Jenseits der Zärtlichkeit
Gedanken über die Zukunft eines Gefühls nach Butscha
„Möge die Hand, die diese Zärtlichkeit schreibt, niemals erzittern.“
Der Legende nach entdeckte ein kundiger Forscher der altkirchlichen Baukunst mit wachem, forschendem Blick an der Wand einer der Kyjiwer Kathedralen diese merkwürdige Inschrift in altslawischer Schrift – hinterließ jedoch lediglich eine mündliche Überlieferung davon, ohne je zu erklären, ob es sich um ein Zitat aus einer Chronik oder um die schöpferische Erfindung eines der Restauratoren handelte.
Als ich über diesen legendären Satz nachdachte, der uns durch die Jahrhunderte hindurch erreicht hat und die Vorstellungskraft beflügelt, näherte ich mich seiner klaren und wohlwollenden Bedeutung mit besonderer Ehrfurcht. Wir wissen nicht, wer diese Botschaft an die Welt hinterlassen hat – wer hier so stoisch Fürsorge, ja eher noch Sorge, in Gestalt von Zärtlichkeit bekundete, wessen wachsames Herz nach diesem „letzten“ intimen Gefühl fragte, das uns anvertraut ist – als einzig mögliche Absolution für ein unmögliches Universum.
Dieser Bote besitzt keine Biografie außer dieser einen Spur, die er am Körper einer alten Kathedrale hinterlassen hat – ein flüchtiges Zeichen seiner Anwesenheit in der Welt, ein Abbild eines Gebets, eine Art Hilferuf, der nicht an uns, sondern an Gott gerichtet ist. Höchstwahrscheinlich hatte der Bittende niemals die Absicht, dass diese Zeilen von neugierigen Müßiggängern wie Ihnen oder mir gelesen würden, sondern hoffte vielmehr, dass seine Ängste, Sorgen und Befürchtungen vom Schöpfer vernommen würden.
Es ist nichts Geringeres als der schüchterne Versuch, die Welt an etwas Wichtiges zu erinnern – vielleicht an das Wichtigste überhaupt. An etwas, das danach verlangt, freigesetzt zu werden, um in die wirkliche Welt zurückzukehren und dort seinen ihm gebührenden, engagierten Platz einzunehmen. In den Tiefen der Zeit verloren, bezeugt diese Inschrift, dass in dieser Welt etwas Unruhiges fortbesteht – etwas, das niemals Frieden kennt: die Zärtlichkeit.
Krise der Zärtlichkeit?
Wer kümmert sich in unseren gnadenlosen Zeiten noch um Zärtlichkeit, mögen Sie fragen – wenn das Blut unschuldiger Opfer vergossen wird, wenn globale Katastrophen wüten, wenn Bomben explodieren und ganze Städte wieder zu Staub werden. Zärtlichkeit erscheint allzu indirekt, allzu vermittelt, allzu unzeitgemäß, allzu flüchtig, um uns mit brutaler Unmittelbarkeit zu überwältigen. Sie sucht ihre Erfüllung in der Welt der Menschen und der Dinge, wie eine Materie, die geformt werden will. Ihr tiefstes Verlangen ist es, in der Welt eine positive Gestalt anzunehmen – im Widerstand gegen das Böse, die Gewalt und die Absurdität der Existenz; mit anderen Worten: von der Welt hervorgebracht zu werden. Ihrem Wesen nach widersetzt sie sich der Unpersönlichkeit und der Rationalität. All ihre Erscheinungsformen sind Ausdruck des Geheimnisses der Verknüpfung – oder, wie Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ nahelegt, ihrer verfänglichen Verwandtschaft („Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.“) – mit scheinbar Gegensätzlichem: mit Dingen, die mit ihr verbunden und vereint sind, vielleicht sogar ihrem Wesen nach mit ihr identisch. Ihre seltsamen, mitunter widersprüchlichen Konturen greifen ineinander und bereichern einander …
Zunächst wollen wir versuchen, zu bestimmen, was Zärtlichkeit eigentlich ist. Hat das Thema der Zärtlichkeit – das wir aus den Liebkosungen unserer Eltern geerbt haben und das gemeinhin mit mütterlicher Fürsorge identifiziert wird – seine Aktualität verloren? Haben wir es hier nicht mit etwas Äußerlichem, etwas Oberflächlichem zu tun, das in einem gewissen Abstand zur Ereignishaftigkeit jener Spuren und Anachronismen steht, die von der Moderne und der Kraft unserer Überzeugungen auszumerzen gezwungen werden? Es lohnt sich festzuhalten, dass Zärtlichkeit von uns weniger als eine ethische – geschweige denn ontologische – Gegebenheit begriffen, imaginiert und erfahren wird, sondern vielmehr als eine unerfüllte Aufgabe.
Und der Prozess der Kultivierung von Zärtlichkeit (in Anlehnung an einen Hinweis der „vegetativen“ Philosophin Luce Irigaray), der einen universellen Charakter annimmt, ist unausweichlich dazu verpflichtet, in unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einzudringen – einschließlich der politischen Sphäre mit ihren oft gewaltsamen Erfahrungen und der traumatischen Beschaffenheit ihrer Folgen. Zugleich ist dies die Verpflichtung, das zurückzuweisen und offenzulegen, was sich hinter der Maske der Ungerechtigkeit verbirgt – all das, was als repressiver, heuchlerischer Mechanismus der Kontrolle über das menschliche Bewusstsein und über schöpferische Impulse funktioniert.
Gerade dieser Charakter der „Zärtlichkeit“, in einem kämpferisch-nietzscheanischen Sinne verstanden, ist es jedoch, der dazu aufgerufen ist, sich gegen die bisweilen hoffnungslos verstümmelten, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Lebensformen zu erheben und uns dazu zwingt, darüber nachzudenken, wie diese im Sinne zeitgenössischer humanistischer Bestrebungen korrigiert werden können.
Kontexte und Widersprüche
Die Literatur ist reich an Beispielen menschlicher Zärtlichkeit – von den erhabenen, romantischen, sentimentalen Vorstellungen früherer Zeiten bis hin zu den intensiven, mitunter schmerzhaften Erkundungen zeitgenössischer Autor:innen. Unsere Zivilisation zeichnet sich dadurch aus, dass sie über Zärtlichkeit und Gefühle reflektiert, wobei sie meist von paarigen, nicht widersprüchlichen Begriffen ausgeht, die Zusammenhänge bejahen: Zärtlichkeit/Begehren, Zärtlichkeit/Fürsorge, Zärtlichkeit/Körperlichkeit, Zärtlichkeit/Mutterschaft, Zärtlichkeit/Weiblichkeit, Zärtlichkeit/Melancholie. Daneben finden sich jedoch auch ausgesprochen räuberische, anarchische Paarungen: Zärtlichkeit/Grausamkeit, Zärtlichkeit/Tyrannei, Zärtlichkeit/Tabu.
Dieser einfachen Einheit beraubt, sind diese Gegensätze – zwischen denen eine gewisse Spannung besteht – nach Jean Baudrillard gerade deshalb dazu fähig, eine größere differentielle Energie hervorzubringen, die Dinge strenger und komplexer zu ordnen und die Welt zu organisieren. Mitunter scheint es, als gehörten sie derselben Welt an: Zärtlichkeit schlägt im selben Maß in Zorn um, wie Zorn zu Zärtlichkeit wird. Und dort, wo die Wahrheit aufhört, Widerstand zu leisten, oder wo sie sich vernünftig „mäßigt“, schlägt das Pendel unweigerlich in die entgegengesetzte Richtung aus, und wir sehen mit eigenen Augen, wie Zärtlichkeit ihre Authentizität verliert, Barmherzigkeit zu maßvoller Gerechtigkeit wird und – so Dwight Longecker in „The Tyranny of Tenderness“ – Mitgefühl seiner Moralität und seines Sinns beraubt ist.
Tatsächlich lenken scharfsinnige Geister unsere Aufmerksamkeit darauf, dass es gerade im Bereich dieser Nähe zur Zärtlichkeit ist, wo die schrecklichsten wie auch die schönsten Dinge geschehen. Einfach gesagt: Alle Versuche, Zärtlichkeit zu definieren, greifen zwangsläufig auf unvermeidliche Widersprüche, ja sogar Paradoxien zurück. Unter Berücksichtigung dieses widersprüchlichen Bündnisses werden wir im Folgenden nur einige der möglichen Beispiele anführen. Doch verlangen Sie von der Autorin beziehungsweise dem Autor keine vollständig ausgearbeiteten Argumente: Wir bewegen uns hier auf unsicherem theoretischem Terrain, ohne klare prozedurale Lösungen in Bezug auf die Zärtlichkeit in Aussicht.
Denn alles, was „jenseits“ der wortkargen, zurückhaltenden, unterdrückten Form ihres Daseins liegt, ist weitaus klarer, stärker differenziert, evidenter und sehr viel besser in den linearen Formen des Diskurses ausdrückbar. Zunächst ist festzuhalten, dass der vorliegende Essay keineswegs den Anspruch erhebt, eine umfassende oder auch nur konsistente Reflexion über die Zärtlichkeit zu bieten. Für Leser:innen, die ein solches Bedürfnis haben, gibt es vielleicht das Buch des amerikanischen Philosophen David Farrell Krell, das derzeit gründlichste Buch zu diesem Thema: „The Cudgel and the Caress: Reflections on Cruelty and Tenderness“, das die griechische Tragödie und die griechische Epik aus der Perspektive von Erzählern untersucht, die auf das Thema der Zärtlichkeit eingestimmt sind – Freud, Nietzsche, Derrida und andere Philosoph:innen.
Beiläufig sei erwähnt, dass dieses Buch aus dem Scheitern des Autors hervorgegangen ist – aus seiner in frühen Essays gemachten Erfahrung, überhaupt nichts über Zärtlichkeit sagen zu können. Darüber hinaus müssen wir uns auf bestimmte aporetische Momente konzentrieren, die uns später helfen werden zu verstehen, was mit der Zärtlichkeit im Feld der ukrainischen Kunst im Krieg geschieht – und auch, ob wir nicht den einzig möglichen Befund anerkennen müssen: dass die Zärtlichkeit heute zu nichts anderem verurteilt ist als zur Magie ihres eigenen Verschwindens. Wir erlauben uns, dieses Problem in der Form gänzlich fragmentarischer Gedanken und Beobachtungen zu „entfalten“; dies wird es der Leserschaft zwar nicht ermöglichen, eine kohärente Vorstellung vom Gegenstand unseres Interesses zu gewinnen, wohl aber dazu beitragen, diejenige – zumindest ein wenig – zu justieren, die sich andernfalls auf konventionelle Weise einstellen würde.
Ich weiß nicht, ob Ludwig Wittgenstein recht hatte, als er sagte, dass wir, um dem Denken eine Grenze zu ziehen, fähig sein müssten, auf beiden Seiten dieser Grenze zu denken – was per definitionem schlicht unmöglich ist. Doch wir müssen uns dieser „Unmöglichkeit“ stellen und versuchen, beide Seiten der Argumentation zu entfalten, um einen Horizont zu eröffnen, der andernfalls die sich dahinter erstreckende Landschaft zu verbergen scheint.
Sorgfältig über Zärtlichkeit nachzudenken heißt daher, jenseits von Zärtlichkeit zu denken – in einem kollektiven Sinne, in dem das Andere, das Fremde, die vorgegebene Harmonie destabilisiert. Auch Jacques Derrida hat deutlich gemacht, dass „Kräfte niemals ohne Repräsentationen wirksam werden, ohne Spiegelbilder, ohne Phänomene der Brechung und Beugung, ohne Reflexion oder Wiederaneignung unterschiedlicher oder entgegengesetzter Kräfte, ohne Identifikation mit dem Anderen oder mit dem Gegner usw. – ohne diese ganze Vielzahl von Strukturen, die jede identifizierbare Kraft teilen, sie de-identifizieren und sie im Prozess ihrer eigenen Dissemination verschieben.“
Die Welt der kleinen Dinge
In diesem dicht gedrängten Feld unzähliger Kräfte – in dem es nicht mehr möglich ist, ihre Anzahl oder ihre sich ständig verändernden Proportionen zu erfassen – hat die Zärtlichkeit ihren Ort. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands sorgfältig über Zärtlichkeit nachzudenken heißt – so Bernard Stiegler in seinem Aufsatz „What is Called Caring?“ –, die Grenzerfahrung ihres Seins zu denken – nicht sich selbst überlassen, sondern geöffnet auf die Verbindung mit einem anderen ontologischen Anfang, einem Anfang, der nicht getrennt ist von der bedrückenden Präsenz des Schreckens der Gewalt, der, wie so oft, bereits vorausgeeilt ist.
Dies ist die Aporie und das Kopfschmerz verursachende Moment dieser Grenzerfahrung: ein ungleiches Verhältnis zwischen dem Wohlwollenden und dem Böswilligen, die sich der Welt in unterschiedlicher Intensität darbieten.
Der Versuch, Zärtlichkeit in die Formen der Identität einzuschließen, erlaubte es Hannah Arendt, sowohl die Wünschbarkeit als auch die Fremdheit dieses berührenden Gefühls zaghaft zu erspüren. In einem Brief an Heidegger aus dem Jahr 1925, düster mit „Schatten“ überschrieben, spricht die träumerische Studentin Arendt von einer spürbaren „Zärtlichkeit zu den Dingen der Welt“. Arendts Gedankengang – in seiner Plötzlichkeit und Unstetigkeit – steht dem Leben näher als der Philosophie: „Denn Fremdheit und Zärtlichkeit drohten ihr schon früh eins und identisch zu werden. Zärtlichkeit bedeutete scheue, zurückgehaltene Zuneigung, kein Sich-Geben, sondern ein Abtasten, das Streicheln, Freude und Verwundern an fremden Formen war.“
Sie schreibt auch von einem anhaltenden, beinahe greifbaren Gefühl der Sehnsucht, das die Energie, die Aufmerksamkeit und den Rhythmus ihres Lebens leitete, wann immer sie sich dem hingab, was gewöhnlich als „der Prozess des Denkens“ bezeichnet wird. Mitunter wurde dieses sehnsuchtsvolle Verlangen nach etwas oder jemandem, nach dem Verschwundenen, dem Nicht-Verwirklichten, dem Unmöglichen, „von einer Angst vor der Wirklichkeit überwältigt – einer sinnlosen, grundlosen, leeren Angst, die mit ihrem blinden Blick alles ins Nichts verwandelte, jener Angst, die selbst Wahnsinn, Freudlosigkeit, Trauer und Vernichtung ist.“
Arendts Zärtlichkeit ist ein Zustand, der „strukturell“ – im Sinne einer nicht systematisch ausgearbeiteten, gleichsam „abwesenden“ Struktur nach Umberto Ecos „La struttura assente“ – neben anderen Zuständen verortet ist und sich zugleich von ihnen absetzt. Es scheint, dass sie später so etwas wie eine Ethik der Zärtlichkeit vorgeschlagen hat – verstanden als Selbstvervollkommnung durch den Akt der Zärtlichkeit –, doch hat sie Zärtlichkeit weder als eine Vielzahl von Erscheinungsformen menschlichen Zusammenlebens noch als kollektives Streben und als eine Weise des In-der-Welt-Seins verstanden oder analysiert.
Wenn ich heute zu Hannah Arendt zurückkehre, insbesondere zu „The Human Condition“, kann ich nicht umhin, mich zu fragen: Endete ihr Verständnis von Zärtlichkeit tatsächlich bei ihrer persönlichen Beziehung zur Welt und blieb es damit als unpolitisch identifiziert und definiert, oder interessierte sie sich dennoch für das Potenzial und die Wirkmacht geteilter Zärtlichkeit – für ihr Übergehen in die Welt der Dinge und der anderen Menschen? Indem sie der Zärtlichkeit half, ihren Weg in die Welt zu finden, bemerkte sie, wie die Franzosen mit ihrer beispielhaften Familienstruktur den Ruf erlangt hatten, „happy among ‚small things,’ within the space of their own four walls, between chest and bed, table and chair, dog and cat and flowerpot, extending to these things a care and tenderness which, in a world where rapid industrialization constantly kills off the things of yesterday to produce today’s objects, may even appear to be the world’s last, purely humane corner” („glücklich unter den ‚kleinen Dingen‘ zu sein, im Raum der eigenen vier Wände, zwischen Kommode und Bett, Tisch und Stuhl, Hund und Katze und Blumentopf, und diesen Dingen eine Sorgfalt und Zärtlichkeit zuzuwenden, die in einer Welt, in der die rasche Industrialisierung die Dinge von gestern ständig tötet, um die Gegenstände von heute hervorzubringen, vielleicht als die letzte, rein menschliche Ecke der Welt erscheinen mag“).
Die Welt dieser „kleinen Dinge“ entzieht sich dem vereinfachenden, vertrauten Blick, besitzt jedoch eine „versammelnde Kraft“: Sie ist wohlgeordnet und behaglich, ohne innere Risse, Brüche oder Zonen des Schweigens; sie ist gewöhnlich in ihrer Gewöhnlichkeit, alltäglich in ihrer Alltäglichkeit und sogar banal in ihrer Banalität. Hier mag die Leserin oder der Leser vielleicht die eindrücklichste, im wörtlichsten Sinne überzeugende Illustration von Arendts These über die „Gemeinschaft der Welt“ erkennen.
Eine solche Verbindung zu finden, die sich als stark genug erweisen könnte – dies ist, so ließe sich argumentieren, eine der wesentlichen Bewegungsrichtungen der zeitgenössischen ukrainischen Kunst: eine Art Rückzug aus einer unbewohnbaren umgebenden Welt oder eine Kompensation für sie. Eine spezifische, verdichtete Absolutsetzung des „Kleinen“, des Minimalen, Kargen und Stillen, des Unsichtbaren; die Suche nach einem „Zufluchtsort“, um zu retten, was noch zu retten ist – darüber nicht zu schweigen, darum ringen ukrainische Künstlerinnen und Künstler im Krieg. Genau hier vollzieht sich der Durchbruch zur Authentizität, ein Durchbruch, der eine explosive Kraft annimmt, frei von Fatalismus, Defätismus und – unmissverständlich – Zynismus.
Gemeinsames Unglück?
Doch im Leben gibt es das Grauen, eine „Mauer“ – im deleuzianischen Horizont von Grenze und Oberfläche –, oder schlimmer noch: die Unwilligkeit der Welt, Verbrechen angemessen zu verurteilen, eine Bereitschaft, Unmenschlichkeit zu rechtfertigen, Länder, Kulturen und Kontinente gegeneinander auszuspielen, die Hoffnung auf eine wechselseitige Bewegung aufeinander zu untergraben und die Erfahrung der Verteidiger mit jener der Aggressoren gleichzusetzen. All dies zwingt uns dazu, „Schreie, Übelkeit und Verzweiflung in diplomatische Formulierungen und Bitten an internationale Medien zu verpacken und sie daran zu erinnern, dass die Erfahrungen von Ukrainer:innen und Russ:innen in diesem Genozid nicht miteinander vergleichbar sind.“
Die zitierten Zeilen aus einem jüngsten Artikel im Guardian sind die Antwort und der Zorn des ukrainischen Intellektuellen Oleksandr Mykhed auf eine weitere ambitionierte, beiläufig hingeworfene Bemerkung des „Putin-kritischen“ Russen, des Schriftstellers und Pazifisten Boris Akunin, der behauptete, wir erlebten den dritten Jahrestag „unseres gemeinsamen Unglücks“. Hier hätte Akunin Tolstois Selbstbeschreibung als Schriftsteller verdient, der sich selbst lediglich als „einen Jungen, einen Schüler, und noch dazu einen schlechten, wenig fleißigen Schüler“ in Fragen der moralischen Vervollkommnung sah – weil er mit allen Lastern der Welt „begabt“ gewesen sei. Es scheint, dass der „begabte“ Akunin, ohne nennenswerte Erfolge „in der Sache der moralischen Vervollkommnung“, sich nun, am dritten Jahrestag der monströsen genozidalen russischen Aggression, daran erinnern lassen muss, dass Unglück keinen gemeinsamen Körper hat: Es entfaltet sich und strahlt aus in konkreten geografischen Koordinaten, ist unauflöslich an Orte gebunden und in die Haut jener Ukrainer:innen eingeschrieben, die ihre Angehörigen auf dem Schlachtfeld oder infolge grausamer Raketenangriffe auf zivile Infrastruktur verloren haben. Es kann nicht geteilt werden; folglich kann es nicht als gemeinsam bezeichnet werden.
Die „Gemeinschaft der Welt“ bricht hier wie ein Kartenhaus zusammen, wendet sich ab, und für eine Ordnungsenthusiastin wie Hannah Arendt lässt sich in ihr weder Übereinstimmung finden noch Frieden …
Im Vergleich zu Arendts epischer Gelassenheit ist Baudrillards Haltung – so Lewis Call in „Postmodern Anarchism“ – durch und durch anarchistisch, und in seinem bekannten Werk „Les stratégies fatales“ („Die fatalen Strategien“) schlägt er einen Ton energischer Empörung an. Er greift eine rücksichtslose, desorientierte, unterdrückende Realität (oder Hyperrealität) an, die auf uns einwirkt und uns niederdrückt, und behauptet, dass „die Dinge einen Weg gefunden haben, einer Dialektik des Sinns zu entgehen, die sie zu langweilen begann: indem sie sich endlos vervielfältigen, ihr Potenzial steigern, sich selbst in einer Bewegung zur Grenze hin überbieten – eine Obszönität, die fortan zu ihrer immanenten Finalität und sinnlosen Vernunft wird.“
Die Realität ist nicht länger das, was wir von ihr erwarten; alles löst sich in Simulation auf: Das Soziale wird von den Massen absorbiert und gewinnt seine eigene Finalität in einer Hyperfinalität; die Sexualität löst sich nicht in Sublimierung auf, sondern nimmt vielmehr eine weit hypertrophiertere „Kontur“ in der Pornografie an. Dinge, Bedeutungen, Körper und Gefühle haben die Gestalt einer „angeborenen Katastrophe“ angenommen, und die Dinge selbst sind keine Dinge mehr, sondern „Exemplare“ in ihrer fatalen Grenzenlosigkeit – in Simulation aufgelöst, entleert ihrer „sichtbaren und allzu auffälligen Form, ihres Spektakels“.
Alle Strukturen werden nach außen gekehrt, zur Schau gestellt; alle Handlungen werden sichtbar und sind in diesem Sinne „hyperfinal“. Das Große und das Unbedeutende, das Gute und das Böse, das Moralische und das Verderbte verstricken sich ineinander; Liebe und Zärtlichkeit geben ihre Kraft an Schrecken und Gewalt ab und schrumpfen unter deren Druck. Dies ist die totale, alles verschlingende Obszönität, die der fortgesetzten Zerstörung und dem Zusammenbruch der Dinge freien Lauf lässt.
Für diesen Zustand der Welt – in dem alle ethischen Ordnungen und grundlegenden Begriffe keinen Platz mehr haben, in dem sie keine Regeln des Lebens mehr begründen und dem Monströsen keinen Widerstand entgegensetzen, uns damit erneut zwingen, die Gültigkeit radikaler Ansprüche auf Gerechtigkeit, Vergeltung und Reue zu hinterfragen – gibt es keinen angemessenen Namen mehr. Die Grenze ist der erste Name, den Bataille diesem Schrecken gibt. Der Rand – „ein einzigartiges Oberflächen-Ereignis“ –, der bei Deleuze fest und real gezogen wird, nun aber durch uns hindurch, durch das Blut der Frontlinien und Ruinen, ist der zweite Name. Und dann – im Schwellenraum der Grenzerfahrung – treten Aristoteles’ „Zorn“, Artauds durchdringender „Schrei“ oder Gielens „Akt der Gerechtigkeit“ im Namen der Gerechtigkeit hinzu und markieren den Weg, der es uns erlaubt, die unbeantwortbare und „letzte Frage“ zu stellen: Wie ist Zärtlichkeit nach Butscha möglich – und nach all den anderen Butschas?
Plötzlich erinnerte ich mich an Heinrich Bölls „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ (ein Text aus dem Jahr 1952) – an die Untrennbarkeit von Leben und Leid, wie er sie beschreibt. Hier sind wir, und hier ist das, was sich neben uns entfaltet – das, was wir innerhalb der Grenzen unseres eigenen Gesichtsfeldes wahrzunehmen vermögen. Hier ist der Bäcker, ein durchaus gewöhnlicher Mann, mit ordentlichen, bedachten Gesten; von ihm geht der Geruch von Mehl und warmem Brot aus. Doch die Augen des Bäckers sind voller Trauer, und er denkt nicht anders als durch eben diese Trauer hindurch, in ihrer Ursprünglichkeit und Unaufhebbarkeit. Gewiss haben sich viele Ereignisse an der Oberfläche vollzogen – der Krieg hat ihm den Sohn genommen, sein Haus ist zerstört, bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und auf dem Grab seines Sohnes steht kein Kreuz, ja, es gibt überhaupt kein Grab. Und alles, was in seinem Leben und im Leben der Menschheit je existiert hat – alles Gute und Edle –, ist von dieser Trauer umfasst, in seinen Körper eingeschrieben, unausweichlich in ihm zur Wirklichkeit geworden und daher untrennbar mit ihm verbunden.
Auch die Zärtlichkeit ist untrennbar. Sie ist in uns und kommt aus uns; sie nimmt all das Grauen und all den Schmerz, den Krieg und das Leid in sich auf und versucht, dem Leben erneut Geltung zu verschaffen. Ihre stille Präsenz in der Welt der Dinge und der Menschen ist – so möchte man glauben – unbestreitbar und ewig. Doch noch kann sie sich nicht laut äußern, denn das Böse und kosmische Katastrophen beherrschen die Welt mit Härte und Unmenschlichkeit. Glanz und Grausamkeit, Schrecken und Schönheit werden so der Macht der Realität überlassen – grenzenlos im Schmerz und grenzenlos in der Freude; alles Gegensätzliche, alles Gleichzeitige rückt eng zusammen, ohne sich jedoch aufzuheben. Künstlerinnen und Künstler wenden sich dieser harten Konjunktion zu, die nach dem glühenden Anarchisten Baudrillard den Totalzustand der Welt ausmacht.
Lesia Smyrna, Kyjiw
Lesia Smyrna ist Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin, Autorin mehrerer Monografien sowie Koautorin von Sammelbänden, Artikeln und Projekten, die das neue epistemologische und ästhetische Potenzial der bildenden Kunst in der Ukraine untersuchen. Die jüngste Monografie, „100 Jahre Nonkonformismus in der ukrainischen bildenden Kunst“ (2017), ist sowohl in der ukrainischen als auch in der westeuropäischen Forschung eine der wenigen Studien, die sich mit nichtkonformistischer Kunst über einen erweiterten Zeitraum hinweg befassen, indem sie die Grenzen zwischen der Zeit vor und nach 1945 sowie zwischen der Sowjetunion und dem kommunistischen Block in Europa nach 1945 überschreiten.
Der Fokus auf die sowjetische und postsowjetische Ukraine dient dabei eher als Prisma denn als Endpunkt und ermöglicht eine umfassendere Analyse der Bedeutungen und Einsatzweisen des Nichtkonformismus in der Kunst in ganz Europa. Zu ihren beruflichen Mitgliedschaften zählen die National Agency for Higher Education Quality Assurance (Ukraine), die National Academy of Arts of Ukraine sowie das Modern Art Research Institute.
Sie hatte internationale Fellowships und Gastaufenthalte am IWM (Wien), am Institute for Advanced Study (Delmenhorst) und bei RECET (Wien) inne. Ihre aktuelle Forschung an der Akademie der bildenden Künste Wien, gefördert durch das Eliza Richter Fellowship, konzentriert sich auf das Projekt „Discourse of Trauma as a Source of ‚Cruel Optimism‘ in Visual Projects of Artists in Wartime Ukraine (2013–2023)“.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Pavlo Shopin, Drahomanow Universität Kyjiw. Eine englische Fassung des Beitrags erschien in der Zeitschrift Krytyka.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung der deutschen Fassung im Dezember 2025, Internetzugriffe zuletzt am 18. Dezember 2025, Titelbild: Yana Kononova, Thresholds #4, 2024, Rechte bei der Künstlerin.)
