Jüdisches Leben nach dem Pogrom

Ein Gespräch mit der Antidiskriminierungsexpertin Sophie Brüss

„Juden in Israel und weltweit leben seither auf einem anderen Planeten, und zwar in unmittelbarer Nähe zum ‚Planeten Auschwitz‘. Schutzlos erleben sie den Verrat, sowohl durch Freunde als auch quer durch die politischen und sozialen Milieus.“ (Esther Schapira, Ja, aber? In: Jüdische Allgemeine 2. November 2023)

„Wir sitzen zwar immer noch auf gepackten Koffern, aber zum ersten Mal wissen wir nicht, wo die Reise hingehen würde.“ (Nele Polatschek, Fünf bittere Erkenntnisse nach dem 7. Oktober, in: Süddeutsche Zeitung 31. Oktober 2023)

Die einleitend zitierten Sätze spiegeln die Stimmung unter Jüdinnen:Juden in Deutschland, in den jüdischen Gemeinden, nicht nur in Deutschland. Angst, Verzweiflung, Wut, nicht nur über die Hamas-Terroristen, sondern auch über die vermeintlich Linken und Menschenrechtler:innen, die kein Wort fanden, den Terror der Hamas und die Übergriffe auf deutschen Straßen zu verurteilen, wohl aber viele Worte, um alle Schuld Israel zu geben.

Vor der Kölner Synagoge in der Roonstraße: Bilder der Entführten. Foto: Sophie Brüss.

Ende Oktober, Anfang November 2023 habe ich mehrfach mit Sophie Brüss gesprochen. Sophie kennt die verschiedenen Ausprägungen von Antisemitismus, sagt aber auch, dass sie das, was sie zurzeit erlebt, in dieser Form noch nicht erlebt hat. Sie hat vor sechseinhalb Jahren die Beratungsstelle SABRA gegründet, die Menschen berät, die von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind oder sich dagegen wehren wollen. SABRA hat ihre Heimat in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und wird von mehreren Ministerien des Landes Nordrhein-Westfalen finanziell unterstützt. SABRA ist neben OFEK eine der größten Beratungsstellen gegen Antisemitismus in Deutschland und arbeitet eng mit den über den Bundesverband RIAS miteinander verbundenen Meldestellen zusammen. Seit Anfang November 2023 arbeitet Sophie bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach. Sie wird zur Ausbildung von Führungskräften beitragen. Sophie ist Mitglied der Synagogen-Gemeinde Köln. Sie hat die deutsche und die französische Staatsangehörigkeit, ist verheiratet und hat zwei Töchter. Die ältere Tochter hatte gerade ihre Bat Mizwa.

Die Stimmung nach dem Pogrom

Norbert Reichel: Ich traue mich kaum, die Frage so zu stellen wie ich sie stelle. Es klingt so belanglos und beiläufig, einfach nur zu fragen, wie es dir geht. Eigentlich keine Wortwahl für eine Frage nach dem Pogrom des 7. Oktobers, die dem Schrecken gerecht wird. Aber ich darf dein Verständnis voraussetzen, wenn ich unser Gespräch mit der Frage einleite, wie es dir geht und wie die Stimmung in den jüdischen Gemeinden ist.

In Gedenken an die Geiseln und Ermordeten auf dem Vorplatz der Synagoge in Düsseldorf, u.a. mit Ministerpräsident Hendrik Wüst (ganz rechts im Bild). Vor der Synagoge sowie innen im Vorraum sind die Bilder der Entführten zu sehen: Bring Them Home Now! Das Bild wurde von der Internetseite der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf kopiert.

Sophie Brüss: Wie ist die Stimmung in den jüdischen Gemeinden, in Deutschland? Die Stimmung ist einerseits extrem angespannt, andererseits extrem desillusioniert. Natürlich auch in tiefer Trauer wegen der Ereignisse. Die jüdische Welt ist nicht so groß. In Nordrhein-Westfalen waren zum Zeitpunkt der Massaker der Hamas Schulferien. Viele waren in Urlaub, auch in Israel. Das hat natürlich sofort das Pogrom ganz unmittelbar in die Jüdische Community hineingebracht. Wenn man weiß, dass Freunde und Bekannte in Israel ständig im Bunker sitzen, wegen der reduzierten Flüge auch nicht aus Israel herauskommen…. Aus den Communities heraus gab sofort Unterstützung bei der Suche nach Flügen, nach Möglichkeiten, wieder herauszukommen, Informationen der Botschaft und der Konsulate wurden weitergeleitet. Die Hilfsbereitschaft war sehr groß. Aber man hatte das Gefühl, dass der Terror ins eigene Wohnzimmer, in das ganz nahe Umfeld eingebrochen ist. Menschen, die einem so nahe sind, die vor Ort waren. Die meisten von uns haben Verwandte in Israel, die direkt oder indirekt betroffen waren und sind. Ich kenne kaum jüdische Menschen, die nicht jemanden kennen, der getötet oder verschleppt wurde. Wir kennen alle sehr viele Reservisten, die jetzt eingezogen wurden. Das hat unglaublich tiefe Trauer geschaffen und prägt die jüdische Community sehr. Ausnahmen ausgeschlossen.

Norbert Reichel: Du hast bis Oktober 2023 bei SABRA gearbeitet. Marina Chernivsky hat für OFEK in der Jüdischen Allgemeinen berichtet, dass die Zahl der Anfragen und Hilferufe sich nach dem 7. Oktober verdreifacht habe. Inzwischen kann man von einer Vervierfachung sprechen. Die Nachfrage nach Seelsorge in hebräischer Sprache hat sich bis zum 5. November sogar versiebenfacht. Die Pressestelle von OFEK schreibt am 6. November: „Einen Schwerpunkt der Beratungsarbeit bildet der soziale Raum Schule. Die Qualität der antisemitischen Vorfälle hat sich seit dem 7. Oktober verschärft. Neben der Fallberatung auf Anfrage führt OFEK e.V. in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment Digitale Sprechstunden für Schulen durch. Der hohe Bedarf an fachlicher Unterstützung an Schulen offenbart Lücken im Bereich von Intervention, Prävention und Opferschutz.“ Gibt es vergleichbare Entwicklungen bei SABRA?

Sophie Brüss: Das kann ich bestätigen, OFEK hat auch sofort reagiert und offene Sprechstunden und Beratungen angeboten. OFEK und SABRA haben allerdings verschiedene Schwerpunkte. SABRA macht Antidiskriminierungsberatung, bietet aber keine psychologische Unterstützung an, das dürfen in dem Kontext nur die Opferberatungen. In den ersten Tagen und Wochen konnten die Menschen kaum fassen, was erst in Israel und später auf den Straßen bei den anti-Israelischen Demonstrationen passiert ist, so tief saß der Schock. Es ging also am Anfang nicht darum, bei konkreten Vorfällen zu helfen, sondern Menschen psychologisch zu unterstützen und fast schon Trauerbegleitung zu machen. Das konnte SABRA bisher nicht leisten. Die Stellen wurden dort sehr schnell aufgestockt, mit Berater:innen und mit Psycholog:innen. Sie haben versucht, die Bedarfe zu decken, auch wenn das kaum möglich ist. So sah die Situation bei SABRA etwas anders aus. Jetzt wo es auch mehr Vorfälle, zum Beispiel an Schulen gibt, wird die Antidiskriminierungsarbeit immer wichtiger.

Norbert Reichel: Gestern erzählte mir eine Berufsschullehrerin, die viele Schüler:innen mit arabischer Familiengeschichte unterrichtet, wie schwer es ist, in der Klasse zu argumentieren. Ein Schüler stritt unbeeindruckt von allem, was zuvor im Unterricht besprochen war, Israel das Existenzrecht ab. Ein anderer beschwerte sich bei der Schulleitung, sie hätte alle Muslime pauschal als Antisemiten bezeichnet.

Sophie Brüss: Florian Beer ist eine der abgeordneten Lehrkräfte bei SABRA. Er hat sofort eine digitale offene Sprechstunde für Lehrkräfte eingerichtet. Das wurde sehr gut angenommen, es haben sich sehr viele Lehrkräfte gemeldet. Es begann mit einem kleinen Briefing, was israelbezogener Antisemitismus ist. Es ging dann um konkrete Anfragen, welche Handlungsoptionen Lehrkräfte haben, im beruflichen wie aber auch teilweise im privaten Umfeld. Die Situation in den Schulen ist sehr angespannt. Bei den meisten Anfragen ging es um Vorfälle mit muslimischen Schüler:innen, eher aus einem konservativen Spektrum, die sich sehr problematisch geäußert oder verhalten hatten, wie zum Beispiel einer Relativierung der Taten der Hamas. Ich will nicht alle Muslime in einen Topf werfen. Es gibt selbstverständlich Muslime, die keinerlei Hamas-Propaganda teilen und weitergeben und teilweise auch israelsolidarisch sind. Gesamtgesellschaftlich ist die Reaktion auf die Pogrome vom 7. Oktober aber ebenfalls enttäuschend. Die Politik sagt zwar, man sei auf der Seite Israels, das sei Staatsraison, aber jetzt müssen auch Taten folgen. Wir werden sehen, was geschieht, ob sich etwas verändert.  Aber zumindest war jetzt die Rede von Minister Habeck sehr gut und ist in der Jüdischen Community sehr gut aufgenommen worden.

Solidarität und Staatsraison

Norbert Reichel: Diese Rede wird parteiübergreifend sehr gelobt. Sie zeigt aber auch, dass alle anderen, der Bundeskanzler, die Außenministerin, auch Oppositionspolitiker, denen nichts anderes einfällt als alle Muslime in die Nähe von Terroristen zu rücken und Abschiebungen, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und was auch immer fordern, den richtigen Ton nicht getroffen haben, kurz: keine Empathie zeigten. Was kann ich da erwarten, wenn der Begriff der „Staatsraison“ bemüht wird? Erst einmal ist das ein leerer Begriff.

Berlin, Neue Synagoge, Oranienburger Straße. Wikimedia Commons.

Sophie Brüss: Ja, das meinte ich. Wir sehen gesamtgesellschaftlich, dass viele Menschen, die keinen Migrationshintergrund haben, die keine Muslime sind, die Taten der Hamas relativieren und keine Solidarität zeigen. Wenn man vergleicht, welche Solidaritätsbekundungen es gab, als Russland die Ukraine überfiel! Ganz Deutschland war blaugelb geflaggt. Diese Solidarität seitens der Gesamtbevölkerung ist jetzt einfach nicht da, es herrscht Schweigen. Die wenigen Solidaritätskundgebungen waren sehr schlecht besucht, zum Beispiel waren gerade einmal 200 Menschen in Köln anwesend. Man war irgendwie unter Freunden. Das ist viel zu wenig und vor allem war es eine riesige Enttäuschung. In Bonn nahmen immerhin 650 Menschen teil. Dagegen verzeichnen die pro-palästinensischen Demonstrationen, die zum größten Teil Pro-Hamas-Demonstrationen zu sein scheinen, Tausende von Teilnehmern. Ein unglaublicher Zulauf, bei dem auch antisemitische Sprechchöre vorkommen, die oft nicht geahndet werden.

Die Stimmung ist sehr schwierig für Jüdinnen und Juden. Dazu kommt, dass die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt werden mussten, weil es zu antisemitischen Vorfällen kam. 

Norbert Reichel: Wie sieht es in der Kölner Synagoge aus?

Sophie Brüss: Da steht definitiv mehr Polizei, mehr als vorher. Man merkt auch die Polizeipräsenz viel stärker als vorher. Man hört von den Anschlägen, da war der Anschlag auf die Synagoge in Berlin.

Norbert Reichel: Eine kleine Synagoge mit einem schönen Café. Nicht weit entfernt liegt das Moses-Mendelssohn-Gymnasium in der Großen Hamburger Straße, das schon seit langer Zeit wie eine Festung aussieht.

Sophie Brüss: Davidsterne an den Hauswänden, Hassparolen an Schulen… – all das trägt nicht dazu bei, dass man sich hier sicher fühlt, auch mit dem Polizeischutz, der ja nun nicht vor den privaten Wohnungen zu finden ist. Ich kenne viele Jüdinnen und Juden, die nach den Massakern des 7. Oktober zurückgekehrt sind und, sagen, dass sie sich trotz des Kriegszustandes in Israel sicherer gefühlt als hier in Deutschland.

Norbert Reichel: Ich habe darüber nachgedacht, eine Israelfahne an der Innenseite des Fensters aufzuhängen, es dann nicht getan, weil ich befürchtete, da kommt jemand und wirft einen Stein ins Fenster. Wenige Tage später las ich, dass eine Israelfahne vor einer Privatwohnung verbrannt wurde. Die Asche lag im Briefkasten. In der Straßenbahn saß ich zuletzt gegenüber einem jungen Mann, der arabisch aussah und ich dachte darüber nach, ob ich das tue, was ich sonst immer in der Bahn tue, Zeitung lese. Die Zeitung, die ich dabeihatte, war die Jüdische Allgemeine. Dem jungen Mann tue ich hoffentlich unrecht, aber die Verunsicherung ist groß, obwohl ich gar kein Jude bin. Wer sich heute in der Öffentlichkeit proisraelisch oder projüdisch äußert, geht ein Risiko ein.

Sophie Brüss: Ja natürlich. Antisemitismus trifft ja nicht nur Juden, sondern auch Menschen, die für Juden gehalten werden. Das ist eine Projektionsfläche. Das ist den Angreifern völlig egal, woher du kommst oder welche Identität du hast. Wenn du die Jüdische Allgemeine herausholst, dann wirst du als Jude gelesen.

Insgesamt muss man sagen, ich kann es nur wiederholen, es ist eine extrem angespannte Situation. Das wird auch so bleiben. Die Bodenoffensive muss ja weitergehen. Israel ist in einer Art Pattsituation. Einerseits wissen alle vor Ort, dass es viele Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung geben wird, gerade weil die Hamas die Menschen als Schutzschild benutzt. Und die anderen Staaten verhalten sich ebenfalls unrühmlich. Ägypten öffnet die Grenze nur für Menschen mit einem ausländischen Pass. Die bleiben dann nicht in Ägypten, sondern reisen nach Herkunfts- oder Zweitländer. Aber wenn Menschen in Gaza getötet werden, wird allein Israel die Schuld gegeben.

Untertroffene Erwartungen

Norbert Reichel: Länder wie Ägypten treiben ein doppeltes Spiel. Einerseits fürchten sie die Stimmung in der eigenen Bevölkerung, in der sich viele mit den Menschen in Gaza und letztlich auch mit der Hamas solidarisieren, andererseits wollen sie nicht, dass mit Flüchtenden aus Gaza Hamas-Terroristen den Weg in den Sinai finden, wo Ägypten lange brauchte, eine Zelle des sogenannten Islamischen Staates zu beseitigen. Aber in den meisten Medien wird der Eindruck erweckt, als verhindere allein Israel Hilfsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung.

Sophie Brüss: Den medialen Krieg wird Israel definitiv verlieren. Die Situation wird sich noch weiter verschärfen. Das ist keine aufbauende Perspektive.

Norbert Reichel: Inzwischen wurde etwa eine halbe Million Menschen aus den an Gaza angrenzenden Ortschaften Israels evakuiert. Viele wissen nicht, ob sie wieder zurückkehren können. Solche Informationen finde ich in deutschen Medien viel zu selten. Da ist in der Regel nur von den flüchtenden Palästinenser:innen innerhalb von Gaza die Rede. Auch deren Leid ist furchtbar, aber die Ursache ist der Terror der Hamas.

Screenshot

Sophie Brüss: Wenn man weiß wie groß Israel ist, dann ist eine halbe Million Menschen sehr viel. Die Evakuierten aus dem Süden Israels sind teilweise in Hotels untergebracht, manche wohnen jetzt bei Bekannten und Verwandten, andere wieder in Zeltstädten. Wir haben schon gehofft, dass Israel nach diesem Massaker mehr Unterstützung bekäme, dass es in der Politik, in der internationalen Gemeinschaft endlich einmal ein Umdenken gegenüber Israel gäbe. Aber es passierte nichts. Die Vereinten Nationen sind keine Größe, auf die man zählen kann. Die wenigen Erwartungen, die man haben konnte, wurden sogar noch untertroffen! Eine Verurteilung des Terrorismus der Hamas, die Forderung nach der Befreiung der Geiseln – das wäre das Mindeste gewesen, was wir hätten erwarten dürfen. Nicht einmal das.

Norbert Reichel: Es gibt einige Journalist:innen in Deutschland, beispielsweise Anastasia Tikhomirova (mein Gespräch mit ihr veröffentliche ich zeitgleich mit unserem Gespräch), die mit Überlebenden, mit den Familien der Ermordeten und Verschleppten sprechen und darüber berichten. Aber leider stelle ich bei anderen Journalist:innen auch eine Schieflage fest: wenn über „humanitäre Hilfe“ gesprochen wird, dann erwähnen sie oft nur die palästinensische Zivilbevölkerung, nicht die Menschen in Israel. Hilfe für Israel wird in der Regel über jüdische Hilfsorganisationen geschaffen, nicht über die Vereinten Nationen, die UNRWA unterstützen, obwohl niemand weiß, ob die Mittel tatsächlich bei der Zivilbevölkerung landen oder von der Hamas abgezweigt, sprich unterschlagen werden.

Sophie Brüss: Ich kenne leider keine Reportage über die Zeltstädte, in denen Evakuierte in Israel jetzt leben müssen. Es wird nicht berichtet, welche Unterstützung die Familien der Geiseln bekommen. Es gibt wenige Forderungen an die Hamas, zur Befreiung der Geiseln zum Beispiel, die nicht sofort mit dem Satz relativiert werden, Israel müsse aber auch…

Norbert Reichel: Das Elend der Kontextualisierung wie manche Journalist:innen mit Recht schreiben. Nach dem Muster: der Ermordete ist mitschuldig.

Sophie Brüss: Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Es wird relativiert und relativiert. Dabei wäre es so einfach, Forderungen zu stellen, ohne im gleichen Atemzug auch eine Forderung an Israel zu stellen. Erste Priorität: die Rückkehr der Geiseln. Ich habe Berichte, in jüdischen Medien, über das Internationale Roten Kreuz gelesen, die viele Geflüchtete in Gaza betreuen, die unter furchtbaren Umständen leben und auch diese Betreuung brauchen. Das IRK allerdings schert sich aber überhaupt nicht um die israelischen Geiseln, fordert nicht einmal sich um die Geiseln kümmern zu dürfen, obwohl sie vor Ort sind und als Internationales Rotes Kreuz sogar das Recht und die Pflicht hätten, die Geiseln zu versorgen. Nicht einmal ein Appell an die Hamas. Ob die Hamas dem dann folgt, wäre eine andere Frage. Aber nicht einmal ein Appell. Das wirkt sich auf die jüdische Community aus, die in Sorge ist, wie sich die Lage weiterentwickelt und wie der Antisemitismus weiter grassiert und sich die Stimmung verändert

Ein Blick nach Frankreich

Norbert Reichel: Du hast nicht nur den deutschen, sondern auch den französischen Pass. Was bekommst du aus der Situation in Frankreich mit?

Sophie Brüss: In Frankreich gibt es eine viel stärkere Polarisierung als in Deutschland, sowohl in den Medien und in der politischen Debatte. Kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober gab es eine Demonstration zur Unterstützung von Israel mit 35.000 Menschen in Paris. Das ist mehr als in Berlin, auch wenn Paris mit den Außenbezirken um einiges größer ist als Berlin. Namhafte Politiker waren dabei, aber gerade die öffentlich-rechtlichen Medien sind eine absolute Katastrophe. Ein oder zwei Tage nach dem Massaker gab es in dem staatlichen Radiosender France Inter eine Gesprächsrunde, in der die palästinensische Botschafterin in Frankreich in einer Diskussion nur Hamas-Propaganda von sich gab. Auch in France Inter bezeichnete der Komiker Guillaume Meurice Netanjahu als „Nazi ohne Vorhaut“.

Norbert Reichel: So etwas wäre in Deutschland nicht denkbar. Immerhin gab es auch in Frankreich nach diesem Auftritt heftige Kritik.

Die entführten Mitglieder der Familie Goldstein. Foto: Hanay. Wikimedia Commons.

Sophie Brüss: Aber das war in einem öffentlich-rechtlichen Sender möglich! Und die Direktorin von France Inter steht weiterhin hinter ihm. Auch eine politische Partei, La France insoumise, die größte Partei des linken Bündnisses NUPES, das bei der letzten Wahl die zweitmeisten Stimmen erhielt, positionierte sich mit ihrem Vorsitzenden Jean-Luc Mélenchon einseitig pro-palästinensisch, ohne Verurteilung des Hamas-Terrors. Mélenchon, auch seine Abgeordneten waren einseitig. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle stieg deutlich an. Wie in Berlin wurden Häuser von Jüdinnen und Juden mit Davidsternen markiert: Die französischen Nachrichten berichteten über die Ereignisse in Berlin und wenig später wiederholte sich die Tat, diesmal in Frankreich. Man sieht, dass bestimmte Verhaltensweisen auch von einem Land ins andere hinüberschwappen.

Die Situation war in Frankreich für Jüdinnen und Juden seit mehr als 20 Jahren sehr schwierig. Es gibt inzwischen Orte, Vorstädte, die – man kann es nicht anders sagen – „judenrein“ sind. Kaum jüdische Kinder besuchen noch staatliche Schulen und wenn doch, geben sie sich nicht zu erkennen. Diese Situation ist spätestens seit dem 2002 erschienenen Buch von Georges Bensoussan „Les territoires perdus de la République“, bekannt. 

Norbert Reichel: Im April 2023 wurde ein jetzt in Kanada lebender 69 Jahre alter Mann zu lebenslanger Haft verurteilt, der vor 43 Jahren für einen Bombenanschlag auf eine Synagoge in Paris verantwortlich war, bei dem vier Menschen getötet und 47 Menschen verletzt wurden. In Deutschland berichtete meines Wissens nur die Jüdische Allgemeine darüber. Ich weiß nicht, ob es für Frankreich eine ähnliche Liste antisemitischer Anschläge und Übergriffe gibt wie sie Ronen Steinke in seinem Buch „Terror gegen Juden“ veröffentlichte. Auf Wikipedia gibt es eine (allerdings unvollständige) Liste solcher Anschläge in Frankreich. Es gibt Meldungen über mehr als 1.000 Anschläge in Frankreich auf jüdische Einrichtungen nach dem 7. Oktober (Stand: 6. November 2023).

Sophie Brüss: Viele Jüdinnen und Juden in Frankreich haben in den letzten Jahren Alija gemacht. Meines Wissens ist Frankreich das Land mit den meisten Auswanderungen von Jüdinnen und Juden nach Israel in Europa, vielleicht abgesehen von Russland.

Migrantisierung des Antisemitismus

Norbert Reichel: Eine andere Seite der Debatte ist die ausschließliche Migrantisierung und Muslimisierung des Antisemitismus. So zuletzt Hubert Aiwanger, der nach der Flugblatt-Affaire vielleicht doch lieber den Mund halten sollte. Der deutsche Antisemitismus segelt im Windschatten, Rechtsextremist:innen müssen sich in dieser Atmosphäre doch die Hände reiben und können zusehen, sie die migrantischen Hamas-Anhänger ihren Job erledigen. Auch die deutsche Linke verhält sich doch sehr merkwürdig.

Sophie Brüss: Ein großer Unterschied liegt darin, dass sich gebildete Menschen kodierter ausdrücken können, das sieht man gerade bei der antikolonialistischen Linken. Das ist ähnlich wie bei in rechten Szenen üblichen Codes wie dem von den „Globalisten“. Bei Menschen mit eher geringerem Bildungsstand oder die eine andere Sozialisation haben und mit den Codes nicht vertraut sind, wie wir sie in arabischen und türkischen Communities eben finden, äußert sich der Antisemitismus offener und zurzeit auch gewalttätiger. Wer die Codes beherrscht, fällt auf den ersten Blick nicht so sehr als Antisemit:in auf. Hinzu kommt, dass Menschen aus arabischen und türkischen Communities in ihren Herkunftsländern beziehungsweise den Heimatländern ihrer Eltern oder Großeltern in den Medien, die sie nutzen, mit antisemitischer Propaganda versorgt werden. Das ist ein weiterer Faktor. Wenn wir hören, was zurzeit in der Türkei geschieht! Erdoǧans anti-israelische Propaganda wird direkt in deutsche Wohnzimmer ausgestrahlt und er wurde von vielen Menschen mit türkischem Pass in Deutschland gewählt. Ich meine dabei nicht die Kurden in Deutschland. Das ist eine andere Geschichte.

Bilder der entführten Menschen am Sportpark Nesher. Foto: Hanay. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Ich habe den Eindruck, dass einige versuchen, sozusagen auf dem Trittbrett des 7. Oktober – wenn mir die Metapher erlaubt ist – die antimigrantische Stimmung in Deutschland zu befeuern und damit Maßnahmen rechtfertigen, die die Menschenrechte zur Disposition stellen. Manche Politiker, darunter auch der bayerische Ministerpräsident, denken laut darüber nach, migrantischen Deutschen, die sich an antisemitischen Demonstrationen beteiligen, den deutschen Pass zu entziehen. Das verstößt gegen Artikel 16 Grundgesetz und kann seit 2019 nur vollzogen werden, wenn sich jemand einer Terrormiliz angeschlossen hat und über eine weitere Staatsbürgerschaft verfügt. Manchen scheint es weniger um die Unterstützung Israels zu gehen als um die Abschiebung von muslimisch und migrantisch gelesenen Menschen. Damit spielen sie das Spiel der Rechten.

Sophie Brüss: Auf jeden Fall. Umso weniger verstehe ich, warum auch von Seiten der Bundesregierung Muslim:innen und liberale oder moderate Muslimverbände nicht besser unterstützt werden, die sich gegen von Muslim:innen propagierten Antisemitismus aussprechen. Ich nenne die Kurdische Gemeinde in Deutschland, die sich eindeutig für Israel positioniert hat und die Verbrechen der Hamas ganz klar verurteilt hat. Sie rief dazu auf, sich nicht an den Demonstrationen zu beteiligen, weil dort antisemitische Parolen im Vordergrund stehen.

Staatsversagen in Sachen Islam?

Norbert Reichel: Am 6. November gab es eine von der Kurdischen Gemeinde organisierte Online-Veranstaltung mit dem Pressesprecher der israelischen Armee Arye Sharuz Shalicar. Auch der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) Gökay Sofuoğlu äußerte sich eindeutig und rief zur Besonnenheit auf. Etwas später goss Erdoǧan mit seinen Sympathiebekundungen für die Hamas, die er als „Befreiungsbewegung“ sieht, wieder Öl ins Feuer. Ein großes Problem sind die muslimischen Verbände. Jetzt gab es immerhin auf Vermittlung der Staatskanzlei ein Treffen zwischen der Kölner Jüdischen Gemeinde und den vier konservativen im Koordinierungsrat der Muslime vertretenen Verbänden. Zunächst dachte ich, immerhin bewegt sich etwas, aber im Nachhinein weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Die liberalen muslimischen Verbände waren übrigens nicht eingeladen.

Sophie Brüss: Durmuş Aksoy, der Vorsitzende der Region Münster von DİTİB NRW, hat in der Vergangenheit mehrere antisemitische Äußerungen von Erbakan auf sozialen Medien gepostet, dem Ziehvater von Erdoǧan und Gründer von Millî Görüş. Wie ernst kann dieser Besuch dann gemeint sein? Man kann nicht an einem Tag einen Antisemiten zitieren und am nächsten Tag die Verbrechen der Hamas bedauern.

Norbert Reichel: Das hört sich taktisch an.

Sophie Brüss: Ich denke auch, dass es Taktik ist. Die Verbände, die sich klar und deutlich positionieren und denen man das auch abnimmt, weil sie schon vorher so gehandelt haben, müssten viel mehr Sichtbarkeit erhalten, damit Strukturen bekämpft werden, die mutmaßlich antidemokratisch handeln wie die Grauen Wölfe, auch Millî Görüş und leider auch Strukturen wie die DİTİB. Ich meine nicht die einzelnen Moscheen. Da gibt es ganz verschiedene Positionierungen. Aber die DİTİB als Gesamtstruktur wird von der türkischen Regierung gesteuert, die die Führungspositionen mit eigenen Leuten besetzt, auch entsprechende Imame einsetzt, von denen viele nicht einmal deutsch sprechen.

Norbert Reichel: Wir haben in Deutschland viel zu lange gewartet, bis wir in Osnabrück endlich eine deutsche Imam-Ausbildung einrichten konnten. Das sind etwa 35 junge Leute, eine sehr kleine Zahl angesichts der Vielzahl der Moscheen. Auch der unter staatlicher Aufsicht stehende islamische Religionsunterricht leidet unter dem schleppenden Ausbau. Das hat auch viel damit zu tun, dass die konservativen Verbände immer wieder versuchen, ihre Positionen durchzudrücken, was ihnen nicht gelingt, aber sie dann auch wieder ins Abseits stellt, sodass viele Lehrkräfte auf sich allein gestellt sind. Aber vielleicht gibt es Hoffnung. In der Jugendorganisation von DİTİB gibt es nach einer Studie von Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan viele, die sich Imame wünschen, die sich offener, demokratischer und letztlich auch mehr an den Bedürfnissen junger Menschen orientiert verhalten. Aber was ist mit der arabischen Community, die von der DİTİB und den anderen eher türkisch dominierten Verbänden nicht vertreten wird, und was ist mit dem Islamischen Zentrum Hamburg, das nichts anderes ist als ein Werkzeug der Propaganda des Mullah-Regimes im Iran und längst hätte aufgelöst werden müssen. Die Hinweise des Verfassungsschutzes sind eindeutig.

Sophie Brüss: Wenn wir etwas verändern wollen, brauchen wir Geld. Die Regierungen in Bund und Ländern sind aber nicht bereit, dieses Geld zu investieren. Wenn Moscheen aus dem Ausland gesteuert werden, dort ihre ideologische Ausrichtung erhalten, das ist nicht hinnehmbar. Die wenigen Hochschulen, die Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht ausbilden, werden den Bedarf in den nächsten Jahren oder gar Jahrzehnten nicht in Ansätzen decken können. Die staatlichen Institutionen hinken 30 Jahre hinterher.

Warum ist man ist so allein?

Norbert Reichel: Darf ich fragen, ob du persönlich dein Verhalten seit dem 7. Oktober 2023 verändert hast?

Roi Levi, Bürgermeister von Nesher, bei einer Sportveranstaltung zur Sammlung von Spenden für die entführten Menschen. Foto: Hanay. Wikimedia Commons.

Sophie Brüss: Ich persönlich weigere mich, mich anders zu verhalten. Ich bin Teil dieser Gesellschaft und ich möchte als Teil dieser Gesellschaft so leben, wie ich leben möchte. Wenn es um die Kinder geht, ist das noch etwas anderes. Die Gefahr, der ich mich selbst aussetze, kann ich nicht meinen Kindern zumuten. Ich mache mir viel mehr Sorgen um sie, auch in der Schule. Es gab auch einmal bei meiner älteren Tochter einen antisemitischen Vorfall in der Schule, der nicht zu meiner Zufriedenheit gelöst wurde. Das war allerdings vor dem 7. Oktober. Und dann frage ich mich, was passieren wird, wenn sich das wiederholt. Ich merke aber schon, dass wir uns insgesamt mehr in meine jüdische Bubble zurückgezogen haben. Es gibt Freunde, von denen ich hundertprozentig weiß, das sind Verbündete, auch wenn sie nicht jüdisch sind. Mit denen halte ich selbstverständlich auch den Kontakt. So wie wir zwei, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind. Aber das muss auch nicht sein. Aber es gibt viele, bei denen ich mir einfach nicht sicher bin, ob sie nicht vielleicht doch relativieren oder die sich überhaupt nicht gemeldet haben, die das, was am 7. Oktober geschah, einfach ignoriert haben. Von denen habe ich mich zurückgezogen. Ich möchte keine Debatten führen, keine Relativierungen hören. Ich möchte nichts mit Menschen zu tun haben, bei denen ich die Gefahr sehen könnte, dass sie in irgendeiner Form verletzend sein könnten. Weil ich mich jetzt auch sehr verletzlich fühle. Das ist schon eine sehr große Einschränkung.

Norbert Reichel: Du meinst Leute, die zwar die Hamas verurteilen, die aber dann sofort anfangen wollen, mit dir über die Gesamtlage zu diskutieren. Du wirst dann auch noch zu jemandem gemacht, der die israelische Regierung erklären soll, obwohl du weder israelische Staatsbürgerin bist noch in irgendeiner Form mit der israelischen Regierung verbunden.

Sophie Brüss. Foto: privat.

Sophie Brüss: Es ist überhaupt keine Frage: Es geht mir nicht darum, die Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung zu relativieren. Ein Kind, das leidet, ist ein Kind, das leidet. Aber manche sehen dann direkt die Schuld bei Israel und halten sich nicht mit den Ursachen auf, was ich wieder schwierig finde. Damit kann ich momentan nicht umgehen. Da merke ich, dass ich mich schon sehr innerhalb meiner jüdischen Community plus pro-israelische Bubble zurückgezogen habe und dass ich überhaupt nicht damit umgehen kann.

Eigentlich habe ich mein Verhalten geändert. Dann doch.

Norbert Reichel: Sollen wir es dabei belassen? Für heute?

Sophie Brüss: Gerne. Was mir wichtig ist, ist der Appell, dass die jüdische Community in Deutschland, aber auch Israel Unterstützung brauchen, Es ist wichtig, dass Solidaritätskundgebungen besucht werden, auch und vor allem von nicht-jüdischen Menschen. Dass man sich fragt, wie man helfen oder unterstützen kann. Manchmal gibt es ganz einfache Sachen. Viele jüdischen Eltern machen sich Sorgen, wenn zum Beispiel ihre Kinder vom Besuch jüdischer Einrichtungen alleine nach Hause gehen, weil sie zum Beispiel zu diesem Zeitpunkt arbeiten. Vielleicht kann man auch dabei jüdische Familien ganz konkret unterstützen, um ihre Sicherheit zu stärken. Es gibt viele Möglichkeiten. Die jüdische Community braucht jetzt mehr denn je Unterstützung, viel mehr Solidarität. Es ist wichtig, auf jüdische Bekannte zuzugehen und einfach zu fragen, wie es ihnen geht und wie man sie unterstützen kann. Das Schweigen, die fehlende Solidarität verletzt noch viel mehr als die antisemitischen Hassbotschaften. Denn wir haben das Gefühl, komplett allein zu stehen.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 21. November 2023. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Benzi Brofman, Foto: Hanay, Wikimedia Commons.)