It’s no Science Fiction, isn’t it?

Migration und Klima im Zeitalter der Krisen

„Eine fundamentale Polarisierung wie in den USA, mit Lagern, die einander nichts zu sagen haben, gibt es in Deutschland so nicht. Was man trotzdem findet, sind Ränder, die sich immer stärker radikalisieren. Der alte Klassenkonflikt spielt dabei kaum mehr eine Rolle, es ist schwierig, damit zu mobilisieren. Stattdessen haben wir zwei große Konflikte: Migration und Klimapolitik. Und die sind zunehmend miteinander verkoppelt. Das heißt, Leute, die positiv gegenüber Migration eingestellt sind, setzten sich auch stärker für Klimaschutz ein.“ (Steffen Mau im Gespräch mit Tim Fehler, in: Süddeutsche Zeitung 1. September 2023)

Das, was Steffen Mau diagnostiziert, gilt auch umgekehrt. Wer Migration ablehnt, lehnt in der Regel auch Klimaschutz ab, wer Klimaschutz ablehnt, will auch von Migration nichts wissen. Manche glauben, dass der Klimaschutz Dreh- und Angelpunkt der Lösung der aktuellen Krisen sei, andere, es reiche, einfach jede Migration zu unterbinden und alle anderen Probleme lösten sich von selbst. Natürlich gibt es auch einiges dazwischen, Menschen, die Migration oder Klimaschutz grundsätzlich vielleicht befürworten, aber eben nicht zu jedem Preis.

Manche sprechen von einer Fülle von Krisen, wie es sie in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hätte, sodass man eigentlich gar nicht weiß, wo man beginnen solle. Zumindest lässt sich sagen, dass noch nie so umfassend und so viel über verschiedene gleichzeitige Krisen gesprochen wurde, oft genug im Modus höchster Emotionalität. Einige dieser Krisen haben das Potenzial, das Überleben der Menschheit grundsätzlich zu gefährden, nicht die Migrationskrise, die eher eine Folge als Ursache der anderen Krisen ist, wohl aber die diversen Kriege, nicht zuletzt der nach wie vor andauernde russländische Krieg gegen die Ukraine, und die Klimakrise. Wie auch immer, die Regierungen dieser Welt müssen sich der Frage stellen, wie die verschiedenen Krisen interagieren und sie mit diesen Interaktionen und Interdependenzen umgehen.

Szenarien zukünftiger Migration

Steffen Mau spricht nicht nur von der Klimakrise und der Migrationskrise, sondern auch von den sozialen Krisen, die vielen Menschen – wenn wir den Umfragen glauben wollen – durchaus präsent sind, aber offenbar nach ihrem Eindruck zu wenig das politische Handeln bestimmen. In der Regel sehen alle zunächst einmal ihren eigenen Vorgarten, etwas weniger polemisch formuliert, ihr eigenes Bankkonto, das aber dann auch ungeachtet der tatsächlichen Höhe der eigenen Finanzreserven bis aufs Messer verteidigt wird (manchmal muss man diese Metapher leider wörtlich nehmen). Sie inszenieren sich sozusagen als Akteure, in der Regel als Opfer eines Klassenkonflikts. Jedes Einkommensniveau hat seine eigenen Lobbyisten, die auch stets geneigt sind, bei Einschränkungen den Untergang des (Abend-)Landes zu beschwören. Steffen Mau hat jedoch recht mit dem Hinweis, dass sich Klassenkonflikte nicht mehr unbedingt zur Mobilisierung eignen wie in den Hoch-Zeiten der Arbeiterbewegungen. Ein hohes Mobilisierungs- oder besser gesagt Erregungspotenzial haben jedoch Themen, die als Angriff auf den gewohnten Lebensstil wahrgenommen werden, und damit sind wir wieder bei Klimaschutz und Migration. Zu viel Klimaschutz, zu viel Migration – beides wird zur sozialen Frage hochgepuscht und als solche ausgetragen.

Wer einen Traktor oder ein Privatflugzeug besitzt, hat es leichter als andere, die eigenen Interessen zu platzieren. Pflegekräfte und Erzieher:innen haben leider keine Traktoren oder Lokomotiven. Wer wenig besitzt, hat lediglich die Möglichkeit, sich gegen diejenigen zu positionieren, die das Wenige, das man hat, bedrohen: allen voran Migranten und Arbeitslose. Solidarität unter denen, die wenig besitzen, und denen, die so gut wie nichts besitzen, ist kaum zu erwarten. Das war schon bei Karl Marx und Friedrich Engels ein Thema, als sie sich, unter anderem schon im Kommunistischen Manifest (MEW 4), gegen das „Lumpenproletariat“ aussprachen. In der Studie „Triggerpunkte“ (Berlin, Suhrkamp, 2023) haben Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser darauf hingewiesen, dass vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen sich gegen ein auskömmliches Bürgergeld aussprechen. Der Satz, Arbeit solle sich wieder lohnen, ist inzwischen nicht mehr nur die Parole der sogenannten „Besserverdienenden“. Internationale Entwicklungen, beispielsweise die Frage, was jemanden bewegen könnte, sein Glück in viele Tausende Kilometer Richtung Norden liegenden Ländern zu suchen, sind damit noch gar nicht angesprochen. Diese gehören erst recht nicht zu denen, um die sich Politik nach Ansicht großer Teile der Bevölkerung kümmern sollte.

Das UNHCR subsummiert in seinen Statistiken alle Flüchtenden und Geflüchteten, gleichviel aus welchen Gründen sie ihre Heimat verließen. Es nannte für das Jahr 2022 eine Zahl von 108,4 Millionen Flüchtenden und Geflüchteten. Die Vergleichszahl aus dem Jahr 2018 lag bei 73,4 Millionen Menschen, Eine wichtige Botschaft lautet aber auch: wer flüchtet, flüchtet meistens in andere Regionen des eigenen Landes – 62,5 Millionen Menschen der 108,4 Millionen des Jahres 2022 waren Binnenvertriebene – oder in die Nachbarländer. Kommen alle anderen nach Europa, in die USA?

Das Magazin „Jacobin“ veröffentlichte im September 2023 einen Essay von Nathan Akehurst und Joe Rabe mit dem Titel „Nein, Europa wird nicht ‚von Migranten überschwemmt‘“. Zumal Europa immer wieder kreative Auswege zu finden glaubt. Die Regierung des Vereinigten Königreichs möchte Geflüchtete nach Ruanda schicken, Italien hat im Januar 2024 einen Vertrag mit Albanien geschlossen. Ob diese Verträge rechtswidrig sein könnten, interessiert dabei nicht so sonderlich. Auch in Deutschland gibt es Sympathien für eine solche Auslagerung der Migration. Die EU-Beschlüsse zur Verlagerung der Prüfung der Asylberechtigung hinter die Außengrenzen sprechen eine klare Sprache, auch wenn oft genug die Rechnung – wie man so sagt – ohne den Wirt gemacht wird. Außer der Türkei hat sich bisher kein Land bereiterklärt, Migrant:innen im Lande zu halten. Gleichzeitig hat sich die Türkei damit gegenüber der EU ein Erpressungspotenzial geschaffen, das sie auch schon eingesetzt hat. Eine verlässliche Koordination der Verteilung von Geflüchteten in Europa wäre sicherlich machbar, aber dürfte auch in Zukunft an erheblichen Widerständen scheitern.

Für Arbeits- und Armutsmigration gibt es verlässliche Übersichten, wie sie beispielsweise die ZEIT im Dezember 2023 dokumentierte. Für den Fluchtgrund Klima gibt es solche Übersichten nicht. Es gibt eine Reihe von Veröffentlichungen mit diversen Szenarien, wie die Welt der Zukunft bei fortschreitendem Klimawandel ausschauen konnte. National Geographic hat unter Berufung auf den Klimabericht der Vereinten Nationen für das Jahr 2023 eine Sicht auf das Jahr 2070 veröffentlicht. Etwa 40 Prozent der Menschheit würden dann in Regionen leben, in denen die Temperaturen das Leben für Menschen unmöglich machten. Diese Entwicklung ließ sich im Jahr 2023 in einigen Regionen Indiens angesichts der durch Hitze verursachten Todeszahlen bereits erahnen. Aber werden diese Menschen alle aus ihrer unerträglichen Lebenssituation flüchten (können)? Werden sie nach Europa, nach Kanada, in nicht allzu unwirtliche Landesteile der USA flüchten?

Was geschieht in den besonders gefährdeten kleinen Inselstaaten, die in der UNO eine eigene Gruppe bilden, die SIDS („Small Island Development States“). Der höchste Punkt der Marshall-Inseln liegt zwei Meter über dem Meer. Der Inselstaat hat 43.000 Einwohner:innen und es gibt Überlegungen, wie man sich auf die drohenden Überflutungen, die Versalzung der Brunnen einstellen könnte. Die Bewohner:innen hätten das verbriefte Recht, in die USA auszuwandern, aber dies ist – auch angesichts politischer Entwicklungen in den USA – möglicherweise keine Option mehr, wenn es so weit kommt. Einige Staaten im Süden der USA leiden bereits jetzt durch Dürren, Brände, Stürme und Überflutungen unter den Folgen der Klimakrise. Heike Buchter berichtete in der ZEIT von den klimatischen Veränderungen in New York City unter der apokalyptischen Überschrift „Wie in einem schlechten Katastrophenfilm“. Die verbreitete Ablehnung von Zuwanderung in den USA ist ein weiteres Hindernis. Auch Australien ist angesichts seiner restriktiven Migrationspolitik keine Option für eine Umsiedlung. Bei den Weltklimakonferenzen werden die 57 kleinen Inselstaaten, davon 39 souveräne Staaten, kaum gehört.

Ein umfassendes Szenario zukünftiger Massenmigration aufgrund der Klimakrise hat Parag Khanna in seinem Buch „Move – Das Zeitalter der Migration“ vorgelegt (aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Karsten Petersen, Berlin, Rowohlt, 2021). Sein Szenario geht von einer Erderwärmung von im Durchschnitt vier Grad Celsius aus. Das Buch enthält eine Karte, auf der die dann unbewohnbar gewordenen Regionen des Planeten zu sehen sind. Allerdings präsentiert der Autor auch einen Lösungsvorschlag. Es ließen sich große Städte im Norden und im Süden, in Neuseeland und auf der Antarktis, in Skandinavien, Kanada und Sibirien errichten, sodass die Menschheit sich durch Migration in großem Stil neu orientieren und neu über den Planeten verteilen könnte. Probleme des Arbeitskräftemangels würden sich ebenfalls weltweit lösen.

Parag Khanna schreibt allerdings auch: „Fast keine der westlichen Demokratien ist auf das neue Zeitalter der Massenmigration vorbereitet. Der indisch-amerikanische Romancier Suketu Mehta weist darauf hin, dass es ‚noch nie so viele menschliche Wanderungsströme‘ gegeben habe; vor allem aber habe es ‚noch nie so viel organisierten Widerstand gegen menschliche Wanderungsströme‘ gegeben. Mehta befürwortet Reparationszahlungen des Nordens an den Süden, als eine Art Wiedergutmachung, doch er hält auch fest, dass der Norden ohnehin mehr Migranten brauche denn je.“ (Die Frage der sich gefährdeten Biodiversität spielt in Parag Khannas Buch keine Rolle.) In all diesen Szenarien ist noch nicht eingerechnet, was geschieht, wenn der Golfstrom kippt und die Temperaturen im Norden Europas deutlich sinken. Wie attraktiv ist dann noch eine Reise in die Länder nördlich der Alpen?

Stimmt die These von der Fluchtursache Klimakrise?

Benjamin Schraven hat in seinem Buch „Klimamigration – Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht“ (erschienen 2023 in Bielefeld bei transcript) die Frage gestellt, ob die These stimmt, dass die aktuellen Migrationsbewegungen hauptsächlich durch die Klimakrise verursacht werden. Der Autor ist Entwicklungsforscher und Migrationsexperte, unter anderem tätig beim Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. Er berät verschiedene internationale Organisationen, die Europäische Union, die Vereinten Nationen und die Internationale Organisation für Migration (IOM). Sein Buch enthält fünf Kapitel, in denen er die Dimensionen der Bedrohung, Trends und Erklärungsversuche, die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Migration, vorliegende Forschungsergebnisse sowie rechtliche und politische Fragen dokumentiert und bewertet. Das Buch beeindruckt durch seine übersichtliche Gestaltung und nicht zuletzt dadurch, dass es dem Autor gelingt, eine komplexe Spezialmaterie so darzustellen, dass sie für politische und gesellschaftliche Diskurse verständlich und nachvollziehbar wird. Hilfreich sind zwei ausführliche Glossare zu den Themenkomplexen „Klimawandel“ und „Migration“.

Ein wichtiger Bezugspunkt ist das 2023 erschienene Gutachten des Sachverständigenrates für Integration und Migration. Die Treibhausemissionen sind von 1990 bis 2019 um 67 Prozent gestiegen. Benjamin Schraven referiert mehrere Szenarien, darunter das Szenario von Norman Myers, der bis 2050 von 200 Millionen Klimaflüchtlingen ausgeht. Benjamin Schraven macht sich dieses Szenario nicht zu eigen, sondern unterscheidet zwischen „Alarmisten“ und „Skeptikern“. Es sei auch „sehr schwierig, Begriffe wie ‚Klimaflüchtling‘, ‚Umweltflüchtling‘ oder ‚Klimamigration‘ eindeutig zu definieren.“ Dies gelte für die Wissenschaft ebenso wie für die Politik. Benjamin Schraven wendet sich gegen Alarmismus, aus seiner Sicht „entbehren alarmistische Szenarien eines millionenfachen Ansturms von ‚Klimaflüchtlingen‘ in Richtung Europa daher einer seriösen wissenschaftlichen Grundlage“. Allerdings ist „Klimawandel ein Risiko-Multiplikator“.

Benjamin Schraven sieht jedoch auch keinen Anlass zur Entwarnung: „Gut beraten sind wohl alle, die weder die unmittelbar bevorstehende Apokalypse noch ein ‚Wird wohl schon nicht so schlimm werden‘ erwarten.“ Insofern ist das Ursachenbündel des Wunsches, sich auf die Reise nach Europa aufzumachen, von Bedeutung. Es gibt einen Kontext zwischen klimatischen und ökonomisch-sozialen Entwicklungen (Kriege und Terror als Fluchtursachen sind damit nicht unbedingt verbunden, aber durchaus ein weiterer Verstärker): Afrika ist der Kontinent, der die wenigsten klimaschädlichen Emissionen verursacht, aber überproportional unter den Wirkungen leidet. Die Klimakrise beeinträchtigt die Landwirtschaft, die Meere, verknappt Trinkwasser, sorgt für die Verbreitung von Zoonosen.

Benjamin Schraven nennt mehrere Beispiele: Syrien, Afghanistan, Westafrika. Er verweist auf „zirkuläre oder saisonale Migration“, auf Migration als „Anpassungsstrategie“, aber auch auf „Zwangsvertreibung“, wie es sie in Ostafrika gibt. Oft sei jedoch für viele Menschen „das Gegenteil von Mobilität vielleicht sogar eine deutlich schlimmere Folge des Klimawandels: Vielen der besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen fehlen entweder die Ressourcen, um überhaupt mobil zu sein, oder der Klimawandel trägt zu einem Verlust dieser Ressourcen maßgeblich bei – etwa durch das dürrebedingte Verenden von Rindern bei Viehnomadinnen und -nomaden. Die Beschäftigung mit diesen sogenannten trapped populations hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem anderen Schwerpunkt der Forschung bezüglich des Klima-Mobilitäts-Nexus entwickelt.“ Migration entstehe auch nicht plötzlich, beispielsweise bei Naturkatastrophen (Brände, Überschwemmungen), sondern „eher durch langsam auftretende Klimaveränderungen“. In der Regel versuchen die Menschen zunächst sich an sich verändernde Bedingungen anzupassen. Zumindest solange dies noch möglich ist.

Daraus ergibt sich, dass verschiedene Faktoren zusammenkommen müssen, um eine größere Migrationsbewegung auszulösen. Wer kein Geld hat, wird nicht weit kommen. Aber wer migriert? In den Herkunftsländern gibt es einen erheblichen „Jugendüberhang“. Vor allem junge Männer migrieren, weil angenommen wird, dass es ihnen leichter fallen dürfte, eine Arbeit zu finden, welche auch immer. Manche flüchten auch vor der Rekrutierung durch Armeen und Milizen. „Die Wahrscheinlichkeit der Migration steigt mit dem Bildungs- oder Kenntnisniveau, da potenzielle Migrierende mit mehr oder besseren Kenntnissen und Bildungsniveaus mehr Einkommen generieren können (insbesondere in städtischen Gebieten); die Migrationswahrscheinlichkeit hängt auch vom individuellen Grad der Risikoaversion ab. Außerdem verringern persönliche Kontakte in einem potenziellen Zuwanderungsort die Kosten für die Migration und erleichtern die Beschaffung notwendiger Informationen, was die Migrationswahrscheinlichkeit entsprechend erhöht.“ Man kann sogar von einem „migration hump“ sprechen, eine Variante des Tocqueville-Paradoxes, das besagt, dass auch leichte Zugewinne an Freiheit und Wohlstand zu einer negativen Wahrnehmung der eigenen Lebensverhältnisse führen und damit den Migrationswunsch befördern statt – wie oft angenommen – reduzieren.

Der Gedanke, es reiche mit etwas Entwicklungshilfe die Armut zu bekämpfen und so zum Verbleib im Herkunftsland zu motivieren, ist insofern naiv. Abgesehen davon, dass die „Rücküberweisungen“ in das Heimatland oft deutlich höher sind als jede Entwicklungshilfe, sorgt das traditionelle Konzept der Entwicklungshilfe nicht unbedingt für mehr Selbstwirksamkeit in den Herkunftsländern. Die „Rücküberweisungen“ von Migrant:innen in ihre Heimatländer sind ein wichtiger Faktor zur Absicherung der dortigen jeweiligen Wirtschaft. Und sie haben den Vorteil, dass sie in der eigenen Familie ankommen und nicht in korrupten Strukturen verschwinden wie so manche Entwicklungshilfe.

Aber selbst eine gute finanzielle Ausstattung ist keine Erfolgsgarantie. Ein Klassiker für die vielen Hindernisse auf dem Weg von Westafrika nach Europa ist das Buch „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ von Fabrizio Gatti (deutsche Ausgabe: München, Antje Kunstmann, 2009, das italienische Original erschien 2007 bei Rizzoli). Manche werden in der Wüste zurückgelassen, manche werden unterwegs versklavt, fallen terroristischen Angriffen zum Opfer und werden ausgeraubt, nur wenige schaffen es tatsächlich bis zur Nordküste Afrikas, noch weniger über das Mittelmeer. Im Hirnkost-Verlag erschienen ist inzwischen in dritter Auflage das Buch „Todesursache: Flucht“, in dem die Herausgeberinnen Kristina Milz und Anja Tuckermann das Scheitern dokumentieren: „Sag mir, wer die Menschen sind“.

Benjamin Schravens Buch enthält eine umfassende Darstellung der rechtlichen und politischen Reaktionen auf Klimawandel und Migration. Wichtigste Grundlage ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die in Artikel 13 festhält, „dass jede Person das Recht hat, sich innerhalb der Grenzen eines Staates frei zu bewegen und aufzuhalten und jedes Land, einschließlich ihres eigenen, zu verlassen beziehungsweise wieder in ihr Land zurückzukehren.“ Daraus leitet sich die Frage ab, welche Hindernisse es ungeachtet staatlicher Repression geben könnte, das eigene Land verlassen zu wollen. Dazu wären die verschiedenen UN-Konventionen zu untersuchen, nicht zuletzt diejenigen, die sich ausdrücklich mit der Klimakrise befassen. Fündig wird man jedoch in der Regel (noch) nicht. So gibt es „keine direkte Nennung des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und Mobilität in der Agenda 2030“, „eine nicht zu unterschätzende Schwachstelle“. 99 der 169 Unterziele der Sustainable Development Goals enthalten einen Bezug zur Mobilität, „wenn auch ohne den Klimawandel als Bezugsgröße“. Die Genfer Flüchtlingskonvention enthält keinen Hinweis auf Umweltaspekte als Gründe für Migration. Ebenso wenig enthält die UN-Klimarahmenkonvention einen Bezug zur Migration, allerdings scheint sich hier etwas zu verändern. Die Task Force on Displacement, die dem UNFCCC-Sekretariat untersteht, stellte 2018 fest, „dass die Berücksichtigung menschlicher Mobilität im Kontext des Klimawandels seit der Verabschiedung des Pariser Abkommens in unterschiedlichen politischen Diskursen durchaus zugenommen hat.“ Am längsten beschäftigt sich der OFCHR (Officer of the High Commissioner for Human Rights) mit dem „Klima-Mobilitäts-Nexus“. Es fehlen in den politischen Debatten Hinweise auf einschlägige Daten und wissenschaftliche Untersuchungen, die nicht nur Kontexte beschreiben, sondern auch mögliche Kausalketten analysieren.

Die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen klimatischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen hat Stefan Lessenich in „Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ (Berlin, Hanser, 2016) ausführlich beschrieben. Sein Fazit: „Die Rede von der Externalisierungsgesellschaft bricht mit der Schweigespirale des Wohlstandskapitalismus.“ Daher sei die Geschichte der „Externalisierungsgesellschaft“ zu schreiben: Welche Verhaltensweisen des Nordens beeinflussen in welchem Maße die Lebensbedingungen im Süden? Legale wie wilde Fangflotten fischen die Meere der Küsten Westafrikas leer, der Export niederländischer Tomaten nach Afrika hindert dortige Bäuerinnen und Bauern, die eigenen Tomaten zu einem den Lebensunterhalt sichernden Preis zu verkaufen.

Wir externalisieren im Norden unsere Probleme in den Süden, festigen dies mit Handelshindernissen und verfolgen darüber hinaus einen politischen und ökonomischen Kurs der Extraktion. Inzwischen werden angesichts des russländischen Angriffskriegs Verträge mit afrikanischen Staaten geschlossen, um den Energiebedarf in Europa zu befriedigen. Ein weiteres Phänomen ist das „Landgrabbing“, über das Fred Pearce in „The Landgrabbers“ (deutsche Ausgabe: Landgrabbing – Der globale Kampf um Grund und Boden, München, Antje Kunstmann, 2012) schrieb. Dies betrifft nicht nur Rohstoffe, Soja, Kautschuk, Palmöl, Bauholz, Zucker und Biokraftstoffe, sondern auch die Abwanderung von Fachkräften, die in ihren Heimatländern keine Arbeit finden. Der Braindrain im Süden und der Fachkräftebedarf im Norden als kommunizierende Röhren. Vertreibungen, Umsiedlungen, auch die Kriminalisierung der Urbevölkerung (wie beispielsweise in Brasilien), die Inkaufnahme rechtsfreier Räume ergänzen das Bild. In Afrika erleben wir zurzeit einen verhängnisvollen Wettbewerb zwischen EU, China und Russland um Ressourcen und Einflusszonen.

Das Comeback der Grenzen

Viele Gründe, doch es gibt einen Kern. Steffen Mau nennt ihn in seinem Buch „Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenzen“ (Hamburg, edition Mercator C.H. Beck, 2021): „Mobilitätsrechte waren auch historisch niemals Rechte von Gleichen, sondern üblicherweise an den Status von Personen gebunden. Das freie Geleit, das sich öffnende Tor, der sich hebende Schlagbaum waren oft ein Privileg der Privilegierten.“ Grenzen sind in diesem Kontext ein „Ungleichheitsgenerator“. Jedes Grenzregime verstärkt diese Ungleichheit: „Alles was sich hinter der Mauer befindet, kann kategorisch als fremd und bedrohlich klassifiziert werden.“ Und die Wirkung dieser Klassifizierung reicht bis in Regionen, die Hunderte, wenn nicht Tausende Kilometer von der Grenze entfernt sind. Debatten um die Südgrenze der USA beeinflussen auch Debatten an der Nordgrenze, zumal der texanische Gouverneur Greg Abbott an der mexikanischen Grenze aufgegriffene Menschen mit Bussen nach Chicago und New York City bringen lässt.

Steffen Mau beschreibt in seinem Buch in neun Kapiteln die Rückkehr rigiden Grenzmanagements. Der Titel des ersten Kapitels endet schon mit einem Ausrufezeichen: „Borders are back!“ Der Titel des letzten Kapitels klingt nach einem Widerspruch in sich: „Globalisierte Grenzen“, sagt aber nicht mehr und nicht weniger als dass Grenzen inzwischen weltweit innen- wie außenpolitisch die jeweilige politische Agenda dominieren. Die Zeiten sind vorbei, in denen Grenzen eine nach der anderen aufgehoben wurden. „Die Grenze schaffte es 2009 sogar zusammen mit dem Paternoster, dem Käseigel und dem Kassettenrecorder in das ‚Lexikon der verschwundenen Dinge‘, gerade so, als gehöre sie ins Museum.“ (Das Lexikon verfassten Volker Wieprecht und Robert Skuppin, es erschien bei Rowohlt.)

Steffen Mau nennt die reale Erfahrung der Menschen, die nicht über die Ressourcen verfügen, die Grenzen ihres Landes, ihrer Region, ihrer Stadt, ihres Dorfes zu überwinden. Dabei geht es nicht nur um Geld: „Die tagtägliche Grenzerfahrung eines großen – des größeren! – Teils der Weltbevölkerung ist die des Ausschlusses, der Mobilitätsabwehr, der Wegversperrung, des Draußen-Seins, des Rebordering.“ Andererseits ist die Überwindung und Überwindbarkeit von Grenzen im Alltag wiederum ständig präsent, schon auf dem Küchentisch, in der Wohnungseinrichtung, in all den alltäglichen Dingen, die eine lange Reise zurücklegten, bis sie sich jemand hier in Europa kaufen konnte. Es reicht, sich einmal die Produktpalette von IKEA oder in Textil-Warenhäusern anzuschauen.

Allerdings ist inzwischen auch der freie Warenverkehr bedroht, denn die Zeit des freien Welthandels, für den mit der WTO eine eigene Organisation gegründet wurde, scheint ebenfalls vorbei zu sein. Zurzeit scheint nach einer Studie des Think-Tanks Deloitte, die auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt wurde, die Globalisierung im Bereich des Handels noch stabil, aber in anderen Bereichen geht Globalisierung deutlich zurück, am deutlichsten beim Indikator „Globale Einigkeit“. Die Debatten um „Decoupling“ und „Derisking“ sind nur eine Seite der Medaille. Michael Grömling hat in der Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ zur Industriepolitik vom Januar 2024 den „Protektionismus“ der My-Country-First-Bewegungen dieser Welt beschrieben: „Politischer Populismus in fortgeschrittenen und aufstrebenden Volkswirtschaften fördert und forciert Protektionismus. Dies reflektiert zum Teil auch Unzufriedenheit mit der bisherigen Globalisierung und deren tatsächlichen und wahrgenommenen Verteilungseffekten. Beispiele für diese politischen Entwicklungen sind 2016 die Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen, sowie das Wahlergebnis in den USA und die darauf folgenden protektionistischen Maßnahmen der US-Regierung unter Donald Trump.“ Freihandelsabkommen wurden in den letzten Jahren von rechts wie von links in Frage gestellt und zum Teil auch bereits verhindert. Zölle auf Waren aus anderen Ländern wurden wieder zum Mittel der Politik. Während man vor einigen Jahren dann noch von Handelskriegen sprach, ist dieser Begriff inzwischen aus dem Wortschatz von Politiker:innen und Journalist:innen weitgehend verschwunden.

Eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit ergab sich während der Corona-Pandemie. Über Nacht gab es wieder Grenzkontrollen an Orten, an denen diese eigentlich längst abgeschafft waren. Steffen Mau schreibt: „Aus der hochmobilen globalen Weltgesellschaft wurde über Nacht eine Insassengesellschaft nationalstaatlicher Kompartimente.“ Dies war jedoch nur ein Steinchen im Puzzle der steigenden Attraktivität von Grenzen und hätte sich nicht verstetigen können, wenn es nicht ohnehin schon Trend gewesen wäre. Steffen Mau schreibt: „Während in der ersten Globalisierung Menschen (als Arbeitskräfte) noch mobiler waren als Kapital, scheint es nunmehr so zu sein, dass die Personenmobilität gegenüber anderen Mobilitätsformen zurückfällt.“ Das ist noch sehr vorsichtig formuliert. Die Möglichkeiten, Kapital den heimischen Steuern zu entziehen, sind weltweit enorm. Immerhin gibt es immer wieder auch den ein oder anderen Skandal, in dem unrechtmäßiger Transfer von Geldern in Gegenden, in denen keine Steuern erhoben werden, aufgedeckt wird. Die sogenannten „Panama Papers“ sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs.

Wir leben – so Steffen Mau – in einer Zeit, in der die einen eine Öffnungsglobalisierung praktizieren, die anderen eine Schließungsglobalisierung. „Während die einen ihre Mobilitätsmöglichkeiten enorm ausweiten und Grenzen immer leichter überschreiten können, gilt für andere genau die gegenteilige Erfahrung, nämlich die sich schließender und verhärtender Grenzen, des territorialen Ausschlusses und intensivierter Kontrolle.“ Die Kontrolle erfolgt „in vielfältigen, räumlich fluiden, organisatorisch diffusen und technologisch veränderten Kontrollformen, die die Mobilität von Personen kanalisieren oder unterbinden.“

Mit dem Grenzregime steigt die Macht des Staates: „Der Staat als Grenzkontrolleur igelt sich nicht ein, sondern streckt sich aus, wird – aus nationalem Interesse – zum globalisierten und in internationale Zusammenhänge eingebetteten Akteur.“ Mit der steigenden Bedeutung von Grenzen steigen auch die Bedarfe von Staaten, sich moderner Überwachungstechnologie zu bedienen, nicht nur an Flughäfen. Die Verfolgung der Wege eines Menschen über GPS sichert, dass man stets genau weiß, welche Grenzen jemand überschreitet und welche nicht. Und mit der Grenze steigt manifestierter Klassismus: „Die Grenze der Globalisierung ist zugleich eine Grenze, an der Ungleichheit erzeugt und auf Dauer gestellt wird.“

Steffen Mau spricht von „Fortifizierung“, die sich durch „Grenzsteine“, „Kontrollpunkte“, „Barrieren“ Beachtung verschaffe. Er verweist auf den Bau von Lagern, die zunächst als Provisorien gedacht zu sein scheinen, aber mit der Zeit zu Dauereinrichtungen werden. Solche Lager gibt es für Flüchtende, weniger martialisch auch in der Form von Häusern, die die dort – man könnte sagen – Gelagerten nicht verlassen dürfen. „Für diejenigen, die in diesen Lagern unterkommen, ergibt sich aus der räumlichen Konzentration und Separierung, dass sei von der Teilnahme am ‚normalen‘ sozialen Leben, das sich vor den Toren oder Zäunen des Lagers abspielt, abgehalten werden sollen.“

„Filtergrenzen“ sorgen dafür, dass Menschen, die bestimmte Eintrittsvoraussetzungen nicht erfüllen, draußen bleiben. Pässe und Visa sollen sicherstellen, dass diejenigen, die eine Grenze überschreiten, vorher im wahrsten Sinne des Wortes durchleuchtet wurden. Hier spielt auch die Klassenzugehörigkeit eine Rolle.

Steffen Mau verweist auf eine Unterscheidung des Wirtschaftswissenschaftlers Branko Milanović, der „in seinen Analysen zur globalen Einkommensungleichheit zwischen einer Ortskomponente und einer Klassenkomponente unterschied“. Vor 200 Jahren sei zu 80 Prozent die „Klassenkomponente“ entscheidend gewesen, Mitte des 20. Jahrhunderts nur noch zu 20 Prozent. Das mag zugespitzt wirken, denn Punktesysteme, wie sie beispielsweise Kanada praktiziert, bestätigen die Bedeutung der „Klassenkomponente“, auch die jüngste Entscheidung des Deutschen Bundestages, dass Einbürgerungswillige ihren Lebensunterhalt ohne Sozialleistungen zu bestreiten haben, sodass Menschen, die unverschuldet während ihres Aufenthalts krank geworden sind oder deren Betrieb geschlossen wurde, ausgeschlossen werden, selbst wenn sie lange Jahre zuvor in die Sozialkassen eingezahlt haben.

Einfachen Zugang zu einer anderen Staatsbürgerschaft haben vermögende Menschen – Steffen Mau nennt das Beispiel von Peter Thiel, der die neuseeländische Staatsbürgerschaft erwarb – oder auch Sportler:innen. Die Eiskunstläuferin Aljona Savchenko wurde beispielsweise dank des Einsatzes des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble sehr schnell eingebürgert, damit sie bei den kommenden Wettkämpfen für Deutschland starten konnte. Letztlich dominieren aber wohl Mischformen. Ein als problematisch angesehener Ort und eine gleichzeitig prekäre Finanzlage dürften in dieser Kombination jede Einwanderung in ein anderes Land erheblich erschweren. „Virtuelle Grenzen“, biometrische Daten oder – wie in China die „Social Credits“ – sind noch leichter zu überwachen als Pässe und dürften daher als „smart borders“ an Bedeutung gewinnen.

Steffen Mau beschreibt am Beispiel Niger, wie Europa seine Außengrenzen verlagert: „Das Beispiel Niger steht stellvertretend für einen umfassenden Trend der Vorverlagerung, Verschiebung und räumlichen Diffusion von Grenzkontrollen. Die Kontrollgrenze vor allem der Länder des globalen Nordens ist gewandert und hat sich von der Grenzlinie abgelöst.“ Die „Grenze I“ ist die Grenze, die wir auf Landkarten finden, mache davon – nicht zuletzt in Afrika – waren „auch immer artifiziell und willkürlich“, sie beruhen im Großen und Ganzen auf den Grenzen, die die Kolonialmächte zogen. Entscheidend ist jedoch die „Grenze II“, die „Kontrollgrenze“. „Für den französischen Philosophen Etienne Balibar ist die Auflösung der Ortsfixierung von Grenzkontrolle ein zentrales, wenn nicht das entscheidende Merkmal neuer Grenzformationen, weil sich dadurch das Verhältnis von Territorium und Grenze grundlegend verschiebt.“

Solche Grenzen finden wir nicht nur an den Außengrenzen eines Landes, es gibt sie auch im Land selbst, beispielsweise im Umfeld einer Einrichtung, in der sich Geflüchtete während der Registrierung und oft auch bis zur endgültigen Bescheidung ihres Antrags auf Asyl aufhalten müssen. Aufenthaltsbeschränkungen konnte es auch schon in der Vergangenheit geben, beispielsweise in der DDR, in der dem SED-Staat missliebige Personen beispielsweise einen bestimmten Kreis nicht betreten durften, Berlin, die Hauptstadt der DDR ohnehin nicht, schon gar nicht, wenn dort internationale Veranstaltungen wie die Spartakiade stattfanden. Mit virtuellen Methoden ließe sich der Aufenthalt jedes Menschen nicht nur kontrollieren, sondern auch steuern. Andererseits: Wer einen Weg finden will, wird ihn finden.

Climate Fiction

Mitunter erinnern die verschiedenen Szenarien des Migrations- und Klimamanagements an dystopische Romane. Vielleicht gehört das alles in den Bereich der Science Fiction, die durchaus als Indikator für bestehende Probleme gelesen werden kann, wie Hans Frey in seinem dreiteiligen Essay „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“ eindrucksvoll belegt. Steffen Vogel meint in seinem Essay „Untergang oder Utopie – Der Klimawandel in der Literatur“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2023) allerdings, „dass der Klimawandel weder in der Breite noch in der Spitze der Literaturszene angekommen ist.“ Die Romane von Maja Lunde (das „Klima-Quartett“), Margaret Atwood („Orxy and Crake“) und T.C. Boyle („Blue Skies“) nennt Steffen Vogel als Ausnahmen.

Dem möchte ich widersprechen, denn eine Tendenz ist unübersehbar, vor allem in der Populärkultur. Im vorletzten Film der Superhelden-Serie des Marvel-Franchise „Avengers“, in „Infinity War“, können die vereinigten Avengers nicht verhindern, dass der Bösewicht Thanos die Hälfte der Menschheit ausrottet, um die Erde zu retten. Im letzten Film dieses Franchise „Endgame“ werden sie immerhin alle wieder lebendig, auch die vernichteten Superhelden, alle gerettet von ihren Kollegen, die die Aktionen des Thanos überlebten, und alles ist wieder wie zuvor. Gemeinsam sind sie stark und mächtig. Eigentlich doch ganz einfach. Die Popularität autoritärer Politiker (fast alle Männer, auch bei den „Avengers“ sind die Männer in der Mehrzahl) könnte durchaus etwas mit solchen Fantasien zu tun haben.

In anderen, teilweise der Science-Fiction, teilweise eher dem Fantasy-Genre zuzuordnenden Filmen, retten einzelne Superhelden die Welt vor allen möglichen Naturkatastrophen, vor riesigen Fluten, Kometeneinschlägen, was auch immer, aber die Gründe für diese Naturereignisse stehen in keiner Verbindung mit den heutigen Krisen. Filmtitel wie „Deep Impact“ oder „Armageddon“ verlagern das Problem irgendwohin außerhalb der menschlichen Einflüsse. Bruce Willis ist vielleicht der bekannteste Schauspieler, der sich als Retter profilieren und damit viel Geld verdienen konnte. Satirisch angelegt ist die Netflix-Produktion „Don’t Look Up“. Ein Komet bedroht die Erde. Die Präsidentin, Meryl Streep als eine Art weiblicher Trump, möchte die nächsten Wahlen nicht gefährden, Großkapitalisten und Wissenschaftler glauben, mit einer Spaltung des Kometen neue Rohstoffe zu gewinnen und damit noch mehr Geld zu verdienen. Schließlich geht alles seinen apokalyptischen Gang, die Führungsschicht einschließlich der Präsidentin überlebt eingefroren in einem Raumschiff, landet auf einem fremden Planeten und wird dort von einer hungrigen nicht-humanoiden Spezies verspeist.

Wer etwas tiefer in die Science-Fiction-Literatur einsteigt, wird schon vor etwa 100 Jahren manchen weiteren in seiner Anlage hochaktuellen Text finden. Ein Blick in die Tetralogie zur Science-Fiction von Hans Frey (alle erschienen bei Memoranda) lohnt sich auf jeden Fall. Hans Frey nennt in dem 2020 erschienen zweiten Band der Reihe „Aufbruch in den Abgrund – Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918-1945“ „Utopolis“ (1930) von Werner Illing und „Metropolis“ (1926) von Thea von Harbou als Pole. Im zweiten Teil seiner im Demokratischen Salon veröffentlichten Trilogie schreibt er: In Utopolis entwirft Werner Illing das Bild einer demokratischen Arbeiterrepublik, die auf höchstem wissenschaftlichem und technischem Niveau die alten Träume der Arbeiterbewegung verwirklicht hat. In Metropolis – das Buch diente dem gleichnamigen Film als Vorlage – geschieht das Gegenteil. Die Arbeiter bleiben im hypermodernen Metropolis entrechtet und ausgebeutet, versöhnen sich aber trotzdem mit ihrem diktatorischen Maschinenherrn Fredersen, weil alle an eine organische Volksgemeinschaft glauben.“ Besser kann man die heutigen Pole politischer Debatten nicht beschreiben.

Steffen Vogel schreibt, die meisten Dystopien „verlagern die Folgen des Klimawandels in eine entfernte Zukunft.“ In der Regel wird das Jahr 2050 genannt, das aber heutzutage so weit entfernt auch nicht liegt. Die EU möchte im Jahr 2045 Klimaneutralität erreichen, ein Ziel, das letztlich nicht bedeutet, dass die Folgeschäden der Klimakrise 2045 beseitigt wären, es werden lediglich keine neuen Schäden angerichtet, die Wiederherstellung eines früheren Status Quo hingegen dürfte kaum möglich sein, zumindest nicht in absehbarer Zeit.

Eine ausgesprochen interessante Erzählung zu möglichen Folgen der Klimakrise bietet Herbert W. Franke in „Das Revolutionsspiel“, „die Geschichte unserer Revolution“ (Erstveröffentlichung in „Psychologie heute Januar 1995 unter dem Titel „Oktober 2050“, 2020 neu veröffentlicht in Herbert W. Franke, Das Gutenberg-Konzil, Bd. 30 der bei p.machinery erscheinenden Werkausgabe). Herbert W. Franke benennt ausdrücklich die Verursacher der Krise: „Von außen erschien die Lebensart der Städter überaus erstrebenswert – Menschen, für die alle jene Probleme, unter denen der größte Teil der Menschheit zu leiden hatte, nicht mehr vorstellbar waren. Dabei trugen eben jene ahnungslosen, im Wohlstand lebenden Bürger die Hauptschuld am Zustand der Welt. Obwohl sie nach Zahlen gerechnet nur wenige Prozent der Weltbevölkerung darstellten, verbrauchten sie drei Viertel der Energie und der Rohstoffe. Ihre roboterbetriebenen Fabriken, ihre Kraftwerke, ihre Gewebefarmen lagen im Grenzbereich, so angelegt, dass das Schmutzwasser, die Abgase und der Müll nach außen befördert wurden und dort die Situation der Luft, des Wassers, des Klimas allmählich unerträglich werden ließen. Das war der Grund für die geplante Revolution, und es war der Beweis dafür, dass diese gerechtfertigt war – notwendig und nicht weiter zu verschieben.“

Das „Revolutionsspiel“ ist ein „Experiment“. Zentraler Akteur ist Tom Starek, dessen Herkunft das Klima-Thema mit dem Migrationsthema verbindet. Migration wurde und wird unterbunden: „Tom Starek stammte aus dem unterentwickelten Südosten Europas, doch er war rechtzeitig vor der Abschottung in den bevorzugten Bereich gekommen.“ Warum war diese „Abschottung“ im Großen und Ganzen erfolgreich. Der Erzähler berichtet, dass die Uneinigkeit unter den Armen dazu beigetragen hat und erzählt so ganz nebenbei eine neue Version der Kolonialgeschichte. „Die Weißen“ hätten die „Eingeborenenstämme“ Amerikas nur besiegen können, weil diese sich nicht einig gewesen wären (auch die Erfolge von Rechtspopulisten und -extremisten bei Wahlen haben ihre Ursache in der Uneinigkeit ihrer demokratischen Gegner). So seien auch die Kolonialreiche der „Franzosen und Briten“ in Asien, in Afrika entstanden. Die „vielfache Übermacht an rechtmäßigen Besitzern“ habe sich ihrer Uneinigkeit wegen nicht verteidigen können. So geschah es erneut: „Als sich die reichen Gebiete der westlichen Hemisphäre von der übrigen Welt abriegelten, war die Übermacht der in Armut und Bedrängnis lebenden Menschen immens, und doch gab es kaum ernsthaften Widerstand, und die Aufteilung der Welt schien besiegelt. (…) und diese Zersplitterung war die sicherste Garantie dafür, dass die Wohlstandsgesellschaft in ihren klimatisierten Kuppeln in Ruhe leben konnte.“

Diese „klimatisierten Kuppeln“ erinnern an einen anderen Roman: „Globalia“ von Jean-Christophe Rufin (das französische Original erschien 2004 bei Gallimard, eine deutsche Ausgabe 2008 bei Goldmann). Auch dort leben die Reichen in vor der unwirtlichen Außenwelt geschützten klimatisierten Kuppelbauten. Eine Frage des Romans lautet, ob eine Revolution möglich ist? Es ist die Geschichte eines jungen Globaliers, der dem fürsorglich-totalitären System von „Globalia“ entfliehen möchte. In seinem Nachwort zitiert Jean-Christophe Rufin Alexis de Tocqueville: „Die Art der Unterdrückung, von der die demokratischen Völker bedroht sind, wird in nichts dem gleichen, was ihr zuvor in der Welt vorangegangen ist.“ (Übersetzung aus dem Französischen NR). Bei Herbert W. Franke werden die Menschen in den „Kuppeln“ ebenso wie bei Jean-Christophe Rufin verführt, sie werden mehr oder weniger – so wie auch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in „Die Dialektik der Aufklärung“ beschrieben – über „eine Scheinwelt von Glanz und Glamour“ bestochen, auch diejenigen, die in den „abgeriegelten“ Gebieten des Südens leben. Die Rolle von Medien und Kulturindustrie sollte niemand unterschätzen.

Bei Herbert W. Franke gelingt das Experiment durch langsames Einträufeln veränderter Botschaften, „die die Unzufriedenheit anheizten und die Aggressionsbereitschaft erhöhten“ sowie dem Aufbau einer charismatischen Persönlichkeit namens „Che Nuovo“. Es gibt Gewaltakte, Sabotage, Vandalismus. „Was die Revolution anstrebte, war der Ausgleich, und das bedeutet das Ende des Überflusses für wenige, und keineswegs Überfluss für alle. Es bedeutet das Ende der Ungerechtigkeit, und das war ja schließlich das Ziel, das wir uns gesetzt hatten.“ Aber wie gesagt: es ist ein Spiel, das die Welt grundlegend verändert, aber auch wiederum Profiteure hat, die „einige Stockwerke tief unter der Erde“ überleben, „die plastischen Landschaften der Badestrände und Wintersportorte auf den Projektionsschirm holen und die merkwürdig unwirklich scheinenden Filme aus dem vorigen Jahrhundert ansehen.“ Dort lässt sich „das Spiel der Revolution“ auch immer wieder von Neuem spielen. Bei Jean-Christoph Rufin und bei Herbert W. Franke gibt es eine weitere Gemeinsamkeit: die Konstruktion eines gemeinsamen Feindes, dem Gegenbild des charismatischen Retters.

Und nun?

Manche sagen: die soziale Frage ist die eigentliche Frage, die beantwortet werden müsste. Sicherlich: Klimawandel beziehungsweise Klimakrise, Migration und nicht zuletzt die diversen Kriege und Konflikte unserer Zeit haben erhebliche Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse der Menschen in einer kapitalistisch verfassten Wirtschafts- und Sozialordnung. Aber die angebotenen Lösungen müssen nicht unbedingt demokratische Lösungen sein. Der Handlungsdruck kann möglicherweise sogar so hoch werden, dass nur noch repressive Maßnahmen wirken. Wer zu lange zögert, schadet letztlich der freiheitlichen Demokratie. Es entsteht schon eine Art Hauch von Entropie, ein Chaos, das sich nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zwangsläufig ergibt.

Der Sozialwissenschaftler Horst Kahrs äußerte sich zu möglichen Zukünften unter dem Eindruck der Gründung einer neuen Partei in Deutschland, des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), das sich in Sachen Klima und Migration ungeachtet seiner eher linken Herkunft doch eher auf einer (bisweilen extrem) konservativen Seite positioniert. Die Dilemmata, in denen wir leben, müssen offensiv benannt und mit demokratischen Mitteln aufgelöst werden. Vielleicht könnte seine Mahnung auch als ein Fazit dieses Essays gelesen werden? „Es fehlt vielmehr eine Partei, die sich ernsthaft und offen diesen Erkenntnissen stellt: Wir, d.h. eigentlich alle wissen, dass Migration nicht aufhören wird, so lange das globale Wohlstandsgefälle fortbesteht. Wir wissen das und wissen keine befriedigende Lösung. Wir haben nur auf der einen Seite ein moralisch einwandfreies ‚Offene Grenzen‘ und auf der anderen Seite ‚Grenzen dicht‘ und zur Not Schusswaffengebrauch. Aber welche Partei traut sich, dieses Dilemma offen als solches anzusprechen und politische Vorschläge zu machen? Mein zweiter Punkt: Wir alle wissen, dass sich das Klima so sehr verändert, dass wir auf Katastrophen zusteuern. Und wir wissen, das ist ein planetares Problem, vor dem niemand wird fliehen können und das wir nur in internationaler Kooperation wenigstens mildern werden können, auf keinen Fall mit einem Rückfall in vermeintlich nationalstaatliche Souveränität.“

Norbert Reichel, Bonn

Ich widme diesen Text dem Science-Fiction-Experten und Sozialdemokraten Hans Frey. Er starb am 25. Januar 2024. Die im Text zitierte Trilogie „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“ war seine letzte Veröffentlichung. Hans Frey gelang es immer wieder, die politischen Dimensionen der Science-Fiction-Literatur herauszuarbeiten, die guten wie die schlechten.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 15. Februar 2024. Für den Hinweis auf das Interview mit Horst Kahrs danke ich Martin Böttger.)