf. Quelle: pixabay

Karlheinz Steinmüller: Kernfusion ist wirklich ein hervorragendes Beispiel. Hier schaltet sich sofort meine Skepsis ein: Was für eine phantastische Vision, dass der Durchbruch in der Kernfusion in ein paar Jahren gelänge und die gesamte Energiewirtschaft der Erde umgewälzt würde! Energie fast zum Nulltarif und im Überfluss ergibt eine schöne Science-Fiction-Story. Dann könnte man über die Konsequenzen nachdenken, auch die negativen. Aber der realistische Blick in die Vergangenheit zeigt, wie langsam diese Forschung vorangegangen ist. Schon 1960 hat man den Durchbruch der Kernfusion für etwa das Jahr 1990 vorhergesagt. Ähnlich in den Jahren 1980, 1990, 2000. Stets erwartete man den entscheidenden Schritt in etwa drei Jahrzehnten – also gerade so weit in der Zukunft, dass einerseits keiner einen kurzfristigen Erfolg versprechen muss und andererseits trotzdem Grundlagenforschung sinnvoll ist. Aus dieser Erfahrung wäre es eine sichere Prognose, auch heute zu erklären, in 30 Jahren, im Jahr 2050 haben wir den Durchbruch.

Doch genau an diesem Punkt beschleicht mich eine Skepsis zweiter Ordnung, die Skepsis gegenüber der Skepsis. Auf den zweiten Blick bin ich skeptisch gegenüber der relativen Konstanz solcher Vorhersagen. Es ist ja nicht völlig ausgeschlossen, dass sich gerade jetzt Prozesse beschleunigen und einiges dann doch geschehen könnte, von dem wir bisher dachten, es werde auf Sankt Nimmerlein – also die 30 Jahre – verschoben.

Norbert Reichel: Das klingt ein bisschen danach, die Menschheit habe es irgendwie doch immer geschafft.

Karlheinz Steinmüller: Davon gehe ich als grundsätzlicher Optimist aus, aber die Frage ist, auf welchem Niveau und zu welchen Kosten? Für mich ist es haarsträubend, wenn ich höre, dass wir – also die Menschheit – keine Zukunft mehr hätten, dass wir die buchstäblich letzte Generation seien. Das ist Sektiererei, gute alte Apokalyptik. Ich kenne diese Weltuntergangstimmung aus den 1970er und 1980er Jahren, als es „No Future“ hieß und auch schon gewaltige Umweltprobleme zu bewältigen waren. Immer wieder verfällt man auf bestimmte Bilder: wir stehen am Rande des Abgrundes, wir rasen auf die Klippe zu. Diese Metaphern begleiten uns seit langer Zeit. Heute kommt das Pyrozän hinzu, dass die Erde verbrennt, wie es bei „Fridays for Future“ schon auf Plakaten zu sehen war. Es hilft der Blick in die Geschichte um zu erkennen, dass die apokalyptische Metaphorik sich durch die Jahrhunderte zieht.

Auch hier kann ich eine Skepsis zweiter Ordnung aufsetzen. Gut, die Apokalyptiker waren historisch immer eine Randgruppe, doch die Skepsis zweiter Ordnung fragt: vielleicht leben wir doch in einer exzeptionellen Situation, in einer Situation, in der sich die Probleme noch einmal verschärfen? Das sollte uns davor warnen, die Furcht-Metaphern von vornherein als bloße Apokalyptik abzuwerten. So wie ja auch hinter den apokalyptischen Bildern des nuklearen Holocausts eine reale apokalyptische Möglichkeit steht – die nur etwas aus der Mode gekommen ist.

Politik spricht in Metaphern – und das in 1:30

Norbert Reichel: Wir wollen ja auch keinen Beifall von der falschen Seite, wenn wir die Sprache diverser klimaaktivistischer Gruppen kritisch analysieren: „Letzte Generation“, „Extinction Rebellion“, „Ende Gelände“. Ich denke bei solchen Metaphern immer an die politische Wirkung. Die einen sagen: alles nicht so schlimm. Andere: alles ist so schlimm, dass wir gar nichts mehr machen können. Die politische Rhetorik ist dem nicht unbedingt angemessen. Sie zitierten eben den „Doppel-Wumms“, derselbe Politiker sprach in seiner Zeit als Finanzminister von einer „Bazooka“, hat offenbar eine Neigung, Bedeutung mit Lautstärkemetaphern zu belegen. Es wird so getan, als gäbe es ein Riesen-Ergebnis und alle Probleme wären gelöst. Ich sehe in dieser Begrifflichkeit eher Hilflosigkeit, auf beiden Seiten.

Karlheinz Steinmüller: Die intellektuellen Kapazitäten des Führungspersonals setze ich immer als gegeben voraus. Aber man kann sich augenscheinlich aus den realen Sachzwängen nur sehr schlecht lösen und wenn, dann nur unter hohen politischen Kosten, auch Kosten für die eigene Karriere und die eigene Partei. Für mich ergibt sich daraus die Frage, welche Themen ich in der Politik wie kommunizieren kann. Ich ärgere mich regelmäßig, wenn ein komplexes Thema unterkomplex dargestellt wird. Das ist aber der Normalfall. Wenn mich Journalisten interviewen, wünschen sie in der Regel extrem verknappte Antworten: Herr Steinmüller, sagen Sie uns bitte alles über die Zukunft der Arbeit, aber in 1:30. Und wenn dann eine Politikerin, ein Politiker ein Statement gibt und weiß, dass davon vielleicht gerade einmal eine halbe Seite oder gar nur ein Satz Pressetext erscheint, dann muss eben verkürzt werden. Dann kann man vielleicht noch auf die Begrenztheit des eigenen Wissens verweisen, aber schon das kann wieder kontraproduktiv sein.

Norbert Reichel: Ein gutes Beispiel ist der Wandel in Bundestagsreden. Ich habe mir Bundestagsreden aus den 1960er und 1970er Jahren angeschaut, von Walter Scheel, von Franz Josef Strauß. Die redeten eine ganze Stunde und mehr. Von Franz Josef Strauß erinnert man sich heute an seine zugespitzte Wortwahl, aber wenn er im Bundestag zu Wirtschaftsfragen sprach, dann waren das 90minütige ökonomische Vorlesungen. Heute regiert im Bundestag der Fünfminuten-Rhythmus.

Karlheinz Steinmüller: In fünf Minuten kann man aus einem komplexen Wirkungsgefüge allenfalls eine einzige Linie herauspicken. Man kann beispielsweise behaupten, dass die Einführung von ChatGTP in Deutschland ungefähr eine Million Arbeitsplätze vernichten wird. Für mehr reicht die Zeit nicht. Wenn man damit beginnen würde aufzulisten, welche Tätigkeitsfelder sich entwickeln könnten oder welches Innovationspotenzial in den großen Sprachmodellen steckt, sodass wiederum andere Arbeitsplätze entstehen, würde man rasch unterbrochen. Dergleichen Zusammenhänge kann man in einer Studie niederschreiben, aber man kann sie nicht auf einem öffentlichen Forum, im Bundestag, in den Landtagen, in Talk-Shows vermitteln; allenfalls in Ausschüssen gelingt dies – diese spielen daher eine eminent wichtige Rolle in der politischen Meinungsbildung. Vielleicht sind als Kontrapunkt die Talk-Shows das beste schlechte Beispiel, weil da nur Positionen gegenübergestellt werden und mehr als ein einfacher Schlagabtausch nicht möglich ist.

Norbert Reichel: Es gab ja mal den Begriff des Confrontainement für dieses Format. Manchmal habe ich im Bundestag einen ähnlichen Eindruck. Die Besetzung in Talk-Shows vergleiche ich gerne mit den früheren britischen Boy- und Girl-Groups. In der Regel fünf Leute, alle mit einer unterschiedlichen Funktion, und eine*r ist immer Underdog oder Bösewicht.

Karlheinz Steinmüller: Hier wirkt sich unter anderem das Bestreben aus, das gesamte Meinungsspektrum abzudecken, auch Meinungen, die gerade einmal von einem Prozent der Bevölkerung geteilt oder von der Wissenschaft abgelehnt werden. Mit solcher Ausgeglichenheit erzeugt man einen schiefen Eindruck. Klima-Skeptiker sind dabei – und schon haben die Zuschauer den Eindruck, dass die Wissenschaft sich doch nicht so einig sei, was es mit der Klimakrise auf sich hat.

Ich neige als Zukunftsforscher und als Science-Fiction-Autor allerdings auch hier wieder zur sekundären Skepsis. Wenn 95 Prozent der Leute einer Meinung sind, ist diese höchstwahrscheinlich falsch. Das ist meine Intuition. Sie gilt allerdings nicht für wissenschaftlich etablierte Fakten.

Gelegentlich halte ich Vorträge über strategische Vorausschau. Will Vorausschau relevant sein, müssen die Ergebnisse adäquat kommuniziert werden. In der strategischen Kommunikation fragen wir danach, welcher Adressat erreicht werden soll und mit welchen Mitteln er erreicht werden kann. Ich schließe häufig mit einer Warnung: Alles, was falsch verstanden werden kann, wird falsch verstanden. Und der Rest auch. Ich versuche, meine Zuhörenden darauf einzustimmen, dass bei strategischer Kommunikation unabsichtliche und absichtliche Missverständnisse der Normalfall sind. Unliebsame Überraschungen gibt es immer.

Norbert Reichel: Im Grunde die auf Kommunikation bezogene Variante von Murphys Gesetz: wenn es eine Möglichkeit gibt, eine Sache zur Katastrophe zu bringen, wird es jemand geben, der dies tut. Englische Originalfassung: „If there’s more than one possible outcome of a job or task, and one of those outcomes will result in disaster or an undesirable consequence, then somebody will do it that way.” (zitiert nach dem Wikipedia-Eintrag). Was übrigens nicht heißt, dass die Katastrophe auch eintreten muss. Es gibt aber eben eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Wir könnten die Katastrophe verhindern. Könnten.

Karlheinz Steinmüller: Dasselbe gilt für Zukunftsforschung. Wenn wir für Unternehmen arbeiten, ist klar, dass der Auftraggeber sich die Hoheit über die Ergebnisse vorbehält. Wenn die Ergebnisse für die interne Kommunikation gedacht sind, bleiben sie auch in der Regel dort. Bei Studien im öffentlichen Auftrag geschieht es häufig, dass  etwas vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin oder überhaupt ohne Freigabe durchgestochen wird. Wenn wir für öffentliche Auftraggeber arbeiten, wissen wir das und überlegen uns, wie wir die Ergebnisse präsentieren und kommunizieren. Ich habe da so meine eigenen Erfahrungen gemacht. Bei der schon genannten Studie zum Wald wurde ich von einer Fernsehjournalistin gefragt, was bis zum Jahr 2010 geschehen würde. Ich habe unsere vier Szenarien erläutert, die in unterschiedlichen Waldzuständen enden. Ich habe versucht, es sehr differenziert darzulegen. Zum Schluss hat sie gefragt, was das Schlimmste wäre, was mit dem Wald passieren könnte. Ich habe etwas flapsig geantwortet: Na, dass er nicht mehr da ist. Selbstverständlich kam dann in der Sendung nur dieser eine Satz.

Archetypen und Szenarien

Norbert Reichel: Die Lust an der Zuspitzung, die Journalist*innen gefällt.

Karlheinz Steinmüller: Und die manchmal auch Politiker umtreibt, die durch kleine oder größere Provokationen Profil gewinnen.

Zukunftsvision Künstliche Intelligenz. Quelle: Pixabay

Norbert Reichel: So wie Markus Söder mit seiner Zukunftsvision, statt Schweinsbraten gäbe es demnächst nur noch Insektenburger. (Nur am Rande: ich habe zu Hause ein Kochbuch mit Rezepten mit Insekten, Skorpionen und anderen kleinen Tieren, die wir in Deutschland eigentlich eher nicht essen.) Unser Thema ist die Zuspitzung, eine davon: die gute Vergangenheit – die böse Zukunft. Und ich sorge als guter Politiker dafür, dass die böse Zukunft nicht eintritt. Alternative: die Rede von der bösen Zukunft ist Panikmache. Dazwischen gibt es oft nichts.

Karlheinz Steinmüller: Eine andere Argumentationslinie lautet: in der Vergangenheit haben wir die Probleme lösen können. Also können wir sie in Zukunft auch lösen. Versetzen wir uns beispielsweise in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als man die nostalgische Rückschau auf die Postkutschen pflegte und sich angesichts der lauten und rauchenden Eisenbahnen ins Biedermeier zurücksehnte. Bestimmte Haltungen und damit verbunden bestimmte Zukunftssichten scheinen ganz tief verankert zu sein. In manchen Fällen kann man sie sogar produktiv einsetzen.

Der amerikanische Kollege Jim Dator von der Universität Hawaii hat festgestellt, dass in der Mehrheit der Zukunftsstudien bestimmte archetypische Szenarien vorherrschen. Der erste Archetypus: Business as usual, alles bleibt wie es ist. Der zweite Archetypus: die Katastrophe, der Zusammenbruch, die Dauerkrise. Der dritte: die Einschränkung, die Disziplinierung, Sammlung der Kräfte, um die Dinge zu beherrschen. Der vierte Archetypus ist die große Transformation: Durch einen radikalen Wandel wird eine gute Zukunft ermöglicht. Es ist erstaunlich, wie oft diese einfachen und übersichtlichen Archetypen wiederzufinden sind. Zu Beginn der COVID-Pandemie habe ich Szenario-Studien für die Zeit nach der Pandemie, also die langfristigen Auswirkungen analysiert – mit dem Ergebnis, dass sich die Szenarien von rund 90 Prozent der Studien in diese vier Archetypen von Jim Dator einordnen ließen.

Offensichtlich existieren in unserem Hinterkopf ziemlich tief eingeschriebene Vorstellungen, wie Wege in die Zukunft beschaffen sein könnten. Von diesen klischeehaften Vorstellungen müssen wir uns in der Zukunftsforschung lösen und differenzierte Bilder der Zukunft entwickeln. Unabhängig von der großen Transformation, in der der Mensch sich – wie es bisweilen heißt – zu einem „wahren Mensch-Sein“ durchfindet, gibt es Möglichkeiten, punktuell oder auch in größeren Bereichen verbessernd auf die Verhältnisse einzuwirken. Es geht im Grunde um gangbare positive Wege in die Zukunft und nicht um die allerbeste Zukunftsvision, die utopisch bleiben muss. Genauso unrealistisch ist die Vorstellung des Hyper-Worst-Case, dass ein Abwärtsstrudel alles verschlingt.

Zauberworte und Kampfbegriffe

Norbert Reichel: Ein Zauberwort, das ich zurzeit immer wieder in politischen Verlautbarungen oder auch in Parteiprogrammen finde, lautet „evidenzbasiert“.

Karlheinz Steinmüller: Das haben die Politiker vermutlich aus der Medizin übernommen. In der Zukunftsforschung hat sich dieser Begriff noch nicht durchgesetzt. Meine Kollegen sprechen eher von „plausibel“. Aber was heißt das eigentlich? Wenn es sich vom lateinischen „plaudere“ ableitet, heißt das vielleicht, es gefällt allen, alle nicken, es könnte schon stimmen. Das wäre zu wenig. „Plausibel“ bedeutet: intern widerspruchsfrei, die Aussagen über Künftiges sollten nicht mit logischen Widersprüchen behaftet sein und ebenfalls nicht im Widerspruch zu klar erkennbaren Rahmenbedingungen stehen. Insofern trifft sich „plausibel“ ein wenig mit „Evidenz“. Aber wenn man „evidenzbasiert“ als Kampfbegriff verwendet, bedeutet dies, dass man einige wenige Fakten hervorhebt und diese dann absolut setzt. Wie in der Medizin, wo es dann heißt, man verlasse sich auf die objektiv überprüfbaren Fakten des Körpers und die psychologischen Bedingungen werden ignoriert. Guten evidenzbasiert arbeitenden Medizinern unterläuft diese Begriffsverengung freilich nicht. Sie haben ein Verständnis vom Menschen als ganzheitlichem Wesen. Aber das ist eine andere Debatte. Auch in der Medizin gibt es unterschiedliche Richtungen.

Norbert Reichel: Da gibt es auch merkwürdige Begriffe wie „alternative Medizin“ oder den leicht diffamierenden Begriff der „Schulmedizin“, die dann viele mit ihren eigenen schlechten Erfahrungen aus ihrer Schulzeit identifizieren.

Karlheinz Steinmüller: Das Gegenstück zur „Schulmedizin“ wäre dann „ungeschulte Medizin“? –  Neuerdings sprechen wir vom Konzept der „Planetary Health“, was meint, dass man unter Gesundheitsgesichtspunkten nicht nur das soziale, sondern auch das ökologische Umfeld betrachtet. Das geht über die WHO-Definition von „Gesundheit“ hinaus.

Norbert Reichel: Auf der Seite der Deutschen Bundesstiftung Umwelt lesen wir zu diesem Thema: „Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“.

Karlheinz Steinmüller: Ein gesunder Mensch ist eigentlich nur in einer gesunden Umwelt möglich. Und eine gesunde Umwelt ist nur möglich, wenn sie von gesunden Menschen gestaltet wird, Menschen, die von ihrer psychischen Verfasstheit her die Natur pfleglicher behandeln. Es geht um die Einheit.

Norbert Reichel: Ein Begriff, der mir viel besser gefällt als „evidenzbasiert“ und „plausibel“, ist „fehlerfreundlich“. Klingt natürlich ein wenig nach dem Falsifikationsprinzip von Karl Popper, wurde vielleicht auch von ihm inspiriert. Das erste Mal habe ich den Begriff bei Christine und Ernst-Ulrich von Weizsäcker gelesen oder gehört, etwa vor 35 Jahren in einem Vortrag zur Gentechnologie, die man nicht verbieten solle und könne, mit der man aber so umgehen könne, dass Fehler rechtzeitig erkannt und rückholbar würden. Das ließe sich auch auf Künstliche Intelligenz und manch andere technologische Innovationen anwenden. Es muss ja nicht so ausgehen wie die Forschungen des Manhattan Project, womit wir wieder bei Murphys Gesetz wären.

Karlheinz Steinmüller: Leider ist Rückholbarkeit nur sehr selten gegeben. Das gilt auch für gesellschaftliche Veränderungen, Eingriffe ins Wirtschaftsleben. Wahrscheinlich ist das ein alter Technikertraum, dass man reversibel arbeiten könnte. Auch in der Landwirtschaft ist vieles nicht mehr rückholbar, beispielsweise bei genmodifizierten Pflanzen, die sich jenseits der ursprünglichen Einsatzgebiete verbreiteten. Man könnte sich vielleicht an einem anderen Begriff aus der Medizin orientieren: „minimal invasiver Eingriff“. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass unser Wissen über Folgen von Eingriffen begrenzt ist und es fast regelmäßig zu unintendierten Wirkungen kommt. Durch bessere Forschung kann man vielleicht bestimmte unerwünschte Wirkungen ausschließen, aber man ist selten in der Lage, sämtliche möglichen Folgen zu kontrollieren. Wir operieren stets mit unvollständigem Wissen, vor allem bezogen auf Neben- und langfristige Folgewirkungen.

Politikberatung durch Zukunftsforschung

Norbert Reichel: Sie haben etwa die Hälfte Ihres Lebens in der DDR gelebt, die andere Hälfte dann unter einer Bundesregierung, die sich eigentlich zum Ziel gemacht hatte, Ost und West zu vereinen. Sie haben an unterschiedlichen Orten gearbeitet, nach 1990 in Gelsenkirchen am Sekretariat für Zukunftsforschung. Das Sekretariat war ein Instrument der Politikberatung. In der DDR gab es ein solches Instrument nicht.

Karlheinz Steinmüller: In der DDR war eine wissenschaftliche Vorausschau kaum möglich. Ein sowjetischer Kollege, Igor Bestutschew-Lada, hat es einmal so ausgedrückt: Diktatur und Zukunftsforschung schließen einander aus. In einer Diktatur werden ideologische Vorgaben gemacht, die die Erkundung von Zukünften auf ein bestimmtes, offiziell gewünschtes Zukunftsbild festlegen und alle Alternativen ausschließen; abweichende Meinungen werden sanktioniert. Für eine kurze Periode sah es in der DDR so aus, als könnte sich eine spezifisch sozialistische Art von Zukunftsforschung entwickeln, die sogenannte Prognostik. Das geschah in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NöSPL) unter Walter Ulbricht. Die Prognostik war stark von kybernetischen Modellen, etwa Regelkreisen, beeinflusst, womit auch marktwirtschaftliche Elemente einflossen. Diese aber standen im Widerspruch zu den rigiden planwirtschaftlichen Vorstellungen der Parteiideologen. Letztlich erfüllte das NöSPL die in es gesetzten wirtschaftlichen Hoffnungen (Schlagwort: Überholen ohne einzuholen) nicht. Mit der Ablösung Ulbrichts durch Erich Honecker und der Wende weg vom Neuen Ökonomischen System wurde auch die Prognostik stillschweigend aufgegeben. Eine wirklich wissenschaftliche Zukunftsforschung kann nicht entstehen, wenn man das Ergebnis schon zu kennen meint. Man hatte ein teleologisches Modell und die Zukunft hieß Kommunismus. Daher konnte man auch im Nahbereich kaum prognostisch arbeiten.

Norbert Reichel: Zukunftsforschung arbeitet nach meinem Eindruck auch dekonstruktivistisch. Vielleicht ist das der Hauptunterschied zu einer gelenkten Wissenschaft, dem sogenannten „wissenschaftlichen Sozialismus“.

Karlheinz Steinmüller: Dekonstruktivistisch ja, aber auch konstruktivistisch. In der Zukunftsforschung werden auch Zukunftsbilder entwickelt. Zukunftsforschung ist nicht nur dazu da, existierende Zukunftsbilder zu analysieren und zu dekonstruieren. Manche würden sich gerne darauf beschränken, weil sie sagen, wir kennen die Zukunft ja nicht. Das halte ich für eine defätistische Haltung. Andererseits brauchen wir die Dekonstruktion als Ausgangspunkt. Mit diesem Ansatz ist die Zukunftsforschung durchaus nicht allein. In Deutschland – und generell in Europa – haben sich die Erforschung und Bewertung von Risiken und die Technikfolgenabschätzung sehr gut etabliert, etwa im Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TaB) und im Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS). Diese Einrichtungen und auch andere publizieren in hoher Schlagzahl gute Studien zu einzelnen Technologien, zu Zusammenhängen zwischen Technologie und Gesellschaft oder Technologie und Wirtschaft. Die Politik hat Instrumentarien, auf die sie sich stützen kann und auch zum Teil stützt. Ich halte es für sehr positiv, dass das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag angesiedelt ist und nicht bei der Exekutive. Das garantiert mehr Offenheit und eine breitere Wirksamkeit.

Norbert Reichel: Und damit auch die Opposition beteiligt und unterstützt. Das ist auch ein großer Vorteil der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, eine Einrichtung, die viele leider gar nicht kennen. Dort werden hervorragende Sekundäranalysen erstellt.

Karlheinz Steinmüller: Wenn das TaB in der Exekutive angesiedelt wäre, könnte die Regierung diese Studien nach gewünschten Vorgaben vergeben. Über Studien geschieht ja auch Agenda-Setting. Es ist sinnvoll, dass die Erstellung solcher Studien politiknah, aber nicht direkt in den Entscheidungsprozess eingebunden ist.

Norbert Reichel: Ein weiteres Instrument der Legislative sind die Enquête-Kommissionen, die der Bundestag einrichten kann.

Karlheinz Steinmüller: Ich habe diese erst nach der deutschen Einheit, als ich in den „Westen“ kam, kennengelernt. Die Kommissionen, die ich kenne, haben hervorragende Arbeit geleistet, beispielsweise die Enquête-Kommission zum Demographischen Wandel. Man muss natürlich bedenken, dass die Ergebnisse solcher Kommissionen, auch wie die Ergebnisse renommiertester Institute nach einigen Jahren überholt sind. Es gibt neue Daten, neue Sichtweisen, neue Prioritäten. Insofern muss ein bekanntes Feld in einem gewissen Turnus immer wieder neu überdacht werden. Im Bereich der Gentechnik, in Landwirtschaft und Medizin, bei Energie- und Verkehrsfragen gibt es eine solche Studientradition.  

Revolutionäre Prozesse

Norbert Reichel: Bei allen Verdiensten solcher Studien und solcher Einrichtungen erlebe ich immer wieder den Konflikt zwischen denen, die die Ergebnisse erarbeiten, und denen, die sie kommunizieren, ein Konflikt zwischen Wissenschaft und Politik. Sie sprachen schon das Dilemma an, in 1:30 höchst komplizierte Sachverhalte erklären zu müssen. Das Komplexe wird unterkomplex vermittelt. Meines Erachtens bedroht dies die Demokratie. Als wir uns das erste Mal trafen, sprachen Sie von Bekannten im Thüringischen, die von sich sagen, sie kämen schon zurecht, könnten aber auch nichts ändern und wählten daher diejenigen, über die sich die anderen am meisten ärgern. Eine völlig destruktive Haltung.

Karlheinz Steinmüller: Die Frage ist, wie man möglichst breite Schichten der Bevölkerung in die demokratischen Prozesse einbeziehen kann. Methodisch gibt es unendlich viele Ansätze, Zukunftswerkstätten der unterschiedlichsten Arten, Beteiligungsverfahren auf kommunaler Ebene etc. Dahinter steht stets das Problem der politischen Bildung. Wie wird Beteiligungswille vermittelt? Das läuft heute oft unter dem Schlagwort „Empowerment“. Das Wort gefällt mir nicht so recht, denn es wird gerade von denen, die man „empowern“ will, kaum verstanden. Aber wie bringt man Leute, die es nicht gelernt haben, sich zu beteiligen, dazu, sich zu beteiligen? Dabei sind soziale und regionale Unterschiede zu berücksichtigen. Übertrieben formuliert: wenn Leuten in den neuen Bundesländern etwas nicht gefällt, gehen sie auf die Straße und schimpfen, wenn Leuten in den alten Bundesländern etwas nicht gefällt, gründen sie eine Nicht-Regierungsorganisation. Man merkt, dass Beteiligung über Generationen hinweg gelernt werden kann.

Ich würde mir wünschen, dass auch in den neuen Bundesländern mehr Selbstorganisation von der Basis her stattfände, aber nicht in Form einer Partei, die gegen alles ist, sondern themenspezifisch. Das ist ein Verhalten, das man erst lernen muss, eigentlich schon in der Schule. Demokratie beginnt in der Schule und neben der Schule. Insofern war ich schon glücklich über „Fridays for Future“, obwohl ich über manche unterkomplexe Parole den Kopf geschüttelt habe.

Norbert Reichel: Ist so. Politisch sehr zu begrüßen, aber ich denke, wir sollten diese Unterkomplexität einfach zur Kenntnis nehmen und nicht heruntermachen wie das der Vorsitzende einer damaligen Oppositions- und heutigen Regierungspartei tat, als er meinte, die jungen Leute sollten den Klimaschutz den Spezialisten überlassen. Als obersten Spezialisten sah er sich wohl selbst.

Karlheinz Steinmüller: Die junge Generation muss ihre eigenen Formen finden. Ich werde mir nicht anmaßen, jungen Menschen zu sagen, was der richtige Weg wäre. Den kenne ich auch nicht. Außerdem haben sich Kommunikations- und Sozialverhalten massiv geändert seit der Zeit, als ich selbst jung war.

Norbert Reichel: Sie erwähnten die Skepsis vieler Menschen gegen die neue Technologie der Eisenbahnen um 1850. In dieser Zeit gab es andererseits auch eine enorme Aufbruchstimmung. In seinem Buch „Die Farbe Rot“ (2017 bei Beck erschienen) hat Gerd Koenen die Atmosphäre und all die Sozialutopien beschrieben, die im 19. Jahrhundert entstanden. Karl Marx war nur einer der damaligen Analytiker und – ich nenne es mal so – Futurologen.

Karlheinz Steinmüller: Zu den damals entstandenen sozialutopischen Modellen zählt auch das Genossenschaftswesen, mit dem wir heute noch gute Erfahrungen machen.

Norbert Reichel: War die Bürger- und Demokratiebewegung in der DDR nicht so etwas wie eine Nicht-Regierungsorganisation? Zumindest entstanden aus ihr solche Organisationen, die sich dann auch an dem Zentralen Runden Tisch beteiligten.

Karlheinz Steinmüller: Das System der DDR hatte 1989 bereits die Fähigkeit verloren, sich selbst gewaltsam an der Macht zu halten. Das war eine besondere Situation. Man könnte hier Revolutionstheorien zitieren: die oben können nicht mehr, die unten wollen nicht mehr.

Norbert Reichel: Und die unten sind bereit, für ihre Freiheit zu sterben. Das sagte Lenin.

Karlheinz Steinmüller: Lenin hätte aber auch gesagt, dass man für die Revolution eine revolutionäre Partei braucht.

Norbert Reichel: Waren der Demokratische Aufbruch, die Sozialdemokratische Partei nicht so etwas wie eine revolutionäre Partei?

Karlheinz Steinmüller: Ich habe ja bei fast allen mitgemacht. Ich habe eine kurze Zeit im deutschlandpolitischen Ausschuss des Demokratischen Aufbruchs mitgewirkt und der SDP die Computer eingerichtet. Es gab im Vorfeld schon die Umwelt- und Friedensbewegungen, die kirchlichen Bewegungen, die untereinander vielfach vernetzt waren. Und glücklicherweise schreckten im Herbst 89 die führenden Funktionäre davor zurück, einen Schießbefehl zu geben. Leider Gottes sind andere Diktaturen auf der Welt so fest eingegraben und so ruchlos, dass sie vor Gewalt nicht zurückschrecken. Es ist für mich überaus bedrückend, mich in die Menschen in diesen Ländern hineinzuversetzen. Wir haben im Sommer 1989 im DDR-Schriftstellerverband über die sich zuspitzende Situation diskutiert. Die Kollegen waren damals alle der Meinung, dass wir bei einer weiteren Verschärfung den Platz des Himmlischen Friedens hier bei uns erleben würden. Das war eine realgeschichtliche mögliche Alternative.

Alternative Zukünfte

Norbert Reichel: Für mich ist der 4. Juni 1989 ein entscheidender Tag. In Polen kam damals der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident ins Amt, in China wurden die Demonstranten auf dem Platz des himmlischen Friedens niedergeschossen. Das waren die beiden Alternativen, auch für die DDR. Und es entschied sich am 7. Oktober in Leipzig.

Inzwischen ein Klassiker der Alternative History, die Story: Franz Ferdinand entscheidet sich, nach dem gescheiterten ersten Attentat wieder nach Hause zu fahren, der Erste Weltkrieg fällt aus, auch der Zweite, die Deutschen fliegen 1949 von Peenemünde zum Mond, die drei Kaiserreiche bestehen nach wie vor, doch dann – viele Jahre später – droht ein Komet, die Erde zu vernichten, voraussichtlicher Aufschlag im Wiener Prater.

Karlheinz Steinmüller: Alternativen werden in der Literatur immer wieder durchgespielt. In der Science-Fiction gibt es das Subgenre der Alternative History. Ich kenne ein Dutzend Romane, in denen die DDR aus dem einen oder anderen Grund fortexistiert, meistens durch wirtschaftliche Stärkung. Aber kein einziges Buch knüpft positiv an die Entwicklung der 1960er Jahre, an NöSPL, Kybernetik etc. an, kein einziges weitet den Prager Frühling auf die DDR aus. Nun wohl, vielleicht interessieren diese Alternativen nur mich. In der Zukunftsforschung überlegen wir uns mitunter, welche Alternativen in der Vergangenheit existierten, sozusagen vergangene Zukünfte. Wo gab es Aufspaltungspunkte? Können wir solche Punkte identifizieren, um daraus auch Aufspaltungspunkte für die gegenwärtige Zukunft zu identifizieren? Ich habe keine Formel, die das ermöglicht, aber allein schon die Fragestellung belegt, dass wir nur in einer der möglichen Gegenwarten leben und dass es andere Gegenwarten hätte geben können. Das ist ausgesprochen fruchtbar für die Zukunftsforschung.  

Star Trek. Quelle: Pixabay

Norbert Reichel: Alternative Zukünfte sind in meiner Lieblings-Science-Fiction-Franchise „Star Trek“ an der Tagesordnung. Es gibt in der Originalserie (TOS) eine Episode, in der der Schiffsarzt „Bones“ (deutscher Name: „Pille“) daran gehindert werden muss, eine engagierte Menschenrechts- und Friedensexpertin zu retten, weil ihr Überleben dazu führen würde, dass die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewinnen. In „Deep Space Nine“ landet Sisko mit Bashir in den 2020er Jahren, der Held einer sozialen Rebellion stirbt durch seine Präsenz, sodass Sisko dessen Rolle als sozialer Befreier weiterspielen muss, damit die Zeitlinie erhalten bleibt. Last not least: das Eingreifen der Crew der „Next Generation“ beim Jungfernflug der „Phoenix“ mit dem ersten irdischen Warp-Antrieb in „The First Contact“. Ohne diesen Eingriff wäre die Erde von der transhumanistischen Spezies schlechthin, den Borg, erobert worden, Enterprise und die Föderation hätte es nie gegeben. Ich sehe das Publikum von Science-Fiction durchaus als repräsentativ für diese Sehnsucht nach Alternativen, vor allem nach Verhinderung schlechter möglicher Zukünfte.

Karlheinz Steinmüller: Das ist jetzt wieder die Frage an die Zukunftsforschung. Wo gibt es diese entscheidenden Punkte, die über die Zukunft entscheiden? In der Science-Fiction werden diese Aufspaltungspunkte bisweilen im Sinne der Chaostheorie interpretiert: Der Flügelschlag eines Schmetterlings ruft weit entfernt einen Orkan hervor. Kleinste Ursachen haben riesige Wirkungen. In der Diktion des 19. Jahrhunderts steht diese „Anlasskausalität“ im Unterschied zur „Erhaltungskausalität“ (Julius Robert von Mayer, 1842). Zurzeit suchen wir mit unserem Verein „Deutschland 2030 e.V.“ in einem Projekt mit dem Titel „Neue Horizonte Deutschland 2045“, das von drei Unternehmen mit überschaubaren Mitteln gesponsert wird, nach möglichen Kipppunkten, die Entwicklungen auch in eine andere Richtung lenken könnten. Der Begriff der „Kipppunkte“ stammt aus der Klimaforschung und wird dort seit etwa 2008 benutzt (Timothy Lenton u.a., Tipping elements in the Earth’s climate’s system). Wir würden sehr gerne solche Kippelemente in Gesellschaft und Wirtschaft identifizieren. Das ist unvergleichlich schwieriger. Beim Klima haben wir viele Faktoren, die sich mit Parametern und Indikatoren beschreiben lassen, sodass eine Modellierung möglich ist. In gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen sind wir meist auf eine „verbale Modellierung“ beschränkt. Da wird alles unschärfer und schlechter fassbar. Mit dem Konzept der Kippelemente gehen wir ein Stück über das Konzept der „Wild Cards“ hinaus – letztere sind unwahrscheinliche Ereignisse mit großer Wirkung.

Eine methodische Schwierigkeit möchte ich nicht verschweigen. Wir haben in der Regel immer mit uns selbst zu tun. Ich möchte erfahren, was geschieht im Hintergrund, in der Breite und Tiefe der Gesellschaft. Allenthalben heißt es, dass mehr Diversität die Lösung ist, doch dann sitzen wieder die üblichen Beteiligten beieinander. Wenn man andere einbinden will, erfasst man ein bestimmtes Spektrum von Perspektiven, aber nie alle. Mein Standardbeispiel ist hier ein Projekt zur Migration. Wir überlegten, dass wir eigentlich auch Leute von PEGIDA einbinden müssten, um das gesamte Meinungsspektrum abzubilden. Vermutlich, so unsere Überlegung, würden diese Leute aber den Workshop für ihre eigenen Zwecke nutzen, um ihre Agenda zu platzieren – ganz abgesehen von den Konflikten, die dann innerhalb des Workshops ausgetragen würden. Es gibt leider Grenzen der Vielfalt. Vielfalt der Meinungen ja, Meinungsstreit ja, aber innerhalb der Grenzen, die die wechselseitige Toleranz setzt.

Norbert Reichel: Eine Auswahl nach den Kriterien der Repräsentanz ist immer unvollständig. Eine andere Methode sind zufällig ausgewählte Gruppen, wie beispielsweise zurzeit der Bürgerrat, den der Deutsche Bundestag zum Thema „Ernährung im Wandel“ eingerichtet hat. Das ist im Grunde das Modell der Planungszelle, wie sie Peter Dienel entwickelt hat. Im durch und durch katholischen Irland hat man mit diesem Instrument die Akzeptanz für die „Ehe für alle“ geschaffen. Andererseits gibt es auch Grenzen, beispielsweise bei den sogenannten Bürgerhaushalten. Vor allem dann, wenn diejenigen, die sich beteiligt haben, merken, dass nicht alles oder vielleicht sogar nur wenig von ihren Vorschlägen berücksichtigt wird. Dann kann das auch kontraproduktiv wirken. Eine Gratwanderung.

Karlheinz Steinmüller: Die Planungszelle, Townhall-Workshops – das sind funktionierende und gute etablierte Instrumente, vor allem wenn sich Leute beteiligen, die sonst nicht auf die Idee gekommen wären, sich zu beteiligen. Die Letzte Generation schlägt ja auch einen Bürgerrat vor. Aber natürlich stellt sich die Frage, ob sie akzeptieren würden, wenn der Bürgerrat zu völlig anderen Ergebnissen kommt als sie das gerne hätten.

Norbert Reichel: Eine ähnliche Problematik haben wir bei der immer wieder erhobenen Forderung nach Volksabstimmungen nach Schweizer Muster. Ich bin überhaupt kein Freund einer plebiszitären Demokratie. Wir müssen uns nur anschauen, wie das mit dem Brexit ausgegangen ist. Mir sagte mal ein Verfechter von Volksabstimmungen, dort wäre ja gelogen worden. Ich habe ihn nur angeschaut und gefragt, ob er sich so sicher wäre, dass anderswo nicht gelogen wird. Da wusste er auch nicht mehr weiter.

Karlheinz Steinmüller: Beteiligung – spontan und von unten – kann und muss gelernt werden. Das beginnt in den Schulen. Ich bin u. a. Mitglied des Kuratoriums der „Deutschen Gesellschaft e.V.“. Wir haben einen Projektstrang, in dem wir  in Schulen mit Schülerinnen und Schülern Beteiligung von unten ausprobieren. Das scheint ganz gut zu laufen, wäre aber noch ausbaubar.

Alles in allem: Intellektuell bin ich stets Skeptiker, emotional aber ein unverbesserlicher Optimist. Der Spiegel hat mich einst so charakterisiert: „Zu sehr Skeptiker, um Pessimist zu sein.“

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2023, Internetzugriffe zuletzt am 2. Juni 2023, Titelbild: Hans Peter Schaefer, Irland, einer der Drehorte von Game-of-Thrones).