Judentum in Deutschland
Ein Gespräch mit Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland
„In Deutschland kommen die Narrative von vielen Nationen zusammen, Wissen über die deutsch-jüdische Geschichte allein hilft gegen Antisemitismus nicht. Heutzutage sind vor allem junge Menschen durch die sozialen Medien so vielen Einflüssen ausgesetzt, dass sie die unterschiedlichen Formen von Antisemitismus kennen müssen, um gegen sie gewappnet zu sein. Das Festjahr ‚1700 Jahre jüdisches Leben‘ bietet deutschlandweit eine Fülle von Kultur- und Bildungsveranstaltungen. Die Vielfalt des Judentums, vor allem des heutigen modernen jüdischen Lebens in Deutschland, lässt sich damit bekannter machen, und es entstehen viele Möglichkeiten der Begegnung. Für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist das eine riesige Chance. Wir sollten sie nutzen!“ (Josef Schuster, Bewusstsein für Judentum schaffen, in: Jüdische Allgemeine: 1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland, 18. Februar 2021)
Der Zentralrat der Juden in Deutschland feierte im Jahr 2020 sein 70jähriges Bestehen. Er gründete sich am 19. Juli 1950. Damals lebten etwa 15.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. In den Nachkriegsjahren erhöhte sich die Zahl, zunächst vor allem durch Remigrant*innen. Die fünf Gemeinden der DDR wurden 1990 aufgenommen. Die Gemeinden wuchsen in den 1990er Jahren erheblich durch Zuwanderung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, eine Initiative der demokratischen DDR-Regierung im Jahr 1990. Heute gehören dem Zentralrat 105 Gemeinden mit etwa 100.000 Mitgliedern an.
Seit 1999 befindet sich die Geschäftsstelle in Berlin-Mitte im Leo-Baeck-Haus. In Frankfurt am Main arbeitet nach wie vor die Bildungsabteilung, die zurzeit zur Jüdischen Akademie ausgebaut wird. Eine wichtige Adresse für Forschung und Lehre ist die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. Der Zentralrat vergibt regelmäßig den Paul-Spiegel-Preis und den Leo-Baeck-Preis.
Die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine wird vom Zentralrat herausgegeben und bietet politische Informationen und Testimonials, Beiträge zum Leben in den Gemeinden, Korrespondentenberichte zur israelischen Politik, Essays zu Kultur und Religion sowie Empfehlungen für kulturell, historisch, literarisch und cineastisch interessante Veranstaltungen. Wer Leseempfehlungen sucht, findet im Kulturteil immer spannende Anregungen.
Im Jahr 2021 wurde das Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ ausgerufen. Grundlage ist ein Dokument aus dem Jahr 321, das sicherlich nicht als Beleg für den Beginn jüdischen Lebens angesehen werden kann, denn hätte es nicht schon vorher Jüdinnen und Juden in Köln gegeben, gäbe es auch nicht dieses Dokument. Es ist jedoch definitiv der erste erhaltene schriftliche Beleg und daher durchaus ein Anlass für ein Jubiläum.
Präsident des Zentralrats ist Josef Schuster, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden seit 2014 Daniel Botmann. Er wurde 1984 in Tel Aviv geboren und kam im Alter von wenigen Monaten mit seinen Eltern nach Trier. Er ist Rechtsanwalt, engagierte sich im Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sowie in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Das hier dokumentierte Gespräch fand am 10. Januar 2022 statt.
Eine neue Sensibilität – eine neue Offenheit
Norbert Reichel: Sie sind seit nunmehr fast acht Jahren Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland. Was hat sich aus Ihrer Sicht in dieser Zeit verändert?
Daniel Botmann: Es hat sich eine ganze Menge entwickelt. Vor allem haben sich manche Dinge, mit denen man sich beschäftigt, in dieser Zeit verändert. Ich denke an das Jahr 2014, als ich frisch im Amt war. Im Sommer 2014 fand die Gaza-Offensive statt. Es gab antisemitische Demonstrationen auf den Straßen mit üblen Beschimpfungen, in denen hasserfüllte Parolen skandiert worden sind. Zum damaligen Zeitpunkt war – so ist mein Eindruck – die Sensibilität für Antisemitismus auf den Straßen geringer als heute. Im Mai 2021 gab es vergleichbare antisemitische Vorfälle, beispielsweise in Gelsenkirchen. Da hatte ich das Gefühl, dass die Gesellschaft, die Zivilgesellschaft ebenso wie die Politik, sehr viel beherzter, sehr viel klarer, sehr viel offener dagegen aufgestanden ist und sich gegen den Antisemitismus gewandt hat.
Das war 2014 anders. Damals stieß der Antisemitismus auf den Demonstrationen auf wenig Gegenreaktion. Vielfach war zu lesen, die Demonstrationen wären ohne besondere Vorfälle verlaufen. Heute gibt es eine andere Sensibilität. Ich glaube, das ist auch eine Auswirkung dessen, dass die Aufmerksamkeit für das Thema Antisemitismus deutlich erhöht worden ist. Seitdem wurden Antisemitismusbeauftragte im Bund und in den Bundesländern eingesetzt. In Staatsanwaltschaften gibt es Antisemitismusbeauftragte. Das Thema an sich ist auch zunehmend in andere Bereiche vorgedrungen, beispielsweise in den schulischen Bereich. Es gibt inzwischen mehrere gemeinsame Erklärungen von KMK und Zentralrat. Das Thema findet in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zunehmend Aufmerksamkeit. Es gibt eine positive Entwicklung. Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit des Problems sind gestiegen.
Norbert Reichel: Antisemitismus ist das eine Thema. Das andere Thema setzt das Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Es geht darum, jüdisches Leben sichtbar zu machen. Wie sähe Ihre erste Bilanz des Festjahres aus, im Rückblick auf das Jahr 2021?
Daniel Botmann: Das Judentum ist ein integraler Bestandteil von Deutschland und der deutschen Gesellschaft. Allein die Tatsache, dass es jüdisches Leben seit 1700 Jahren in Deutschland gibt, ist ein klares Signal und Bekenntnis. Ich glaube, es ist wichtig, dass auch in der allgemeinen Bevölkerung in der Breite das Bewusstsein für jüdisches Leben durch das Festjahr geschaffen werden konnte. Es war ein Versuch, es war unklar, wie es sich entwickeln könnte.
Das Festjahr wurde jetzt wegen der Corona-Pandemie verlängert, aber wir können trotz Pandemie sagen, dass das Festjahr ein Erfolg war. Es gab sehr viele Veranstaltungen, im Hinblick auf Corona ja keine Selbstverständlichkeit. Es entstanden sehr viele Möglichkeiten auch für Menschen, die noch nie mit dem Judentum in Berührung gekommen sind, niedrigschwellig etwas über das Judentum zu erfahren, ins Gespräch zu kommen, Vorbehalte abzubauen. Es war auch eine Möglichkeit, das Judentum jenseits von Antisemitismus, Nahostkonflikt in seiner Vielfalt zu präsentieren. Ich denke, das Festjahr war ein großer Erfolg. Es ist ein Baustein, Vorbehalte und Vorurteile abzubauen.
Norbert Reichel: Der Zentralrat hat gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden eine Menge an Angeboten entwickelt und in der Öffentlichkeit bekanntgemacht, den Gemeindetag, die Jewrovision, die Makkabi-Spiele. Wie schätzen Sie die Wirkung dieser Angebote ein, in den jüdischen Gemeinden, in der allgemeinen Öffentlichkeit?
Daniel Botmann: Das ist eine interessante Frage, weil es auch innerjüdisch ein Umdenken gegeben hat. Nach der Shoah haben viele Shoah-Überlebende geschwiegen. In den jüdischen Gemeinden gab es lange die Überzeugung, die Bekämpfung des Antisemitismus ist nicht Sache der Juden. Wenn Antisemitismus bekämpft werden soll, muss dies die die Gesamtgesellschaft machen. Ich denke, das ist weiterhin richtig, aber es muss durch weitere Elemente ergänzt werden. In der jüdischen Gemeinschaft sagen heute viele, wir wollen einen aktiven Beitrag im Kampf gegen Antisemitismus leisten.
So sind Initiativen entstanden wie Meet a Jew oder der jüdisch-muslimische Dialog Schalom Aleikum und vieles andere.
Norbert Reichel: Olga Rosow, die Leiterin der Sozialabteilung in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, sagte mir im Gespräch, dass viele Ältere in der Gemeinde das Festjahr sehr positiv aufnahmen. Sie sagten, wir sind da, wir sind wichtig. Vorher habe man eher im Verborgenen gelebt. Insofern ist das 1700-Jahre-Festjahr auch etwas wie ein Katalysator.
Daniel Botmann: Es ist sehr spannend die Vielfalt der Reaktionen auf das Festjahr wahrzunehmen. Viele waren sehr glücklich darüber, dass es die Möglichkeit gab, in einem positiven Kontext zu zeigen, was es bedeutet, jüdisch zu sein, jüdisch zu leben. Es gab aber auch andere Reaktionen, die sagten, als jüdische Gemeinde wollen wir aber auch kein Zoo sein. Wir wollen gar nicht in die Öffentlichkeit. Wir wollen unser Gemeindeleben so führen, wie wir es tun, ohne dass wir es sichtbar machen müssen. Es gab eben ganz unterschiedliche Reaktionen. Ich glaube, das ist auch so in Ordnung. In der großen Breite wurde das Festjahr sehr positiv aufgenommen, auch in den jüdischen Gemeinden. Die Gemeindemitglieder haben das Festjahr mitgestaltet, von Jugendgruppen bis zu Seniorengruppen gab es eine sehr breite Beteiligung. Sichtbarmachung funktioniert ja auch nur dann, wenn Einblicke gewährt werden. Das Festjahr hat aus meiner Sicht gezeigt, dass das gut funktioniert hat.
Leben mit Antisemitismus
Norbert Reichel: Dazu haben sicherlich auch die vielen Berichte in Fernsehsendungen, Zeitungen und anderen Medien beigetragen. Es gab ganze Themenwochen in der ARD, im ZDF und anderswo. Zur Sichtbarmachung gehört – Sie sprachen es am Anfang unseres Gesprächs an – auch die Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit von Antisemitismus. Es ist ja nicht so, dass es Antisemitismus erst seit der Gaza-Offensive im Jahr 2014 gegeben hätte. Ich denke an die ausführliche, etwa 100 Seiten umfassende Liste antisemitischer An- und Übergriffe in der Zeit von 1945 bis 2020, die Ronen Steinke in seinem Buch „Terror gegen Juden“ (Berlin Verlag 2020) veröffentlicht hat. Die Liste ist nicht vollständig, aber das kann sie auch gar nicht sein. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Ignatz Bubis sel.A. (1927-1999) zum Ende seiner Amtszeit als Präsident des Zentralrats im Jahr 1999 sagte, er habe nichts erreicht. Ich denke, einen solchen Satz wird heute niemand mehr sagen.
Daniel Botmann: In der Tat war die gesellschaftliche Situation vielfach nicht so einfach. Wenn wir zurückdenken an Heinz Galinski sel.A. (1912-1992), an Werner Nachmann sel.A. (1925-1988) oder Ignatz Bubis sel.A. Jeder hatte in seiner Zeit mit Herausforderungen zu kämpfen. Ich denke beispielsweise an die Debatte um die Rede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche im Jahr 1998 und andere Ereignisse. Das war für die jüdische Gemeinschaft nicht einfach. Die Herausforderungen haben sich mit den Jahren gewandelt, aber sie haben sich nicht verkleinert. Ich denke an die Beschneidungsdebatte im Jahr 2012, als Juden als Kinderschänder dargestellt wurden.
Jeder Zeitraum hatte seine eigenen antisemitischen Herausforderungen für die jüdische Gemeinschaft. Ich habe eine andere Auffassung als Ignatz Bubis. Wenn er in seiner Zeit nicht gewirkt hätte, wäre es in manchen Bereichen viel schlimmer als es ist. Die Beiträge, die wir heute leisten und die jeder in seiner Zeit für eine gesellschaftliche Befriedung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt leistet, sind alle für sich wichtig und richtig. Auch wenn man immer wieder mal die Frage stellt, bringt das wirklich etwas. Ja, ich glaube, es bringt was. Es bringt nichts, die Augen zu schließen, die Hände in den Schoß zu legen. Das kann keine Antwort sein.
Norbert Reichel: Ein Thema in den öffentlichen Debatten ist immer Israel. Vielleicht hat der israelbezogene Antisemitismus den größten Anteil am heutigen Antisemitismus. Ich denke beispielswiese an Bücher von Julia Bernstein oder Alex Feuerherdt und Florian Markl, die dies ausführlich belegen. Sie erwähnten die sogenannten Al-Quds-Demonstrationen des Jahres 2014.
Daniel Botmann: Israelbezogener Antisemitismus ist ein riesiges Problem bei uns im Land, gerade in Schulklassen – Sie erwähnten das Buch von Julia Bernstein –, aber auch in anderen Kontexten. Wir sind im schulischen Bereich sehr intensiv engagiert. Es wird immer wieder angebracht, man müsse Israel doch kritisieren dürfen. Aber das ist eine scheinheilige Debatte. Man kann jedes Land kritisieren, man kann Maßnahmen kritisieren, aber die generelle Ablehnung der Existenzberechtigung eines Landes, wie es das nur gegenüber Israel gibt, das ist antisemitisch.
Und wenn eine jüdische Schülerin, ein jüdischer Schüler in der Schule permanent zum israelischen Botschafter gemacht wird, weil die Mitschüler sie dazu machen, dann müssen wir dagegen vorgehen, klare Kante zeigen. Wir sehen das nicht nur in Schulklassen, wir sehen das in der im höchsten Maße antisemitischen BDS-Bewegung. Sie versucht immer wieder, die antiisraelischen Ressentiments, die immer antisemitisch eingefärbt sind und mit Verschwörungserzählungen garniert werden, zu verbreiten. Das dürfen wir ihnen nicht durchgehen lassen!
Die Partner – in Deutschland, in Europa, international
Norbert Reichel: Sie haben mehrere Beschlüsse des Deutschen Bundestags erwähnt. Es gibt den Beschluss zur Beschneidung, den Beschluss zur Verurteilung von BDS. Wie muss ich mir die Mitwirkung des Zentralrats an solchen Beschlüssen vorstellen?
Daniel Botmann: Das läuft, wie es im demokratischen Diskurs in unserem Land üblich ist. Wir haben in unserem Land viele Vertreter verschiedener Interessen. Abgeordnete leben ja nicht in einem Vakuum. Ihre Arbeit lebt von dem Austausch mit gesellschaftlichen Gruppen. Das nehmen auch wir auch in Anspruch, um die jüdischen Positionen gegenüber der Politik, den Abgeordneten, den Ministerien zu vertreten. Das war in der Beschneidungsdebatte so, das war in der Debatte um den BDS-Beschluss so. Das ist auch in vielen anderen Bereichen so, zum Beispiel in ethischen Fragen, beispielsweise als es um die Sterbehilfe ging. Wir sind aktiv auf Abgeordnete zugegangen. Genauso tun wir dies aktuell bei der Debatte um die allgemeine Impfpflicht, die ja für die Abgeordneten auch eine ethische Entscheidung ist. Wir teilen die jüdische Position den Abgeordneten mit, und das ist ein Baustein für den Meinungsbildungsprozess.
Norbert Reichel: Zum Thema Ethik empfehle ich immer gerne den wunderbaren bei Hentrich & Hentrich erschienenen Band „Ethik im Judentum“, den Sie gemeinsam mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund herausgegeben haben. Aus meiner Sicht ist dieser Band das Beste, was eine Religionsgemeinschaft zum Thema Ethik vorgelegt hat. Das kann durchaus auch von anderen Religionen, beispielsweise im schulischen Religionsunterricht, verwendet werden. Auch in der Jüdischen Allgemeinen werden aktuelle ethische Fragen immer wieder aus jüdischer Sicht diskutiert. Zuletzt las ich dort einen sehr differenzierten Text zum Thema Triage. In diesen Zusammenhang passt vielleicht auch Ihre Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen in anderen Ländern.
Daniel Botmann: Es gibt eine gute Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Dachverbänden in verschiedenen Ländern. Auf europäischer Ebene sind wir im European Jewish Congress organisiert, international über den World Jewish Congress miteinander verbunden. Wir haben so die Möglichkeit, miteinander gemeinsame Projekte zu gestalten. Für uns bietet sich natürlich eine enge Zusammenarbeit mit den deutschsprachigen Ländern an, mit Österreich und der Schweiz. Gleichermaßen gibt es bei uns gerade in den Grenzregionen Zusammenarbeit mit den benachbarten Gemeinden, in Baden-Württemberg mit Gemeinden in Frankreich, in Nordrhein-Westfalen mit den jüdischen Gemeinden in Luxemburg, Belgien und in den Niederlanden. Das ist für alle sehr befruchtend und positiv.
Entwicklungen in Nachbarländern – ein Vergleich
Norbert Reichel: Nun gibt es in den Ländern unterschiedliche Entwicklungen. Eine französische Jüdin, die in Deutschland lebt, sagte mir einmal sehr verbittert, dass Frankreich angesichts des dortigen Antisemitismus nicht mehr ihr Land sei. In Deutschland seien wir noch nicht so weit wie in Frankreich. Michael Szentei-Heise sagte mir in unserem Gespräch jedoch, er glaube, wenn die AfD an der Regierung beteiligt werde – er befürchtet ein entsprechendes Wahlergebnis für das Jahr 2025 – es an der Zeit sei, dass Jüdinnen und Juden Deutschland verlassen und nach Israel gehen. Anlass für unser Gespräch war unter anderem ein Streitgespräch zwischen ihm und Nora Goldenbogen in der Jüdischen Allgemeinen, in der er diese Position vertrat. Wie bewerten Sie die unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland, in Frankreich und in anderen Ländern?
Daniel Botmann: Eine Sache sollte uns insgesamt beunruhigen. Frankreich ist ein Land mitten in Europa, ein großes Land, ein demokratisches Land, ein Rechtsstaat. Und es ist das Land, aus dem über viele Jahre die höchste Zahl von Jüdinnen und Juden nach Israel ausgewandert sind. Wie kann es sein, dass Jüdinnen und Juden in einem Land wie Frankreich sagen, mir ist es lieber, in Israel zu leben, wo die Friedenssituation labil ist, wo es immer wieder zu Beschüssen von der Hamas, der Hisbollah oder anderen islamistischen Gruppen kommt, als in Frankreich den dortigen Antisemitismus zu erleben und zu sehen, dass meine Kinder darin aufwachsen? Wir müssen uns als Europäer die Frage stellen: was läuft da schief?
Eine vergleichbare Situation haben wir in Deutschland nicht. Aber wir sehen in vielen Ländern in Europa, dass sich die Lage für Jüdinnen und Juden massiv verschlechtert, sei es durch Antisemitismus in der Gesellschaft, sei es aber auch durch Regierungen und Gesetzgebung. In Belgien wurde bereits das koschere Schächten verboten, in Griechenland und in Finnland wird es zurzeit debattiert und hat Aussicht auf Erfolg, dass es zu einem aktiven Verbot kommt. Die Religionsfreiheit für Jüdinnen und Juden wird in vielen Ländern in Europa sukzessive eingeschränkt.
Aber noch einmal: das ist nicht die Situation in Deutschland! Deutschland ist aber kein alleinstehender Nationalstaat, der völlig losgelöst von den Entwicklungen im europäischen Kontext dasteht. Daher müssen wir miteinander achtsam sein, und wir müssen klar Stellung beziehen, wenn in anderen Ländern die Religionsfreiheit für Jüdinnen und Juden derart massiv eingeschränkt wird.
Norbert Reichel: Wie bewerten Sie die Situation in Polen und in Ungarn?
Daniel Botmann: Niemand, der ein europäisch denkender, fühlender Demokrat ist, kann die Situation in Polen oder in Ungarn befürworten. Gerade hat der polnische Justizminister den Antisemitismusbeauftragten gefeuert, weil es ihm nicht gepasst hat, dass dieser seine Meinung gesagt hat.
Erinnerungskultur – eine ständige Aufgabe
Norbert Reichel: Ich befürchte in diesen und in anderen osteuropäischen Ländern so etwas wie eine schleichende Geschichtsklitterung. Wir haben ja auch Debatten über die Darstellung der Shoah in Museen, in Geschichtsbüchern. Wenn wir die Erinnerungskultur in Deutschland mit der Erinnerungskultur in diesen und anderen Ländern vergleichen, zu welchem Ergebnis kämen Sie?
Daniel Botmann: Ich glaube, einen Mythos muss man durchbrechen. Wir sollten uns nicht dauernd auf die Schultern klopfen und sagen, wie hervorragend wir in Deutschland die Gedenkkultur etabliert und aufgearbeitet haben. Da waren auch viele Beruhigungspillen, die man sich als Gesellschaft eingeworfen hat. Aber es gibt noch viel zu tun.
Wir müssen an diesem Thema dranbleiben. Wenn wir die demokratischen Grundlagen schützen, stärken und extremistischen Tendenzen – ich denke dabei auch an die AfD in Bundestag und Landtagen – entgegenwirken wollen, dann führt kein Weg daran vorbei, dass wir uns immer wieder mit der Geschichte in Deutschland auseinandersetzen.
Wir sehen aber auch in verschiedenen Ländern in Europa gegensätzliche Entwicklungen. Polen ist da leider ein Negativbeispiel. In den letzten Jahren gab es immer wieder Gesetzgebungen, die für die historische Aufarbeitung auch der Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg, in der Shoah, in der Judenverfolgung kontraproduktiv waren. Man sollte die historische Aufarbeitung nicht politisieren, sondern dies den Historikern überlassen und vor allem darauf hinwirken, dass die geschichtliche Aufarbeitung ordentlich vonstattengehen kann, ohne dass rechtsextreme Parteien darauf Einfluss nehmen.
Norbert Reichel: Es sind leider nicht nur die Rechtsextremen, sondern oft gut bürgerliche oder sich für gut bürgerlich haltende Gruppen und Menschen, die sich daran beteiligen. Ich beobachte zurzeit auch die Debatte um Memorial und andere Organisationen. Irgendwann wird man über den Stalinismus in Russland nur noch hinter vorgehaltener Hand sprechen. Das sind sehr gefährliche Entwicklungen und auch in Deutschland gibt es Politiker, die verlangen, dass die deutsche Geschichte nicht nur an den zwölf Jahren der NS-Gewaltherrschaft gemessen werden soll. Wie stark beeinflussen solche Positionen Ihre Arbeit im Zentralrat und die Arbeit in den Gemeinden?
Daniel Botmann: Gerade diese Aussage, die sie jetzt ansprechen, die aus der AfD kommt, man dürfe die Geschichte Deutschlands nicht auf die zwölf Jahre der NS-Herrschaft minimieren, zeugt von einer höchstproblematischen Entwicklung. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft sieht, dass das der falsche Ansatz ist.
Es ist richtig und das ist auch der Punkt, den wir immer wieder betonen: jüdisches Leben in Deutschland muss man in seiner Gänze betrachten. Es gab eine große und schicksalsreiche Geschichte bis 1933, die sollte nicht unerwähnt bleiben. Es gibt auch eine spannende Geschichte, die sich nach 1945 ereignete, in beiden deutschen Staaten, in der Bundesrepublik und in der DDR. Es gibt viele Geschichten, die man beleuchten muss. Aber der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte ist nun mal der Nationalsozialismus. Das war das einschneidende Element in der gesamten Historie und als solches kann man dies nicht einfach nur kleinreden.
Ich denke, die Beschäftigung mit der Geschichte des Nationalsozialismus wird in den nächsten Jahrzehnten, und auch in den nächsten Jahrhunderten, deutlich machen: „Wehret den Anfängen und lasst uns darauf achten, dass so etwas wie dies nie wieder geschieht.“
Norbert Reichel: Eine der Forderungen des Zentralrats lautet, dass alle Schülerinnen und Schüler einmal in ihrer Schullaufbahn verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollten. Ich habe vor einigen Tagen auch mit Andreas Nachama darüber gesprochen, der sagte, es käme auch darauf an, dass Schülerinnen und Schüler die vielen Orte entdecken, in denen in der nächsten Umgebung des Wohnortes nationalsozialistische Verbrechen geschahen oder ihren Anfang nahmen. Was ließe sich aus Ihrer Sicht noch mehr tun, damit es in Schulen, auch in Volkshochschulen und in anderen Orten der formalen und non-formalen Bildung selbstverständlich ist, in der näheren Umgebung zu recherchieren, natürlich auch Fahrten nach Auschwitz und an andere Orte des Terrors zu planen und durchzuführen?
Daniel Botmann: Erst einmal grundsätzlich zu den verpflichtenden Besuchen von KZ-Gedenkstätten: das Thema Erinnerungskultur ist ja etwas anders als beispielsweise Mathematik, die man nüchtern betrachten kann, indem man Formeln lernt. Erinnerungskultur und auch Erinnerungspolitik ist etwas, das mit Emotionen verbunden ist. Man muss lernen, was historisch passiert ist, aber man muss auch einen emotionalen Zugang erhalten.
Diesen Zugang kann man erhalten, wenn man eine Gedenkstätte tatsächlich mal sieht. Wenn man den Ort sieht, an dem diese Menschheitsverbrechen stattgefunden haben. Was ist dort mit den Menschen passiert? Wie haben sie in den Baracken geschlafen? Wie sahen die Verbrennungsöfen aus, in denen Menschen verbrannt, wie die Räume, in denen sie vergast worden sind? Was war in den Arbeitslagern los? Wie sahen die Klippen aus, auf die man einen Stein hochrollen musste und wenn einen die Kraft verließ, überrollte einen der Stein? Wenn man das tatsächlich sieht, eröffnet man den Schülern eine Perspektive, das zu fühlen und auch empathischer zu werden.
Es ist richtig, wir haben in vielen Regionen dieses Landes KZ-Gedenkstätten. Die sind meist nicht so eindrucksvoll wie Auschwitz, und dennoch ist es sinnvoll, die lokalen Gedenkstätten aufzusuchen. Dadurch wird auch deutlich: der Nationalsozialismus war kein von außen kommendes Ereignis, indem irgendwelche Aliens auf der Erde landeten, zwölf Jahre wüteten und dann wieder weggeflogen sind. Das war etwas, das an jedem Ort, in jeder Gemeinde, in jeder Nachbarschaft, in jeder Region geschah. Es war überall, es wütete im gesamten Land, nicht nur in Polen, in Auschwitz. Deshalb gab es ja auch all die Lager mitten im Land.
Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler auch die regionalen Stätten kennenlernen, damit auch das Gefühl verdeutlicht wird, es war nicht irgendwo, es geschah in der Nachbarschaft. Es waren vielleicht auch Schülerinnen und Schüler an dieser Schule. So wird auch eine direkte Verbindung hergestellt. Viele ziehen hieraus den Schluss: wir müssen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht, denn es war schon mal auf unserer Schule, es war schon mal in unserer Nachbarschaft. Hier war eine Synagoge, die in den Novemberpogromen niedergebrannt, hier ein jüdisches Geschäft, das geplündert wurde.
Norbert Reichel: Die Perspektive der Opfer ist die eine Perspektive, die der Täter und Täterinnen die andere. Ich erlebe dies in vielen Begegnungen und Diskussionen, dass ein Nachdenken, Recherchieren, ein Gespräch über die Täterschaft ein großes Manko ist. Darüber sprechen nur wenige, darüber wollen nur wenige etwas wissen. Sie fragen nicht, was war denn in meiner Familie? Was taten meine Eltern, meine Großeltern? In diversen Forschungsvorhaben, beispielsweise der MEMO-Studie, erfahren wir immer wieder, dass immer mehr Deutsche ihre Eltern oder Großeltern unter die Opfer zählen oder sogar überzeugt sind, sie hätten Widerstand geleistet oder Jüdinnen und Juden geschützt. Von Umfrage zu Umfrage steigt die Zahl. Dies kann jedoch der Wirklichkeit nicht standhalten, denn die Zahl derjenigen, die sich tatsächlich der nationalsozialistischen Terrorherrschaft widersetzten, war nachweisbar sehr klein.
Daniel Botmann: Das ist ein wichtiges Thema. Menschlich ist es nachvollziehbar, dass es in den Familien nach dem Zweiten Weltkrieg einen Mantel des Schweigens gab. Niemand wollte wahrhaben, dass der eigene Vater, der eigene Opa ein Mörder war, die eigene Mutter, die eigene Oma eine Mörderin. Aber das ist eine Perspektive, die wir eröffnen müssen. Wir müssen auch über die Täter sprechen. Es war der liebende Familienvater, die liebende Familienmutter, die an Erschießungskommandos beteiligt waren, es waren Menschen, die tagsüber an Deportationen, an Erschießungen beteiligt waren und dann abends ihr normales Familienleben führten. Das muss man sich klarmachen, das kann man sich kaum vorstellen, dass Menschen diese zwei Gesichter hatten. Wir wollen ja dafür sorgen, dass wir die Gesellschaft gegen solche Entwicklungen immunisieren. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wir auch die Thematik der Täter offen, ehrlich und schonungslos ansprechen.
Dialoge – die Grundlage der freiheitlichen Demokratie
Norbert Reichel: Sie erwähnten den jüdisch-muslimischen Dialog. Es gibt schon lange intensive christlich-jüdische Dialoge, in Berlin darüber hinaus mit der Initiative des House of One ein Projekt, in der sich alle drei Religionen zusammengetan haben. Wie bewerten Sie den Dialog der Religionen in seinen Perspektiven für die Zukunft?
Daniel Botmann: Ich glaube, christlich-jüdischer Dialog, auch christlich-muslimischer und muslimisch-jüdischer Dialog sind Dialoge, die sich wandeln und auch in Zukunft wandeln werden. Gerade der christlich-jüdische Dialog war zunächst sehr theologisch geprägt. Ich glaube, er wird sich zunehmend zu einem gesellschaftlichen Dialog weiterentwickeln, bei dem die theologische Komponente geringer wird. Das nehmen wir auch im jüdisch-muslimischem Dialog wahr. Vielfach steht der gesellschaftliche Kontext im Vordergrund. Es ist eher seltener der Fall, dass theologische Kontexte im Vordergrund stehen. Das ist keine schlechte Entwicklung, denn die gesellschaftlichen Fragestellungen sind wichtige Aspekte, über die wir im Dialog sein müssen. Durch die Weiterentwicklung dieser Formate wird auch das Interesse junger Leute gestärkt, sich an solchen Dialogen zu beteiligen. Gerade junge Menschen haben nach meinen Erfahrungen das Gefühl, dass sie von diesen Dialogen profitieren. Und das ist gut so.
Norbert Reichel: Ich beziehe das einmal auf die Schule. Manche behandeln das Thema im Religionsunterricht, was meines Erachtens nicht ausreicht. Die beiden Erklärungen, die Sie mit der KMK, die zweite darüber hinaus mit der Bund-Länder-Konferenz der Antisemitismusbeauftragten beschlossen haben, gehen ja viel weiter. Die erste Erklärung war eher allgemein im Hinblick auf jüdische Geschichte, Religion und Kultur gehalten, die zweite befasste sich im Schwerpunkt mit dem Antisemitismus. Was würden Sie nach den beiden Erklärungen aus den Jahren 2016 und 2021 im Jahr 2022 als nächsten Schritt erwarten?
Daniel Botmann: Wir haben sehr intensiv an den Erklärungen gearbeitet. Wir müssen schauen, dass wir keine Papiertiger produzieren, dass diese Maßnahmen, die wir verhandelt haben, auch zur Umsetzung gelangen. Das Maßnahmenpaket ist ja sehr vielfältig, und da müssen wir gemeinsam mit den Ländern, dem Bund, den Schulen, auch mit den Schulbuchverlagen dafür sorgen, dass wir diese Maßnahmen in die Realität umsetzen. Wir können alle paar Jahre ein Papier produzieren, aber wenn wir es nicht in die Lebenswirklichkeit umsetzen, hilft es nichts.
Ich bin davon überzeugt, dass viele guten Willens sind und bereit sind, die Maßnahmen gemeinsam mit uns auch umzusetzen. Wir sind mittlerweile auch in einem guten Dialog mit den Schulbuchverlagen. Es gibt sehr häufig Schulbücher mit antisemitischen und vorurteilsbehafteten Inhalten. Wir sind in gutem Dialog mit dem Verband Bildungsmedien. Die ersten Bücher wurden in den entsprechenden Kapiteln bereits überarbeitet.
Wir werden auch das Thema der Lehreraus- und Lehrerfortbildung angehen. Die Lehrkräfte sind gerade in Bezug auf Antisemitismus in Schulklassen noch nicht auf dem Ausbildungsstand, den sie haben sollten. Da gibt es noch viel Luft nach oben. Das ist keine Lehrerschelte, sondern ein Aufruf: wir dürfen die Lehrerinnen und Lehrer nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen das entsprechende Know-How mitgeben, ihnen helfen, auch in schwierigen Situationen angemessen zu reagieren. Es gibt oft Situationen, die sind auch für Lehrkräfte nicht einfach. Wir müssen das aktiv angehen. Die Lehrer haben auch ein Anrecht darauf, dass wir nicht nur etwas fordern, sondern auch die Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten schaffen. Wir sind zuversichtlich, dass wir das gemeinsam mit den Fortbildungsinstituten der Länder hinbekommen. Das ist ein Prozess, der sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen wird.
Die große Mehrheit denkt und handelt demokratisch
Norbert Reichel: Und da hilft sicher die gestiegene gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die Sie zu Beginn unseres Gesprächs vermerkten. Schule ist ja nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaft um sie herum. Ich möchte jetzt einmal in das Jahr 2030 hineinschauen, der 80. Geburtstag des Zentralrats. Wenn Sie 2030 zurückschauen, was würden Sie sich wünschen, was in der aktuellen Dekade erreicht werden sollte.
Daniel Botmann: Ein Blick in eine so ferne Zukunft ist nicht einfach. Wir wissen ja nicht einmal, wie die Corona-Lage in zwei Monaten sein wird. Aber wir können natürlich im Groben Dinge skizzieren. Die wichtige Frage ist die, wie der gesellschaftliche Zusammenhalt sich entwickelt. Wird es gelingen, ihn zu stärken, die Gesellschaft zusammenrücken zu lassen oder wird es einen tieferen Spalt geben, der unterschiedliche Gruppen immer weiter auseinanderreißt.
Es ist meine große Hoffnung, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt sich bis 2030 weiterentwickelt, damit wir eine unaufgeheizte, befriedete Stimmung haben. Erfreulich wäre, wenn gerade rechtsextreme, populistische Tendenzen sich verringern würden und wenn – ich sage das so offen und klar – die AfD aus den Parlamenten verschwinden würde. Es gibt eine ganze Reihe von Herausforderungen. Wir haben viel über Antisemitismus gesprochen. Wenn wir dahin kämen, dass die Aufklärung zum Antisemitismus weiter voranschreitet, die gesellschaftliche Sensibilität weiter steigt und auch die Hemmschwelle für Antisemitismus, die ja sukzessive gesunken ist, dann wären wir schon einen erheblichen Schritt weiter, abgesehen von allgemeinen gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel und vielen anderen Dingen.
Norbert Reichel: Andreas Zick hat vor einigen Tagen gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) gesagt, dass er befürchte, dass sich Extremisten und bürgerliche Gruppen verbünden könnten. Das passt ja zu unseren Aussagen zur Situation vor 1933. Sie sagten mit Recht, das waren keine Aliens. Es waren viele gut bürgerliche Kreise, die sich für rechtextremistisches Gedankengut öffneten und den Nazis den Weg ebneten. Vielleicht ist das die größte Gefahr. Rechtsextremisten wird es immer geben, aber sie dürfen nicht anschlussfähig werden für bürgerliche Schichten.
Daniel Botmann: Das sehen wir aktuell bei den Corona-Demonstrationen. Unterschiedliche Gruppen laufen gemeinsam nebeneinander her und haben offenbar kein Problem damit, gemeinsam mit Rechtsextremisten zu laufen. Ich würde tatsächlich die Zukunft nicht zu schwarzmalen wollen, denn zur Wahrheit gehört auch, dass die große Mehrheit in unserem Land vernünftig und demokratisch eingestellt ist. Zur Wahrheit gehört auch, dass gerade diese Gruppe, die eher extremistisch eingestellt oder dafür zugänglich ist, sehr laut und wahrnehmbar ist. Aber: es ist die Minderheit.
Und wir, die wir in der Mehrheit sind, die wir demokratisch eingestellt sind, wir müssen dafür sorgen, dass wir unsere Idee und unser Konzept von einer demokratischen Gesellschaft weiter nach vorne bringen, uns dafür stark machen, dass wir nicht schweigen, nicht glauben, es wird schon alles gut sein, sondern dass jeder in seinem Familienkreis, in seinem Bekanntenkreis sich für diese demokratische Gesellschaftsidee stark macht. Das kann ein Mittel sein, um möglichst viele gegen Radikalisierung zu immunisieren.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 19. Januar 2022. Die Bilder hat mir der Zentralrat der Juden zur Verfügung gestellt, die Cover der beiden Bücher „Ethik im Judentum“ und „Israelbezogener Antisemitismus“ die Verlage Hentrich & Hentrich beziehungsweise Beltz Juventa)